Wie gegenwartsrelevant ist Adalbert Stifters "Brigitta"?


Hausarbeit (Hauptseminar), 1999

36 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Inhalt

1. Die Wirkung Stifterscher Prosa auf Jugendliche der 90er Jahre
1.1 Spontanäußerungen einer 9. Klasse zu „Brigitta“ im Deutschunterricht
1.2 Merkmale biedermeierlicher Kultur und Literatur
1.3 Stifters Gegenwart im 19. Jahrhundert

2. Adalbert Stifters Erzählung „Brigitta“
2.1 Anregungen zur Titelfigur
2.2 Forderung nach Emanzipation der Frau
2.3 „Seelenkunde“ als Vorläufer moderner Psychologie
2.4 Soziale und bildungspolitische Neuerungen

3. „Brigittas Welt“ als Gegenwelt
3.1 Verlust der Geborgenheit
3.2 Veränderung der Welt durch Wissenschaft und Technik
3.3 Domestizierung der Natur
3.4 Ausschluß des Wölfischen
3.5 Angst vor der Leidenschaft

4. Zur Wirkungsgeschichte Adalbert Stifters
4.1 Die Aufnahme der Werke Stifters im 19. und 20. Jahrhundert
4.2 „Stifter Revival“ nach dem 2. Weltkrieg
4.2.1 Biedermeierliche Züge der 50er Jahre
4.2.2 Tendenzen der 90er Jahre

5. Literaturverzeichnis

1. Die Wirkung Stifterscher Prosa auf Jugendliche der 90er Jahre

Die Frage nach der Gegenwartsrelevanz von Adalbert Stifters „Brigitta“ stellte sich in auffälliger Weise bei der Behandlung der Erzählung im Deutschunterricht einer 9. Klasse. Angeregt durch die Diskussion einiger Erzählungen des Biedermeier im literaturwissenschaftlichen Hauptseminar der Universität Koblenz, schien es mir eine lohnenswerte Herausforderung, die Wirkung Stifterscher Prosa auf Jugendliche der 90er Jahre zu erforschen.

Die 9a der Regionalen Schule Sohren-Büchenbeuren, eine Klasse, die im System der Regionalen Schule den Realschulabschluß anstrebt, befaßte sich unter meiner Leitung zwölf Deutschstunden lang mit der Erzählung „Brigitta“. Als Textvorlage diente Reclamheft Nr. 3911[1]. Die Schüler hatten zwei Wochen Zeit, sich vor Beginn der Unterrichtsreihe mit dem Text vertraut zu machen.

Die Schule befindet sich im ländlichen Gebiet „Hunsrück“. Mehr als 50% der Schüler kamen als Spätaussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR, die Mehrzahl davon besuchte jedoch in der Bundesrepublik die Grundschule oder die Orientierungsstufe.

Im Folgenden möchte ich auf eine detaillierte Darstellung der Unterrichtsreihe und ihrer Lernziele verzichten, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Einige auffällige Reaktionen der Schüler erscheinen mir jedoch erwähnenswert:

1.1 Spontanäußerungen einer 9. Klasse zu „Brigitta“ im Deutschunterricht

Am Tage vor Beginn der Unterrichtsreihe hatte ein Drittel der Schüler den Text noch nicht ganz gelesen. Vier Schüler gaben zu, nicht über die ersten acht Seiten hinausgekommen zu sein. Als Grund für diese Verzögerung wurde einhellig das Adjektiv „langweilig“ als Haupttextmerkmal genannt. Diese Beurteilung wurde später in differenzierterer Weise begründet:

- Satzlänge und Satzbau: Schon der dritte Satz der Erzählung umfaßt fast fünf Zeilen, der vierte Satz bereits acht Zeilen. (B. S. 3, Z. 6-11 und 11-18). Der teilweise sehr verschachtelte Satzbau erschwerte den meisten Schülern den Textzugang.
- Wortwahl: Stifters Sprache des 19. Jahrhunderts stieß erwartungsgemäß auf Verwunderung und Ablehnung. Nomen wie „Antlitz“, „Oheim“ oder „Lieblichkeit“, sowie Verbindungen wie „von der trüben Lohe der Leidenschaft“ (B. S. 63) oder „den keuschen Busen“ (B. S. 43) mußten regelrecht übersetzt werden.
- Struktur der Handlung: Die Schüler bemängelten das Fehlen spektakulärer Ereignisse und spannender Passagen. Lange, oft sprachlich sehr anspruchsvolle Naturschilderungen stellten ihre Geduld auf die Probe. Die Liebes- und Trennungsszenen erschienen ihnen zahm und kraftlos. Das „Happy End“ fanden sie zwar nett, aber für heutige Verhältnisse recht unrealistisch.

In einem „Brainstorming“ sollten die Schüler anschließend spontan Themen und Schlüsselwörter der Erzählung notieren, die als Diskussionsgrundlage dienen könnten oder zum Vergleich mit der heutigen Zeit herausforderten. Es ergaben sich folgende Hauptthemen:

- Liebe, Verliebtsein, Liebeskummer - Schönheit, Aussehen/Kleidung, Charakter
- Freizeitgestaltung zwecks Partnersuche - Scheidung, Kinder bei Ehescheidung
- Natur und Landwirtschaft - Aufenthalt im Ausland, Urlaub, Wandern

Mit Erstaunen stellten die Schüler fest, daß gerade diese Themenbereiche auch in ihrem eigenen Leben eine wichtige Rolle spielen, jedoch oft völlig anders realisiert werden. In folgenden Stunden wurde die Darstellung der Themen in enger Textarbeit untersucht. Weitere Unterrichtsziele waren, neben der Charakterisierung der Hauptpersonen, Umarbeitung des Erzählverlaufes in verschiedene Erzählversionen und Perspektiven, Transponierung der Handlung in Sprache (auch Jugendsprache) und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, Einblicke in Mobiliar und Kleidermode des Biedermeier, sowie bildliche und szenische Darstellung einiger Schlüsselszenen.

1.2 Merkmale biedermeierlicher Kultur und Literatur

Die oben geschilderte spontane Textkritik der Neuntkläßler weist überraschend präzise auf einige Hauptmerkmale der Kunst und Literatur zwischen 1820 und 1850 hin. Sie zielt auf den überladenen, oft weitschweifigen Stil Adalbert Stifters, auf seine peinlich detailgetreuen Beschreibungen der Natur, insbesondere der Landwirtschaft, auf seine Zurückhaltung gegenüber Empfindungen wie Sexualität und Leidenschaft und auf seinen Rückzug in ein „stilles Glück“ alternder Menschen.

Der von Ludwig Eichrodt zunächst als Parodie auf den naiven, verseschmiedenden Philister geprägte Begriff „Biedermaier“[2] erfuhr nach 1870 einen Bedeutungswandel zum Positiven, setzte sich nach der Jahrhundertwende als Stil- und Zeitbezeichnung in der heute gebräuchlichen Schreibweise auf verschiedenen Gebieten durch und wurde zum Kennzeichen einer schlichten, genügsamen, bürgerlichen Kultur. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er zunächst auf die Innenarchitektur und die bildende Kunst der Zeit übertragen. Seit Thomas Manns Buddenbrooks (1901) begann sich der Roman mit dem Biedermeier zu beschäftigen.

Während der Klassik galten die Aristokratie und das höfische Leben als kultureller Mittelpunkt. In der Romantik richteten vorwiegend adelige Dichter den Blick zurück auf das Mittelalter und verschlossen sich oft vor der Realität. Das Biedermeier vertritt im Gegensatz dazu eine rein bürgerliche Kultur, die sich in ihrer Begrenzung auf den häuslichen Bereich zunehmend mit der bürgerlichen Alltagswelt beschäftigt. Von Heinrich Heine als „Philisterromantik“ verspottet, zeigt sie den Einfluß eines geruhsam dahinlebenden Bürgertums, das in seiner behaglichen Stube alles Erregende, Ringende meidet. Ihr Bereich ist die eigene, beschränkte Häuslichkeit mit ihren Tugendidealen und ihrer kleinstädtischen Sittsamkeit.[3]

Im Gegensatz zu den Jungdeutschen, die den Idealismus ablehnten und sich politisch-fortschrittliches Gedankengut zur Veränderung der Gesellschaft aneigneten, erkannten Künstler des Biedermeier die Realitäten des 19. Jahrhunderts an und versuchten eine Harmonisierung von Ideal und Realität, eine Synthese des Realidealismus:

„Das Biedermeier beugte sich unter dem Dualismus des Lebens, den Klassik und Romantik hatten überwinden wollen. ... und erscheint als ‘der letzte konsequente Versuch, die christlich-universalistische Kultur zu retten (Friedrich Sengle). Die Ideale wurden bewahrt, aber der Gegensatz zur Wirklichkeit stark empfunden und zugegeben.“[4] Nach H.A. und E. Frenzel führte die Anerkennung des sittlichen Ideals jedoch zu Resignation und Entsagung im realen Bezirk. Auch machten die starken Kämpfe, die es kostete, von der idealistischen Sicht aus mit den Realitäten der Zeit fertig zu werden, aus den Dichtern des Biedermeiers häufig „Schwermütige, Fliehende, Verzweifelte, Hypochonder.“[5]

Gefahren der biedermeierlichen Geisteshaltung liegen, nach Frenzel, gerade in der Scheu vor der Tat, in der Neigung zum Quietismus, zur Unterordnung, zum Weg des geringsten Widerstandes. Nicht im Raum der großen Spannungen, sondern in der Enge des Alltags spielte sich die Begegnung mit der Realität ab. „Das Ideal biedermeierlicher Lebenserfüllung war, im engen Bezirk fruchtbar zu wirken.“[6] Zur Wahrung der Harmonie begrenzte man das Blickfeld und wandte die Aufmerksamkeit dem Kleinen, Unbedeutenden oder Absonderlichen zu. Hieraus erwuchs oft ein stiller Humor, sowie eine für jene Zeit typische Liebe zum Sammeln, Hegen und Katalogisieren.

Glaser u. a. beschreiben den dunklen Hintergrund dieser scheinbar so wohlbestellten Welt als „eine Stimmung des Weltschmerzes, wie sie in der Philosophie Arthur Schopenhauers begrifflich gefaßt wurde als eine gesamte ‘Verneinung des Willens zum Leben’.“[7]

Seelische Konflikte werden nie im Sichtbaren der dichterischen Aussage ausgelebt. Das Titanische des Ich wird verborgen und äußert sich, nach Glaser u.a., in einer die gesamte Dichtung durchziehenden müden Schwermut und Resignation. „Das explosive Bekenntnis des Ich wird unterdrückt und vermieden, wie es noch Adalbert Stifter in seinem Bildsymbol vom Waldsee ausspricht, dessen Tiefe zwar erregt, dessen Oberfläche aber unbewegt ist. Dieses Nichtäußern und Verbergenwollen des eigenen Konflikts, der eigenen Individualität, ist ein Zug des bürgerlichen Biedermeier und besonders in Österreich zur Zeit Metternichs das beherrschende Lebensgefühl.“[8]

Die Anwendung des Begriffes Biedermeier in der Literaturwissenschaft blieb nicht auf Deutschland oder Österreich beschränkt. Wie zahlreiche Veröffentlichungen der dreißiger und vierziger Jahre zeigen, erforschte beispielsweise der Literaturwissenschaftler G. Suits (1936) das baltische Biedermeier, E. Korrodi (1935) untersuchte die Schweizer, Béla Zolnai (1940) die ungarische und v. Stockum (1935) die niederländische Literatur. Auch in der englischen und französischen Literatur wurden biedermeierliche Züge herausgearbeitet, und selbst ein amerikanisches Biedermeier ließ sich nachweisen.[9]

1.3 Adalbert Stifters Gegenwart im 19. Jahrhundert

Versteht man Sprache als Erhellung der jeweiligen Wirklichkeit, so sollte die Frage nach der Gegenwartsrelevanz von Stifters „Brigitta“ auch vor dem Hintergrund der damaligen politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit untersucht werden, bevor das Wagnis einer Gegenüberstellung mit Sprache oder Themen des 20. Jahrhunderts unternommen wird.

Adalbert Stifters Gegenwart war geprägt durch eine im Volk weit verbreitete Kriegs- und Politikmüdigkeit. Nach Ende der Napoleonischen Kriege trafen die „von Gottes Gnaden“ herrschenden Monarchien eiserne Maßnahmen, ein Wiederaufkommen der revolutionären Ideale von Freiheit, Gleichheit und Demokratie zu verhindern. In den Jahren 1814 und 1815 tagte unter der Leitung des österreichischen Kanzlers Clemens Fürst von Metternich der Wiener Kongreß. Die „Heilige Allianz“, 1815 von Rußland, Preußen und Österreich gegründet, zielte auf die bedingungslose Unterdrückung aller liberalen und nationalen Bewegungen. Wolfgang Matz[10] bezeichnet die im Äußeren relativ lange Friedenszeit als „innere Friedhofsruhe“. Am Ende wurde Metternich, dem die Epoche von 1815 bis 1848 ihren Namen verdankt, damit zum „Totengräber des Habsburgerreiches“[11], denn was als Sicherheit und Solidarität gedacht war, entpuppte sich schnell als Erstarrung und Versteinerung. Auf die Probleme der Zeit, z.B. die Nationalitätenfrage, bürgerliche Freiheitsbestrebungen, die industrielle Revolution und die Entstehung der Arbeiterklassse, reagierte das Regime mit einem lückenlosen Unterdrückungsmechanismus. Kanzler Metternich verwandelte das Reich in einen Polizeistaat und stützte seine Macht auf den Adel, die Armee, den katholischen Klerus und das unermeßliche Beamtenheer. Zahllose Spitzel des Staatssicherheitsdiensts observierten jeden Bereich des öffentlichen und privaten Lebens. Die Zensur kontrollierte Presse, Literatur und Theater. Statt großer Tragödien Grillparzers und Hebbels wurde leichte, anspruchslose Kunst gefördert, die das Volk zerstreute statt zum Nachdenken zu ermutigen.

Vor diesem Hintergrund ist der quietistische Rückzug des Bürgers auf das enge Idyll der privaten Sphäre zu verstehen, welcher in vielen der oben beschriebenen Merkmale biedermeierlicher Kunst zum Vorschein kommt. Auch Adalbert Stifters Erzählung „Brigitta“ trägt Züge einer solchen Rückzugsliteratur und spiegelt gerade durch die Darstellung einer scheinbar harmonischen Umwelt die tieferen Ängste des Autors wider.

2. Adalbert Stifters Erzählung „Brigitta“

Stifters „Brigitta“ liegt, wie viele andere seiner Erzählungen, in zwei Fassungen vor. Die Urfassung wurde 1842 geschrieben und erschien 1844 in dem Almanach „Gedenke Mein! Taschenbuch für 1844“ mit dem Untertitel „Novelle“. Zwei Jahre später entstand die Endfassung, die zusammen mit „Abdias“ und „Das alte Siegel“ im Band 4 der Buchausgabe „Studien“ von Verleger Gustav Heckenast veröffentlicht wurde. Auf dieser sogenannten Studienfassung basieren die zahlreichen späteren Abdrucke wie auch die Textvorlage der vorliegenden Arbeit.

[...]


[1] Stifter, Adalbert: Brigitta. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 3911, Stuttgart 1994

(In der Folge beziehen sich alle Seitenangaben im Text mit dem Kürzel „B“ auf diese Ausgabe.)

[2] vgl. Ludwig Eichrodt (1827-1892): „Gedichte des schwäbischen Schulmeisters Gottlieb Biedermaier und seines Freundes Horatius Treuherz“ in den Münchner Fliegenden Blättern ab1855, später zusammengefaßt in „Biedermaiers Liederlust“, 1869, zitiert nach: Kohlschmidt, Werner u. Mohr, Wolfgang (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Band 1, Berlin 1958

[3] vgl. Glaser, H., Lehmann, J., Lubos, A. (Hg.): Wege der deutschen Literatur. Eine geschichtliche Darstellung. Frankfurt a.M. 1972, S. 192ff

[4] Frenzel, H. A. und E.: Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte. Band II: Vom Biedermeier bis zur Gegenwart. 6. Aufl. München 1970, S. 351

[5] a.a.O. S. 351

[6] a.a.O. S. 351

[7] Glaser, Lehmann u.a.: Wege der deutschen Literatur, S. 192

[8] a.a.O. S. 192

[9] vgl. Kohlschmidt/Mohr: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, S. 169ff

[10] vgl. Matz, Wolfgang: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge. Biographie. München 1995, S. 58 - 63

[11] a.a.O. S. 59

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Wie gegenwartsrelevant ist Adalbert Stifters "Brigitta"?
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Germanistik)
Veranstaltung
Deutsche Literatur von 1830 bis 1860
Note
1,2
Autor
Jahr
1999
Seiten
36
Katalognummer
V28708
ISBN (eBook)
9783638304122
ISBN (Buch)
9783638853408
Dateigröße
559 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Adalbert, Stifters, Brigitta, Deutsche, Literatur
Arbeit zitieren
Cornelia Peters (Autor:in), 1999, Wie gegenwartsrelevant ist Adalbert Stifters "Brigitta"?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28708

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