Die Ich-Identität chinesischer Frauen seit der Reformperiode in Partnerschaft, Liebe und Sexualität

Eine sozio-psychologische Analyse anhand der chinesischen Frauenliteratur seit den späten 1970er Jahren


Magisterarbeit, 2012

139 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 PROBLEMSTELLUNG, FORSCHUNGSSCHWERPUNKT UND BEDEUTUNG DER ARBEIT
1.2 FORSCHUNGSMETHODE, MATERIALGRUNDLAGEN UND AUFBAU DER ARBEIT

2 Theoretische Grundlagen, Hypothesenbildung und empirischer Forschungsstand
2.1 SOZIO-PSYCHOLOGISCHE (IDENTITÄTS-) KONZEPTE UND VERKNÜPFUNGSMODELLE
2.1.1 Definitionen von Identität
2.1.2 Der Identitäts- und Rollenwandel in der modernen Gesellschaft
2.1.3 Partnerschaft, Liebe und Sexualität als Teilbereiche der Identität
2.2 KENNZEICHEN UND MÖGLICHKEITEN ZUR MESSUNG VON ICH-IDENTITÄTEN
2.2.1 Der Prozess der Identitätsbildung und die Identitätszustände nach Marcia
2.2.2 Schreiben als eine Möglichkeit des Identitätsfindungsprozesses
2.3 HERLEITUNG DER ZENTRALEN FORSCHUNGSHYPOTHESE UND DER SUBHYPOTHESEN
2.4 OPERATIONALISIERUNG
2.5 EMPIRISCHER FORSCHUNGSSTAND

3 Der Wandel weiblicher Identitäten seit den späten 1970er Jahren
3.1 DER WIRTSCHAFTLICHE UND RECHTLICHE WANDEL UND SEINE AUSWIRKUNGEN AUF DIE PERSÖNLICHKEIT UND STELLUNG DER FRAU
3.2 DER CHINESISCHE FEMINISMUS UND DIE CHINESISCHE FRAUENFORSCHUNG SEIT REFORMBEGINN
3.3 WEIBLICHKEIT, SEXUALITÄT UND PARTNERSCHAFT SEIT DER REFORMPERIODE
3.3.1 Das neue Körperbewusstsein und das Zeigen der Weiblichkeit
3.3.2 Der allgemeine Wandel des Sexualitätsverständnisses und das sexuelle Recht der Frau in China
3.3.3 Die Jungfräulichkeit, der voreheliche Geschlechtsverkehr und die Bedeutung der Jugend für den Sexualitätswandel in China
3.3.4 Der Wandel der Ehe und des ehelichen Geschlechtsverkehrs
3.4 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

4 Der literarische Wandel und die Frauenliteratur seit der Reformperiode
4.1 DIE VORAUSSETZUNGEN ZUR ENTSTEHUNG EINER ALLGEMEINEN, KRITISCHEN LITERATURSZENE
4.2 DIE ENTWICKLUNG DER FRAUENLITERATUR SEIT BEGINN DER REFORMPERIODE
4.3 „LIEBE“ UND „IDENTITÄT“ IN DEN ERZÄHLUNGEN CHINESISCHER SCHRIFTSTELLERINNEN SEIT BEGINN DER REFORMPERIODE

5 Die Analyse des Romans „Shanghai Baby“ von Wei Hui
5.1 WEI HUI - EINE KURZE EINFÜHRUNG IN DAS LEBEN UND DIE WERKE DER SCHRIFTSTELLERIN
5.2 DAS WERK „SHANGHAI BABY“
5.2.1 Zusammenfassung des Romans
5.2.2 Themen und Schreibweise des Romans
5.2.2.1 Liebe und Ich-Identität
5.2.2.2 (Körper-) Bewusstsein, Innenleben und Ich-Identität
5.2.2.3 Großstadtleben
5.2.2.4 Autobiografische Darstellung
5.2.3 Die Analyse der Ich-Identität der Protagonistin ‚Ni Ke’
5.2.3.1 Eigenständiges Denken und eigene Entscheidungen treffen
5.2.3.2 Das Zulassen von Intimität in zwischenmenschlichen Beziehungen
5.2.3.2.1 Ni Kes Beziehungen
5.2.3.2.2 Die Affäre zwischen Ni Ke und Mark
5.2.3.3 Das Tätigen komplexer moralischer Überlegungen
5.2.3.4 Das Widersetzen von Konformitätsansprüchen
5.2.4 Konklusion
5.2.5 Die Bedeutung des Romans

6 Zusammenfassung

7 Anhang

8 Schriftzeichenglossar

9 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Problemstellung, Forschungsschwerpunkt und Bedeutung der Ar- beit

Mehrere gesellschaftswissenschaftliche, psychologische und pädagogische Wissenschaftler (wie z.B. Gossman, Mead, Habermas, Elias, Meyer etc.) haben herausgefunden, dass mit der Entstehung einer modernen, differenzierten Gesellschaft alte, traditionelle Werte nicht mehr existieren und einer Individualisierung und damit einhergehenden verstärkten Ich- Identität Platz gemacht wird. Unter dem Einfluss der neuen sozialisierten Rahmenbedin- gungen entfernt sich das Individuum immer mehr von alten, traditionellen Einheiten, so dass es einen neuen Rahmen der Identität finden muss bzw. (erstmalig) vor die Herausfor- derung gestellt wird, sich seine eigene Ich-Identität zu schaffen (vgl. Meyer 2008: 197f.). Auch die Volksrepublik China befindet sich seit 1978 in einem tiefgreifenden Modernisie- rungs- und Transformationsprozess, der durch die Reform- und Öffnungspolitik in den späten 1970er Jahren in Gang gesetzt wurde. Das Land wandelt sich seitdem schrittweise immer mehr von einem kommunistisch-starren Einheitssystem in eine differenzierte, mo- derne Gesellschaft. Dabei beeinflusst der Wandel des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umfeldes, der Einzug der Individualität und die moderne Konsumgesell- schaft auch die Wahrnehmung und Bedeutung der chinesischen Frau.

„Ab Ende der 1980er und spätestens seit den 1990er Jahren steht der (weibliche) Körper und sein Geschlecht vermehrt im Fokus der gesellschaftlichen und individuellen Aufmerksamkeit. Davon ausgehend entwickelten sich auch verschiedene neue Modelle von Sexualität, da der Körper dabei sowohl als Hauptakteur wie auch als Rezipient agiert und ein veränderter Umgang mit dem Körper dementsprechend auch auf die Sexualität zurückwirkt.“1

Somit ist es das Ziel dieser Arbeit herauszufinden, ob in China - in einem Land, das sehr stark von alten Traditionen und Wertvorstellungen bestimmt ist - im Rahmen des Moder- nisierungsprozesses eine solche Ich-Identität bei Frauen entstehen konnte und wie sich diese auf das partnerschaftliche Verhältnis auswirkt. Die Analyse des Wandels der Ich- Identität der Frau in den Bereichen der Liebe, Sexualität und Partnerschaft, d.h. im inti- men, zwischenmenschlichen Bereich, liegt darin begründet, dass dieser mir als der wich- tigste Bereich im sozialen Leben gilt und anhand dessen Veränderungen traditioneller Wer- te und Normen bestens analysiert werden können. Die Arbeit setzt sich somit mit folgen- den zentralen Fragestellungen auseinander:

1 Einleitung

Wie hat sich in China im Zuge der Modernisierungs- und Ö ffnungspolitik seit 1978 die Identit ä t bzw. Pers ö nlichkeit der chinesischen Frauen entwickelt bzw. gewandelt? Finden wir eigenst ä ndige Ich-Identit ä ten vor und wie wirken sich diese Ver ä nderungen auf das Verst ä ndnis von Partnerschaft, Liebe und Sexualit ä t aus?

Das Thema der weiblichen Ich-Identität in China bzw. die Herausbildung selbstbewus- ster, weiblicher Persönlichkeiten seit Beginn der Reformperiode wurde bisher kaum analy- siert. Ebenso bleiben die Auswirkungen, die dieser Wandel für die Partnerschaft und das Sexualverhaltens hervorbringt, bisher weitestgehend unerklärt. Diesen bisher relativ uner- forschten Bereich gilt es jedoch dringend zu erkunden, da der Identitätswandel nicht nur einen Wandel der Geschlechter, sondern auch einen tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandel bedeutet. Es bedarf deshalb einer enormen Aufmerksamkeit, wenn man bedenkt, dass „whether one traces back through China’s history and traditional culture or investigates the social realities of contemporary China, one discovers that the fate of Chinese women is always tied to their marital and family circumstances. From start to finish, the home has been the focus of women’s world.“2

1.2 Forschungsmethode, Materialgrundlagen und Aufbau der Arbeit

Die Beantwortung der oben genannten Fragen wird insbesondere mit Hilfe der chinesi- schen Frauenliteratur seit der Reformperiode unternommen. Da sich seit der Reform- und Öffnungspolitik die Literatur immer mehr von den ‚Fesseln des Staates’ löste und sich zu einem Medium wandelte, mit dessen Hilfe persönliche als auch gesellschaftliche Verände- rungen verarbeitet und dargestellt werden, ist es sehr naheliegend, dort Antworten auf mei- ne Fragestellungen zu finden. Denn „als historisch distinkte Phänomene kollektiver Wirk- lichkeitskonstruktion reagieren literarische Werke auf ihren Entstehungskontext und ver- mögen hiermit ‚Antworten’ auf soziokulturelle Herausforderungen zu liefern“ (Neumann 2003: 66).

Die Themen der Entstehung von weiblicher Ich-Identität als auch die unerfüllte Partner- schaft und Sexualität in der VR China waren bisher eher Tabuthemen und wurden nicht diskutiert, wohingegen sich jedoch seit den späten 1970er Jahren Räume des Schaffens und der Mitteilung dieser persönlichen, intimen Bereiche gebildet haben, so dass die seit den späten 1970er Jahren entstandene Literatur als ein äußerst aussagekräftiges Medium.

1.2 Forschungsmethode, Materialgrundlagen und Aufbau der Arbeit

standen werden kann, um diese Themen zu hinterfragen. „The 1980s debate over the deve- lopment of female consciousness concentrated on analysis of how female characters in women’s fiction deal with and feel about men and sexual relationships“ (Roberts 1999: 236). Des Weiteren kann mit Hilfe der Literatur die Frage der Ich-Identität der Frau aus weiblicher Perspektive betrachtet und auch das Innenleben der Frau genauer analysieret werden. Es soll hier ebenso der Frage nachgegangen werden, ob der Wandel und das Schreiben bzw. der Inhalt weiblicher Literatur nicht als Zeichen einer zunehmenden Selbstwertschätzung und eines Persönlichkeitswandels gewertet werden können, die auf eine Ich-Identität chinesischer Frauen hindeuten, sprich die Fähigkeit von Frauen, ihr eige- nes Leben zu gestalten, Entscheidungen zu treffen und gleichberechtigt zu sein.

Des Weiteren werden als Materialgrundlage für die Forschung sämtliche wissenschaftli- che Bücher, empirische Forschungen und Ergebnisse zum Thema Ich - Identitätsentwick- lung der Frau und Wandel von Partnerschaften und Sexualität seit 1978 herangezogen. Dabei dienen mir insbesondere aktuelle Forschungsberichte aus wissenschaftlichen chine- sischen Zeitschriften. Die chinesisch-sprachige Literatur wird dabei von der Verfasserin eigenständig übersetzt.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil der Arbeit, der das zweite Kapitel umfasst, behandelt Definitionen, Theorien und Verknüpfungsmodelle zum Thema Identität und Identitätsentwicklung. Ebenso werden Kriterien und Möglichkeiten zur Mes- sung von Ich-Identitäten vorgestellt. Nach Zusammenfassung und Vergleich der einzelnen Theorien werden aus den gewonnenen Erkenntnissen zentrale Forschungshypothesen als auch einzelne Subhypothesen gebildet. Es folgt die Operationalisierung des Forschungsde- signs, bevor abschließend ein Überblick über den empirischen Forschungsstand gegeben wird. Der zweite Teil der Arbeit beinhaltet die empirische Forschung zum Thema Ich- Identität chinesischer Frauen seit der Reformpolitik in Partnerschaft, Liebe und Sexualität. Dabei wird unter Zuhilfenahme der chinesischen Frauenliteratur analysiert, wie sich weib- liche Identitäten gewandelt haben und welche Auswirkungen dies auf die Bereiche Partner- schaft, Liebe und Sexualität genommen hat. Der zweite Teil gliedert sich somit in folgende drei Kapitel: Das dritte Kapitel befasst sich mit einzelnen Makro- und Mikrofaktoren, die einen Wandel der weiblichen Identität begünstigt haben. Es werden die Auswirkungen auf die Bereiche der Weiblichkeit, der Sexualität und der Partnerschaft aufgezeichnet. Unter Bezugnahme empirischer Forschungen wird herausgearbeitet, wie sich das Sexualitätsver- ständnis in China gewandelt hat und wie Sexualität gegenwärtig ausgestaltet ist. Kapitel 4 liefert einen Überblick über die Entwicklung der chinesischen Frauenliteratur seit der Re- formperiode. Im Zentrum stehen die literarische Darstellung der Entwicklung weiblicher Ich-Identitäten und die damit einhergehenden Veränderungen in den Bereichen der Part- nerschaft, der Liebe und der Sexualität. Kapitel 5 umfasst die Analyse des modernen Frau- enromans „Shanghai Baby“ (Shanghai baobei к⎧ᇍ䍍) von Wei Hui ছភ unter dem Aspekt der Entstehung einer weiblichen Ich-Identität. Der Roman eignet sich besonders für diese Untersuchung, da er aufgrund seiner Thematik und Aktualität gegenwartsbezogene Trends und Entwicklungen weiblicher Identitäten exemplarisch aufzeigt. Eine Bewertung und die Bedeutung des Romans für die chinesische Literatur - und Identitätsentwicklung schließen das Kapitel ab.

Im dritten Teil der Arbeit, bestehend aus Kapitel 6, werden die Hypothesenüberprüfung vorgenommen und die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst. Ein Ausblick in die zukünftige Entwicklung der Ich-Identitäten chinesischer Frauen rundet die Arbeit ab.

2 Theoretische Grundlagen, Hypothesenbildung und empiri- scher Forschungsstand

2.1 Sozio-psychologische (Identitäts-) Konzepte und Verknüpfungsmo- delle

Der Begriff der Identität weist eine Vielzahl von Definitionsmöglichkeiten auf. Es geht in dieser Arbeit um die in Richtung des Individualismus tendierenden Veränderungen, d.h. die Herausbildung des Teilbereiches der Identität, der als Ich-Identität bzw. selbständige Persönlichkeit bezeichnet wird. Die Betonung liegt demnach auf der selbstbestimmenden, wertzuschreibenden bzw. würdevollen Komponente der Persönlichkeit. Dabei geht es bei der Persönlichkeit „um jene Charakteristika oder Merkmale des Menschen, die konsistente Muster des Fühlens, Denkens und Verhaltens ausmachen“ (Pervin et al. 2005: 50). Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Persönlichkeit bzw. Identität nur aus der „inneren Welt“ gründet. Der Begriff der Identität enthält neben der psychologischen Selbstdefinition, d.h. wie sich der Mensch selbst sieht und sich im Laufe seiner Lebensgeschichte entwickelt, die soziale Umwelt, in der das Individuum steht und welche das Individuum maßgeblich prägt. Aufgrund des weitgreifenden Begriffes der Identität, ist eine präzise Auseinander- setzung mit diesem für das Verständnis der Arbeit unabdingbar.

2.1.1 Definitionen von Identität

Identität wird meistens in eine dichotome Struktur gesetzt, die sich zum einen aus subjekti- ver Selbsterfahrung und zum anderen aus der Interaktion des Individuums mit seiner Um- welt bzw. seinen Interaktionspartnern speist. William James, Begründer der sozialpsycho- logischen Identitätstheorie, fasst diese beiden Aspekte der Identität in der Begriffsoppositi- on von ‚I’ und ‚me’ zusammen. Dabei ist James der Auffassung, dass die Identität eines Individuums immer durch ein Spannungsverhältnis von Innen- und Außenperspektive ge- prägt wird (s. Gymnich 2003: 31). Die Identität gestaltet sich des Weiteren in verschiede- nen Lebenswelten und Umgebungen unterschiedlich aus, wobei insbesondere familiäre, kulturelle, ethische und ästhetische Wertsysteme einen erheblichen Einfluss auf die Identi- tätsentwicklung haben (s. Keupp et al. 1999: 110, Kernberg 1983: 363).

Erving Goffman setzte dieser dichotomen Struktur von ‚Ich’ und ‚Umwelt’ bzw. von ‚I’ und ‚me’ eine triadische Struktur entgegen, nach der sich Identität aus folgenden drei Fak- toren speist: die ‚soziale Identität’, die ‚persönliche Identität’ und die ‚Ich-Identität’. Wäh- rend soziale als auch persönliche Identität dem Einfluss der Umwelt zugeschrieben wer- den, bildet allein die Ich-Identität die individuelle, unabhängige, selbständige Komponente der Gesamtidentität (s. Gymnich 2003: 31f.). So definiert Goffmann die Ich-Identität wie folgt:

„Auf der anderen Seite ist Ich-Identität zuallererst eine subjektive und reflexive Angelegenheit. [...] Natürlich konstruiert das Individuum sein Bild von sich aus den gleichen Materialien, aus denen andere zunächst eine soziale und persönliche Identifizierung konstruieren, aber es besitzt bedeutende Freiheiten hinsichtlich dessen, was es gestaltet.“3

D.h. die Person erhält ihre Identität erst dann, wenn sie sich zu einem „freien zu-sich- Halten“ bekennt und ihr Leben eigenständig gestaltet (s. Friebus-Gergely 1994: 170). Des Weiteren handelt es sich bei einer Identitätsentwicklung immer um einen lebens-langen Konstruktionsprozess, der nie beendet ist (s. Gymnich 2003: 31). So definiert Mead (1988):

„Identität entwickelt sich; sie ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses, das heißt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zu diesem Prozess als Ganzem und zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozes- ses.“4

Identität vollzieht sich somit auch in Interaktionen bzw. wird sie in Interaktionen immer wieder neu ausgehandelt (s. Gymnich 2003: 30). Daraus folgt, dass sich Identität permanent bildet - sie ist „bestenfalls greifbar als momentaner, aber höchst fluktuierender Zustand“ (Frey/Haußer 1987: 11). Dies bedeutet wiederum, dass sich Identität immer aus Vergangenheit und Gegenwart zusammensetzt. So betont William James, dass Identität nicht nur das „present self“ beinhaltet, sondern auch das „self of yesterday“ (s. James 1950: 332). Die Erfahrungen, die ein Mensch in der Vergangenheit gesammelt hat, prägen das Denken und Handeln eines Menschen und bilden somit einen wesentlichen Anteil an der Identität (s. James 1950: 332; Eriskon 1997: 180).

2.1.2 Der Identitäts- und Rollenwandel in der modernen Gesellschaft

Die Veränderung der sozialen Umwelt hat Gesellschaften und deren Akteure dazu ge- bracht, ihre Identitäten in Anlehnung an die differenzierten, individualistischen Strömun- gen dieser Gesellschaft anzupassen. So schreibt Hall: „The old identities which stabilized the social world for so long are in decline, giving rise to new identities and fragmenting the modern individual as a unified subject“ (Hall 1992: 274). Habermas’ Theorie moderner Handlungsrationalisierung geht auf den Wandel der Gesellschaft in eine moderne, diffe- renzierte Gesellschaft ein und setzt diese Veränderungen in Bezug zum Wandel der Identi- täten. Seiner Theorie liegt der Kausalitätszusammenhang zugrunde, dass „systemische Dif- ferenzierungen zwingenden Einfluss auf den Vorgang der Identitätsbildung der Akteure haben“ (Kalupner 2000: 163). Habermas’ Denkfigur zufolge „verhalten sich die Vorgänge der Entstehung individueller Identitäten reaktiv auf die Einflüsse der sich differenzierenden Umwelt“ (Kalupner 2000: 163). Der Wandel der Lebenswelten zu ausdifferenzierten Le- benswelten haben die Menschen dazu gebracht, „ihre Identität in einer qualitativ grund- sätzlich neuen Weise herzustellen als dies in vormodernen Lebensformen der Fall ist“ (Kalupner 2000: 162).

„Während in vormodernen Lebenswelten wert- und zweckorientierte Inhalte des Handelns noch ungeschieden miteinander einhergingen, kristallisiert sich beim Übergang in die funktional differenzierte Lebenswelt eine zunehmende Loslösung der Handlungsentwürfe von werthaften Motiven heraus.“5

Somit „geht die Bindung an gewohnheitsmäßig vorausgesetzte Konventionen verloren und damit auch die normative Kraft kulturell-sprachlich tradierter Verhaltensmuster“ (Kalupner 2000: 158), was zur Entstehung einer Ich-Identität nicht-konventioneller Art führt (s. Ha- bermas 1988: 224). Bereits Durkheim stellte die These auf, dass „in dem Maß, wie man in der Entwicklung fortschreitet [...] die Bande lockerer (werden), die das Individuum an die Familie, an die Heimat, die Traditionen [...] und die Kollektivgebräuche binden (Durkheim 1977: 441). Somit finden wir bereits in früheren klassischen Theorien der Soziologie die Argumentation, dass vor- bzw. frühbürgerliche Traditionen zu Gunsten einer selbstschaf- fenden Identität im Verlauf der Entwicklung verändert und allmählich aufgelöst werden. Dieses Abstreifen traditioneller Normen ermöglicht nicht nur das Abstreifen von Ge- schlechterrollen, die dem Individuum im Prozess der Sozialisation vermittelt werden, son- dern bietet auch die Möglichkeit einer emanzipatorischen Veränderung der Geschlechter- rolle (s. Gymnich 2000: 38f.).

Mit den Schwierigkeiten sich aus traditionellen, geschlechtsspezifischen Geschlechter- rollen zu lösen und eine Veränderung der Geschlechterrolle und damit einhergehend eine Veränderung der Identität hervorzurufen, sehen sich insbesondere Frauen in patriarchalen Gesellschaften konfrontiert. Die Überhöhung der Mutter-, Haushalts- und Ehefrau-Rolle in patriarchalischen Ideologien verhindert die Bildung einer eigenen, selbst gewählten Identi- tät außerhalb dieser Rollenvorgaben. D.h. für die Ausbildung von Individualität gibt es keinen Raum. Das Einzige, was gegeben sein muss ist Anpassung, was zur Aufgabe der eigenen Persönlichkeit führt (vgl. Gymnich 2000: 42). Dieser Unterordnung der Frau steht meistens die Dominanz der Männlichkeit gegenüber. Laut Foucault ist es „dieser Mangel eines nicht auf Egalität gegründeten Geschlechtercodes, der die homosexuelle Liebe zwi- schen Männern und Frauen zu einer solchen Bedrohung für unsere Kultur werden lässt“ (Leira/Krips 1996: 130). Denn diese Ehe lebt diesen Code weiter und führt damit weiterhin zur Unterdrückung der Frau, die in der Ehe nur noch Unterdrückung und Entfremdung ihrer selbst vorfindet. „Solange der patriarchale Mythos der verheirateten Frau als Tabu unangetastet bleibt, so lange sind Frauen und die Kultur, in der sie leben, nicht frei“ (Lei- ra/Krips 1996: 131) und können keine eigene Ich-Identität bzw. Persönlichkeit entwickeln. Der Wegfall dieser patriarchalen Ideologien eröffnet die Möglichkeit der Entstehung eige- ner Ich-Identitäten und Persönlichkeiten.

2.1.3 Partnerschaft, Liebe und Sexualität als Teilbereiche der Identität

Zwischenmenschliche Beziehungen sind für die Etablierung eines Selbstkonzeptes und einer eigenen Identität essentiell. „Wenn wir nicht in einer Gesellschaft mit anderen Men- schen aufwachsen würden, wären wir nicht einmal „Personen“ in dem Sinne, wie dieser Begriff im Allgemeinen verstanden wird“ (Pervin et al. 2005: 41). So verwundert es nicht, dass Partnerschaften, Ehe und Intimität für die Identitätstheorien nicht nur zentrale The- men, sondern auch wichtige Stützpfeiler im Verständnis von Identität sind (s. Keupp 1999: 129). Der Mensch existiert nicht nur aus sich heraus existiert, sondern entwickelt sich im- mer auch aus der Wechselbeziehung mit anderen Menschen. Gemäß der intersubjektiven Theorie entwickelt sich somit Identität „in und durch Beziehungen und bleibt an sie ge- bunden. Ablösung ist notwendig und Beziehung ist trotzdem nötig“ (Luca 1998: 69). Die Identitätsentwicklung einer Person muss somit als intersubjektiv verstanden werden, da „sich das „Spezifische“ einer Person nur in Bezug auf einen „signifikanten Anderen“ und besonders gut auf den sehr signifikanten Anderen einer Intimbeziehung erkennen und beschreiben lässt“ (Keupp et al. 1999: 138). Deshalb wird „Identität im Bereich von Intimität und Partnerschaft in starkem Maß als von einem signifikanten Anderen abhängig und auf diesen bezogen erfahren“ (Keupp et al. 1999: 150). So stellte der Psychoanalytiker Erich Fromm (1956) die These auf, „dass Liebe eine Antwort auf die Frage der menschlichen Existenz sei. Der Mensch nehme Stellung zum Problem des Isoliertseins und finde eine Lösung in der Liebe“ (Friebus-Gergely 1994: 15). Dabei wird reife Liebe nach Fromm daran geknüpft, „dass der Mensch sich sowohl einem Du hingeben, aber auch seine eigene Identität bewahren kann“ (Friebus-Gergely 1994: 15).

Die Bewahrung der eigenen Identität bzw. die Kenntnis der eigenen Identität stellt auch der Psychoanalytiker Erik H. Erikson in das Zentrum funktionierender Paarbeziehungen. Erikson sieht „Identität als Basis der Fähigkeit zur psychosozialen Intimität, zum körper- lich nahen, aber auch emotionalen Bezogensein auf einen anderen Menschen, deren Kehr- seite die Fähigkeit zur Distanzierung ist“ (Keupp et al.: 1999: 137). Diese Wechselbezie- hung zwischen Bindung und Autonomie ist ganz entscheidend für das Gelingen von Part- nerschaften und gilt als Basis eines „Identitätsgefühls“ (s. Keupp et al. 1999: 137). Um sich körperlich nahe zu fühlen, bedarf es zunächst einer Ich-Identität, d.h. das Wissen, wer man ist. So schreibt Erikson, „dass es keine wahre Zweiheit gibt, bevor man nicht selbst eine Einheit ist“ (Erikson 1973: 168). Auch laut Otto F. Kernberg (amerikanischer Psychoana- lytiker) kann man nur andere Menschen lieben, wenn man sich selbst, d.h. seine eigene Persönlichkeit bzw. Identität kennt und liebt. Kernberg bringt dies deutlich zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Ich dagegen bin der Auffassung, dass es keine sinnvolle Liebesbezie- hung ohne Fortdauer des Selbst, ohne feste Grenzen des Selbst geben kann, die das Gefühl der Identität erzeugen“ (Kernberg 1988: 332). Des Weiteren realisiert sich eine Partner- schaft nur dann, wenn sie auf Gegenseitigkeit bzw. Gleichberechtigung aufbaut. „Nur wenn diese Beziehung frei vom „Mittel zum Zweck“ ist, kann wirkliche Begegnung statt- finden“ (Friebus-Gergely 1994: 167). Gegenseitigkeit bzw. Gleichberechtigung gilt als Grundlage dafür, dass der Mensch in der Beziehung weiter Ich bleiben kann bzw. Ich wer- den kann (s. Buber 1984: 15). Die „wechselseitige Anerkennung von Verschiedenheit“ sei ein wesentliches Kriterium für das Gelingen von Partnerschaften (s. Benjamin 1993). „Das setzt voraus, dass die auch in den klassischen Geschlechterrollen mittransportierte Domi- nanz durchbrochen und die Autonomie beider Partner gegenseitig respektiert werden kann“ (Keupp et al. 1999: 152). Verhandlungen „erfordern Absprachen und das Aufeinander-Eingehen der Partner. Das gelingt wiederum nur auf der Ba- sis prinzipieller Gleichberechtigung. Dominiert einer der Partner den anderen bzw. lässt sich der eine vom anderen dominieren, kommt es über kurz oder lang zur Unstimmigkeit und zur Entfremdung der Perso- nen.“6

Im Zuge der Partnerschaft kommt der Sexualität eine besondere Bedeutung zu. Sexualität ist „in das Gesamthafte menschlicher Empfindungen eingebettet und somit in engem Zusammenhang mit der jeweiligen Beziehungsaufnahme zum Partner zu sehen, in welcher Gefühle wie Liebe, Zuneigung, Wohlwollen, Fürsorge, das Bedürfnis nach Nähe sowie Kooperation eine zentrale Rolle spielen.“7

Laut Boss (1974) repräsentiert Sexualität die menschliche Beziehungsfähigkeit in leiblicher Gestalt oder Konkretisierung (s. Friebus-Gergely 1994: 21). „Das Nähe- und Zärtlichkeitsbedürfnis reicht ins Körperliche hinein und wird sexuell. [...] Die Bestätigung des Du konkretisiert sich am Leibe“ (Friebus-Gergely 1994: 21).

Gemäß der psychoanalytischen Studien Sigmund Freuds sind die Entdeckung und das Ausleben von Lustempfindungen für das Selbstgefühl unentbehrlich (s. Freud 1962: 96). Mit der Verhinderung wird die sexuelle Aktivität der Frau unterbunden als auch ihr eigener Körper ausgeschlossen, ihre Gefühle und Bedürfnisse dürfen nicht ausgelebt werden, d.h. sie darf nicht so sein, wie sie ist. Auf diese Weise wird ihr ein wesentlicher Teil ihrer Identität abgesprochen bzw. verboten.

„Somit erschwert oder verunmöglicht also die Sperrung der somatisch-psychischen Grenze die Entwicklung und Aufrechterhaltung eines autonomen seelischen Gleichgewichts, da der Konstituierungsprozess des Selbstgefühls von der Zufuhr sinnlicher Lustgefühle abhängig ist.“8

Die Entfremdung gegenüber den innersten Bedürfnissen, die tiefe Unkenntnis der eigenen sexuellen Empfindungen und Wünsche trägt laut Freud (1962) somit zu einer mangelnden Ich-Identität und Aggressivität bei (s. Berna-Simons 1984: 156). Dabei stelle Freud (1962) fest, dass die Unterdrückung der Sexualität der Frau oftmals auf kulturelle Vorgaben zu- rückzuführen sind, die es der Frau verbieten, sexuelle Lustbedürfnisse auszuleben. Diese kulturellen Vorgaben werden hauptsächlich von der Erziehung der Familie an die Kinder weitergegeben (s. Freud 1962: 95). Erziehung kommt dabei einem „permanenten Deforma- tionsprozess“ (Berna-Simons 1984: 156) gleich. Sexualität als die intimste und innigste Form der Zusammengehörigkeit ist somit als etwas natürliches, sprich Ich-zugehöriges zu verstehen. „Sexuelles Leben dient, vom Individuum her gesehen, der Selbstfindung, in der das scheinbar Triebhafte sich als Ich-zugehörig erweist, und sich im Austausch mit anderen vollzieht“ (Bittner 1982: 19). Dabei werden in der sexuellen Leidenschaft gleichzeitig „die Grenzen des Selbst überschritten, die Welt der Objektbeziehungen wird transzendiert, es kommt zu einer eigenen, neuen, persönlichen Welt des Paares“ (Friebus-Gergely 1999: 137). Da man sich in der Sexualität am offensten und „unbedecktesten“ entgegensteht, kann Sexualität nur stattfinden, wenn man sich selbst liebt bzw. eine eigene Identität ent- wickelt hat. Wenn diese nicht vorhanden ist, kann sich der Mensch nicht öffnen, was eine Grundvoraussetzung von Sexualität ist. Partnerschaft, als die intimste Form der zwischen- menschlichen Beziehung, kann somit nur dann funktionieren, wenn beide Partner eine Ich- Identität aufgebaut haben und sich in der Beziehung in ihrem Personsein akzeptieren, re- spektieren und unterstützen.

2.2 Kennzeichen und Möglichkeiten zur Messung von Ich-Identitäten

Im oberen Kapitel wurden bereits verschiedene Definitionen und Theorien von Identität dargestellt. Im nächsten Unterabschnitt dieses Kapitels ergibt sich die Frage, wie Ich- Identität bzw. der Ausdruck einer gleichberechtigten, wertschätzenden Persönlichkeit fest- gestellt werden kann. Im folgenden werden zwei theoretische Konstrukte bzw. Theorien dargestellt, mit deren Hilfe die Ich-Identität der chinesischen Frau untersucht werden soll.

2.2.1 Der Prozess der Identitätsbildung und die Identitätszustände nach Marcia

James E. Marcia, kanadischer Entwicklungspsychologe und Jugendforscher, baute das Identitätskonzept der psychosozialen Entwicklung von Erik Erikson weiter aus. Im Gegen- satz zu Erikson erarbeitete Marcia jedoch ein Modell der Identitätsentwicklung, das nicht von einer altersgebundenen Phaseneinteilung der menschlichen Identitätsenwicklung aus- geht (s. Haußer 1995: 79). Ein Individuum kann laut Marcia in jedem Alter seinen Identi- tätszustand verändern. Dabei wird zwischen vier Identitätszuständen, die nicht als ein se- quenzieller Prozess gesehen werden, unterschieden. D.h. ein Identitätszustand ist laut Mar- cia keine Folge eines bestimmten vorhergehenden Identitätszustandes (s. Haußer 1995: 82; vgl. Marcia 1966: 551-558). Die vier Identitätszustände nach Marcia lauten:

1. „Der Zustand der „Übernommenen Identität“: In diesem Zustand geht das Indivi- duum eine innerliche Verpflichtung ein, die jedoch sehr stark an die Auffassungen der Eltern gekoppelt ist. Es befindet sich allerdings in keiner Krise.
2. „Der Zustand der Diffusen Identität“: Das Individuum empfindet keinerlei innerli- che Verpflichtung. Es ist entscheidungsunfähig, desorientiert und desinteressiert. Dieser Zustand kann zu einer Krise führen.
3. „Der Zustand des Moratorium“: Das Individuum muss sich zwischen verschiedenen Alternativen entscheiden, was ihm nicht gelingt. Dies versetzt es in eine Krise, aus der es sich innerlich verpflichtet fühlt, herauszukommen und nach einer Lösung sucht.
4. „Der Zustand der „Erarbeiteten Identität“: Dieser Zustand wird nach einer erfolg- reich überwundenen Krise erreicht. Voraussetzung hierfür ist die kritische Reflexion des sozialen und des elterlichen Einflusses im Zuge dessen das Individuum zu einem eigenen Standpunkt gelangt (s. Haußer 1995: 81).

Die Erarbeitete Identität gilt als bestmöglicher Entwicklungszustand, da sie dem Indivi- duum nicht nur ein vergleichsweise höheres Niveau der moralischen Urteilsbildung er- laubt, sondern sich auch als der stabilste Identitätszustand erweist (s. Haußer 1995: 83). Marcias Identitätsmodell besagt, dass dieses Ziel bzw. dieser Zustand der Erarbeiteten Identität vorliegt, wenn folgende vier Merkmale gegeben sind: 1. Eigenständig denken, 2. Intimität in zwischenmenschlichen Beziehungen zulassen, 3. Komplexe moralische Über- legungen anstellen und 4. Sich Konformitätsansprüchen der Gruppe oder Manipulationen des Selbstwertgefühls seitens der Gruppe widersetzen (Marcia 1994: 59ff.). Anhand dieser vier Merkmale wird das Individuum sowohl in seiner Eigenständigkeit als auch in seinem Bezug zur Umwelt bzw. zu seinen Mitmenschen analysiert. Darüber hinaus erfasst es die Komponente der zwischenmenschlichen Beziehung und der Sexualität, wobei Marcia im Rahmen seines Modells einen Zusammenhang zwischen Identitätsentwicklung und Part- nerschaft feststellte:

„Wer in Erarbeiteter Identität oder Moratorium geblieben war oder sich dorthin entwickelt hatte, stand nun eher in einer stabilen gleichberechtigten Partnerbeziehung als die anderen“ (Haußer 1995: 83). Außerdem stellte er einen Zusammenhang zwischen Identitätszustand und Selbstwertgefühl fest. Mit seinen empirischen Forschungen konnte er nachweisen, dass Personen im Zustand der Erarbeiteten Identität und im Zustand des Moratorium ein höheres und stabileres Selbstwertgefühl aufweisen als Personen im Zustand der Übernommenen und Diffusen Identität (s. Haußer 1995: 82).

2.2.2 Schreiben als eine Möglichkeit des Identitätsfindungsprozesses

Die beiden Feministinnen Hélène Cixous und Luce Irigaray haben zwei alternative Ent- würfe weiblicher Identität formuliert, in denen weibliches Schreiben (é criture f é minine) und Sprechen (parler femme) eine Schlüsselrolle spielen (s. Gymnich 2000: 52f.). Beide Feministinnen sind der Auffassung „dass Sprache bzw. Schrift der Ort ist, an dem gesell- schaftliche Wirklichkeit wie individuelles Bewusstsein sich konstituieren“ (Weber 1994: 22). Somit bewerten Cixous und Irigaray das Weibliche neu und entwickeln ein Konzept des weiblichen Schreibens bzw. Sprechens mit dessen Hilfe sich Individualität und Identi- tät entfachen (s. Gymnich 2000: 53).

Den Ausgangspunkt für Cixous Forderungen nach einem weiblichen Schreiben bildet die Auffassung, dass die Frau in der sprachlich-symbolischen Ordnung keinen Raum habe, d.h. nicht befähigt sei, im literarischen Umfeld tätig zu sein. Cixous zieht aus dieser Prä- misse den Schluss, dass die symbolische Ordnung eine Entfremdung der Frau von ihrem Selbst fördere. Ein Schreiben in dieser weiblichen Sprache, eine é criture f é minine, sei deshalb notwendig, um den Frauen einen Ausbruch aus jenem Schweigen zu ermöglichen und zu ihrer eigenen Identität zu finden. D.h. die é criture f é minine soll der Frau einen Ort eigener Subjektwerdung geben und die Möglichkeit herstellen, die symbolische Ordnung zu reformieren (s. Würzbach 1995: 146).

„E criture f é minine ist gleichbedeutend mit einem Selbstfindungsprozess und einem Wiederentdecken des weiblichen Körpers. Indem die Frau weiblich schreibt, konstituiert sie ihre Identität und überwindet damit die durch symbolische Ordnung bewirkte Entfremdung von ihrem Körper.9

Laut Cixous sind somit weibliches Schreiben, Identitätsfindung und die Beziehung zum eigenen Körper eng miteinander verbunden (s. Gymnich 2000: 55).

Luce Irigarays Auffassung weiblicher Identität ähnelt Cixous’. Den Ausgangspunkt ih- rer Theorie des weiblichen Sprechens „bildet ebenfalls die Annahme einer Entfremdung vom eigenen Selbst, der die Frau in der symbolischen, männlichen Ordnung ausgesetzt sei“ (Gymnich 2000: 57). Dabei bestimmte sich das ‚Weibliche’ immer durch das Männliche. Durch diese dominierende männliche Sicht- und Definitionsweise wurde das weibliche Selbst in seiner eigenen Identität behindert, so dass dies zu einer Entfremdung des eigenen Ichs führte (s. Irigaray 1976b: 40). Deshalb gelte es, diesen Zustand der Immobilität in einem weiblichen Sprechen bzw. ‚Frau Sprechen’ (parler femme) zu überwinden (s. Gym- nich 2000: 59).

Auch laut Keupp wird die Identitätsbildung wesentlich mit dem Mittel der Selbstnarra- tion erreicht. „Erzählend organisiert das Subjekt die Vielgestaltigkeit seines Erlebens in einem Verweiszusammenhang“ (Keupp 1999: 207f.). Somit liefern Selbsterzählungen - unabhängig vom Geschlecht- immer Antworten auf die Frage: „Wer bin ich?“ (s. Keupp 1999: 208), wobei „Selbsterzählungen nicht einfach Ergebnisse kommunikativer Prozesse [sind]. Indem sie sich auf das gesellschaftlich verfügbare Formenpotential stützen, schreiben sich die darin eingewobenen Machtbeziehungen auch ein in die Ausgestaltung individueller Erzählungen.“10

2.3 Herleitung der zentralen Forschungshypothese und der Subhypo- thesen

Auf der Basis ausgewählter sozio-psychologischer Theorien wurden vielfältige Faktoren, die Identität bestimmen, genannt und Ich-Identität als ein wesentlicher Faktor zur Entste- hung einer „Gesamt-Identität“ herausgearbeitet. Anhand dieser Theorien und Merkmale soll nun bei chinesischen Frauen untersucht werden, ob in China im Zuge der modernen, differenzierten Gesellschaftsentstehung seit der Reformperiode eine Ich-Identität bei chi- nesischen Frauen entstanden ist und wie diese in Liebe, Sexualität und Partnerschaft zur Geltung kommt.

Ich entnehme aus den Theorien die einzelnen Faktoren der Identität und untersuche unter Zuhilfenahme der Informationen aus der Frauenliteratur, ob eine Ich-Identität vorliegt bzw. wie sich diese verändert hat, welche Entwicklungstendenzen vorliegen und durch welche Eigenschaften diese charakterisiert sind. Die Ausarbeitung der einzelnen Hypothesen orientiert sich somit stark an den einzelnen sozio-psychologischen Theorien zur Identität. Die zentrale Forschungshypothese dieser Arbeit lautet:

Die chinesische Frau entwickelt seit der Reformperiode eine eigene, selbstbestimmte Ich- Identit ä t.

2.3 Herleitung der zentralen Forschungshypothese und der Subhypothesen

Aus dieser zentralen Forschungshypothese lassen sich mehrere Subhypothesen ableiten. In Anlehnung an die Theorien des Identitätswandels in modernen Gesellschaften und an die Theorien, die den Zusammenhang zwischen Umwelt, weiblicher Geschlechterrolle und Partnerschaften erläutern, ergeben sich die ersten beiden Subhypothesen:

1. Subhypothese: Der Wandel in eine moderne, differenzierte und offenere Gesell- schaft muss auch in China zu einer Zunahme individueller Lebensbereiche führen, die auch das weibliche Geschlecht tangieren. Die Frau gewinnt an eigenem Frei- heitsraum, wodurch sie ihre eigene Persönlichkeit entfaltet und eine eigene, selbst- bestimmte Ich-Identität aufbaut.

Der Wandel in Richtung selbstbestimmter Persönlichkeit des weiblichen Geschlechts muss sich dann folgendermaßen auf die Partnerschaft auswirken:

2. Subhypothese: Die Anerkennung der Frau als gleichberechtigtes Wesen und die Zunahme an individuellen Lebensmöglichkeiten, führen zu einer Wahrnehmung des eigenen Ichs und der eigenen Persönlichkeit der chinesischen Frau, so dass sich diese nicht mehr vom Mann unterdrücken lässt. Chinesische Frauen werden beginnen, sich von den patriarchalen Herrschaftsstrukturen zu lösen, um ihre eige- nen Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen.

In Anlehnung an die subjektive Identitätstheorie, die zwischenmenschliche Beziehungen, Partnerschaften und Intimität als einen wesentlichen Teilbereich der Identität fassen, ergeben sich folgende Subhypothesen:

3. Subhypothese: Das gesteigerte Selbstbewusstsein der Frau und ihre Anerkennung als gleichberechtigtes Wesen bewirken, dass sich das Verständnis von Partnerschaft wandelt. Die Frau wird sich ihrer Bedürfnisse und Gefühle bewusst und fordert die- se eingleichberechtigtes Wesen bewirken, dass sich das Verständnis von Partner- schaft wandelt. Die Frau wird sich ihrer Bedürfnisse und Gefühle bewusst und for- dert diese ein.

4. Subhypothese: Durch das gesteigerte Selbstbewusstsein der chinesischen Frau ent- wickelt diese ein Gefühl für ihren weiblichen Körper und ihre Bedürfnisse. Da- durch wird Sexualität (in Partnerschaften) zu einem wichtigen Aspekt auf der Su- che nach der eigenen Identität. Sexualität in Partnerschaften wird eine neue Ausgestaltung finden. Da sich die chinesische Frau ihrer Bedürfnisse und Wünsche im Klaren ist, wird der Geschlechtsverkehr nicht mehr als ein den Mann zufriedenstellender, sexueller Zwang erachtet, sondern als ein freiwilliger Akt, der auch die Bedürfnisse der Frau befriedigen soll.

Aus den Theorien des weiblichen Schreibens als eine Möglichkeit des Prozesses der Identitätsfindung leite ich folgende letzte Subhypothese ab:

5. Subhypothese: Da die Selbststärkung und Ich-Identität der Frau sich langsam bilden und in China noch nicht allgegenwärtig sind, wird die Literatur zum Medium der Darstellung von Liebe, Sexualität und Ich-Werdung. Ein Anstieg der Themen Lie- be, Sexualität und Ich-Werdung muss somit verstärkt in der Literatur seit der Öff- nungspolitik zu finden sein.

2.4 Operationalisierung

Um festzustellen, ob sich eine Ich-Identität bei chinesischen Frauen seit der Reformperiode entwickelt hat und wie sich diese auf Partnerschaft, Liebe und Sexualität auswirken, wird die Ich-Identität chinesischer Frauen in Anlehnung an die vier Faktoren der Erreichten Identität nach Marcia untersucht. Das Analysemodell eignet sich sehr gut für meine Forschung, da es das Individuum sowohl in seiner Eigenständigkeit als auch in seinem Bezug zur Umwelt bzw. zu seinen Mitmenschen analysiert und darüber hinaus die Komponente der zwischenmenschlichen Beziehung bzw. den Sexualitätsfaktor miteinbezieht. So kann auf Basis dieses theoretischen Konstruktes analysiert werden, ob eine Erreichte Identität bzw. Ich-Identität bei chinesischen Frauen vorliegt. Der Begriff der Ich-Identität und der Begriff der Erreichten Identität sind dabei definitionsgleich.

Als Erhebungsmaterial dienen zum einen die chinesische Frauenliteratur als auch sämt- liche Literatur bzw. Forschungen zum Thema Frauenentwicklung, Sexualitätsgestaltung und Partnerschaft in China seit den späten 1970er Jahren bis in die Gegenwart. Unter Zu- hilfenahme chinesischer Frauenliteratur soll analysiert werden, ob Frauen in konkreten Situationen bzw. in ihrem Alltagsleben eine Ich-Identität aufweisen, d.h. ob die vier Merkmale der Erreichten Identität nach Marcia erfüllt werden. Durch die gezielte Betrach- tung der jeweiligen Handlungs- und Denkweisen wird festgestellt, ob eine Ich-Identität vorliegt oder nicht. Dabei wird insbesondere auch auf die beschriebenen Gefühle und Emotionen als auch auf die daraus resultierenden Folgen und Handlungsentscheidungen geachtet. In der Erzählliteratur chinesischer Frauen werden bisher nicht ausgesprochene Wünsche, Gefühle und Sehnsüchte chinesischer Frauen erfahrbar, die die Meinungen, psychische Verfassung und Realität über Leben, Stellenwert und Partnerschaft präzise wiedergeben und es ermöglichen den Identitätsstatus festzustellen.

2.5 Empirischer Forschungsstand

Obwohl das Thema der weiblichen Ich-Identität und ihre Auswirkungen auf Partnerschaften, Liebe und Sexualität weitestgehend unerforscht sind, findet sich dennoch genügend weitreichende Sekundärliteratur, um das Thema zu analysieren. Zum einen liefert die chinesische Frauenforschung seit den 1980er Jahren11 eine Bandbreite an Forschungen, die sich mit dem Wandel der Frau in der Gesellschaft auseinandergesetzt haben.

Als wichtiges Werk im Bereich der Identitätsbildung von Frauen in China im 20. Jahr- hundert gilt die von Elisabeth Croll (1995) herausgebrachte Arbeit „Changing Identities of Chinese Women: Rhetoric, Experience and Self-Persection in Twentieth-Century China“. Croll beschreibt hier wandelnde Identitäten von Frauen im 20. Jahrhundert, wobei der As- pekt der selbstgesteuerten, psychischen Komponente des Ichs, sprich die Ich-Identität, au- ßen vor bleibt. Ebenso gelten Gail Hershatters Forschungen über Frauenentwicklungen und Forschungen als wichtige Werke im Zusammenhang mit der Entwicklung weiblicher Iden- titäten in China. Zu nennen sind ihre wissenschaftlichen Arbeiten „Personal Voices: Chi- nese Women in the 1980’s (1988), „Guide to Women’s Studies in China“ (1999) und „Women in China’s long twentieth century (2007).

Im Themenfeld der Literaturgeschichte und -entwicklung finden sich drei wesentliche Werke, die die (Frauen-) Literatur Chinas in den Fokus der Analyse stellen und jeweils eigene Schwerpunkte setzen - allerdings auch hier ohne eine Erklärung für wandelnde bzw. korrelierende Prozesse der Ich-Identität bzw. der eigenen, selbstwertsteigenden Per- sönlichkeit. So stellt Birgit Häse (2001) mit ihrem Werk „Einzug in die Ambivalenz: Erzählungen chinesischer Schriftstellerinnen in der Zeitschrift Shouhuo zwischen 1979 und 1989“ ein umfassendes Werk zur Verfügung, dass nicht nur die verschiedensten weibli- chen Schriftstellerinnen und ihre bedeutenden Werke darstellt, sondern auch einzelne Themenbereiche wie Liebe, Sexualität und Partnerschaft in den Frauenromanen analysiert. Ida Bücher (1986) gibt in ihrem Buch „Chinesische Gegenwartsliteratur: Eine Perspektive gesellschaftlichen Wandels der achtziger Jahre“ einen sehr guten Überblick über die weib- liche Frauenliteratur und gesellschaftlichen Probleme der chinesischen Frau in den 1980er Jahren. Sie beschreibt und kritisiert anhand der Frauenliteratur die ‚minderwertige’ Stel- lung der Frau in der chinesischen Gesellschaft und stellt die in der Erzählliteratur getätigte Kritik an dem patriarchalen Gesellschaftssystem dar. Dabei geht sie auch ausführlich auf das Leid der Frau in der Ehe ein, die keiner Partnerschaft, sondern eher Sklaverei ähnele. Beate Geist veröffentlichte 2003 ihre Ergebnisse über die chinesische Großstadtliteratur. In ihrem Werk „Die „neue Menschheit“ in Chinas Großstädten: Eine Untersuchung zur chine- sischen Gegenwartsliteratur“ hat sie sowohl die Großstadtliteratur moderner junger Schrift- steller als auch Schriftstellerinnen analysiert und dabei die Themen Sexualität, Club- und Barkultur als auch Drogen und Alkohol präsentiert. Ann Kathrin Scheerers Werk „Sieben Chinesinnen: Gespräche über Körper, Liebe und Sexualität“ (1995) informiert anhand von sieben Lebensgeschichten verschiedenster chinesischer Frauen über das Verhältnis der Frau zu ihrem Körper, das Verständnis von Liebe und Sexualität und dient als gute Einfüh- rung in das traditionelle Verständnis von Körper, Liebe, Sexualität der Frau. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den Themen Partnerschaft, Liebe und Se- xualität liefern zahlreiche Autoren. Erwähnenswert sind Harriet Evans’ (1997) „Women and sexuality in China: Female sexuality and gender since 1949“, Elaine Jeffreys’ (2006) „Sex and Sexuality in China“, Gail Hershatters (1996) „Remapping China. Fissures in Hi- storical Terrains“, Joanna McMillans (2009) „Sex, science and morality in China“ als auch Fang Fu Ruans (1991) „Sex in China: Studies in Sexology in Chinese culture“. Ebenso hilfreich waren Artikel aus chinesischen wissenschaftlichen Zeitschriften, die einen Fokus auf Frauen-, Gesellschafts- und Gesundheitswandel legen. Hier fanden sich zahlreiche Artikel über Frauenemanzipation, Frauenrechte, Wandel des Sexualitätsver- ständnisses etc.

Um auch gesellschaftliche Meinungen und Tendenzen außerhalb wissenschaftlicher Arti- kel einzufangen, dienten für die Analyse auch Stellungnahmen in Zeitungen bzw. Internet blogs. Dabei war wichtig zu hinterfragen, ob diese Artikel zu subjektiv oder politisch ge- schönt sind oder ob es sich hierbei um eine gesellschaftliche Meinung bzw. einen gesell- schaftlichen Trend handelt, der der Vollständigkeit halber in die Forschung einbezogen werden muss. Bei der Bewertung des Romans „Shanghai Baby“(Shanghai baobei [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] ) von Wei Hui [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] wurden verschiedene Leserkritiken aus dem Internet herangezogen. Diese waren zwar größtenteils anonym, jedoch unabdingbar, um eine umfassende Gesamtbewertung des Romans zu liefern, die die verschiedensten Sichtweisen erfasst.

3 Der Wandel weiblicher Identitäten seit den späten 1970er Jahren

3.1 Der wirtschaftliche und rechtliche Wandel und seine Auswirkungen auf die Persönlichkeit und Stellung der Frau

Seit der Reform- und Öffnungspolitik erfuhren der wirtschaftliche, politische und rechtli- che Bereich einen erheblichen Wandel, der durch zunehmende freiheitliche Tendenzen charakterisiert war. Dies beeinflusste den sozialen Status der Frau, der sich wiederum auf ihre Persönlichkeit und ihr familiäres Umfeld auswirkte. Diese Veränderungen „schufen für Frauen profitable Umgebungen und vielfältige Chancen, damit sie ihre Intelligenz und Talente entfalten konnten“ (Sha et al. 1992: 587). So wurde seit der Reformpolitik der Frau zunehmend die Arbeit außerhalb ihrer Familie gewährleistet. Viele Frauen „verließen das Haus“, das vorher ihr einziger Lebensraum und Arbeitsraum gewesen war, und traten in Sphären außerhalb der Familie ein, was die patriarchale Autorität des Mannes über die Frau verringerte (s. Gao 1994: 82). Dies führte bei vielen Frauen zu einem gestärkten Selbstbewusstsein, das zu Hause nicht mehr abgestreift wurde. Ein gesteigertes Selbstbe- wusstsein und ein erhöhter Selbstwert stellten sich sogar bei vielen Frauen in dörflichen Regionen ein. „Changes in peasant concepts of gender also include changes in women’s sense of self-worth“ (Gao 1994: 89). So verwandelte sich die Frau immer mehr von einem passiven, abhängigen Wesen zur aktiven, selbständigen Persönlichkeit, die in immer mehr gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Sphären tätig war. Dies brachte jedoch folgenden Nachteil:

„Obwohl eine Erhöhung der weiblichen Gesellschaftsrolle erfolgt und ihre Familienstellung sich auch schrittweise erhöht, führt der Einfluss der traditionellen Vorstellungen dazu, dass Frauen die doppelte Belastung akzeptieren müssen.“12

Diese Doppelbelastung kommt dadurch zustande, dass die traditionelle Rolle der Hausfrau und Mutter weiterhin auf der Frau lastet. So gesehen findet sich die chinesische Frau der Moderne immer häufiger im Zwiespalt zwischen traditionellen Erwartungen und modernen Ansprüchen.

Auf der einen Seite erwartet die Gesellschaft, dass die Frau unabhängig und konkurrenzfähig ist […] auf der anderen Seite fordern die traditionelle Familie und die Vorstellung der Gesellschaft, dass die Frauen sich wie traditionelle Frauen um die Kinder und Ehemänner sorgen.“13

Dieser Zustand als auch die Tatsache, dass sich der neue Trend zu mehr Individualität und Selbstbestimmung in der Gesellschaft auf Seiten der Frau noch nicht einheitlich durchge- setzt hat, erschweren der chinesischen Frau ihren Selbstwert zu finden und ihre eigene Per- sönlichkeit bzw. Ich-Identität darzustellen. Die Vernachlässigung der traditionellen Rollen der Frau, d.h. das Niederlegen „weiblicher“ Pflichten wie Haushalt, Kinder und Erziehung, wird weiterhin von großen Teilen der Gesellschaft geächtet, was zu folgendem Ergebnis führte: „Frauen erfuhren in der Reform- und Öffnungspolitik aufgrund des Konkurrenz- und Profitdrucks einen neuen Rückschlag oder Diskriminierungen“ (Sha et al. 1992: 587). So wurde ihnen z.B. im Verglich zu männlichen Bewerbern der Einstieg in das Berufsle- ben erschwert, ihnen wurde zu Unrecht mangelndes Wissen nachgesagt, sie wurden von vielen Seiten der Gesellschaft als „Rabenmütter“ betitelt und verloren an Ansehen in der Gesellschaft und Familie. Somit war es von großer Bedeutung, dass Frauen ein rechtlicher Schutz gewährleistet wurde. Während der Reformpolitik fanden erhebliche Veränderungen im rechtlichen Bereich statt, die auf das Wohl der Frau gerichtet waren und sich auf ihren Status positiv auswirkten.

„Das chinesische Gesetz hat die rechtliche Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau auf 6 Bereichen ausgearbeitet: das Personenrecht, das Eigentumsrecht, das Bildungsrecht, das Arbeitsrecht, das politisches Recht und das Familien-Ehe-Recht.“14

Insbesondere die Neufassung des chinesischen Ehe- und Scheidungsrechts 1980 erleichter- te es Frauen erheblich, sich den eigenen Ehepartner auszusuchen, sich aus unterdrückenden Partnerschaften zu lösen und nicht mehr der Gewalt des Mannes ausgesetzt zu sein. Au- ßerdem wurde der Faktor „Liebe“ in der Ehe als ausschlaggebender Grund für eine Part- nerschaft. Denn „this law was the first Marriage Law in China to specify ‚the loss of love’ or ‚an irrevocable breakdown in mutual affections’ as grounds for divorce“ (Pan 2006: 32).

So entwickelte sich die zuvor von der Familie festgelegte Verheiratung der Frauen im Zuge des 20. Jahrhunderts immer mehr zur Angelegenheit der Frau. Die auf freier Wahl basierende Ehe gewann zunehmend an Bedeutung und löste verstärkt die traditionelle, arrangierte Ehe ab, so dass die Geschichte chinesischer Hochzeits- und Ehepraktiken im 20. Jahrhundert als eine „transformation from family based oppression to limited individual choice“ (Hershatter 2007: 7) bezeichnet wird.

Eine Umfrage, die im Jahr 1991 zur Frage der Stellung der Frau durchgeführt wurde, ergab folgendes Ergebnis:

„Die Quote der Frauen, die aus eigener Entscheidung erstmals heiraten, beträgt in den Städten 94,64% und auf dem Land 70,88% [...] Man kann erkennen, dass die Ehe der Frau bereits zur Rubrik der Selbstbestimmung zählt, das vorherige Model der Ehe, dass die Eltern die Ehe entscheiden, veränderte sich und dadurch erhöhte sich die Qualität der Ehe.“15

Ebenso wurde Frauen ein Anspruch auf eigenes Vermögen auch im Falle einer Scheidung zugesprochen und Witwen und geschiedenen Frauen wurde es freigestellt, wieder zu heira- ten (s. Lipinsky 2010, <http://www.bpb.de/internationales/asien/china/44315/frauenrechte? p=all >). Weitere Gesetzesartikel, die ebenfalls die Scheidung erleichterten, wurden in den 1990er Jahren hinzugefügt. Des Weiteren wurde das Ehegesetz im Jahr 2001 um das eheli- che Eigentumsrecht sowie das Recht gegen eheliche Gewalt (vgl. Hershatter 2007) ergänzt. Somit erweiterte das revidierte Gesetz die Möglichkeiten der Frau sich selbst zu ent- wickeln, zu orientieren und eine eigene Identität zu schaffen. „The official discourse no longer recognized motherhood as the major subject position with which women should identify“ (Evans 1997: 121).

Ein weiteres Gesetz, das ‚Gesetz zum Schutz der Rechte und Interessen von Frauen der VR China’ (Zhonghua renmin gongheguo funüquanyi baozhang fa ѝॾӪ≁ޡ઼ഭྷྣ 䳌⌅), wurde im Jahr 1992 erlassen und sollte Frauen gegen Gewalt und ge-؍ᵳ⳺ schlechtsbedingte Diskriminierung schützen. Es wurde „zuletzt 2005 um Verbote der sexu- ellen Belästigung (§40) und der häuslichen Gewalt (§46) sowie ihrer Verfolgung von Amts wegen erweitert“ (Lipinsky 2010, <http://www.bpb.de/internationales/asien/china/44315/ frauenrechte?p=all>).

Ebenso hat sich China im Zuge der sich entwickelnden besseren Stellung der Frau um dessen Schutzbedürftigkeit und Gleichberechtigung auf internationaler Ebene eingesetzt. Dieser Wandel markiert einen immensen Fortschritt in der Sichtweise und Wahrnehmung der Frau in der Gesellschaft. So unterzeichnete China bereits 1980 das UN- Übereinkommen über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von Frauen (CE- DAW). Des Weiteren legte China anlässlich der vierten Weltfrauenkonferenz im Jahr 1995 in Peking und in Erfüllung der Forderung nach eigenen nationalen Aktionsplänen mehrere

Programme zur Entwicklung der Frau vor (s. Lipinsky 2010, <http://www.bpb.de/internationales/asien /china/44315/frauenrechte?p=all>).

„Die in der Versammlung ratifizierte ljBeijing DeklarationNJ und das ljAktionsprogrammNJ wurden die leitenden Dokumente der chinesischen Frauenentwicklung. Ministerpräsident Jiang Zemin [...] verkündete feierlich, dass die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau als grundlegende Staatsstrategie/-politik zu behandeln ist.“16

Um die Gleichberechtigung und weitere Entwicklung zukünftig voranzutreiben und zu sichern, arbeitete China zwei Frauenentwicklungsprogramme aus:

„Das ljChinesische Frauenentwicklungsprogramm (1995-2000)NJ und das ljChinesische Frauenentwicklungsprogramm (2000-2010)NJ. Diese beiden großen Programme bilden den Generalplan, der zum Ziel hat, die vollständige Entwicklung der Frauen zu fördern. Dies wurde zum ersten Mal von China in einem Gesamtplan ausgearbeitet.“17

Diese Veränderungen waren für die chinesische Frau von weitreichender und tiefgreifender Bedeutung, denn „this was a real revolution, attacking customs and habits of feudal patri- archal system which had stretched back hundreds and thousands of years.“ (Chen 1994: 76).

Doch auch wenn sich das Verständnis der Gleichberechtigung von Mann und Frau zu- nehmend in China durchsetzt, muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass weiterhin Miss- stände und Hindernisse gegenüber dem weiblichen Geschlecht existieren. Frauen werden in der Gesellschaft, sei es im Beruf, in den Universitäten, im alltäglichen Leben oder sogar zu Hause oftmals auf Grund ihres Geschlechts benachteiligt und hinter den Mann gestellt (s. o.N. 2010, <http://epaper.xjts.cn/ftp/site1/xjdsb/html/2010-03/05/content_38000.htm>). Es gibt weiterhin alte geschlechtsbezogene Traditionen, die eine völlige und flächendek- kende Gleichberechtigung von Mann und Frau verhindern. Die Gründe der Diskriminie- rung liegen damit in der traditionellen Kultur, die Frauen eine niedrigere Position und ge- ringeren Wert zuschreiben. Frauen wird lediglich eine Familienrolle zugeschrieben und ihre Partizipation an der Gesellschaft ausgeschlossen (s. o.N. 2010, <http://epaper.xjts.cn/ftp/site1/xjdsb/html/2010-03/05/content_38000.htm>). Dies resultiert daher, da „dies eine vom Mann geleitete Gesellschaft ist, ein seit Tausenden Jahren sich verbreitendes Verständnis, das mit den männlichen Forderungen übereinstimmt und aus der männlicher Perspektive heraus gespro- chen ist.“18

Mit diesen Problemen setzen sich im Laufe der Entwicklung immer mehr Frauen eigenständig auseinander. Dies ist ein Grund, warum die Frauen- und Geschlechterforschung zunehmend an Bedeutung gewinnt, was im nächsten Kapitel bearbeitet wird.

3.2 Der chinesische Feminismus und die chinesische Frauenforschung seit Reformbeginn

Seit den 1980er Jahren begannen Wissenschaftler und insbesondere Wissenschaftlerinnen sich verstärkt mit der Emanzipation der chinesischen Frau auseinanderzusetzen. Dabei be- schäftigten sich nicht nur chinesische Wissenschaftlerinnen (wie z.B. Li Xiaojiang ᵾሿ⊏

Tan Shen [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Wang Jinling [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) sondern auch bekannte westliche Wissenschaft- lerinnen wie Harriet Evans und Margaret Woo mit dieser Thematik. Zunächst einmal wur- de der Fokus auf die genaue Aufarbeitung der Entstehung der Frauenemanzipation in Chi- na gelegt. Diese gewann im frühen 20. Jahrhundert zurzeit der „Bewegung des Vierten Mai“ (wu si yundong [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) wieder an Bedeutung und setzte sich in den 1950er- 1980er-Jahren verstärkt fort (s. Wang 2008: 50ff.). Aus diesen vorherigen Entwicklungs- schüben zogen Frauen ihre Erfahrungen, die den weiteren Grundstein für die Entwicklung der Frauenemanzipation seit den 1980er Jahren bis in die Gegenwart legten. Zwar wurde den Frauen bereits in den 1950er-1980er Jahren mehr Bedeutung zugemessen und Frauen galten als eine „unverzichtbare Kraft“ (bu ke huoque de liliang [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]19 ), aller- dings waren sie in dieser Zeit weiterhin an männliche und nationale bzw. staatliche Richt- werte gebunden, so dass die Emanzipation eine männlich bzw. staatlich geleitete war (vgl. Liu 1994; Tao 1994.). Erst zunehmend nach der Reform- und Öffnungspolitik etablierte sich in den Köpfen der Frauen eine verstärkte Selbstwahrnehmung, Selbstbestimmung und das Bewusstsein weiblicher Rechte.

„Im Rahmen des neuen Geschlechterselbstbewusstseins formulierte der sechste nationale Frauenkongress 1988 die so genannten „Vier Selbste“ (si zi): Selbstrespekt (zizun), Selbstvertrauen (zixin), Selbständigkeit (zili) und Selbststärkung (ziqiang) und legte damit den Grundstein für eine neue weibliche Subjektivität, indem nun das „Selbst“ [...] im Vordergrund stand.“20

Dies nahmen viele chinesische Frauen als Auslöser „to emphasize the need to raise the ‚self-respect, self-reliance, self-confidence, and self-love’ (zizun, zijiang, zicong, zi ’ ai) of women as an important step in achieving equality“ (Woo 1994: 292).

Dennoch wurden die Bedeutung und die Position der Frau von Seiten der Gesellschaft und des Staates zeitweilig in Frage gestellt.

„Man kann sagen, dass die chinesische Gesellschaftstransformation, der Aufbau des Marktsystems und der Rückzug des staatlichen Eingriffs den Frauen eine schwierige Herausforderung brachte. Die Frau sah sich auf dem Markt im Vergleich zum Mann in einer benachteiligten Position. Die Geschlechtsdiskriminierung im gesellschaftlichen Leben kam wieder auf und verschlechterte sich sogar zunehmend.“21

Dies bewirkte, dass Frauen anfingen sich mit ihrer benachteiligten Situation auseinander- zusetzen und mit Hilfe der Wissenschaft um ihre Rechte und Gleichberechtigung kämpf- ten. „Nach der Gründung des neuen Chinas lösten der Verlauf der Frauenemanzipation und dessen substanziellen Probleme die Rückbesinnung vieler Wissenschaftler aus“ (Wang 2008: 50). Mit der Etablierung der Frauenforschung als eigenständigen Forschungszweig gelangten zunehmend die Rechte der Frauen als auch die wissenschaftliche Auseinander- setzung mit dem Thema der Gleichberechtigung der Frau in den Vordergrund. Wissen- schaftlerinnen wie Li Xiaojiang ᵾሿ⊏, Zhao Huizhu 䎥ភ⨐ und Zhang Dan ᕐѩ beein- flussten die Entwicklung der Frauenemanzipation und die Gleichstellung der Frau gegen Ende der 1980er Jahre bzw. zu Beginn der 1990er Jahr maßgeblich. Der moderne chinesi- sche Feminismus griff dabei insbesondere die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper auf und betonte die Weiblichkeit der Frau. Eine binäre Geschlechterordnung wurde rekonstruiert (vgl. Dippner 2010: 127f.), im Rahmen dessen der Geschlechtsunterschied erforscht und zelebriert wurde - insbesondere in den Bereichen der Sexualität, Körperlich- keit und Partnerschaft.

„Plötzlich stand nicht mehr die Produktionskraft und die Behauptung der Frau in einer männlich domi- nierten Welt im Vordergrund [...], sondern die sprichwörtliche „feminine Natur“, die Andersartigkeit des weiblichen Geschlechts. Dieser Wandel der gesellschaftlichen Sichtweise ging mit einer generellen Neu- bzw. Rekonstruktion von Geschlechtsbildern und Geschlechtsunterschieden einher.“22

Dabei wurde der Frau eine eigenständige, vom Mann unabhängige Position eingeräumt. Übernahm die Frau gemäß der Tradition bisher den schüchternen, zurückhaltenden Part im Vergleich zum Mann, so plädieren Frauen in den neuzeitlichen Forschungen und Gender- debatten seither für die Eigenverantwortung der Frau und das zur Sprache bringen von ei- genen Ziele, Wünschen und Bedürfnissen (vgl. Evans 1997: 26f.). Frauen und Männer sei- en zwar biologisch gesehen verschieden, jedoch gleichberechtigt - lautet eine weitere Ar- gumentation. Aufgrund ihres biologischen Geschlechts könne nicht hergeleitet werden, warum Frauen sich als passive Wesen dem Mann unterordnen sollten. Die Verschiedenheit als auch die Gleichberechtigung müsse demnach anerkannt werden (vgl. Meng/ Dai 1989). Die Passivität sei nicht auf die physiologische bzw. biologische Komponente der Frau zu- rückzuführen. So entwickelte sich laut der Professorin Liu Yun [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] (Leiterin der Frauen forschung an der Xinjiang Universität [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) ein Typ Frau, der folgendermaßen beschrieben werden kann:

„D.h. nachdem die chinesische Frau in die Gesellschaft eingetreten ist (d.h. nachdem sie in das Arbeitsleben eingetreten ist) hat sie ihre ursprüngliche einzige Familienrolle in eine diversifizierte Frauenrolle verändert, insbesondere die Realisierung der weiblichen Gesellschaftsrolle und der gesellschaftlichen Position. Sie ließ die Frau von der Abhängigkeit in Richtung Unabhängigkeit gehen. Die Lebensart und -weise erfuhr einen grundlegenden/elementaren Wandel.“23

Die lebhaften Debatten griffen auch auf die Politik über, die das Thema der Gleichberech- tigung zwischen Mann und Frau immer deutlicher thematisierte. Der Verband ‚All China’s Women’s Federation’ (Zhonghua quanguo funülianhehui [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], der sich seit 1949 für die Entwicklung, Rechte und den sozialen Status der Frau einsetzt, sowie wei- tere chinesische Forschungszentren und Universitäten in China initiierten verstärkt mehrere Forschungen und Projekte, in denen es um die Geschichte, Entwicklung und Zukunft der Frau ging. Vom 31.10.1993-4.11.1993 wurde vom Staat ein internationales Kolloquium zum Thema der aktuellen Stellung der chinesischen Frau durchgeführt.

„Die größte Besonderheit dieser internationalen wissenschaftlichen Forschungsdebatte war zum einen, dass die gesellschaftliche Stellung und Familienstellung der Frau in China gegenwärtig gleichermaßen beachtet werden.“24

Die weitere Teilnahme Chinas an der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking und die daraus resultierenden Entwicklungsprogramme bzw. Deklarationen markierte einen weiteren deutlichen Schritt in Richtung Gleichberechtigung der Frau (s. Kapitel 3.1)

Im Laufe der Entwicklung der Gleichberechtigung von Mann und Frau entstand dann der neue Gedankengang, dass Frauen selbst die Verantwortung für ihr eigenes Leben und ihre Lebenssituation übernehmen müssen. Tong Shaosu [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], Professorin und Leiterin des Frauenforschungsinstituts der Zhejiang Universität [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten], äußert sich: „Die Emanzipation der Frau hängt grundsätzlich von dem Niveau des weiblichen Bewusstseins ab“ (o.N. 2010, <http://epaper.xjts.cn/ftp/site1/xjdsb/html/2010-03/05/content_38000.htm >). Des Weiteren erklärt sie, dass Frauen verstehen müssen, dass sie nicht nur eine Ver- antwortung für die Familie (jiating shiye [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) sondern auch für die Gesellschaft tra- gen (shihui shiye [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]). Frauen müssen lernen an der Gesellschaft zu partizipieren (dongde fenxiang [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) und für ihr eigenes Wohlbefinden zu sorgen (vgl. Tong 2010, <http://www.yuyaoschool.com/jgwmg/xmzfw/typenews.asp?id=159>). Die Professorin Liu Yun [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] weitete das Verständnis der Frauenemanzipation sogar auf das männliche Geschlecht aus. Frauenemanzipation heiße auch Männeremanzipation bzw. beidseitige Emanzipation (liang xing jiefang ୩ᛶゎᨺ). Damit meint sie, dass nicht nur ein Wandel der Frau wichtig sei, sondern auch ein Wandel des Mannes. Dieser müsste verstehen, dass Frauen gleichberechtigt sind und traditionelle Moralvorstellungen, die dem Mann eine höh- ere Position in der Gesellschaft einräumen, ungerecht und falsch sind. „Deshalb kann man sagen, dass es die Emanzipation der Männer ist, genauer gesagt ist es das Erwachen der Männer“ (o.N. 2010, <http://epaper.xjts.cn/ftp/site1/xjdsb/html/2010-03/05/content_ 38000.htm>). Die Kultur bzw. die traditionellen Moralvorstellungen tragen demnach auch dazu bei, dass Frauen benachteiligt werden. Diese Vorstellungen müssen ebenfalls abge- baut werden, so das eine vollständige Gleichheit zwischen Mann und Frau existieren kann, was zu einem längeren Prozess bzw. Kampf (changqi de fendou [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) führt (o.N. 2010, <http://epaper.xjts.cn/ftp/site1/xjdsb/html/2010-03/05/content_38000.htm>). So be- richtet eine von Experten durchgeführte Analyse, die das Familienleben der Frauen unter- sucht, dass „die chinesische Frau zur Zeit allmählich das traditionelle Modell - dass die Frau in der Familie zu dem Mann gehört - abstreift und eine höhere Stellung innerhalb der Familie genießt. Aber, wenn man die wirkliche Gleichberechtigung der Familienstellung beider Geschlechter verwirklichen will, muss man noch einen sehr weiten Weg gehen.“25

Dabei findet der Anfang dieses „weiten Weges“ insbesondere zu Hause bzw. in der Familie statt. Über diese Probleme bzw. Veränderungen der Weiblichkeit, Sexualität und Partnerschaft informiert das nächste Kapitel.

3.3 Weiblichkeit, Sexualität und Partnerschaft seit der Reformperiode

3.3.1 Das neue Körperbewusstsein und das Zeigen der Weiblichkeit

Seit den Post-Mao Reformen entwickelt sich bei chinesischen Frauen verstärkt ein Be- wusstsein für Körper, Schönheit, Style, Schmuck und Temperament als Zeichen einer neu- en Weiblichkeit bzw. Identität, die den Körper und sexuelle Reize gezielt in den Vorder- grund stellt (s. Hershatter 1997: 9; vgl. Honig/Hershatter 1988). Susan Brownell (2001) spricht von einer „body culture“, die der Hygiene, der Schönheit, dem Gesundheitsbe- wusstsein, der Fitness, der Kleidung und dem Schmuck einen immer höheren Stellenwert zuschreibt (s. Brownell 2001: 124). „For young women born and brought up in the reform era, fashion and beauty (including, by the 1990s, variable hair color) became arenas for newly permitted self-expression and experimentation with fantasies of self“ (Hershatter 2007: 47). So gilt es als durchaus schick und modern, das typisch Weibliche in den Vorder- grund zu stellen. Konsum, Kosmetik und Mode nehmen gerade deshalb einen hohen Stell- enwert ein, da mit deren Hilfe die Weiblichkeit gezielt betont werden kann. Zwar richtet sich der Fokus immer ausschließlicher auf das Ich, jedoch nimmt im Rahmen dessen die physische Erscheinung einen großen Stellenwert ein (s. Dippner 2010: 140). So ist diese physische Erscheinung ganz wesentlich für die Ich-Identität der chinesischen Frauen in der Gesellschaft geworden. Durch die zunehmende Konsumorientierung in den 1980er und 1990er Jahren wurde das neue weibliche Ich tatkräftig mit entsprechenden Produkten und deren Vermarktung unterstützt. Das deutliche Herausbilden und Zeigen weiblicher Züge wurde nun nicht mehr als „bourgeois“ gedeutet und negativ bewertet, sondern galt als ein äußeres Kennzeichen der neuen inneren Identitätsstiftung. Der Körper ist Teil einer indivi- duellen, spezifisch weiblichen Identität, die es zu zeigen und zu entdecken gilt:

„The new emphasis on self-referential qualities has drawn attention to the distinctive qualities attributable to the female self or the feminine and to their difference from the male or the masculine. [...] [It] grows out of the explicit rejection of the previous revolutionary ‚masculinization of the female’, ‚female man’ or ‚super-women’s masculinization’ and marks the separation out of the female from the predominantly previous generalized androgynous definition of comrade or worker of predominantly masculine or male image.“26

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und der eigenen Identität fand somit nicht nur auf der Ebene des eigenen Körperbewusstseins und der individuellen und geisti- gen Selbstfindung statt, sondern wurde durch die Konsumwelt - insbesondere auch den Erotiksektor - deutlich verstärkt (s. Dippner 2010: 130). Diese Veränderungen brachten es mit sich, dass sich auch der Bezug und das Verständnis von Sexualität und Partnerschaft deutlich wandelten.

3.3.2 Der allgemeine Wandel des Sexualitätsverständnisses und das sexuelle Recht der Frau in China

Während der Kulturrevolution erlosch das Thema Sexualität praktisch völlig, da öffentli- che Diskussionen über Sexualität als bourgeois galten und somit tabu waren (s. Pan 2006: 27).

„Die Liebessehnsucht eines Mädchen galt als „unanständig“, die aktive Suche nach Liebe und Ehe war „billig“, das Verlangen nach sexueller Befriedigung durch den Ehemann bezeichnete man als „wollüstig“, und diese zu bekommen war „obszön“, die Unzufriedenheit, die sich einstellte, wenn man sie nicht be- kam, galt als „wild“.“27

So konnten Frauen ihren eigenen Körper und ihre Lust nicht erleben, was sie in ihrer Iden- titätsentwicklung hinderte. Dennoch explodierte während der Kulturrevolution die Bevöl- kerung, was mit Hilfe der Ein-Kind-Politik 1981 behoben werden sollte. „In this sence, the Cultural Revolution is the father and the one-child family policy is the mother of China’s current revolution in sexual mores and behaviours“ (Pan 2006: 31). Die Einführung der Ein-Kind-Politik verwandelte jedoch nicht nur die Geburtenrate, sondern auch das Ver- ständnis der Funktion des Geschlechtsverkehrs und indirekt auch den Status bzw. die ‚Funktion’ der Frau. Vor der Ein-Kind-Politik wurde dem Geschlechtsverkehr die Funktion der Fortpflanzung zugeschrieben, und die Frau war „nur ein mitwirkendes Instrument der Fortpflanzung und besaß keine Legitimation mehr, mit deren Hilfe sie ihr sexuelles Recht hätte verteidigen können“ (Pan 1995: 220).

„The sole purpose of sex remains creating children and producing a male heir to continue the family line. In this context, women’s personal needs and desires are not acknowledged or respected, even by women themselves.“28

Doch im Laufe der 1980er Jahre wurde Sexualität nicht mehr nur zu Nachfolgezwecken praktiziert, sondern erreichte zunehmend die Funktion der Lustbefriedigung. Dadurch fand auch ein Wandel in der typischen Rollenverteilung der Frau als Hausfrau und Mutter statt, durch die die „Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung praktisch erzwungen [wurde]“ (Dippner 2010: 125). Seitdem dienen Sexualität und der Geschlechtsverkehr nicht mehr rein der Fortpflanzung, sondern werden immer mehr im Licht des „ sex for pleasure “ und des „ sex for leisure “ (Pan 2006: 30) gesehen.

So entstand ein reger Bedarf an der Auseinandersetzung mit dem Thema der weiblichen Sexualität. Dieser baute darauf auf, dass die sexuelle Befriedigung der Frau ganz wesentlich für das körperliche Wohlbefinden, die Identitätsentwicklung und für eine harmonische Partnerschaft sei. Es entwickelte sich ein allgemeines Interesse daran, die Bedürfnisse und Wünsche der Frau zu äußern, anzuerkennen und zu befriedigen.

„Positive references to women’s satisfaction and encouragement to women to take the initiative in expressing sexual desire suggest an approach to sexuality that is no longer associated with the simple binary model of the active male and passive/responsive female.“29

[...]


1 Dippner 2010: 124

2 Chen 1994: 69

3 Goffman 1974: 132

4 Mead 1988: 177

5 Kalupner 2000: 158

6 Keupp et al. 1999: 152

7 Friebus-Gergely 1994: 21

8 Berna-Simons 1984: 155

9 Gymnich 2000: 54, vgl. Cixous 1976: 880

10 Keupp 1999: 214

11 In den 1920er Jahren setzte bereits eine umfassende und lebhafte Debatte über die Stellung der Frau in der chinesischen Gesellschaft ein, die allerdings vorrangig von Männern ausging. Seit den 1980er Jahren geht der Impuls zunehmend von den Frauen aus. Es gilt darauf hinzuweisen, dass der Ursprung der Frauenfor- schung nicht erst in den Anfängen des 20. Jahrhunderts bzw. in der Moderne liegt. Die Idee der Emanzipa- tion der Frau hat ihre eigenen, chinesischen Wurzeln bereits in der späten Kaiserzeit und kann somit nicht allein als eine spezifisch moderne Bewegung verstanden werden (vgl. Liu 1989).

12 Gu 2009:43

13 Gu 2009: 43f.

14 Tong 2010, <http://www.yuyaoschool.com/jgwmg/xmzfw/typenews.asp?id=159>

15 Sha et al. 1992: 592

16 Han/Shen 2008: 37

17 Han/Shen 2008: 37

18 o.N. 2010, <http://epaper.xjts.cn/ftp/site1/xjdsb/html/2010-03/05/content_38000.htm>

19 Wang 2008: 50

20 Dippner 2010: 130

21 Wang 2008: 50

22 Dippner 2010: 124

23 o.N. 2010, <http://epaper.xjts.cn/ftp/site1/xjdsb/html/2010-03/05/content_38000.htm>

24 Zhang 1994: 63

25 Zhang 1994: 64

26 Croll 1995: 151

27 Pan 1995: 221

28 Xiong 2004: 174

29 Evans 1997: 117

Ende der Leseprobe aus 139 Seiten

Details

Titel
Die Ich-Identität chinesischer Frauen seit der Reformperiode in Partnerschaft, Liebe und Sexualität
Untertitel
Eine sozio-psychologische Analyse anhand der chinesischen Frauenliteratur seit den späten 1970er Jahren
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Orientalische und Ostasiatische Philologien)
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
139
Katalognummer
V286780
ISBN (eBook)
9783656870739
ISBN (Buch)
9783656870746
Dateigröße
1296 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Chinesische Frauenliteratur, Ich-Identität, Liebe, Partnerschaft, Sexualität, Reformperiode, Persönlichkeit und Stellenwert der Frau in China, chinesischer Feminismus, Körperbewusstsein, Wei Hui, Shanghai Baby
Arbeit zitieren
Martina Baumann (Autor:in), 2012, Die Ich-Identität chinesischer Frauen seit der Reformperiode in Partnerschaft, Liebe und Sexualität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286780

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