Vom Deismus zum Atheismus. Zur Frage nach einer Konversion in Denis Diderots frühen Schriften


Bachelorarbeit, 2013

33 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.) Einleitung

2.) Vom Deismus zum Atheismus?
2.1) Der Begriff des Atheismus im Zeitalter der Aufklärung
2.2) Der Weg zum Frühwerk
2.2.1) Vom Abbé zum Schriftsteller
2.2.2) Die Shaftesbury-Übersetzung
2.3) Die „Pensées philosophiques“
2.4.) Schriften und Einflüsse bis
2.4.1) Weitere Werke
2.4.2) Maßgebliche Einflüsse
2.5) Der “Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux quivoient”

3.) Fazit

4.) Literaturverzeichnis

1.) Einleitung

„Le premier pas vers la philosophie, c’est l’incrédulité.“

Es sind Aussagen wie diese, die uns das Bild vermitteln, das wir heute von Denis Diderot haben. Es ist das Bild des radikalen Aufklärers, der es nicht nur, wie seine Vorgänger Voltaire und Montesquieu, auf die geistige Diktatur des Dogmatismus und die Hegemonie der katholischen Kirche im politischen Leben abgesehen hatte, sondern den Glauben selbst in seinen Grundfesten angriff. Laut Polizeiberichten der königlichen Zensurbehörde galt Diderot schon im Jahre 1747, nach seinem eher zaghaften philosophischen Debüt, als „ein sehr gefährlicher Mensch, der mit Verachtung von den heiligen Mysterien unserer Religion spricht“1. Heute gilt er, neben Philosophen wie Jean Meslier, Julien Offray de la Mettrie und Paul Thiry d’Holbach, als wichtigster Vertreter der Renaissance des Atheismus in der Neuzeit.

Man vergisst darüber hinaus, dass auch ein Denis Diderot nicht als Atheist geboren wird, dass auch er in einem zutiefst gottesfürchtigen provinziellen Umfeld aufgewachsen ist, gar selbst eine klerikale Karriere anstrebte. In der Diderotforschung ist daher der Lebenswandel vom jungen Abbé hin zu der Galionsfigur der radikalen Aufklärung von besonderem Interesse und gerade die Genese des Diderotschen Materialismus und Atheismus gibt immer wieder Anlass zu Spekulationen.

Die vollständige geistige Entwicklung eines Denkers nachvollziehen zu wollen, ist immer ein utopisches Vorhaben und dem Ergebnis einer solchen Untersuchung muss stets die Vollständigkeit geschuldet bleiben. Dass die Bandbreite an möglichen Interpretationen bei Diderot aber noch bedeutend weiter ausfällt und immer wieder Streitpunkte birgt, liegt in seinem charakteristischen Stil begründet. Schon Goethe, der später den „Neveu de Rameau“ übersetzen sollte, nannte Diderot einen „heftigen Dialektiker“, der sich durch „die Freimütigkeit seiner Paradoxen“2 auszeichnet. In der Tat hat Diderot eine Vorliebe für sprunghafte, oft widersprüchliche Reflexionen und kleidet viele seiner Werke in die Form eines Gesprächs. Seine Methode ermöglicht es ihm, verschiedene Standpunkte und Ideen gleichermaßen enthusiastisch darzulegen, ohne sich zu einer endgültigen Stellungnahme genötigt zu sehen. Und es war zunächst nicht die Originalität seiner Philosophie, die Diderot in weiteren Kreisen bekannt machte, sondern sein lebhafter und mitreißender Stil, der ihm Zugang zu einer breiten Leserschaft verschaffte.

Ein Nachteil, der mit dieser Methode einhergeht und der insbesondere in der Forschung immer wieder beklagt wird, liegt in der Schwierigkeit einer genauen Auslegung einer Diderotschen Philosophie, da er, insbesondere in seinem Frühwerk, kaum jemals wirklich Stellung bezieht oder seinen Aussagen immer wieder eine widersprüchliche Meinung gegenüberstellt. Besonders bei der Frage einer Konversion vom Deismus zum Atheismus stellt es sich als schwierig heraus, Diderots eigene Position zu erkennen, da die staatliche Zensur die Philosophen der Aufklärung immer wieder dazu nötigte, ihre wahren Absichten zu verschleiern.

Aus dieser Unsicherheit heraus kann die Forschung zu dieser Frage mit einem Bouquet an widersprüchlichen Meinungen und Theorien aufwarten. Häufig wird versucht, Diderots Sinneswandel an den Jahren von 1746 bis 1749 festzumachen. Man verweist dabei auf sein erstes eigenständiges Werk, die „Pensées philosophiques“, in dem er dem Deismus am meisten zugetan zu sein scheint, und den „Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient“, der die Vollendung von Diderots Orientierung hin zum Atheismus seiner reifen Jahre darstellen soll. So vertreten Diderot-Kritiker wie Rosenkranz oder Vartanian bezüglich der „Pensées“ die Ansicht, er „huldige“ dem Deismus3, er bekenne sich klar zu diesem4, oder sei „quite definite on this point“5. In Bezug zum „Blindenbrief“ wird gesagt, Diderot habe „endlich Stellung bezogen“6. Dennoch gibt es sowohl Positionen, die bereits materialistische Bekenntnisse in den „Pensées“ vermuten, als auch solche, die Diderot auch nach dem „Blindenbrief“ noch für einen gemäßigten Deisten halten, und am Ende ist es auch Diderot selbst, der es sich nicht nehmen lässt, aufkommende Vermutungen zu seiner eigentlichen Gesinnung immer wieder zu zerstreuen.

Wer dennoch gesicherte Aussagen zu Diderots eigener Positionierung wagen möchte, muss seine Werke einer genauen Analyse unterziehen, um möglicherweise verborgene Absichten und Hinweise Diderots verstehen und deuten zu können. Um dieses Vorhaben zu realisieren, werde ich im Folgenden die beiden genannten Werke, als traditionelle Fixpunkte seiner Konversion, untersuchen und prüfen, ob sich Präferenzen im Diderotschen Denken aufdecken lassen. Auch seine anderen frühen Schriften dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden und finden ihre Verwendung, da sie wertvolle Wegmarken seiner Entwicklung hin zu einer materialistischen Weltsicht sind. Anhand meiner Analyse werde ich zudem versuchen, die unterschiedlichen Einflüsse darzulegen, die Diderot in seiner frühen Phase entscheidend prägten. Bei einem Philosophen, dessen geistige Entwicklung zu einem bedeutenden Teil das Ergebnis eines lebhaften Austauschs mit Freunden und anderen großen Denkern seiner Zeit ist, genügt es nicht, einzelne Werke zu nennen, vielmehr müssen die Spuren seiner Entwicklung in der Geisteswelt der Aufklärung und dem intellektuellen Kreis, in dem er sich bewegte, gesucht werden.

Es ist der Stil Diderots, der dieses Vorhaben schwierig gestaltet. Da ihm die verschiedensten Ursachen zugrunde gelegt werden, und dabei jeweils eine andere Phase in Diderots Leben hervorgehoben wird, eignet er sich ideal als Orientierungspunkt, um zunächst den ersten Schritt seiner Entwicklung, die Abkehr vom Theismus bis hin zu seinen ersten philosophischen Schriften, und das gesellschaftliche und politische Klima, in dem sie sich vollzog, nachzuzeichnen.

2.) Vom Deismus zum Atheismus?

2.1) Der Begriff des Atheismus im Zeitalter der Aufklärung

Ernst Cassirer weist darauf hin, dass die Aufklärungsphilosophie „weit mehr geordnet und gesichtet, entwickelt und geklärt, als sie wahrhaft neue, schlechthin-originale Gedankenmotive ergriffen und zur Geltung gebracht hat“7. Im Zuge dieser Bestandsaufnahme erleben „all jene philosophischen Begriffe und Probleme […] einen charakteristischen Bedeutungswandel“8. Aus diesem Grund ist es wichtig, der folgenden Untersuchung eine Begriffsklärung voranzustellen, die zeigen soll, was im achtzehnten Jahrhundert unter dem Begriff „Atheismus“ verstanden wurde, und inwiefern er sich von seiner heutigen Bedeutung unterscheidet.

Im antiken Griechenland verstand man unter „ “ (átheos = „ohne Gott“) zumeist „eine ruhige, persönliche, unangreifbare und friedliche Weltanschauung“9. Der prominente philosophische Märtyrertod des Sokrates täuscht oft darüber hinweg, dass die Griechen „jeden theoretischen und radikalen Atheismus duldeten“10, solange er nicht genutzt wurde, um die öffentliche Ordnung zu untergraben. In der christlichen Tradition jedoch wurde der Begriff zum Schimpfwort, was eine genaue Unterscheidung von deistischem und atheistischem Gedankengut heute erschwert. In einer Zeit, in der die Monarchie und die katholische Kirche ihre Macht schwinden sahen und eine verstärkte Überwachung und Denunziation der intellektuellen Bevölkerungsschicht förderten, wurde oft nicht zwischen Deisten, Agnostikern, Pantheisten und Atheisten unterschieden. Unter Atheismus wurde häufig das Fehlen eines Theismus verstanden und die Anschuldigung zielte eher auf die allgemeine Verwerflichkeit des Charakters, als auf klar definierte Glaubensgrundsätze; jeder, der denen der katholischen Kirche widersprach, wurde verallgemeinernd des Atheismus bezichtigt. Unter dem Vorwand, dass „vom Wesen Gottes nichts mehr übrig [bleibt], wenn man dem Wesen seine Eigenschaften genommen hat“11 gehörten dazu auch jene, die nur Einzelaspekte des christlichen Glaubens wie Wunder oder die göttliche Vorsehung leugneten.

Für eine wissenschaftliche Untersuchung hingegen ist es von entscheidender Wichtigkeit, die Begriffe „Atheismus“ und „Deismus“ klar voneinander abzugrenzen. In der Phase der Frühaufklärung bis Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war gerade dies das oberste Anliegen der Philosophen: die Kritik am irrationalen, abergläubischen Dogmatismus, ohne dabei jedoch die Existenz einer göttlichen Instanz zu leugnen. Auch Diderot folgt zunächst dieser Tradition und wendet sich mit seiner Philosophie vornehmlich gegen die „Hirngespinste der Metaphysik“12 und den Fanatismus, nicht aber gegen den Glauben selbst.

2.2) Der Weg zum Frühwerk

2.2.1) Vom Abbé zum Schriftsteller

Diderots spätere Philosophie und sein sprunghafter Stil werden häufig einem „Niederschlag seines ungezügelten Temperaments“13 schon in jungen Jahren zugeschrieben.14 In der Tat entzog er sich zunächst der Verantwortung, das Geschäft seines Vaters zu übernehmen und sollte stattdessen Priester werden, was für ihn den ersten Einstieg in die kirchliche Einrichtung bedeutete. Er besuchte ein Jesuitenkolleg, wo er sich zeitweise bemühte, als guter Katholik zu leben und „von einem Gefühl tiefer Religiosität durchdrungen war“15.

Nach dem Empfang der niederen Weihen erfolgt der Wechsel zum jansenistischen „Collège d’Harcourt“ und die Ankunft in der Hauptstadt, was für seine Entwicklung insofern nützlich war, als dass er sich hier mit einer Auswahl von verschiedenen Philosophen und ihren Werken auseinandersetzen konnte.16 Zudem knüpfte er nach Verlassen des Kollegiums als freier Schriftsteller Kontakte zur kleinbürgerlichen Intelligenz und wurde so in die frühaufklärerische Geisteswelt einer sich auflehnenden Gesellschaft von Philosophen, Schriftstellern und Intellektuellen eingeführt. Er wurde ein großer Verehrer des Theaters, lernte dadurch die Stücke von Voltaire kennen und entdeckte eine Vorliebe für die Dialogform, die sich später in seinen eigenen Werken wiederfinden wird. Trotz seiner Geldnot und des raschen Wechsels seiner Tätigkeiten konnte Diderot sich einer „umfassende[n] Lektüre von Büchern aller nur erdenklichen Wissensgebiete“17 und der Mathematik widmen. In den Essais Montaignes fand er einen Stil und eine Ästhetik, die den seinen sehr ähnelten, und sein Skeptizismus machte den Zweifel zum grundlegenden Merkmal in Diderots Denken.18

Auch seine Vermählung mit Anne-Toinette Champion, einer verarmten Näherin, kann als „Protest gegen die Gepflogenheiten […] der feudalabsolutistischen Gesellschaftsordnung“19 gewertet werden. Eine Familie zu gründen bedeutete für Diderot zudem aber auch den Beginn seines philosophischen Schaffens, da er sich aus finanziellen Gründen als Übersetzer englischer Werke betätigte. Er wurde beauftragt, den Essay „An inquiry concerning virtue or merit“ des englischen Earl of Shaftesbury zu übersetzen, der sein Philosophieverständnis nachhaltig prägte und ihn dazu bewegte, sein erstes eigenständiges Werk, die „Pensées philosophiques“, zu verfassen.

Eine weitere Erklärung für seinen Stil und die Schwierigkeit einer Auslegung seiner Texte findet sich bei der Betrachtung der ökonomischen und politischen Situation, die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich vorherrscht. In dem gleichen Maße, wie die Solidarität mit dem Königshaus des bankrotten und krisengeschüttelten Frankreichs abnahm, wurde die Überwachung und Verfolgung derer, die dessen Legitimität anzweifelten, verstärkt. Um sich zu schützen, musste man unter dem Deckmantel der Religiosität argumentieren, „man beteuerte seinen rechtschaffenen Glauben, brachte aber Gedanken vor, die die offizielle Religion untergruben“20. Obwohl Diderot seine politische Strategie zu seinem stilistischen Markenzeichen machte und seine eigene Position selten offenkundig preisgab, wurde er im Jahre 1749, kurz nach der Veröffentlichung des „Blindenbriefs“, verhaftet.

Vor allen anderen Ursachen aber sind Diderots Philosophie und seine Methode sowohl als Ergebnis, als auch als Katalysator eines neuen Philosophieverständnisses der Aufklärung zu verstehen. Hatte die Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts noch den Anspruch, „der systematischen Strenge und der systematischen Vollständigkeit“21, die zu einer „Entwicklung von System zu System, von Descartes zu Malebranche, von Spinoza zu Leibniz, von Bacon und Hobbes zu Locke“22 geführt hatte, so verlor man im achtzehnten Jahrhundert das Vertrauen in diese Methode. Diese Philosophen hatten unterschiedliche Annahmen zu ihrem archimedischen Punkt gemacht und, von diesem ausgehend, mittels der reinen Vernunft und der Methode der systematischen Deduktion, die Welt in ihrem Ganzen zu erklären versucht. Auch das achtzehnte Jahrhundert machte die Vernunft zu seinem Ausgangs- und Mittelpunkt, allerdings nicht länger als losgelöstes Mittel zum Erkenntnisgewinn, sondern nur noch in Wechselwirkung mit der Erfahrung und der Beobachtbarkeit der Welt. Isaac Newton hatte die Vernunftphilosophie und den „esprit de système“ scharf kritisiert und stattdessen den Weg der empirischen Analyse gewählt. George-Louis Leclerc de Buffon beschreibt ihn später wie folgt:

„ C ’ est par des expériences fines, raisonnées & suivies, que l ’ on force la nature a découvrir son secret; toutes les autres méthodes n ’ ont jamais réussi, & les vrais Physiciens ne peuvent s ’ emp ê cher de regarder les anciens syst ê mes comme d ’ anciennes r ê veries. ” 23

Auch Diderot, der Montaignes strikten Antidogmatismus übernommen hatte, war in seinem Denken „dem Absoluten, […] der einen absoluten Wahrheit, das die Metaphysik früherer Jahrhunderte prägte“24 entgegengesetzt. Als „führender Vertreter der Philosophie der Beweglichkeit“25 des achtzehnten Jahrhunderts entspricht sein dialektischer, sprunghafter Stil dem Wahrheitsverständnis seiner Zeit, in der man nicht länger philosophische Gewissheiten hervorbringen, sondern frei, beweglich und lebensnah in der Art und Weise der gedanklichen Auseinandersetzung sein wollte.

2.2.2) Die Shaftesbury-Übersetzung

Schon im „Essai sur le mérite et la vertu“, der mehr als eine kritische Auseinandersetzung mit Shaftesburys „Inquiry Concerning virtue or merit“, denn als reine Übersetzung angesehen werden kann, stellt Diderot klar: «Des athées qui se piquent de probité […]: voilà mes adversaires»26. Es wäre jedoch verfehlt, Diderot zum Zeitpunkt des Verfassens als einen frommen Christen einzuschätzen, da er hier erstmals die Grundgedanken seiner frühen Religionskritik äußert. In einem der Übersetzung vorstehenden Brief an seinen Bruder Didier, der als Priester in einer lebenslangen Feindschaft mit dem unchristlichen Diderot lebte, wägt er die Gottlosigkeit mit dem religiösen Fanatismus ab und kommt zu dem Schluss: «Il y a de la philosophie à l’impiété aussi loin que de la religion au fanatisme; mais du fanatisme à la barbarie, il n’y a qu’un pas.»27, was für ihn bedeutet, «que tous les efforts de l’incrédulité étoient moins à craindre que cette inquisition»28. Er vertritt damit ganz die Position Shaftesburys, der in diesem Werk zwar tolerant und gemäßigt eine „Versöhnung von Religion und Philosophie, von Naturwissenschaft und Ethik“29 vorschlägt, den religiösen Fanatismus aber scharf kritisiert.

Es muss erwähnt werden, dass Shaftesbury mit seinem Essay in erster Linie eine Moralphilosophie entwerfen will. In seinen „Pensées diverses“ stellt Montesquieu Shaftesbury auf eine Stufe mit Montaigne, Platon und Malebranche als «les quatre grands poètes“30 und meint damit die großen Schöpfer der neuen moralischen Werte. Diderot schließt sich Shaftesburys Grundsatz an, dass der Glaube an Gott und die Tugendhaftigkeit notwendigerweise untrennbar miteinander verbunden seien: «Point de vertu sans religion; point de bonheur sans vertu»31. und bekennt sich zum Theismus Shaftesburys, der diesen jedoch vom Deismus eines Aegil oder Toland unterschieden wissen will, da er selbst die Möglichkeit einer Offenbarung zugesteht. Da sich in Diderots Anmerkungen kaum konkrete Unterschiede zur Philosophie Shaftesburys finden lassen, kann man annehmen, dass auch er sich zu diesem Zeitpunkt auf dieser „nächste[n] Vorstufe zum Christentum“32 befand. Jaques-André Naigeon, Enzyklopädist und später Diderots erster Nachlassverwalter, versuchte, wie viele andere, diese theistische Haltung zu marginalisieren, weil ihnen, wie Rosenkranz sagt, „nur der atheistische Diderot der rechte Diderot ist“33.

2.3) Die „Pensées philosophiques“

Die „Pensées philosophiques“ wurden im Jahre 1746 veröffentlicht und werden als Weiterentwicklung der Anmerkungen, die Diderot in der Shaftesbury-Übersetzung äußerte, verstanden. Ähnlich dieser ist der eigentliche philosophische Gehalt „konventionell [und] gewiss nicht kühn“34. Furbank bezeichnet das Werk deswegen „as a kind of résumé or summa of freethinking arguments on religion […] that […] had been circulating for half a century“35. In seinem Werk veranschaulicht Diderot in 62 „unsystematische[n], scheinbar unzusammenhängende[n] Reflexionen“36 größtenteils Ideen, die Frühaufklärer wie Voltaire und Montesquieu schon Jahre zuvor aus England eingeführt hatten.

Obwohl das Werk also kaum wirklich neue Ansätze hervorbrachte, wurde es dennoch der Vorsicht halber anonym und mit Angabe eines holländischen Druckorts veröffentlicht, obwohl es in Paris unter Aufsicht des Verlegers Laurent Durand gedruckt wurde. Diderot versah das Titelblatt mit dem Zitat „Piscis hic non est omnium.“ und sollte Recht behalten: kurz nach der Veröffentlichung wurde es als „skandalös und gegen die Religion und die guten Sitten verstoßend“ verurteilt, da es „unruhigen und vermessenen Gemütern das Gift der frevlerischsten und widersinnigsten Meinungen, zu deren Verderbtheit der menschliche Verstand fähig ist“37 biete. Dabei waren es vor allem die ansprechende Form und leicht verständliche Sprache, die den Richtern als gefährlich erschienen und gegenüber denen andere, schwerfällige oder langweilige Erörterungen mit ähnlichen Inhalten im Hintertreffen waren. Die Verurteilung des Werkes durch das Parlement war für Diderot keineswegs von Nachteil. Hatte er eine solche Reaktion ohnehin schon erwartet, bewirkte das Urteil in erster Linie, dass beim gebildeten Publikum Interesse geweckt wurde. Diese breite Rezeption wird nicht zuletzt an den zahlreichen Widerlegungen seiner Schrift deutlich.38

Trotz des sprunghaften Charakters, der Diderot häufig zugeschrieben wird, lassen sich schon in seinem ersten eigenständigen Werk Konstanten erkennen, die bis zum Ende seines philosophischen Schaffens erhalten bleiben. An erster Stelle ist hier sein unsystematischer und lebhafter Stil zu nennen, der auch noch in den späten Werken wiederzufinden ist. Gerade in Bezug auf Glaubensfragen orientiert Diderot sich dabei nicht nur an Montaigne, sondern insbesondere an Pierre Bayle, der es in seinem „Dictionnaire historique et critique“ ebenso vorgezogen hatte, dem Leser ein Panorama an kontroversen Meinungen zu präsentieren, ohne dabei Partei zu ergreifen. Bei beiden war dies sicherlich auch eine Aufforderung an den Leser, sich selbst kritisch mit den entsprechenden Fragen auseinanderzusetzen und sich selbstständig eine Meinung zu bilden. Von noch größerer Wichtigkeit aber war es für die Autoren, dass diese Methode es ihnen ermöglichte, „die verfänglichsten Gedanken rasch durch andere wieder auszubalancieren und unter dem Anschein prinzipieller Rechtgläubigkeit recht verwegene Thesen vorzutragen“39. Dass diese Taktik dem Parlement wohl bekannt war, zeigt sich in der Urteilsbegründung des verbannten Werks: „mit vorgetäuschter Unentschiedenheit werden alle Religionen auf dieselbe Stufe gestellt, so daß schließlich keinerlei Religion anerkannt wird“40.

Und noch ein weiteres Kontinuum der Diderotschen Philosophie lässt sich bereits in dem ersten Satz, den er als eigenständiger Autor veröffentlicht, erkennen: sein Plädoyer für die Leidenschaften.

« … il n ’ y a que les passions & les grandes passions qui puissentélever l ’â me aux grandes choses. Sans elles, plus de sublime, soit dans les m œ rs, soit dans les ouvrages; les beaux arts retournent en enfance, & la vertu devient minutieuse. » (I)

[...]


1 Lepape, Pierre: Denis Diderot. Eine Biographie. Frankfurt am Main/New York 1994, S. 61

2 Noch, Curt (Hrsg.): Goethes sämtliche Werke, Band 34. Berlin o.J., S. 301 1

3 Rosenkranz, Johann Karl F.: Diderots Leben und Werke. Leipzig 1866, S. 51

4 Rosenkranz (1866): „Diderot […] bekennt sich hier offen zum Deismus.“, S. 52

5 Vartanian, Aram: From Deist to Atheist - Diderot’s philosophical orientation 1746-1749. In: Otis Fellows & Norman Lewis Torrey (Hrsgg.): Diderot Studies. Syracuse 1949, S. 47

6 Blom, Philipp: Böse Philosophen. München 2011, S. 78

7 Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1973, S. VII

8 ebd. S. IX

9 Mauthner, Fritz: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Band 1. Heppenheim 2010, S. 19-20

10 ebd. S. 94

11 Mauthner, Fritz: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Band 1. Heppenheim 2010, S. 27

12 Lücke, Theodor (Hrsg.): Denis Diderot: Philosophische Schriften. Berlin 1961, S. 8

13 Lepape, Pierre: Denis Diderot. Eine Biographie. Frankfurt am Main/New York 1994, S. 56

14 vgl. dazu auch: Diderot, Denis: Philosophische Schriften. Berlin 1961, S. VIII 4

15 Lepape, Pierre: Denis Diderot. Eine Biographie. Frankfurt am Main/New York 1994, S. 25

16 Blom vermutet, dass Diderot schon während seiner Schulzeit Pierre Bayles „Dictionnaire historique et critique“ gelesen hat, das als erstes großes Manifest der Aufklärung gesehen werden kann (S. 73), zudem sei er „tief in das cartesianische Gedankengut eingetaucht“ (S. 111) und habe „römische Autoren […] und einige griechische“ gelesen (S. 37). ; vgl. Blom, Philipp: Böse Philosophen. München 2011.

17 Friedenthal, Richard: Diderot. Ein biographisches Porträt. München 1984, S. 15

18 Andreas Heyer bezeichnet Montaigne als „entscheidende Autorität im Denken Denis Diderots“, was sich besonders in dessen „skeptische[r] Einstellung […] zu überlieferten Wahrheiten“ niederschlägt. ; vgl. Heyer, Andreas: Materialien zum politischen Denken Diderots. Hamburg 2004, S. 11

19 Lücke, Theodor (Hrsg.): Denis Diderot: Philosophische Schriften. Berlin 1961, S. IX 5

20 Lepape, Pierre: Denis Diderot. Eine Biographie. Frankfurt am Main/New York 1994, S. 61

21 Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1973, S. 7

22 ebd., S. X

23 Buffon, George-Louis Leclerc de: La statique des végétaux, et celle des animaux; experiences lues à la Société Royale de Londres. Paris 1735, S. VIII-IX

24 Winter, Ursula: Wissenschaftsmethodologie und Moral - Untersuchungen zur experimentellen Methode bei Diderot. In: Harth, Dietrich & Martin Raether (Hrsgg.): Denis Diderot oder die Ambivalenz der Aufklärung. Würzburg 1987, S. 157

25 Spitzer, Leo: Der Stil Diderots. In: Schlobach, Jochen (Hrsg.): Denis Diderot. Darmstadt 1992, S. 59

26 Naigeon, Jaques-André (Hrsg.): Œvres de Denis Diderot, Band 7. Paris 1798, S. 7

27 Naigeon, Jaques-André (Hrsg.): Œvres de Denis Diderot, Band 1. Paris 1798, S. 1

28 ebd. S. 3

29 Lücke, Theodor (Hrsg.): Denis Diderot: Philosophische Schriften. Berlin 1961, S. IX

30 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat: Œvres complètes de Montesquieu. Basel 1799, S. 268 7

31 Naigeon, Jaques-André (Hrsg.): Œvres de Denis Diderot, Band 1. Paris 1798, S. 4

32 Rosenkranz, Johann Karl F.: Diderots Leben und Werke. Leipzig 1866, S. 25

33 ebd.S. 27

34 Lücke, Theodor (Hrsg.): Denis Diderot: Philosophische Schriften. Berlin 1961, S. IX

35 Furbank, Philip Nicholas: Diderot: A critical biography. London 1992, S. 29

36 Lücke, Theodor (Hrsg.): Denis Diderot: Philosophische Schriften. Berlin 1961, S. X

37 Lepape, Pierre: Denis Diderot. Eine Biographie. Frankfurt am Main/New York 1994, S. 55 8

38 vgl. dazu: Rosenkranz, Johann Karl F.: Diderots Leben und Werke. Leipzig 1866, S. 38

39 Wuthenow, Ralph-Rainer: Diderot zur Einführung. Hamburg 1994, S. 43

40 Lepape, Pierre: Denis Diderot. Eine Biographie. Frankfurt am Main/New York 1994, S. 55 9

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Vom Deismus zum Atheismus. Zur Frage nach einer Konversion in Denis Diderots frühen Schriften
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Philosophy)
Note
1.3
Autor
Jahr
2013
Seiten
33
Katalognummer
V287269
ISBN (eBook)
9783656876953
ISBN (Buch)
9783656876960
Dateigröße
520 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
denis, diderot, deismus, atheismus, aufklärung, konversion, holbach, mettrie, voltaire, montesquieu, dogma, kirche, katholisch, zensur, frankreich, pensees, lettre, bayle, buffon, christentum, promenade, sceptique, absolutismus, feudal, naigeon, montaigne, pantheismus, bijoux, indiscrets, rousseau, materialismus, locke, berkeley, condillac, cassirer, rêve, alembert, blindenbrief, skeptizismus
Arbeit zitieren
Thomas Schwalbach (Autor:in), 2013, Vom Deismus zum Atheismus. Zur Frage nach einer Konversion in Denis Diderots frühen Schriften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/287269

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