Die Frage der Identität in Hermann Hesses „Der Steppenwolf”


Magisterarbeit, 2014

71 Seiten, Note: 3

Anonym


Leseprobe


Inhalt

1.Einleitung

2.Inhaltsangabe

3.Fremdbeschreibung des Herausgebers

4.Das Tractat vom Steppenwolf

5.Harry Hallers persönliche Aufzeichnungen

6.Das magische Theater
6.1. Auf zum fröhlichen Jagen! Hochjagd auf Automobile
6.2. Anleitung zum Aufbau der Persönlichkeit
6.3. Wunder der Steppenwolfdressur
6.4. Alle Mädchen sind dein
6.5. Wie man durch Liebe tötet
6.6. Harrys Hinrichtung

7.Der rettende Humor

8.Das Spiegelmotiv

9.Die Theorie der Identität
9.1. Erik H. Erikson
9.2. Theodor W. Adorno
9.3. Erving Goffman
9.4. George Herbert Mead
9.5. Jürgen Habermas
9.6. Lothar Krappmann
9.7. Fazit

10.Ein positives Identitätsverständnis

11.Biografische Parallelen

12.Hesse, Haller und die Melancholie

13.Resümee

14.Endnoten

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die meisten Menschen stellen sich irgendwann in ihrem Leben die Frage: Wer bin ich? Die Anlässe sind vielfältig: Manch einer ist überrascht vom eigenen Handeln, weil er sich etwas nicht zugetraut hat. Manch einer zweifelt an seinen Zielen und manch einer an seinem Glauben, manch einer fühlt sich durch Andere in Frage gestellt. Die Vorstellung von sich selbst unterliegt einem steten Wandel, das Leben ist ein Prozess. Die Frage danach wer man ist, stellt sich deshalb immer wieder neu. Immer wieder ist man gezwungen sich neu zu verorten, sich neu zu orientieren. Stimmen meine Handlungen mit meinem Willen, meiner Meinung, meiner Einstellung überein? Und wer sind meine Vorbilder? Womit identifiziere ich mich? Erkenne dich selbst und bestimme dein Schicksal heißt deshalb die Devise. Finde dich selbst und erfinde dich selbst. Sich selbst erkennen hilft dabei sich selbst zu verwirklichen, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen; aber auch die eigene Moral kennenzulernen, die eigenen Wünsche zu entdecken. über den eigenen Schatten zu springen. Man kann auf etwas beharren oder sich ändern.

Diese Frage nach der eigenen Identität stellt sich auch Harry Haller, der Protagonist in Hermann Hesses „Der Steppenwolf”. In der vorliegenden Arbeit wollen wir ihn auf seiner Suche nach Identität begleiten.

Klar ist: Auf die Frage, was Identität ist, gibt es zu viele Antworten, um sich abschließend festzulegen. So ist diese Arbeit auch als offene Diskussion zu verstehen. Dennoch soll für den Begriff >>Identität<< an dieser einführenden Stelle, eine grobe Überblicksdefinition zur Orientierung geliefert werden.[1]

Auf dieser Basis wollen wir eine Vielzahl unterschiedlicher Facetten von Identität beleuchten. Den Auftakt der Arbeit soll eine stützende Inhaltsangabe machen. Sodann beginnt der Hauptteil, eine gründliche und gewissenhafte Inhaltsanalyse, die die gesamten Identitätskonflikte des Romans und seines “Helden” erarbeitet. Hierbei wird folgender Einteilung Rechnung getragen: Es gibt im Roman drei Blickwinkel auf den Protagonisten. 1. Das Vorwort des Herausgebers, ein Bericht von außen über die Begegnungen mit dem Protagonisten und dessen biographischen Aufzeichnungen. 2. Das Tractat vom Steppenwolf von unbekanntem Autor - eine vorgeblich wissenschaftliche Analyse. 3. Die persönlichen Aufzeichnungen von Harry Haller selbst - Gefühle, Träume, Sichtwei- sen. Anschließend werden signifikante Aspekte der Geschichte analysiert. Darunter >>Das magische Theater<<, >>Der rettende Humor<<, >>Das Spiegelmotiv<<. Danach wollen wir uns der Frage nach Identität noch einmal gesondert auf theoretischer Ebene widmen. Die Auswahl der Theorien für diese Aufgabe wurde nach Eignung zur Anwendung auf den Roman getroffen. Dabei wird auf das Konzept des Vaters der psychosozialen Identitätsforschung Erik H. Erikson eingegangen, aber auch weitere namenhafte Theoretiker, wie Mead, Habermas, Krappmann sollen zu Wort kommen.

Nach der eingehenden Analyse des Steppenwolfes und der philosophischen Reflexion über Identität wollen wir noch einen Blick auf die ins Auge stechenden Parallelen zwischen Autor und Protagonist werfen, der die Frage der Identität in einem erweiterten Verständnis von Hesses realen Konflikten, der daraus resultierenden Entwicklung und Bedeutung von Melancholie und deren Ausblick und Umgang in Beziehung zu Kreativität, Humor und Kunst beantwortet.

2. Inhaltsangabe

Der Roman Der Steppenwolf handelt von Harry Haller, einem fünfzigjährigen Mann, der zurückgezogen und einsam lebt. Haller leidet an einem Identitätskonflikt, er versucht jenseits der bürgerlichen Ordnung zu leben, deren friedliche Atmosphäre er zwar schätzt, aber die er wegen ihrer naiven und scheinheiligen Art ablehnt. Diesen Zwiespalt artikuliert er in seiner Selbstbeschreibung als Steppenwolf, die sein Naturell als halb menschlich und halb wölfisch beschreibt; hin- und hergerissen zwischen Trieb und Geist, Revolte und Anpassung. Zuflucht sucht er in der Welt der Bildung und in der von ihm als unsterblich angesehenen Dichtung und Musik. Während er tagsüber ein Stubenhockerdasein führt, treibt er sich abends in einschlägigen Kneipen herum. Bei einem seiner nächtlichen Spaziergänge, begegnet er einem Mann mit einem Plakat, dass die anarchistische Abendunterhaltung eines Magischen Theaters ankündigt. Einige Tage später, nach dem Bruch mit einem ihm bekannten Professor, findet er sich, heruntergekommen und psychisch angeschlagen in einer Kneipe ein. Dort lernt er die lebenslustige und junge Frau Hermine kennen. Diese zeigt viel Verständnis für Hallers Konflikte und führt ihn in die Welt der Tanz- und Jazzlokale ein. Ob der neuen Welt des Leichtsinns und der Vergnügung und seiner neuen Bekanntschaft mit dem Jazzmusiker Pablo und seiner Liebschaft mit der Kurtisane Maria, schafft er es nicht seine neurotischen Ge- wohnheiten und Sorgen hinter sich zu lassen. Am Ende eines Maskenballs, geht er mit seinen drei neuen Freunden in einen Nebenraum und nimmt mit ihnen gemeinsam Drogen ein. Pablo will ihnen das Magische Theater vorführen. Die nun folgenden Traumwelten, die Haller seine unterdrückten und unbewussten Seiten seiner Persönlichkeit widerspiegeln, sollen ihm Wege aus seiner festgefahrenen und in belastenden, depressiven Steppenwolfweltsicht aufzeigen und ihn einen befreienden Humor lehren, was jedoch bis zum Schluss nicht ganz gelingt.

3. Fremdbeschreibung des Herausgebers

Welches Bild gewinnt der fiktive Herausgeber, der als subjektiver, externer Beobachter in der Rolle eines objektiven Zeugen fungieren soll, von Harry Haller? Er lebt im Haus seiner Tante, in dem sich Haller in eine möblierte Mansardenwohnung einmietet. Er beschreibt Haller als einen Mann von annähernd fünfzig Jahren, der verschlossen und wenig gesprächig ist. Für ihn ist Haller ein Sonderling und Einzelgänger, den er erst sehr spät durchschaut:

“gesellig war dieser Mann nicht, er war in einem hohen, von mir bisher bei niemandem beobachteten Grade ungesellig, er war wirklich, wie er sich zuweilen nannte, ein Steppenwolf, ein fremdes, wildes und auch scheues, sogar sehr scheues Wesen aus einer anderen Welt als der meinigen. In wie tiefe Vereinsamung er sich auf Grund seiner Anlage und seines Schicksals hineingelebt hatte und wie bewußt er diese Vereinsamung als sein Schicksal erkannte, dies erfuhr ich allerdings erst aus den von ihm hier zurückgelassenen Aufzeichnungen […]”[2]

Der Herausgeber beobachtet sein Verhalten sehr genau:

“der Steppenwolf, hatte seinen kurzhaarigen Kopf witternd in die Höhe gereckt, schnupperte mit der nervösen Nase um sich her und sagte, noch ehe er Antwort gab oder seinen Namen nannte:<< O, hier riecht es gut. >> Er lächelte dazu”[3]

Das ruhige, freundliche Wesen des Steppenwolfes kommt bei der Tante gleich gut an. Der Herausgeber ist jedoch zunächst skeptisch und revidiert erst nach und nach seine Meinung. Hallers äußeres Erscheinungsbild, seine Bewegung, sein Aussehen und seine Kleidung schildert er folgendermaßen:

„Er war nicht groß, hatte aber den Gang und die Kopfhaltung von großgewachsenen Menschen, er trug einen modernen bequemen Wintermantel und war im Übrigen anständig, aber unsorgfältig gekleidet, glatt rasiert und mit ganz kurzem Kopfhaar, das hier und dort ein wenig grau flimmerte. Sein Gang gefiel mir anfangs gar nicht, er hatte etwas Mühsames und Unentschlossenes, das nicht zu seinem scharfen, heftigem Profil und auch nicht zum Ton und Temperament seiner Rede paßte. Erst später merkte und erfuhr ich, daß er krank war und daß das Gehen ihm Mühe machte. Mit einem eigentümlichen Lächeln, das mir ebenfalls unangenehm war, betrachtete er die Treppe, die Wände und die Fenster und die al- ten hohen Schränke im Treppenhaus, dies alles schien ihm zu gefallen und schien ihm doch zugleich irgendwie lächerlich.”[4]

Sein erster Eindruck vom Steppenwolf war geradezu exotisch:

„Überhaupt machte der ganze Mann den Eindruck, als komme er aus einer fremden Welt, etwa aus überseeischen Ländern, zu uns und finde hier alles zwar hübsch, aber ein wenig komisch.”[5]

Er empfindet gegenüber Harry Haller ambivalent:

„Er war, wie ich nicht anders sagen kann, höflich, ja freundlich, er war auch mit dem Haus, dem Zimmer, dem Preis für die Miete und Frühstück und allem sofort und ohne Einwände einverstanden, und dennoch war um den ganzen Mann herum eine fremde und, wie mir scheinen wollte, ungute oder feindliche Atmosphäre.”[6]

Haller benimmt sich seinem Bericht nach umgänglich, zuvorkommend und anständig, doch bleibt er ihm wegen seiner Introvertiertheit seltsam und fremd:

„Er mietete das Zimmer, mietete noch die Schlafkammer dazu, ließ sich über Heizung, Wasser, Bedienung und Hausordnung unterrichten, hörte alles aufmerksam und freundlich an, war mit allem einverstanden, bot auch sogleich eine Vorauszahlung auf die Miete an, und doch schien er bei alledem nicht recht dabei zu sein, schien sich selber in seinem Tun komisch zu finden und nicht ernst zu nehmen, so, als sei es ihm seltsam und neu, ein Zimmer zu mieten und mit Leuten Deutsch zu sprechen, während er eigentlich und im Innern mit ganz anderen Sachen beschäftigt wäre. So etwa war mein Eindruck, und er wäre kein guter gewesen, wenn er nicht durch allerlei kleine Züge durchkreuzt und korrigiert worden wäre.”[7]

„Der Mieter, obwohl er keineswegs ein ordentliches und vernünftiges Leben führte, hat uns nicht belästigt noch geschädigt, wir denken noch heute gerne an ihn. Im Innern aber, in der Seele, hat dieser Mann uns beide, die Tante und mich, doch sehr viel gestört und belästigt, und offen gesagt, bin ich noch lange nicht mit ihm fertig. Ich träume nachts manchmal von ihm und fühle mich durch ihn, durch die bloße Existenz eines solchen Wesens, im Grunde gestört und beunruhigt, obwohl er mir geradezu lieb geworden ist.”[8]

Hallers Physiognomie ist die eines “Philosophen” und auch seine Sprache ist die eines Denkers, eines sehr vergeistigten Menschen:

„Vor allem war es das Gesicht des Mannes, das mir von Anfang an gefiel; trotz jenem Ausdruck von Fremdheit gefiel es mir, es war ein vielleicht etwas eigenartiges und auch trauriges Gesicht, aber ein waches, sehr gedankenvolles, durchgearbeitetes und vergeistigtes. Und dann kam, um mich versöhnlicher zu stimmen, dazu, dass seine Art von Höflichkeit und Freundlichkeit, obwohl sie ihm etwas Mühe zu machen schien, doch ganz ohne Hochmut war - im Gegenteil, es war darin etwas beinah Rührendes, etwas wie Flehendes, wofür ich erst später die Erklärung fand, das mich aber sofort ein wenig für ihn einnahm.”[9]

„Er machte durchaus und gleich beim ersten Anblick den Eindruck eines bedeutenden, eines seltenen und ungewöhnlich begabten Menschen, sein Gesicht war voll Geist, und das außerordentlich zarte und bewegliche Spiel seiner Züge spiegelte ein interessantes, höchst bewegtes, ungemein zartes und sensibles Seelenleben. Wenn man mit ihm sprach und er, was nicht immer der Fall war, die Grenzen des Konventionellen überschritt und aus seiner

Fremdheit heraus persönliche, eigene Worte sagte, dann mußte unsereiner sich ihm ohne weiteres unterordnen, er hatte mehr gedacht als andre Menschen und hatte in geistigen Angelegenheiten jene beinah kühle Sachlichkeit, jenes sichere Gedacht haben und Wissen, wie es nur wahrhaft geistige Menschen haben, welchen jeder Ehrgeiz fehlt, welche niemals zu glänzen oder den ändern zu überreden oder recht zu behalten wünschen.”[10]

Der Herausgeber erkennt Hallers Intellekt und Klugheit an, dessen Bildung und scharfsinnigen Blick auf die Welt:

“da warf mir der Steppenwolf einen ganz kurzen Blick zu, einen Blick der Kritik über diese Worte und über die ganze Person des Redners, oh, einen unvergeßlichen und furchtbaren Blick, über dessen Bedeutung man ein ganzes Buch schreiben könnte! Der Blick kritisierte nicht bloß jenen Redner und machte den berühmten Mann durch seine zwingende, obwohl sanfte Ironie zunichte, das war das Wenigste daran. Der Blick war viel eher traurig als ironisch, er war sogar abgründig und hoffnungslos traurig; eine stille, gewissermaßen sichere, gewissermaßen schon Gewohnheit und Form gewordene Verzweiflung war der Inhalt dieses Blickes. Er durchleuchtete mit seiner verzweifelten Helligkeit nicht bloß die Person des eitlen Redners, ironisierte und erledigte die Situation des Augenblicks, die Erwartung und Stimmung des Publikums, den etwas anmaßenden Titel der angekündigten Ansprache — nein, der Blick des Steppenwolfes durchdrang unsre ganze Zeit, das ganze betriebsame Getue, die ganze Streberei, die ganze Eitelkeit, das ganze oberflächliche Spiel einer eingebildeten, seichten Geistigkeit — ach, und leider ging der Blick noch tiefer, ging noch viel weiter als bloß auf Mängel und Hoffnungslosigkeiten unsrer Zeit, unsrer Geistigkeit, unsrer Kultur. Er ging bis ins Herz alles Menschentums, er sprach beredt in einer einzigen Sekunde den ganzen Zweifel eines Denkers, eines vielleicht Wissenden aus an der Würde, am Sinn des Menschenlebens überhaupt. Dieser Blick sagte: «Schau solche Affen sind wir! Schau, so ist der Mensch!» und alle Berühmtheit, alle Gescheitheit, alle Errungenschaften des Geistes, alle Anläufe zu Erhabenheit, Größe und Dauer im Menschlichen fielen zusammen und waren ein Affenspiel!”[11]

Die Folgen von so viel Nachdenken und Kopfzerbrechen führen notwendigerweise auch zu Melancholie und Depression. Der Herausgeber sieht in Haller einen psychisch kranken, sich selbst hassenden Mann:

“Schon beim allerersten Anblick, als er durch die Glastür der Tante hereintrat, den Kopf so vogelartig reckte und den guten Geruch des Hauses rühmte, war mir irgendwie das Besondere an diesem Manne aufgefallen, und meine erste naive Reaktion darauf war Widerwille gewesen. Ich spürte (und meine Tante, die im Gegensatz zu mir ja ganz und gar kein intellektueller Mensch ist, spürte ziemlich genau dasselbe) — ich spürte, daß der Mann krank sei, auf irgendeine Art geistes- oder gemüts- oder charakterkrank, und wehrte mich dagegen mit dem Instinkt des Gesunden. Diese Abwehr wurde im Lauf der Zeit abgelöst durch Sympathie, beruhend auf einem großen Mitleid mit diesem tief und dauernd Leidenden, dessen Vereinsamung und inneres Sterben ich mit ansah. In dieser Periode kam mir mehr und mehr zum Bewußtsein, daß die Krankheit dieses Leidenden nicht auf irgendwelchen Mängeln seiner Natur beruhe, sondern im Gegenteil nur auf dem nicht zur Harmonie gelangten großen Reichtum seiner Gaben und Kräfte. Ich erkannte, daß Haller ein Genie des Leidens sei, daß er, im Sinne mancher Aussprüche Nietzsches, in sich eine geniale, eine unbegrenzte, furchtbare Leidensfähigkeit herangebildet habe.” [12]

Haller wird hier als >>Genie des Leidens<< betrachtet. Noch mehrfach wird er im Roman als Genie bezeichnet. Nach Schopenhauer ist das Genie ein Mensch, bei dem der Wille besonders stark ausgeprägt ist, und der deswegen am meisten leidet.[13] Dies trifft auch auf unseren Protagonisten zu. Eines der freudschen Triebschicksale ist die

>>Wendung gegen die eigene Person<<,[14] auch dieses scheint bei unserem Steppen- wolf besonders stark ausgeprägt zu sein:

„Zugleich erkannte ich, daß nicht Weltverachtung, sondern Selbstverachtung die Basis seines Pessimismus sei, denn so schonungslos und vernichtend er von Institutionen oder Personen reden konnte, nie schloß er sich aus, immer war er selbst der erste, gegen den er seine Pfeile richtete, war er selbst der erste, den er haßte und verneinte . . .”[15]

Strenge Erziehung und der Kampf um Unabhängigkeit haben ihn und sein trachtendes Vorgehen gegen sich selbst geformt:

„Hier muß ich eine psychologische Anmerkung einfügen. Obgleich ich über das Leben des Steppenwolfes sehr wenig weiß, habe ich doch allen Grund zu vermuten, daß er von liebevollen, aber strengen und sehr frommen Eltern und Lehrern in jenem Sinne erzogen wurde, der das «Brechen des Willens» zur Grundlage der Erziehung macht. Dieses Vernichten der Persönlichkeit und Brechen des Willens nun war bei diesem Schüler nicht gelungen, dazu war er viel zu stark und hart, viel zu stolz und geistig. Statt seine Persönlichkeit zu vernichten, war es nur gelungen, ihn sich selbst hassen zu lehren. Gegen sich selber, gegen dies unschuldige und edle Objekt richtete er nun zeitlebens die ganze Genialität seiner Phantasie, die ganze Stärke seines Denkvermögens.”[16]

Seine Integrationsprobleme gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft haben zu seinem Konflikt zwischen Liebe und Hass, Mensch und Steppenwolf geführt:

Denn darin war er, trotz allem, durch und durch Christ und durch und durch Märtyrer, daß er jede Schärfe, jede Kritik, jede Bosheit, jeden Haß, dessen er fähig war, vor allem und zuerst auf sich selbst losließ. Was die anderen, was die Umwelt betraf, so machte er beständig die heldenhaftesten und ernstesten Versuche, sie zu lieben, ihnen gerecht zu werden, ihnen nicht weh zu tun, denn das «Liebe deinen Nächsten» war ihm ebenso tief eingebläut wie das Hassen seiner selbst, und so war sein ganzes Leben ein Beispiel dafür, daß ohne Liebe zu sich selbst auch die Nächstenliebe unmöglich ist, daß der Selbsthaß genau dasselbe ist und am Ende genau dieselbe grausige Isoliertheit und Verzweiflung erzeugt wie der grelle Egoismus”[17]

Auch die Beschreibung seiner Zimmereinrichtung und seiner Beschäftigungen sagen viel über die Persönlichkeit Hallers aus:

„Dies Wohnzimmer, eine große und freundliche Mansarde mit zwei Fenstern, sah schon nach wenigen Tagen anders aus als zur Zeit, da es von ändern Mietern bewohnt gewesen war. Es füllte sich, und mit der Zeit wurde es immer voller. An den Wänden wurden Bilder aufgehängt, Zeichnungen angeheftet, zuweilen aus Zeitschriften ausgeschnittene Bilder, die häufig wechselten. Eine südliche Landschaft, Photographien aus einem deutschen Landstädtchen, offenbar der Heimat Hallers, hingen da, farbige, leuchtende Aquarelle dazwischen, von denen wir erst spät erfuhren, daß er selbst sie gemalt hatte. Dann die Photographie einer hübschen jungen Frau oder eines jungen Mädchens. Eine Zeitlang hing ein siamesischer Buddha an der Wand, er wurde abgelöst durch eine Reproduktion der «Nacht» von Michelangelo, dann von einem Bildnis des Mahatma Gandhi. Bücher füllten nicht nur den großen Bücherschrank, sondern lagen auch überall auf den Tischen, auf dem hübschen alten Sekretär, auf dem Diwan, auf den Stühlen, auf dem Boden herum, Bücher mit eingelegten Papierzeichen, die beständig wechselten. Die Bücher nahmen beständig zu, denn er brachte nicht nur ganze Packen von den Bibliotheken mit, sondern bekam auch sehr häufig Pakete mit der Post. Der Mann, der diese Stube bewohnte, konnte ein Gelehrter sein. Dazu paßte auch der Zigarrenrauch, der alles einhüllte, und die überall herumliegenden Zigarrenreste und Aschenschalen. Ein großer Teil der Bücher jedoch war nicht gelehrten Inhalts, die große Mehrzahl waren Werke der Dichter aus allen Zeiten und Völkern. Eine Zeitlang lagen auf dem Diwan, wo er oft ganze Tage liegend zu brachte, alle sechs dicken Bände eines Werkes herum mit dem Titel «Sophiens Reise von Memel nach Sachsen», vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Eine Gesamtausgabe von Goethe und eine von Jean Paul schien viel benützt zu werden, ebenso Novalis, aber auch Lessing, Jacobi und Lichtenberg. Einige Dostojewskibände staken voll von beschriebenen Zetteln. Auf dem größern Tisch zwischen den vielen Büchern und Schriften stand häufig ein Blumenstrauß, dort trieb sich auch ein Aquarellierkasten herum, der aber stets voller Staub war, daneben die Aschenschalen und, um auch dies nicht zu verschweigen, allerlei Flaschen mit Getränken. Eine strohumflochtene Flasche war meist mit italienischem Rotwein gefüllt, den er in der Nähe in einem kleinen Laden holte, manchmal war auch eine Flasche Burgunder zu sehen sowie Malaga, und eine dicke Flasche mit Kirschgeist sah ich innerhalb recht kurzer Zeit nahezu leer werden, dann aber in eine Stubenecke verschwinden und, ohne daß der Rest sich weiter verminderte, verstauben.”[18]

Die Beobachtungen und Wertungen des Herausgebers resultieren natürlich aus dessen persönlicher Perspektive und entstammen einer ordentlichen kleinbürgerlichen und abstinenten Lebensweise, die zu viel Leidenschaft und Launisches Wesen nicht von sich selbst kennen:

„Ich will mich über die von mir getriebene Spionage nicht rechtfertigen und gestehe auch offen, daß in der ersten Zeit alle diese Anzeichen eines zwar von geistigen Interessen erfüllten, aber doch recht verbummelten und zuchtlosen Lebens bei mir Abscheu und Mißtrauen hervorriefen. Ich bin nicht nur ein bürgerlicher, regelmäßig lebender Mensch, an Arbeit und genaue Zeiteinteilung gewohnt, ich bin auch Abstinent und Nichtraucher, und jene Flaschen in Hallers Zimmer gefielen mir noch weniger als die übrige malerische Unordnung. Wie mit Schlaf und Arbeit, so lebte der Fremde auch in bezug auf Essen und Trinken sehr ungleichmäßig und launisch. An manchen Tagen ging er überhaupt nicht aus und nahm außer dem Morgenkaffee gar nichts zu sich, zuweilen fand die Tante als einzigen Rest seiner Mahlzeit eine Bananenschale liegen, aber an andern Tagen speiste er in Restaurants, bald in guten und eleganten, bald in kleinen Vorstadtkneipen. Seine Gesundheit schien nicht gut zu sein; außer der Hemmung in den Beinen, mit denen er oft recht mühsam seine Treppen stieg, schien er auch von andren Störungen geplagt zu sein, und einmal sagte er nebenbei, er habe seit Jahren nicht mehr richtig verdaut noch richtig geschlafen. Ich schrieb es vor allem seinem Trinken zu. Später, als ich ihn zuweilen in eines seiner Wirtshäuser begleitete, war ich manchmal Zeuge, wie er rasch und launisch die Weine hinuntergoß, richtig betrunken aber habe weder ich noch sonst jemand ihn je gesehen.”[19]

Haller lebt demnach ungesund und unvernünftig, seine Welt ist nicht die rationale, auf Ordnung, Arbeit und das täglich Butterbrot ausgerichtete Lebensweise. Doch Haller kennt auch das gesunde Leben des kleinen und braven Bürgers gut und liebäugelt mit ihm:

„Nie vergesse ich unsre erste persönlichere Begegnung. Wir kannten einander nur so, wie eben Zimmernachbarn in einem Miethaus sich kennen. Da kam ich eines Abends aus dem Geschäft nach Hause und fand zu meinem Erstaunen Herrn Haller beim Absatz der Treppe zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk sitzen. Er hatte sich auf die oberste Treppenstufe gesetzt und rückte beiseite, um mich vorbei zu lassen. Ich fragte ihn, ob er nicht wohl sei, und bot mich an, ihn vollends nach oben zu begleiten. Haller sah mich an, und ich merkte, daß ich ihn aus einer Art von Traumzustand geweckt hatte. Langsam begann er zu lächeln, sein hübsches und jämmerliches Lächeln, mit dem er mir so oft das Herz schwer gemacht hat, dann lud er mich ein, mich neben ihn zu setzen. Ich dankte und sagte, ich sei nicht gewohnt, auf der Treppe vor anderer Leute Wohnungen zu sitzen. «Ach ja», sagte er und lächelte stärker, «Sie haben recht. Aber warten Sie noch einen Augenblick, ich muß Ihnen doch zeigen, warum ich hier ein wenig sitzenbleiben mußte. »Dabei deutete er auf den Vorplatz der Wohnung im ersten Stock, wo eine Witwe wohnte. Auf dem kleinen parkettbelegten Platz zwischen Treppe, Fenster und Glastüre stand ein hoher Mahagonischrank an der Wand, mit altem Zinn darauf, und vor dem Schrank am Boden standen, auf zwei kleinen niedern Ständerchen, zwei Pflanzen in großen Töpfen, eine Azalee und eine Araukarie. Die Pflanzen sahen hübsch aus und waren immer sehr sauber und tadellos gehalten, das war auch mir schon angenehm aufgefallen. «Sehen Sie», fuhr Haller fort, «dieser kleine Vorplatz mit der Araukarie, der riecht so fabelhaft, ich kann hier oft gar nicht vorbeigehen, ohne eine Weile halt zumachen. Auch bei Ihrer Frau Tante duftet es ja gut und herrscht Ordnung und höchste Sauberkeit, aber der Araukarienplatz hier, der ist so strahlend rein, so abgestaubt und gewichst und abgewaschen, so unantastbar sauber, daß er förmlich ausstrahlt. Ich muß da immer eine Nase voll einatmen — riechen Sie es nicht auch? Wie da der Geruch von Bodenwachs und ein schwacher Nachklang von Terpentin zusammen mit dem Mahagoni, den abgewaschenen Pflanzenblättern und allem einen Duft ergibt, einen Superlativ von bürgerlicher Reinheit, von Sorgfalt und Genauigkeit, von Pflichterfüllung und Treue im kleinen. Ich weiß nicht, wer da wohnt, aber es muß hinter dieser Glastür ein Paradies von Reinlichkeit und abgestaubter Bürgerlichkeit wohnen, von Ordnung und ängstlich rührender Hingabe an kleine Gewohnheiten und Pflichten.»“[20]

Haller reflektiert dies selbst und ist sich seiner unnatürlichen Lebensweise mit ihren fatalen Nebenwirkungen sehr wohl bewusst. Dies wird deutlich, wenn er seinem Vermieter Novalis vorliest:

«Auch das ist gut, sehr gut», sagte er, «hören Sie einmal den Satz: ,Man sollte stolz auf den Schmerz sein — jeder Schmerz ist eine Erinnerung unsres hohen Ranges.'

Fein! Achtzig Jahre vor Nietzsche! Aber das ist nicht der Spruch, den ich meinte — warten Sie — da habe ich ihn. Also: ,Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, als bis sie es können.' Ist das nicht witzig? Natürlich wollen sie nicht schwimmen! Sie sind ja für den Boden geboren, nicht fürs Wasser. Und natürlich wollen sie nicht denken; sie sind ja fürs Leben geschaffen, nicht fürs Denken! Ja, und wer denkt, wer das Denken zur Hauptsache macht, der kann es darin zwar weit bringen, aber er hat doch eben den Boden mit dem Wasser vertauscht, und einmal wird er ersaufen.».”[21]

Denken versus Leben, das ist das Drama, welches Harry Haller durchlebt. Doch der ruhelose Geist ist nicht allein, seine Seelenkrankheit ist die Krankheit seiner Zeit:

„Was nun die Aufzeichnungen Hallers betrifft, diese wunderlichen, zum Teil krankhaften, zum Teil schönen und gedankenvollen Phantasien, so muß ich sagen, daß ich diese Blätter, wären sie mir zufällig in die Hand gefallen und ihr Urheber mir nicht bekannt gewesen, gewiß entrüstet weggeworfen hätte. Aber durch meine Bekanntschaft mit Haller ist es mir möglich geworden, sie teilweise zu verstehen, ja zu billigen. Ich würde Bedenken tragen, sie anderen mitzuteilen, wenn ich in ihnen bloß die pathologischen Phantasien eines einzelnen, eines armen Gemütskranken sehen würde. Ich sehe in ihnen aber etwas mehr, ein Dokument der Zeit, denn Hallers Seelenkrankheit ist — das weiß ich heute — nicht die Schrulle eines einzelnen, sondern die Krankheit der Zeit selbst, die Neurose jener Generation, welcher Haller angehört, und von welcher keineswegs nur die schwachen und minderwertigen Individuen befallen scheinen, sondern gerade die starken, geistigsten, begabtesten.

Diese Aufzeichnungen — einerlei, wie viel oder wenig realen Erlebens ihnen zugrunde liegen mag — sind ein Versuch, die große Zeitkrankheit nicht durch Umgehen und Beschönigen zu überwinden, sondern durch den Versuch, die Krankheit selber zum Gegenstand der Darstellung zu machen. Sie bedeuten, ganz wörtlich, einen Gang durch die Hölle, einen bald angstvollen, bald mutigen Gang durch das Chaos einer verfinsterten Seelenwelt, gegangen mit dem Willen, die Hölle zu durchqueren, dem Chaos die Stirn zu bieten, das Böse bis zu Ende zu erleiden.

Ein Wort Hallers hat mir den Schlüssel zu diesem Verständnis gegeben. Er sagte einmal zu mir, nachdem wir über sogenannte Grausamkeiten im Mittelalter gesprochen hatten: «Diese Grausamkeiten sind in Wirklichkeit keine. Ein Mensch des Mittelalters würde den ganzen Stil unseres heutigen Lebens noch ganz anders als grausam, entsetzlich und barbarisch verabscheuen! Jede Zeit, jede Kultur, jede Sitte und Tradition hat ihren Stil, hat ihre ihr zukommenden Zartheiten und Härten, Schönheiten und Grausamkeiten, hält gewisse Leiden für selbstverständlich, nimmt gewisse Übel geduldig hin. Zum wirklichen Leiden, zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten, zwei Kulturen und Religionen einander überschneiden. Ein Mensch der Antike, der im Mittelalter hätte leben müssen, wäre daran jämmerlich erstickt, ebenso wie ein Wilder inmitten unsrer Zivilisation ersticken müßte. Es gibt nun Zeiten, wo eine ganze Generation so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, daß ihr jede Selbstverständlichkeit, jede Sitte, jede Geborgenheit und Unschuld verlorengeht. Natürlich spürt das nicht ein jeder gleich stark. Eine Natur wie Nietzsche hat das heutige Elend um mehr als eine Generation voraus erleiden müssen, — was er einsam und unverstanden auszukosten hatte, das erleiden heute Tausende.»

Dieses Wortes mußte ich beim Lesen der Aufzeichnungen oft gedenken. Haller gehört zu denen, die zwischen zwei Zeiten hineingeraten, die aus aller Geborgenheit und Unschuld herausgefallen sind, zu denen, deren Schicksal es ist, alle Fragwürdigkeit des Menschenlebens gesteigert als persönliche Qual und Hölle zu erleben.”[22]

Wenn Zeiten, Kulturen, Sitten und Tradition sich immer schneller ändern, muss sich auch die Identität immer schneller ändern.

Harry Haller ist, in den Augen des Herausgebers, also ein umgänglicher, bescheidener, ruhiger Künstler, der wegen seines Intellekts, seiner Kreativität gemütskrank ist und die Neurose seiner Generation teilt.

Das Bild von Harry Haller, dass der Herausgeber, der äußere Beobachter gewinnt ist also eine relativ feste und eindeutige Beschreibung, dennoch bleibt er ihm ein Rätsel. Das Bild, das wir von außen gewinnen, ist wie hier deutlich wird, immer ein vorläufiges, ein Vorurteil.

4. Das Tractat vom Steppenwolf

Eines Abends begegnet dem Protagonisten ein Mann auf der Straße, der ein Schild bei sich trägt, dass eine >>Anarchistische Abendunterhaltung<< und ein >>Magisches Theater<< verspricht. Von ihm erhält er ein merkwürdiges Tractat.[23] Das >>Tractat vom Steppenwolf<<, eine wissenschaftlich angehauchte Analyse, die sich überraschender Weise mit seiner Steppenwolfvorstellung befasst. Laut diesem Tractat ist der Kernkonflikt des Steppenwolfs folgender:

„Der Steppenwolf hatte also zwei Naturen, eine menschliche und eine wölfische, dies war sein Schicksal […] Es sollen schon viele Menschen gesehen worden sein, welche viel vom Hund oder vom Fuchs, vom Fisch oder von der Schlange in sich hatten, ohne daß sie darum besondre Schwierigkeiten gehabt hätten. Bei diesen Menschen lebte eben der Mensch und der Fuchs, der Mensch und der Fisch nebeneinander her, und keiner tat dem ändern weh, einer half sogar dem ändern […] Bei Harry hingegen war es anders, in ihm liefen Mensch und Wolf nicht nebeneinander her, und noch viel weniger halfen sie einander, sondern sie lagen in ständiger Todfeindschaft gegeneinander [...]”[24]

Es ist der Kampf Triebe versus Vernunft, Über-Ich versus Ich, Bedürfnis versus Moral, kultiviert, zivilisiert versus Natürlichkeit, gezähmt versus ungezähmt. Die verschiedenen Selbste korrespondieren bzw. beobachten sich gegenseitig:

„Bei unsrem Steppenwolfe nun war es so, daß er in seinem Gefühl zwar bald als Wolf, bald als Mensch lebte, wie es bei allen Mischwesen der Fall ist, daß aber, wenn er Wolf war, der Mensch in ihm stets zuschauend, urteilend und richtend auf der Lauer lag — und in den Zeiten, wo er Mensch war, tat der Wolf ebenso. Zum Beispiel, wenn Harry als Mensch einen schönen Gedanken hatte, eine feine, edle Empfindung fühlte oder eine sogenannte gute Tat verrichtete, dann bleckte der Wolf in ihm die Zähne und lachte und zeigte ihm mit blutigem Hohn, wie lächerlich dieses ganze edle Theater einem Steppentier zu Gesicht stehe, einem Wolf, der ja in seinem Herzen ganz genau darüber Bescheid wußte, was ihm behage, nämlich einsam durch Steppen zu traben, zuzeiten Blut zu saufen oder eine Wölfin zu jagen, — und, vom Wolf aus gesehen, wurde dann jede menschliche Handlung schauerlich komisch und verlegen, dumm und eitel. Aber ganz ebenso war es, wenn Harry sich als Wolf fühlte und benahm, wenn er andern die Zähne zeigte, wenn er Haß und Todfeindschaft gegen alle Menschen und ihre verlogenen und entarteten Manieren und Sitten fühlte. Dann nämlich lag das Menschenteil in ihm auf der Lauer, beobachtete den Wolf, nannte ihn Vieh und Bestie und verdarb und vergällte ihm alle Freude an seinem einfachen, gesunden und wilden Wolfswesen.”[25]

Es ist ein Identitätskonflikt den viele Künstler in sich tragen, die jenseits des kleinbürgerlichen Alltags leben und einen anderen Blick, einen leidenschaftlich-künstlerischen auf die Welt werfen:

„Es gibt ziemlich viele Menschen von ähnlicher Art, wie Harry einer war, viele Künstler namentlich gehören dieser Art an. Diese Menschen haben alle zwei Seelen, zwei Wesen in sich, in ihnen ist Göttliches und Teuflisches, ist mütterliches und väterliches Blut, ist Glücksfähigkeit und Leidensfähigkeit ebenso feindlich und verworren neben und ineinander vorhanden, wie Wolf und Mensch in Harry es waren. Und diese Menschen, deren Leben ein sehr unruhiges ist, erleben zuweilen in ihren seltenen Glücksaugenblicken so Starkes und unnennbar Schönes, der Schaum des Augenblicksglückes spritzt zuweilen so hoch und blendend über das Meer des Leides hinaus, daß dies kurze aufleuchtende Glück ausstrahlend auch andere berührt und bezaubert. So entstehen, als kostbarer flüchtiger Glücksschaum über dem Meer des Leides, alle jene Kunstwerke, in welchen ein einzelner leidender Mensch sich für eine Stunde so hoch über sein eigenes Schicksal erhob, daß sein Glück wie ein Stern strahlt und allen denen, die es sehen, wie etwas Ewiges und wie ihr eigener Glückstraum erscheint.”[26]

„Alle diese Menschen, mögen ihre Taten und Werke heißen wie sie wollen, haben eigentlich überhaupt kein Leben, das heißt, ihr Leben ist kein Sein, hat keine Gestalt, sie sind nicht Helden oder Künstler oder Denker in der Art, wie andere Richter, Ärzte, Schuhmacher oder Lehrer sind, sondern ihr Leben ist eine ewige, leidvolle Bewegung und Brandung, ist unglücklich und schmerzvoll zerrissen und ist schauerlich und sinnlos, sobald man den Sinn nicht in eben jenen seltenen Erlebnissen, Taten, Gedanken und Werken zu sehen bereit ist, die über dem Chaos eines solchen Lebens aufstrahlen. Unter den Menschen dieser Art ist der gefährliche und schreckliche Gedanke entstanden, daß vielleicht das ganze Menschenleben nur ein arger Irrtum, eine heftige und mißglückte Fehlgeburt der Urmutter, ein wilder und grausig fehlgeschlagener Versuch der Natur sei. Unter ihnen ist aber auch der andere Gedanke entstanden, daß der Mensch vielleicht nicht bloß ein halbwegs vernünftiges Tier, sondern ein Götterkind und zur Unsterblichkeit bestimmt sei.”[27]

Was ihn als träumerischen und nach göttlichem und unsterblichem Suchenden und ihn von der bürgerlichen Tages- und Arbeitswelt unterscheidet, ist dass er als Abendmensch definiert wird:

„Es gehörte zu den Zeichen des Steppenwolfes, daß er ein Abendmensch war. Der Morgen war für ihn eine schlimme Tageszeit, die er fürchtete und die ihm niemals Gutes gebracht hat.”[28]

Der Steppenwolf ist sehr freiheitsliebend und sucht seine Flucht und sein Heil in der Einsamkeit, die für ihn gleichbedeutend ist mit Unabhängigkeit. Er stellt seine Kunst, seine Freiheit über gesellschaftlichen und finanziellen Erfolg, über vernünftiges und damit nützliches Verhalten:

„In seiner Jugendzeit, als er noch arm war und Mühe hatte, sein Brot zu verdienen, zog er es vor, zu hungern und in zerrissenen Kleidern zu gehen, nur um dafür ein Stückchen Unabhängigkeit zu retten. Er hat sich nie für Geld und Wohlleben, nie an Frauen oder an Mächtige verkauft und hat hundertmal das, was in aller Welt Augen sein Vorteil und Glück war, weggeworfen und ausgeschlagen, um dafür seine Freiheit zu bewahren .[29]

„Der Machtmensch geht an der Macht zugrunde, der Geldmensch am Geld, der Unterwürfige am Dienen, der Lustsucher an der Lust. Und so ging der Steppenwolf an seiner Unabhängigkeit zugrunde.”[30]

In seiner Fixiertheit bringt er sich deshalb immer wieder in Bedrängnis, getreu nach dem Credo >>Quod me nutrit me destruit<<. Er ist einsam, trotz vieler Bekanntschaften und Wunsch nach Gesellschaft.

„Es umgab ihn jetzt die Luft der Einsamen, eine stille Atmosphäre, ein Weggleiten der Umwelt, eine Unfähigkeit zu Beziehungen, gegen welche kein Wille und keine Sehnsucht etwas vermochte.”[31]

Zu seiner Persönlichkeit, seiner Leiden und Einsamkeit suchenden Seele, gehört es an Selbstmord zu denken. Lebensmüde zu sein, ist nach der Analyse des Tractats wesentliches Kennzeichen seines Charakters:

„Ein anderes war, daß er zu den Selbstmördern gehörte. Hier muß gesagt werden, daß es falsch ist, wenn man nur jene Menschen Selbstmörder nennt, welche sich wirklich umbringen. Unter diesen sind sogar viele, die nur gewissermaßen aus Zufall Selbstmörder werden, zu deren Wesen das Selbstmördertum nicht notwendig gehört. Unter den Menschen ohne Persönlichkeit, ohne starke Prägung, ohne starkes Schicksal, unter den Dutzend und Herdenmenschen sind manche, die durch Selbstmord umkommen, ohne darum in ihrer ganzen Signatur und Prägung dem Typus der Selbstmörder anzugehören, während wiederum von jenen, welche dem Wesen nach zu den Selbstmördern zählen, sehr viele, vielleicht die meisten, niemals tatsächlich Hand an sich legen. Der «Selbstmörder» — und Harry war einer — braucht nicht notwendig in einem besonders starken Verhältnis zum Tode zu leben — dies kann man tun, auch ohne Selbstmörder zu sein. Aber dem Selbstmörder ist es eigentümlich, daß er sein Ich, einerlei, ob mit Recht oder Unrecht, als einen besonders gefährlichen, zweifelhaften und gefährdeten Keim der Natur empfindet, daß er sich stets außerordentlich exponiert und gefährdet vorkommt, so, als stunde er auf allerschmalster Felsenspitze, wo ein kleiner Stoß von außen oder eine winzige Schwäche von innen genügt, um ihn ins Leere fallen zu lassen. Diese Art von Menschen ist in ihrer Schicksalslinie dadurch gekennzeichnet, daß der Selbstmord für sie die wahrscheinlichste Todesart ist, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Voraussetzung dieser Stimmung, welche fast immer schon in früher Jugend sichtbar wird und diese Menschen ihr Leben lang begleitet, ist nicht etwa eine besonders schwache Lebenskraft, man findet im Gegenteil unter den «Selbstmördern» außerordentlich zähe, begehrliche und auch kühne Naturen. Aber so wie es Naturen gibt, die bei der kleinsten Erkrankung zu Fieber neigen, so neigen diese Naturen, die wir «Selbstmörder» heißen und die stets sehr empfindlich und sensibel sind, bei der kleinsten Erschütterung dazu, sich intensiv der Vorstellung des Selbstmordes hinzugeben. Hätten wir eine Wissenschaft, die den Mut und die Verantwortungskraft besäße, sich mit dem Menschen zu beschäftigen, statt bloß mit den Mechanismen der Lebenserscheinungen, hätten wir etwas wie eine Anthropologie, etwas wie eine Psychologie, so wären diese Tatsachen jedem bekannt. Was wir hier über die Selbstmörder sagten, bezieht sich alles selbstverständlich nur auf die Oberfläche, es ist Psychologie, also ein Stück Physik. Metaphysisch betrachtet sieht die Sache anders und viel klarer aus, denn bei solcher Betrachtung stellen die «Selbstmörder» sich uns dar als die vom Schuldgefühl der Individuation Betroffenen, als jene Seelen, welchen nicht mehr die Vollendung und Ausgestaltung ihrer selbst als Lebensziel erscheint, sondern ihre Auflösung, zurück zur Mutter, zurück zu Gott, zurück ins All. Von diesen Naturen sind sehr viele vollkommen unfähig, jemals den realen Selbstmord zu begehen, weil sie dessen Sünde tief erkannt haben. Für uns sind sie dennoch Selbstmörder, denn sie sehen im Tod, nicht im Leben den Erlöser, sie sind bereit, sich wegzuwerfen und hinzugeben, auszulöschen und zum Anfang zurückzukehren.”[32]

Die Beschreibung lässt an Freuds Todestrieb denken. In jedem Fall ist der Gedanke an Selbstmord als ein Gedanke an einen Ausweg und ein Gedanke zum festhalten nachvollziehbar:

„Wie jede Kraft auch zu einer Schwäche werden kann (ja unter Umständen werden muß), so kann umgekehrt der typische Selbstmörder aus seiner anscheinenden Schwäche oft eine Kraft und eine Stütze machen, ja er tut dies außerordentlich häufig. Zu diesen Fällen gehört auch der Harrys, des Steppenwolfes. Wie Tausende von seinesgleichen, machte er aus der Vorstellung, daß ihm zu jeder Stunde der Weg in den Tod offenstehe, nicht bloß ein jugendlich melancholisches Phantasiespiel, sondern baute sich aus eben diesem Gedanken einen Trost und eine Stütze.”[33]

Was in dem Bericht des Herausgebers bereits deutlich geworden ist, ist der Widerspruch des Steppenwolfes: Er mag das Bürgertum und lehnt es doch ab:

„Der Steppenwolf stand, seiner eigenen Auffassung zufolge, gänzlich außerhalb der bürgerlichen Welt, da er weder Familienleben noch sozialen Ehrgeiz kannte. Er fühlte sich durchaus als Einzelnen, als Sonderling bald und krankhaften Einsiedler, bald auch als übernormal, als ein geniemäßig veranlagtes, über die kleinen Normen des Durchschnittslebens erhabenes Individuum. Mit Bewußtsein verachtete er den Bourgeois und war stolz darauf, keiner zu sein. Dennoch lebte er in mancher Hinsicht ganz und gar bürgerlich, er hatte Geld auf der Bank und unterstützte arme Verwandte, er kleidete sich zwar sorglos, doch anständig und unauffällig, er suchte mit der Polizei, dem Steueramt und ähnlichen Mächten in gutem Frieden zu leben. Außerdem aber zog ihn eine starke, heimliche Sehnsucht beständig zur bürgerlichen Kleinwelt, zu den stillen, anständigen Familienhäusern mit sauberen Gärtchen, blankgehaltnem Treppenhaus und ihrer ganzen bescheidenen Atmosphäre von Ordnung und Wohlanständigkeit. Es gefiel ihm, seine kleinen Laster und Extravaganzen zu haben, sich als außerbürgerlich, als Sonderling oder Genie zu fühlen, doch hauste und lebte er, um es so auszudrücken, niemals in den Provinzen des Lebens, wo keine Bürgerlichkeit mehr existiert. Er war weder in der Luft der Gewalt und Ausnahmemenschen zu Hause noch bei den Verbrechern oder Entrechteten, sondern blieb immer in der Provinz der Bürger wohnen, zu deren Gewohnheiten, zu deren Norm und Atmosphäre er stets in Beziehung stand, sei es auch in der des Gegensatzes und der Revolte. Außerdem war er in kleinbürgerlicher Erziehung auf gewachsen und hatte von dorther eine Menge von Begriffen und Schablonen beibehalten.”[34]

Herkunft und Erziehung sind also Ursachen für den Identitätskonflikt des künstlerisch begabten Protagonisten. Als kreativer, ideenreicher Mensch führt seine Rebellion gegenüber konservativer Kultur natürlich zu einer latent asozialen Verhaltensbereitschaft, dennoch ist er sehr moralisch veranlagt:

„Er hatte theoretisch nicht das mindeste gegen das Dirnentum, wäre aber unfähig gewesen, persönlich eine Dirne ernst zu nehmen und wirklich als seinesgleichen zu betrachten. Den politischen Verbrecher, den Revolutionär oder den geistigen Verführer, den Staat und Gesellschaft ächteten, vermochte er als seinen Bruder zu lieben, aber mit einem Dieb, Einbrecher, Lustmörder hätte er nichts anzufangen gewußt, als sie auf eine ziemlich bürgerliche Art zu bedauern.”[35]

Er fühlt sich zwischen all den Gegensätzen, die er im Leben ausmacht, hin und hergerissen. Er versucht seinen Lebensweg in der Mitte zwischen den Extremen auszubalancieren und will sich auf keinen Fall festlegen, kann sich dadurch aber auch nie ganz auf etwas einlassen:

„Das «Bürgerliche» nun, als ein stets vorhandener Zustand des Menschlichen, ist nichts andres als der Versuch eines Ausgleiches, als das Streben nach einer ausgeglichenen Mitte zwischen den zahllosen Extremen und Gegensatzpaaren menschlichen Verhaltens. Nehmen wir irgendeines dieser Gegensatzpaare als Beispiel, etwa das des Heiligen und des Wüstlings, so wird unser Gleichnis alsbald verständlich werden. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Geistigen, dem Annäherungsversuch ans Göttliche, hinzugeben, dem Ideal des Heiligen. Er hat umgekehrt auch die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Triebleben, dem Verlangen seiner Sinne hinzugeben und, sein ganzes Streben auf den Gewinn von augenblicklicher Lust zu richten. Der eine Weg führt zum Heiligen, zum Märtyrer des Geistes, zur Selbstaufgabe an Gott. Der andre Weg führt zum Wüstling, zum Märtyrer der Triebe, zur Selbstaufgabe an die Verwesung. Zwischen beiden nun versucht in temperierter Mitte der Bürger zu leben. Nie wird er sich aufgeben, sich hingeben, weder dem Rausch noch der Askese, nie wird er Märtyrer sein, nie in seine Vernichtung willigen — im Gegenteil, sein Ideal ist nicht Hingabe, sondern Erhaltung des Ichs, sein Streben gilt weder der Heiligkeit noch deren Gegenteil, Unbedingtheit ist ihm unerträglich, er will zwar Gott dienen, aber auch dem Rausche, will zwar tugendhaft sein, es aber auch ein bißchen gut und bequem auf Erden haben. Kurz, er versucht es, in der Mitte zwischen den Extremen sich anzusiedeln, in einer gemäßigten und bekömmlichen Zone ohne heftige Stürme und Gewitter, und dies gelingt ihm auch, jedoch auf Kosten jener Lebens und Gefühlsintensität, die ein aufs Unbedingte und Extreme gerichtetes Leben verleiht.”[36]

Haller, der als „Zwangshäftling des Bürgertums”[37] benannt wird, muss, um seinen Identitätswiderspruch überwinden zu können, sich sich selbst stellen. Die Möglichkeit der Selbsterkenntnis ermöglicht Freiheit:

„[...] um vielleicht am Ende doch noch den Sprung ins Weltall wagen zu können, müßte solch ein Steppenwolf einmal sich selbst gegenübergestellt werden, müßte tief in das Chaos der eigenen Seele blicken und zum vollen Bewußtsein seiner selbst kommen. Seine fragwürdige Existenz würde sich ihm alsdann in ihrer ganzen Unabänderlichkeit enthüllen, und es würde ihm fernerhin unmöglich werden, sich immer wieder aus der Hölle seiner Triebe in sentimental-philosophische Tröstungen und aus diesen wieder in den blinden Rausch seines Wolftums hinüberzuflüchten. Mensch und Wolf würden genötigt sein, einander ohne fälschende Gefühlsmasken zu erkennen, einander nackt in die Augen zu sehen. Dann würden sie entweder explodieren und für immer auseinandergehen, so daß es keinen Steppenwolf mehr gäbe, oder sie würden unter dem aufgehenden Licht des Humors eine Vernunftehe schließen.”[38]

Um sich derart selbst zu erkennen, ist laut Tractat ein spezieller Spiegel notwendig (ein Aspekt auf den später noch genauer eingegangen wird):

„Möglich, daß Harry eines Tages vor diese letzte Möglichkeit geführt wird. Möglich, daß er eines Tages sich erkennen lernt, sei es, daß er einen unsrer kleinen Spiegel in die Hand bekomme, sei es, daß er den Unsterblichen begegne oder vielleicht in einem unsrer magischen Theater dasjenige finde, wessen er zur Befreiung seiner verwahrlosten Seele bedarf. Tausend solche Möglichkeiten warten auf ihn, sein Schicksal zieht sie unwiderstehlich an, alle diese Außenseiter des Bürgertums leben in der Atmosphäre dieser magischen Möglichkeiten. Ein Nichts genügt, und der Blitz schlägt ein. Und dies alles ist dem Steppenwolf, auch wenn er niemals diesen Abriß seiner innern Biographie zu Gesicht bekommt, sehr wohl bekannt. Er ahnt seine Stellung im Weltgebäude, er ahnt und kennt die Unsterblichen, er ahnt und fürchtet die Möglichkeit einer Selbstbegegnung, er weiß vom Vorhandsein jenes Spiegels, in den zu blicken er so bitter nötig hätte, in den zu blicken er sich so tödlich fürchtet.”[39]

Immerhin ist die Erkenntnis des Selbst schon weit fortgeschritten und nicht naiv. Die simple Zweiteilung in Mensch und Wolf wird als Vereinfachung durchaus erkannt:

„Wenn Harry sich selbst als Wolfsmenschen empfindet und aus zwei feindlichen und gegensätzlichen Wesen zu bestehen meint, so ist das lediglich eine vereinfachende Mythologie. […] Die Zweiteilung in Wolf und Mensch, in Trieb und Geist, durch welche Harry sich sein Schicksal verständlicher zu machen sucht, ist eine sehr grobe Vereinfachung, eine Vergewaltigung des Wirklichen zugunsten einer plausiblen, aber irrigen Erklärung der Widersprüche, welche dieser Mensch in sich vorfindet und die ihm die Quelle seiner nicht geringen Leiden zu sein scheinen. […] Doch er weiß, dass die vordergründige Zweiteilung genauer betrachtet zu simpel ist. „Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) nicht bloß zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren.”[40]

Die entscheidende Erkenntnis ist ergo:

„Er erkennt die Einheit des Ichs als Täuschung. Denn es ist ein, wie es scheint, eingeborenes und völlig zwanghaft wirkendes Bedürfnis aller Menschen, daß jeder sein Ich als eine Einheit sich vorstelle. […] In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten.”[41]

Dieses Ichverständnis ist gemäß des Tractats auf Grund herkömmlicher Lehrmeinung gefährlich:

„ [...]wenn sie, wie jedes Genie, den Wahn der Persönlichkeitseinheit durchbrechen und sich als mehrteilig, als ein Bündel aus vielen Ichs empfinden, so brauchen sie das nur zu äußern, und alsbald sperrt die Majorität sie ein, ruft die Wissenschaft zu Hilfe, konstatiert Schizophrenie und beschützt die Menschheit davor, aus dem Munde dieser Unglücklichen einen Ruf der Wahrheit vernehmen zu müssen.”[42]

>>Passungsarbeit zwischen inneren und äußeren Welten<< verstehen (Heiner Keupp [u.a.], Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne,1999). Ständige Identität-Arbeit ist notwendig, um Verbindungen zwischen widersprüchlichen Fragmenten zu einer >>Identitäts-Collage<< zu schaffen. Diese Tätigkeit ist mit dem Weben eines Netzes vergleichbar. Die Fragmenthaftigkeit und prinzipielle Unabgeschlossenheit von Identität unter pluralen gesellschaftlichen Bedingungen wird hier betont. In dieser Sicht wird das Individuum zum >>Planungsbüro des eigenen Lebens<< (Ulrich Beck). Es stellt sich ihm damit eine Aufgabe, die einerseits enorme Chancen im Blick auf eine frei gewählte Lebensgestaltung birgt, wenn die notwendigen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen vorhanden sind; andererseits nehmen die Gefahren der Überforderung und des Scheiterns zu, weil sich bisher Halt gebende gesellschaftliche Strukturen (Vollbeschäftigung, selbstverständliche, von allen anerkannte Werte, Autoritäten, Traditionen) auflösen; daraus erwächst die Versuchung zum Rückzug in Fundamentalismen und zur Entwicklung von Feindbildern, die das eigene Selbst und seine Identität stabilisieren sollen.

Identität stellt eine Konstruktionsleistung des Individuums dar; der permanente reflexive Prozess konkretisiert sich in den Geschichten, die jemand von sich erzählen kann (narrative Identität). Mit Hilfe seiner Geschichten konstruiert ein Mensch Zusammenhang und Bedeutung, setzt sich in Beziehung zur Umwelt, entwirft Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, stellt Kausalverbindungen her, markiert Schwerpunkte und Zielsetzungen seines Lebens. Geschichten sind aber nicht ausschließlich individuelle Kreation, sondern auch Produkt sozialen Austauschs. Insofern spiegeln die Bestandteile einer narrativen Identität die ständig auszugleichende Spannung zwischen Individuum und gesellschaftlicher Vielfalt und ihren Herausforderungen.”

[...]


1 vgl. Jordan 2010: 9.

„In der Sozialpsychologie bezeichnet Identität die Schnittstelle zwischen Subjekt und Gesellschaft, zwischen Subjekt und Gesellschaft, zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und individueller Auseinandersetzung mit eben diesen Erwartungen.

Kein Mensch gewinnt Identität für sich allein; im Lauf der Sozialisation werden die ökologischen, kulturellen, familiären und genetischen Vorgaben in einem dauernden reflexiven Prozess angeeignet und umgeformt, so dass jemand einerseits sich selbst ein gewisses Maß an Kontinuität und Kongruenz zuschreiben kann, auch von anderen als solcher anerkannt wird, andererseits zugleich in der Lage ist, flexibel auf veränderte gesellschaftliche Herausforderungen zu reagieren. Mit dem Identität-Begriff ist die Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Wandel, von größeren Ganzen sowohl im Blick auf Individuen als auch auf Gruppen und Institutionen gestellt.

William James und Erik H. Erikson führen Identität als Entwicklungsbegriff in die Sozialpsychologie ein. Erikson konzeptualisierte eine Theorie der Epigenese [...], die an das Modell der psychosexuellen Entwicklung, wie sie Sigmund Freud vorgelegt hatte [...] anknüpft, aber verstärkt psychosoziale Faktoren berücksichtigt. Danach entwickelt sich das Ich des Menschen in ständiger Auseinandersetzung sowohl mit der eigenen Triebausstattung [...] als auch mit der Umwelt in vorgegebenen Sequenzen auf eine Identität hin, die Erikson als >>Fähigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuität aufrechtzuerhalten<<, definierte [...]. In dieser in den Nachkriegsjahren in den USA entwickelten Theorie akzentuierte Erikson das Moment der Kontinuität und Stabilität von Identität. Diese wird gestützt durch Gruppenzugehörigkeit und eine gesellschaftliche >>Ideologie<<, die das Orientierungs- und Normgefüge für Einzelne und Gruppen zur Verfügung stellt, nämlich als >>Summe aller Bilder; Ideen und Kräfte, die einer Person das Gefühl einflößt, mehr >wie sie selbst< zu sein und mehr >wie sie selbst< zu handeln [...]. Angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungs- und Freisetzungsprozesse im ausgehenden 20. Jh. kann Identität nicht mehr - bildlich gesprochen - als Fels in der Brandung oder als Gehäuse, in das man sich zurückzieht, verstanden werden; Vorstellungen von Einheit, Kontinuität und Kohärenz erweisen sich für die der postmodernen Gesellschaft notwendige Offenheit und Flexibilität eher als hinderlich. Stattdessen muss ein zeitgemäßer Identität-Begriff die Erfahrungen von Unübersichtlichkeit, Diskontinuität, Fragmentierung, Beschleunigung und >>Entbettung<< (Anthony Giddens) aufgreifen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Identität als Prozessgeschehen, als

2 vgl. Hesse 1974: 7f.

3 ebd.: 8.

4 ebd.: 8f.

5 ebd.: 9.

6 ebd.: 9.

7 ebd.: 9.

8 ebd.: 11f.

9 ebd.: 9f.

10 ebd.: 12.

11 ebd.: 13f.

12 ebd.: 14f.

13 vgl. Spierling 1985: 67-85.

14 vgl. Freud 2010: 86.

15 vgl. Hesse 1974: 15.

16 ebd.: 15.

17 ebd.: 15f.

18 ebd.: 16f.

19 ebd.: 16-18.

20 ebd.: 18-20.

21 ebd.: 21.

22 ebd.: 26-28.

23 ebd.: 45.

24 ebd.: 47.

25 ebd.: 48.

26 ebd.: 50.

27 ebd.: 50f.

28 ebd.: 51.

29 ebd.: 51f.

30 ebd.: 52.

31 ebd.: 53f.

32 ebd.: 55.

33 ebd.: 58.

34 ebd.: 57f.

35 ebd.: 58.

36 ebd.: 58f.

37 ebd.: 60.

38 ebd.: 62f.

39 ebd.: 63.

40 ebd.: 64.

41 ebd.: 66.

42 ebd.: 66.

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Die Frage der Identität in Hermann Hesses „Der Steppenwolf”
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Note
3
Jahr
2014
Seiten
71
Katalognummer
V286649
ISBN (eBook)
9783656869818
ISBN (Buch)
9783656869825
Dateigröße
933 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
frage, identität, hermann, hesses, steppenwolf”
Arbeit zitieren
Anonym, 2014, Die Frage der Identität in Hermann Hesses „Der Steppenwolf”, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286649

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