(K)eine Frage der Moral? Systemtheoretische Überlegungen

Zu den Fallbeispielen Schließung des Nokio Werkes in Bochum und Steuerhinterziehung Zumwinkel


Diplomarbeit, 2008

93 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zwei Fallbeispiele und Moral: Eine erste Annäherung
2.1 Der Begriff Moral: Erste Annäherung und Eingrenzung
2.1.1 Der Begriff Moral: Ein weites Feld
2.1.2 Exkurs: Abgrenzung zur Ethik
2.1.3 Eingrenzung des Moralbegriffes
2.2 Die Fallbeispiele zum Ersten: Allgemeine Darstellungen und enthaltene moralische Kommunikationen
2.1.4 Nokia „connecting people“
2.1.5 Zumwinkel „die gelbe Eminenz“
2.3 Zusammenfassung und Ausblick

3 Die Systemtheorie: Eine Theorie mit Universalitätsanspruch
3.1 Grundlagen der Systemtheorie
3.2 Systemtheorie als Theorie sozialer Systeme
3.2.1 Kommunikation
3.2.2 Exkurs: Wo bleibt der Mensch?
3.2.3 Doppelte Kontingenz und Medien
3.3 Systemtheorie als Theorie funktional–differenzierter Gesellschaften
3.3.1 Interaktions- und Organisationssysteme
3.3.2 Funktional-differenzierte Gesellschaft
3.3.3 Andere soziale Systeme und kommunikative Wirklichkeiten
3.4 Zusammenfassung und Ausblick

4 Die Fallbeispiele und die Systemtheorie: Eine zweite Annäherung
4.1 Das wirtschaftliche System
4.1.1 Allgemeine Grundlagen zum Wirtschaftssystem
4.1.2 Bezug zu den Fallbeispielen (Die Fallbeispiele zum Zweiten)
4.2 Das politische System
4.2.1 Allgemeines zum politischen System
4.2.2 Bezug zu den Fallbeispielen (Die Fallbeispiele zum Dritten)
4.3 Das rechtliche System
4.3.1 Allgemeines zum rechtlichen System
4.3.2 Bezug zu den Fallbeispielen (Die Fallbeispiele zum Vierten)
4.4 Zusammenfassung und Ausblick

5 Systemtheoretische Betrachtungen zur Moral
5.1 Moral als Achtungskommunikation
5.1.1 Exkurs: Luhmanns Verständnis von Ethik
5.2 Das Grundproblem der Moral
5.3 Funktion von Moral auf gesellschaftlicher Ebene
5.4 Zusammenfassung und Ausblick

6 Die Fallbeispiele und die Systemtheorie: Eine dritte Annäherung
6.1 Die „Alarmfunktion“ der Moral (Die Fallbeispiele zum Fünften)
6.1.1 Das Fallbeispiel Nokia
6.1.2 Das Fallbeispiel Zumwinkel
6.2 Das Was und Wie der Beobachtung (Die Fallbeispiele zum Sechsten)
6.3 Moral als „hochinfektiöser Gegenstand“ (Die Fallbeispiele zum Siebten)
6.4 Über die Fallbeispiele hinaus
6.5 Zusammenfassung und Ausblick

7 Fazit

8 Literaturverzeichnis

10. Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Aufbau der Diplomarbeit

Abb. 2 Unwahrscheinlichkeitsschwellen und Funktionen verschiedener Medien

Abb. 3 Strukturelle Kopplungen zwischen Wirtschafts-, Politik- und Rechtssystem

Abb. 4 Gesellschaft als Summe sozialer Systeme, "kommunikativer Wirklichkeiten“ und

„anderer Sozialsysteme“

Abb. 5 Das wirtschaftliche Funktionssystem

Abb. 6 Das politische Funktionssystem

Abb. 7 Das rechtliche Funktionssystem

Abb. 8 Funktionale Bedeutung von Moral in Abhängigkeit vom Gesellschaftstyp

Abb. 9 Zuordnung des Moralcodes in Abhängigkeit von Sinn im Kontext des Fallbeispiels Nokia

Abb. 10 Zuordnung des Moralcodes in Abhängigkeit von Sinn im Kontext des Fallbeispiels Zumwinkel

Abkürzungen häufig benutzter Zeitungen, Zeitschriften und Homepages

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten.

1 Einleitung

Der Ausgangspunkt folgender Überlegungen ist die Beobachtung, dass es in der massen­medialen Berichterstattung eine seit längerem andauernde Diskussion über Handlungs- und Verhaltensweisen von (Top-)Managern gibt, in welcher verstärkt mit Hilfe von Moral argumentiert wird. Dieses konkretisiert sich gemeinhin in „moralischer Kritik“, „moralischer Verurteilung“ oder „moralischer Appellierung“ an genannter Berufsgruppe. Überträgt man diese Skizze der Auseinandersetzung auf eine allgemeine Ebene, ist schnell festzustellen, dass in unserer Gesellschaft insgesamt ein nicht unerheblicher Anteil der öffentlichen Auseinandersetzungen moralische Komponenten beinhalten. Die konkreten Formen der Kommunikation über Moral sind dabei sehr unter­schiedlich. Sie variieren von direkten Verhandlungen über die oder zumindest eine richtige (oder falsche) Moral bis hin zu indirekten „Anspielungen“, bspw. in Form von kritischen Kommentaren oder versteckten Gesten (etwa in Form des Stirnrunzelns). Ebenso findet die moralische Kommunikation häufig unbewusst statt, d. h. die moralische Komponente erschließt sich oft erst im Nachhinein, meist nur für einen Kommunikanten, einen externen Beobachter oder sie bleibt verborgen. Zu finden sind diese vielfältigen Formen des Moralisierens sowohl in der privaten als auch in der massenmedialen, öffentlichen Auseinandersetzung. Sie reichen von kollegialen oder nachbarschaftlichen („Läster“-)Gesprächen, bis hin zu gesellschafts­weiten, öffentlichen und medial verbreiteten Auseinandersetzungen über die Moral von prominenten Vertreter­gruppen der Gesellschaft, wie bspw. Politiker, Schau­spieler, Sportler bis hin zu den ge­nannten (Top-)Managern. Darüber hinaus werden aber auch abstrakte­ren Gebilden wie Organisationen, Unternehmen, Konzernen, Verbänden, Institutionen, ja selbst dem Staat und der Gesellschaft eine Moral zugeschrieben und diese (meist kritisch) bewertet.

Vorige Überlegungen lassen sich zu einer leitenden Forschungsfrage bündeln, nämlich: Welche Funktion hat Moral bzw. moralische Kommunikation in unserer modernen Gesell­schaft? Aus dieser Frage leiten sich vielfältige Unterfragen ab: Was ist Moral überhaupt? Wie kann Moral bestimmt werden? Was ist eigentlich unter Gesellschaft zu verstehen? Und nicht zuletzt: Wie sind diese Fragen zu beantworten?

Überlegungen zur Beantwortung obiger Fragen bestimmen den weiteren Aufbau dieser Arbeit. Als grundlegend wird die Frage nach der Gesellschaft betrachtet. Erst deren „Beantwortung“ kann die Fundamente legen bezüglich der weiteren Fragen nach der Funktion und Rolle von Moral in der Gesellschaft. Als Bezugstheorie wird sich für die Systemtheorie Luhmanns entschieden, da diese verschiedene vorteilhafte Betrachtungs­perspektiven anbietet. Hauptsächlich zählt hierzu das Potential dieser Theorie, die Gesell­schaft so zu beschreiben (beobachten), wie sie ist. Dieses ist insbesondere aus der Per­spektive bzw. Fragestellung nach der gesellschaftlichen Funktion von moralischer Kommunikation bedeutend, da Theorien über Moral sehr häufig Sollensbeschreibungen nahe kommen. Ferner bietet diese Perspektive den Vorteil eigene Betrachtungen einzu­schieben und dabei den Stellenwert dieser Beobachtungen einzuordnen und zu reflek­tieren. Als heuristisches Hilfsmittel wird es des Weiteren als nützlich betrachtet zwei Fall­beispiele bezüglich moralischer Kommunikation heranzuziehen und genauer zu betrach­ten. Hierbei wurde sich zum einen für den Fall Nokia entschieden, worunter die Vor­gänge zusammengefasst werden, die zu der Entscheidung führten, die Mobiltelefonfabrikation in Bochum einzustellen. Zum anderen soll sich mit Geschehnissen im Anschluss an die Ermittlungen gegen Klaus Zumwinkel infolge des Verdachtes wegen Steuerhinterziehung beschäftigt werden.

Dargestellte Überlegungen ergaben sich im Ursprung unabhängig voneinander, bedingten sich im weiteren Verlauf allerdings immer mehr gegenseitig – was sich am besten mit dem Phänomen bzw. Begriff des hermeneutischen Zirkels bzw. Spirale fassen lässt – und führten schlussendlich zur Entscheidung einen Aufbau zu wählen, der aus sechs Teilen besteht, wobei sich abwechselnd aus empirischer und theoretischer Perspektive der Be­antwortung der Fragestellung angenähert wird (siehe Abb. 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Aufbau der Diplomarbeit

Analog zu diesen Überlegungen wird sich im Folgenden in einem ersten Schritt dem Begriff der Moral genähert sowie dieser auf die Fallbeispiele Nokia und Zumwinkel übertragen. Hierzu ist es nötig allgemeine Vorstellungen von Moral vorzu­stellen (Kap. 2.1.1) und ein Verständnis von Moral einzugrenzen bzw. zu entwickeln (Kap. 2.1.3), das sich auf die Fallbeispiele anwenden lässt (Kap. 2.2). Der Übertragung auf die Fallbeispiele sollen jeweils einführende Darstellungen der ausgewählten Gescheh­nisse vorausgehen. Im nächsten Schritt wird sich der Gesellschaft genähert (Kap. 3). Dies geschieht durch die Betrachtung der funktional-strukturellen Systemtheorie. Über­legungen hierzu werden zum Teil im Allgemeinen (Kap. 3.1), hauptsächlich aber unter dem Fokus der Fragestellung und der ausgewählten Fallbeispiele gewählt und erläutert (Kap. 3.2.& Kap. 3.3). Diese Ausführungen sollen die wichtigsten Implikationen enthalten, die für die weiteren Beobachtungen von Bedeutung sind. Hierzu zählt zum einen die erneute Betrachtung der gewählten Fallbeispiele, diesmal unter systemtheoretischer Perspektive, d. h. einer Theorie, die die Gesellschaft in verschiedene ausdifferenzierte Subsysteme gegliedert sieht. Insbesondere die Logiken des wirtschaftlichen, politischen und recht­lichen Funktionssystems werden dargestellt und auf die Fallbeispiele übertragen (Kap. 4). Zum anderen werden die Grundlagen aus den Darstellungen des dritten Kapitels noch­mals herangezogen um sich dem systemischen, funktionalen Verständnis von Moral bzw. moralischer Kommunikation zu widmen. Dieses soll im fünften Kapitel geschehen. Auf das Fallbeispiel angewendet werden diese Überlegungen erneut im darauffolgenden Kapitel (Kap. 6). In diesem letzten Schritt sollen auch die wichtigsten vorigen Über­legungen zur Beantwortung der Forschungsfrage zusammengeführt, diskutiert und kritisiert werden.

2 Zwei Fallbeispiele und Moral: Eine erste Annäherung

Im Folgenden werden die, in der Einleitung nur angerissenen, Fallbeispiele genauer be­schrieben. Darüber hinaus wird geklärt, worin der moralische Bezug in diesen zu sehen ist (Kap. 2.2). Hierzu ist sich einführend mit dem Begriff Moral zu beschäftigen (Kap. 2.1). Die Darstellung der Begebenheiten sollen möglichst kurz gehalten werden, gleich­zeitig aber alle Informationen enthalten, die für die weitere Betrachtung relevant sind.

2.1 Der Begriff Moral: Erste Annäherung und Eingrenzung

„Moral ist wie eine Brille auf der Nase, durch die ein Bild der dahinterliegenden Welt entsteht, ohne dass sie selbst gesehen wird“ (Bergmann/ Luckmann 1999, S. 14)

Will man sich dem Begriff Moral nähern, ist schnell festzustellen, dass dieser sowohl im alltäglichen als auch im wissenschaftlichen Gebrauch unterschiedlich verwendet und bestimmt wird. Deshalb ist ein Ziel dieses Kapitels diesen „Gegenstand“ einführend vorzu­stellen (Kap. 2.1.1) und ihn soweit eingrenzend zu bestimmen, d. h. zu operationalisieren (Kap. 2.1.3), dass dieser im nächsten Abschnitt auf die Fallbeispiele angewendet werden kann (Kap. 2.2). Da der Moralbegriff und dessen Bedeutung sowohl im alltäglichen, als auch im wissenschaftlichen Verständnis häufig mit dem Begriff der Ethik korreliert, soll die Abgrenzung beider mit Hilfe eines Exkurses zum Ethikbegriff ermöglicht werden (Kap.2.1.2).

2.1.1 Der Begriff Moral: Ein weites Feld

Wie in der Einleitung bereits angerissen, kann Moral bzw. moralische Kommunikation als ein „inniger Bestandteil unseres Alltagslebens“ (Bergmann/ Luckmann 1999, S. 13) be­trachtet werden, die in der Alltagskommunikation allgegenwärtig ist, da „sie über weite Strecken der Stoff [ist], aus dem die Gespräche sind“ (ebd., S. 14). Dieses gilt insbeson­dere für kommunikative Handlungen wie Beleidigungen, Beschuldigungen, Vor­würfe, Vorhaltungen, Rechtfertigungen, Entrüstungen, Gejammer, die einen gewissen Teil des täglichen Kommunikationsgeschehens ausmachen und intuitiv leicht als moralisch aufge­ladene Aktivitäten zu fassen sind. Darüber hinaus genügen bereits Kleinigkeiten, wie eine unscheinbare Kopfbewegung oder das Hochziehen einer Augenbraue, um Interaktionen eine moralische Färbung zu geben. Und gerade weil Moral unseren Alltag bzw. unser alltägliches Sprechen und Tun so durchdringt, wird sie oft nicht wahr­genommen und bleibt unsichtbar. Nur in besonderen Situationen, etwa wenn unterschiedliche moralische Vor­stellungen aufeinandertreffen (oder als different und nicht kompatibel interpretiert werden) und es zu Irritationen kommt, wird der moralische Bestandteil vieler Kommunikationen sichtbar und es wird explizit über moralische Vorstellungen und Begründungen kommuni­ziert (vgl. ebd., S. 13f.).

Geklärt ist hiermit noch nicht, was genau unter Moral zu verstehen ist. In der philoso­phischen sowie soziologischen Literatur dominieren Be­stimmungen von Moral, die diese als die „in einer konkreten Gemeinschaft eingelebten oder von einer Person internationa­lisierten Verhaltensregeln“ (Werner 2006, S. 239) bezeichnen. Unter Moral wird folglich das „tatsächlich praktizierte Wertsystem des einzel­nen Menschen oder einer Gruppe“ (Biller 1995, S. 94) verstanden, welches Sitten, Normen und ggf. Gesetze umfasst und „zur Beurteilung von individuellem oder sozialem Verhalten als ‚richtig’ oder ‚falsch’, ‚gut’ oder ‚böse’“ (Hillmann et al. 2007, S. 589) herangezogen wird. Diese Bewertung geschieht dabei häufig „aufgrund spezifischer religiös-weltanschaulicher Orientierungen und sozio­kultureller Werte“ (ebd.).

Diesen Ausführungen folgend kann zwischen mindestens zwei Moralverständnissen unter­schieden werden[1]: In einem weiten Verständnis wird sich auf gesellschaftlich dominie­rende Werte und Normen einer Handlungsgemeinschaft bezogen, „die durch gemeinsame Anerkennung als verbindlich gesetzt worden sind und in der Form von Geboten (Du sollst ... ) oder Verboten (Du sollst nicht ... ) an die Gemeinschaft der Handelnden appel­liert“ (Pieper 1993, S. 31f.). Moral kann somit als ein gruppenspezifischer konkreter Re­gelkanon („Sollensaussagen“) erfasst werden. In diesem Verständnis sind Pluralisie­rungen des Begriffs Moral gebräuchlich: Es gibt nicht die eine absolute Moral, sondern viele verschiedene Moralen, deren Geltungsansprüche räumlich, sozial und zeitlich variie­ren und deren Beachtung nicht ohne weiteres über die Mitglieder einer Gruppe hinaus ausgedehnt werden kann (vgl. ebd., S. 32). Dieser Umstand ist in der Sprache durch Begriffe wie „individuelle moralische Einstellung“, „Landesmoral“ oder partikulare „Gruppenmoralen“ wiederzufinden. Hierzu gehört auch die Implikation, dass Gruppen­angehörige bzw. Personen, die den gleichen moralischen „Geboten“ folgen, zu respek­tieren sind, ihnen also Achtung entgegen zu bringen ist. Ist dieses nicht der Fall wird die Achtung entzogen bzw. sogar Missachtung gezeigt.

Hiervon abzugrenzen ist ein engeres, auf den einzelnen Menschen bezogenes Verständ­nis von Moral i. S. eines Werte- und Normensystems, welches das individuelle Verhalten „steuert“. Demnach besitzt eine Person erst dann Moral, wenn Urteile, Handlungen oder Entscheidungen autark getroffen und be­gründet werden können (vgl. Pieper 1993, S. 45). Es ist somit nicht zwingend sich an den gelten­den Moralkodex (also das weite Verständnis von Moral) zu orientieren und diesen zu internationalisieren. Folglich kann der Mensch nur „aus sich selbst und durch sich selbst“ (ebd.) moralisch kompetent sein. Für dieses engere Verständnis von Moral wird in der Literatur, wenn auch nicht einheitlich, der Begriff Moralität benutzt (vgl. Regenbogen/ Meyer 2005, S. 428; Pieper 1993, S. 44).

2.1.2 Exkurs: Abgrenzung zur Ethik

Der Ausdruck Ethik, der sprachgeschichtlich mit Moral bedeutungsäquivalent[2] ist, wird i. d. R. „für die philo­sophische Untersuchung des Problembereichs der Moral“ (Patzig [zit. n. Pieper 1993, S. 17]) angewendet. Die Ethik unterscheidet sich somit von Moral dadurch, dass sie sich nicht unmittelbar auf einzelne, aktuelle Hand­lungen bezieht, sondern „auf einer Metaebene moralisches Handeln grundsätzlich thematisiert, indem sie z. B. nach dem Moralprinzip oder nach einem Kriterium zur Beurteilung von Handlungen fragt, [...] oder indem sie Bedingungen untersucht, unter denen moralische Normen und Werte allgemein verbindlich sind“ (Pieper 1993, S. 28). Das Themengebiet der Ethik umfasst also die menschlichen Handlungen und ihre Rechtfer­tigungen (vgl. Biller 1995, S. 94). In der Ethik wird demzufolge über Prinzipien, Begründungen und Anwen­dungen der Moral nachgedacht, weswegen sie auch als Philosophie der Moral bzw. als Moral­philosophie bezeichnet werden kann (vgl. bspw. Schweppenhäuser 2003, S. 15). Neben dieser „‚neutralen’“ (Werner 2006, S. 239) deskriptiven Frage nach der Begründung, Genese und Zustandekommen von Moral (vgl. Biller 1995, S. 94) sind darüber hinaus normative Ethiken zu finden, die dieser implizit oder explizit die Bestimmung von Kriterien zuschreiben, „denen gemäß allererst verbindlich festgesetzt werden kann, welches Ziel als gutes Ziel anzuer­kennen ist“ (Pieper 1993, S. 23).

Die verschiedensten Ansätze zur (ontologischen) Bestimmung bzw. Begründung von Ethik und Moral sind in diesem Zusammenhang als nicht relevant zu betrachten und werden deshalb nicht weiter erörtert[3]. Es ist lediglich festzuhalten, dass die Frage nach einer Begründung von Moral bzw. moralischen Normen „seit jeher im Zentrum der abendländischen Moralphilosophie“ (Horster 2008, S. 22), also der Ethik steht, und dass es unterschiedliche Varianten gibt die Moral der Menschen zu begründen. Als gemeinsamer Be­zugspunkt kann dabei, vereinfacht und verallgemeinert gesprochen, die Suche nach einer begründeten Vorstellung von dem „richtigen“ bzw. „guten“ Leben gesehen werden. Als beliebte „Kandidaten“ gelten trans­zendente, göttliche Begründungen (Religionen), Glück, Vernunft, Natur, Wille, Gefühl sowie letztlich die Menschen selbst, zwecks Ausgestaltung einer „größtmöglichen Freiheit aller Mitglieder der Handlungs­gemein­schaft“ (Pieper 1995, S. 20).

Darüber hinaus ist in Bezug auf Moral darauf hinzuweisen, dass dieser für den einzelnen Menschen und das menschliche Zusammenleben häufig eine sozialintegrative Bedeutung zugeschrieben wird. Argumentativer Ausgangspunkt ist hier häufig eine unausreichende Natur des menschlichen Wesens - im Sinne eines „Mängelwesens“ (Gehlen 1986: 46 ff.) – welches einer Entlastung durch Institutionen (wozu i. w. S. auch Moral gezählt werden kann) bedarf, um seine Existenz bzw. das Zusammenleben mit Anderen zu organisieren[4].

2.1.3 Eingrenzung des Moralbegriffes

„Es Gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen“ (Nietzsche, 1980 [1887], S. 92)

Die dargestellten „vorherrschenden“ Auffassungen von Moral sind als heuristisch und methodisch wenig brauchbar zu betrachten. Dieses ist dadurch zu begründen, dass die Vorstellung von Moral als (individuelles und/ oder gruppenspezifisches) Norm- und Werte­system impliziert, dass sich eine Reihe von Maximen moralisch richtigen Handelns her­auskristallisieren lassen, die miteinander in Beziehung stehen und isoliert für sich be­stimmt werden können. Die menschlichen Moralvorstellungen müssen folglich, ihrer Be­stimmung wegen, aus dem Zusammenhang dekontextualisiert werden, wodurch sie “leicht ein ähnlich hohes Maß an argumentativer Konsistenz und innerer Geschlossenheit wie ethische Theorien“ (Bergmann/ Luckmann 1999, S. 17) erhalten. Dieses hat methodisch zur Folge, dass die empirische Moralforschung auf die Durchführung von Interviews redu­ziert wird, in denen die Befragten mit moralischen Dilemmata konfrontiert werden und ihr mögliches Handeln rechtfertigen sollen (vgl. bspw. Kohlberg et al., 1995). In Wirklichkeit ist Moral aber immer in einen Kontext eingebaut vorzufinden. Moralische Urteile werden von Menschen gefällt, ohne dass diese immer „die Argumentationslogik und Kohärenz ihrer Entscheidungen und Stellungnahmen“ (Bergmann/ Luckmann 1999, S. 18) kontrol­lieren. Menschen sind also keine distanzierten und möglicherweise neutralen Beobachter, sondern sie sind immer unter zeitlichen, örtlichen und sozialen Realisie­rungsbedingungen in einen Zusammenhang eingebunden. Diesem passen sie ihre moralischen Stellung­nahmen situativ an, weswegen Moral als „im wesentlichen gelebte Moral, die in den Handlungen und Entscheidungen der Menschen“ (ebd. [Herv. i. O.]) existiert, zu be­trachten ist[5]. Moral als das „ tatsächlich praktizierte Wertsystem des einzelnen Menschen oder einer Gruppe“ (Biller 1995, S. 94 [Herv. hinzu.]) löst sich folglich „restlos in kommu­nikative Vorgänge auf [...], sie wird zu einem fortlaufenden Resultat der kommunikativen Konstruktions­leistungen der an einem sozialen Geschehen Beteiligten“ (Bergmann/ Luckmann 1999, S. 22). Somit ist „Moral nicht von der Innenwelt des Subjekts aus, sondern von der kommuni­kativen Außenwelt der Handlungen her zu konzipieren“ (ebd., S. 19) und zu beobachten. Zu diesen Handlungen sind, in Bezug auf die Fallbeispiele, die kommunikativen Äuße­rungen zu den geschehenen Sachverhalten (wiedergegeben in und durch die gelesenen massenmedialen Artikel) zu betrachten. Dementsprechend wurde in der Analyse dieser auch nicht danach gefragt, ob und warum jemand es moralisch verwerflich findet, wenn er bspw. Steuern hinterzieht oder eine Produktionsfabrik schließt, sondern es wird danach gefragt (bzw. beobachtet), was als moralisch warum „angebracht“ bzw. „unangebracht“ angesehen (kommuniziert) wird und wie diese moralische Interpretation im kommuni­kativen Austausch zum Ausdruck kommt? Es wird folglich nicht nach der Moralität einer Handlung gefragt, sondern nach der Kommunikation über Moralität (vgl. Basse 1996, S. 19). Moral wird als eine Variante von Kommunikation bestimmt (beobachtet), nämlich als diejenige, „die einzelne Momente der Achtung oder Missachtung, also der sozialen Wertschätzung einer Person, mittransportiert [...] und dazu ein[en] situative[en] Bezug auf übersituative Vorstellungen von ‚gut’ und ‚böse’ bzw. vom ‚guten Leben’“ (Bergmann/ Luckmann 1999, S. 22) herstellt. Indirekt thematisiert wird somit, „dass etwas bestimmtes getan und nicht unterlassen worden ist, [und] dass es so getan worden ist und nicht anders“ (Basse 1996, S. 1)[6]. Beobachtet werden kann dieses natürlich nur insoweit wie dieses, bezogen auf die Fallbeispiele, massenmedial „transportiert“ wird (vgl. Kap. 6.4).

Im Folgenden soll dieses Verständnis von Moral auf die zwei Fallbeispiele angewendet werden. Dazu bedarf es im Vorfeld der Herausarbeitung wichtiger Hintergrundinforma­tionen zu den ausgewählten Geschehnissen (Kap. 2.2). Diese dienen gleichzeitig als Grundlage der noch folgenden weiteren Analyse der Begebenheiten unter system­theoretischer Perspektive (Kap. 4).

2.2 Die Fallbeispiele zum Ersten: Allgemeine Darstellungen und enthaltene moralische Kommunikationen

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann 1996, S. 1)

Im Folgenden werden zwei Fallbeispiele vorgestellt. Als Bezugsquellen wurden massen­mediale Schriften verwendet, darunter hauptsächlich überregionale Tageszeitungen, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Die Tageszeitung“ und die „Bildzeitung“, sowie wöchentliche Zeitungen bzw. Magazine, nämlich „Die Zeit“, „Der Spiegel“ und „Focus“. War dieses nicht möglich[7] bzw. in Ergänzung hierzu wurden auch andere massenmediale Informationsquellen herangezogen, wie bspw. Onlineveröffentlichungen der eben ge­nannten Printmedien sowie verschiedene Presseberichte, bspw. des Nokiakonzerns[8].

Wie bereits in der Einleitung angerissen werden unter dem Fallbeispiel Nokia die Ent­scheidung (und die Bekanntgabe dieser Entscheidung) des Konzerns ihren Produktions­standort in Bochum zu schließen sowie die hierauf folgenden gesellschaftlichen, ins­be­sondere moralischen Kritiken an diesem Vorgehen zusammengefasst. Unter dem Fall­beispiel Zumwinkel werden die Geschehnisse erfasst, die sich im Kontext der Er­mitt­lungen wegen der mutmaßlichen Steuerhinterziehung gegen den ehemaligen Chef der Deutschen Post ereigneten sowie die moralischen Berichterstattungen, die sich in Bezug hierauf anschlossen. Wie bereits erwähnt werden zu den Fällen jeweils zuerst allgemeine Informationen geliefert und hieran folgend die moralischen Bezüge herausge­stellt. Es wird sich dabei auf die gängige Argumentationslinie beschränkt. Andere Ansich­ten sollen im Verlauf der Arbeit an verschiedenen Stellen bei Bedarf aufgegriffen werden (hauptsächlich im Kap. 4 & Kap. 6). Auch ist zu beachten, dass die Vorkommnisse relativ unkritisch wiedergegeben werden, was nicht heißen soll, dass sich diesen angeschlossen wird.

2.1.4 Nokia „connecting people“

Hintergrund: Der Konzern Nokia

Bei Nokia handelt es sich um einen Telekommunikationskonzern mit Hauptsitz im finni­schen Espoo. Dieses Unternehmen ist (zumindest in Deutschland) hauptsächlich durch die Produktion von Mobiltelefonen bekannt, was sicherlich dadurch zu erklären ist, dass weltweit knapp 40% dieser Produkte von dieser Firma produziert werden. Dieser Konzern ist damit der größte Hersteller in diesem Segment. Insgesamt werden rund 112.000 Mitar­beiter beschäftigt, hiervon 60.000 in Europa (vgl. Beucker, TAZ, 16.01.08, S.7). Mobil­telefone stellen allerdings nur ein Erzeugnis der Produktpalette von Nokia dar. Darüber hinaus werden verschiedene Unterhaltungselektronikgeräte, mobile Netzwerke sowie Zuliefererteile für die Automobilindustrie gefertigt. Auch ist zu berücksichtigen, dass Handys erst „seit kurzem“ zur Produktpalette des Konzerns gehören: Den Beginn, des 1865 von dem Ingenieur Idestam in der finnischen Stadt Nokia[9] gegründeten Unter­nehmens, stellte die Produktion von Papiererzeugnissen dar. Im Laufe des folgenden Jahrhunderts expandierte dieser Konzern und baute dabei v. a. seine Zusam­menarbeit mit zwei Konzernen – einmal mit dem Kabelhersteller Finnish Cable Works sowie dem Gummiproduzenten Finnish Rubber Works – immer weiter aus. Im Jahre 1967 fusionierten diese Firmen zur Nokia Corporation [10] . Der Schwerpunkt der Produktion lag lange auf Gummi-, Kabel- und Papiererzeugnissen. Die ersten Schritte hin zur Mobilfunktechnologie wurden ab den 1980er Jahren getätigt (bspw. durch die Produktion von Autotelefonen), wobei diese Produkte nur einen geringen Teil der Gesamtproduktion des Unternehmens ausmachten. Dieses änderte sich erst ab den 1990er Jahren, als sich Mobiltelefone im Allgemeinen, aber insbesondere diejenigen von Nokia durchsetzten. Förderlich war für den Konzern in diesem Zusammenhang v. a. die Liberalisierung der europäischen Mobil­kommunikationsmärkte und die Durchsetzung der GSM-Technologie zum europäischen Standard, welches Nokia mitentwickelte und hierzu die Netzinfrastruktur für Mobilfunk­betreiber lieferte[11]. Inzwischen hat Nokia weltweit feste Produktions- und Entwicklungs­stätten für Netzwerk- und Unterhaltungstechnologien, darunter in Brasilien, China, Finnland, Ungarn, Rumänien und Deutschland. Im Jahr 2007 verkaufte der Konzern über die Hälfte seiner Mobiltelefone in Asien (vgl. Kietzmann et al., FOCUS, 21.01.08, S. 132). Nach dem Wandel vom Gummi- zum Mobiltelefonproduzenten, befindet sich Nokia unter dem neuen Vorstandschef Kallasvuo derzeit in einer weiteren Verwandlungsphase: Auf­grund sinkender Verkaufspeise und hiermit korrelierender zurückgehenden Gewinn­margen wird die Handyproduktion „für Nokia bald uninteressant werden“ (Wolff, TAZ, 18.01.08, S. 2). Der Konzern soll deshalb „in Zukunft als Internet­unternehmen positioniert werden sowie mit IT-Dienstleistungen Geld verdienen“ (ebd.).

Nokia in Deutschland

Parallel zur Produktion von Röhren-Bildschirmen und Fernsehgeräten begann Nokia 1989 mit der Herstellung von Mobiltelefonen in Deutschland. Hauptproduktionsort war Bochum [12] . 1995 erfolgte, nach der Zusage von Subventionen, die Erweiterung dieses Werkes. Für diesen Standort erhielt der finnische Handyhersteller zwischen 1995 und 1999 mehr als 60 Millionen Euro an Fördermitteln von Nordrhein-Westfalen (NRW). Hinzu kamen 28 Millionen Euro, die bis 2007 aus Bundesmitteln an Forschungszuschüssen gewährt wurden. Nicht in dieser Summe enthalten sind indirekte Förderungen wie bspw. der Bau einer Zufahrtsstraße und einer Bahnstation (vgl. Faigle, ZEIT.DE,18.01.08).

Mitte Januar 2008 gab der Konzern Nokia bekannt das Produktionswerk in Bochum zu schließen. Diese Entscheidung sei bereits Mitte Dezember des vorigen Jahres gefallen. Nach eigener Darstellung[13] sei das Management hierzu „gezwungen“ um die langfristige Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens aufrechtzuerhalten. Diese sei insbesondere durch eine Veralterung der Produktionstechnologie im Bochumer Werk, die zu hohen Lohnkosten und das Weigern von Zulieferern sich in der Nähe des Werkes anzusiedeln, nicht langfristig sichergestellt (vgl. Kietzmann et al. FOCUS, 21.01.08, S. 134). Betroffen von dieser Entscheidung seien circa 2.300 Mitarbeiter[14]. Nokia sei bemüht, in Zusammen­arbeit mit den Arbeitnehmervertretern, eine „satisfactory solution for all parties“[15] zu fin­den. Wichtig bei dieser Argumentationslinie ist es, dass die Begründung dieser Entschei­dung von Seiten Nokias stets mit der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit des Unterneh­mens begründet wurde. Folglich stellte die Tatsache, dass das Unternehmen zum damali­gen Zeitpunkt mit diesem Werk noch Gewinne erwirtschaftete für das Management keinen Widerspruch zu dessen Schließungsplänen dar. So gab Nokia, nur wenige Tage vor der Bekanntgabe der Schlie­ßungspläne des Werkes, die Steigerung seines weltweiten Gewinns um 67% bekannt (vgl. bspw. O. V., BILD, 25.01.08). Bezogen auf das Bochumer Werk sollen 1,2 Milliarden Euro umgesetzt worden sein, wovon zuletzt 22 Prozent als Gewinn hängen blieben, weshalb das Management in Bochum seinen Nochmitarbeitern im ersten Quartal 2008 einen Bonus auszahlte (vgl. Kerbusk et al., SPIEGEL, 21.01.08, S. 71; O. V. ZEIT.DE, 25.01.08).

Die moralische Kommunikation

Die moralische Kritik an dem Nokiakonzern kann nach zwei Argumentationslinien unter­schieden werden: Erstens führte v. a. der eben dargestellte Zusammenhang, nämlich dass Nokia trotz „Rekordgewinne“ das Werk schließen wollte auf Unverständnis unter den Be­troffenen, wozu hauptsächlich die Mitarbeiter des Werkes, Bochumer Bürger sowie Kommunal- Landes- und Bundespolitiker zu zählen sind. Es dominierten in den folgenden Reaktionen insbesondere die Stimmen von Politikern, die diese Entscheidung nicht nach­vollziehen bzw. akzeptieren wollten und dem Nokia-Management eine „eiskalte Unter­nehmenspolitik“ (Kerbusk et al., SPIEGEL, 21.01.08, S. 83), die von einer „obszöne[n] Gier" (Bütikofer[16], zit. n. Beucker, TAZ, 30.01.08, S. 7) gesteuert sei, vorwarfen. Es wurde beklagt, dass „ein eigentlich gesundes Unternehmen“ (Kraft, zit. n. Kerbusk, SPIEGEL, 21.01.08, S. 71), welches sich „keineswegs unter Druck“ (ebd.) befände, geschlossen werden solle. Es sei „eine große Schweinerei, Rekordgewinne einzuheimsen und Massenentlassungen vornehmen zu wollen" (Zimmermann, zit. n. Beucker, TAZ, 16.01.08, S. 7). Vermehrt sind Appelle in dem Sinne zu finden, dass das Konzernmana­gement, wenn dieses „noch einen Funken Anstand“ (Huber, zit. n. Beucker, TAZ, 23.01.08, S. 3) besitze, die Entscheidung revidieren müsse.

Ein anderes Begründungsmuster bezieht sich auf die Tatsache, dass der Konzern in den vergangenen Jahren Subventionen erhalten hat[17]. V. a. von vielen Politikern wurde dabei ein Zusammenhang zwischen geplanter Abwanderung und dem Auslaufen der Subven­tionen hergestellt. Neu kreiert wurde in diesem Zusammenhang das Sinnbild der „Subven­tionsheuschrecke“ (vgl. Knop, FAZ, 17.01.08, S.1): Wie eine Heuschrecke würde der Konzern Nokia durch die Welt ziehen "[n]och den letzten Groschen mitnehmen, und ein halbes Jahr nach Fristende [wären] sie weg" (Thoben, zit. n. Beucker, TAZ, 1 9.01.2008, S. 7). Dieses Einstreichen von „Subventionen als Mitnahmeeffekte [sei] [...] verwerflich" (Beck, zit. n. Knott, TAZ, 24.01.2008, S. 3), da die Steuerzahler ausgenutzt würden. Stellungnahmen in dieser Richtung reichen „[v]on 'Sauerei' über 'Subventionsbetrug' bis hin zu 'Manchester-Kapitalismus' und 'Zynismus' [...] der Politiker von CSU bis zur Linken“ (Kreutzfeldt, TAZ, 18.01.2008, S. 11). Diese schlossen sich z. T. auch an Demonstra­tionen gegen die Schließung des Bochumer Nokiawerkes an, zu welchen sich bis 15.000 Menschen zusammenfanden (vgl. O. V. TAZ, 23.01.08, S. 3). Wortführend in dieser Debatte war Rüttgers. Angesichts der Vorgänge in Bochum frage er sich, wo dabei die unternehmerische Ethik bleibe (vgl. Beucker, TAZ, 21.01.08, S. 2).

Der Ansehensverlust lässt sich an diesem Beispiel nur in Ansätzen belegen. Personell wird die Kritik in den wenigsten Fällen direkt an Personen, wie bspw. an den Chef von Nokia Kallasvuo oder an das Management gerichtet. Rügen werden hauptsächlich auf den Konzern als Ganzes bzw. auf die Marke Nokia bezogen. Der Achtungsverlust gegenüber dem Konzern kann darin gesehen werden, dass vermehrt Aussagen zu finden sind, wiederum hauptsächlich welche von Politikern, aber auch Gewerkschaftsvertretern, die sich entschlossen haben ihr Handy der Marke Nokia abzugeben bzw. gleiches für ihr ganzes Ministerium oder Konzern planen (vgl. O. V., BILD, 17.01.08a). Auch wurde gezielt zu einem Boykott der Nokiaprodukte aufgerufen, was zwischenzeitlich zu einem Umsatzeinbruch von bis zu 50% weniger verkauften Mobil­telefonen dieser Marke in Deutschland führte (vgl. Kietzmann et al., FOCUS, 18.02.08, S. 142).

Der übersituative Bezug

In der sozialen Marktwirtschaft kann die übersituative Vorstellung von einem „richtigen“ und „guten Leben“ gesehen werden, wobei die Betonung deutlich auf dem Adjektiv „sozial“ im Sinne einer die Gemeinschaft zusammenhaltenden Klammer liegt. Vereinfacht gesagt sei die gezeigte Entscheidung von Nokia nicht mit den Grundsätzen der sozialen Markt­wirtschaft zu vereinen, da in dieser ein Unternehmer seine Mitarbeiter nicht aus Gewinn­maximierungsgründen entlassen würde. Kommentare in dieser Richtung sind u. a. auch von Rüttgers (vgl. Beucker, TAZ, 21.01.08, S. 2), Beckstein (vgl. Beucker, TAZ, 06.02.08, S. 5) und Bütikofer (Beucker, TAZ, 30.01.08, S. 7) zu finden. Steinbrück bspw. sah in dem Vorhaben von Nokia einen "Ausdruck eines Karawanenkapitalismus, [der] die Zustimmung zu diesem Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell systematisch unterminiert" (Steinbrück, zit. n. Beucker, TAZ, 19.01.08, S. 7). Nach Beckstein würden „[s]olche Manager [...] den Kapitalismus pur wollen [und damit] die soziale Marktwirtschaft kaputt­machen“ (Beckstein, zit. n. Beucker, TAZ, 06.02.08, S. 5). Indirekt ist dieser Bezug durch viele andere Aussagen zu belegen, wie bspw. die Kritik von Verheugen, nach dem das Verhalten von Nokia als "Ausfluss einer neuen Religion, die den Shareholder-Value ver­götter[e]" (Verheugen, zit. n. Beucker, TAZ, 21.01.08, S. 2) zu betrachten sei.

2.1.5 Zumwinkel „die gelbe Eminenz“

Hintergrund: Herkunft, Ausbildung und Werdegang

Zumwinkel wurde 1943 als zweiter Sohn einer Unternehmerfamilie in Rheinberg geboren. Bereits während seines Studiums der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Münster (vgl. Hank et al. FAZ, 17.02.08, S. 2) übernahm Zumwinkel nach dem Tod des Vaters, zusammen mit seinem älteren Bruder, die Ge­schäftsführung des elterlichen Handels­unter­nehmens. Dieses umfasste damals zehn Kaufhäuser und 50 Discounterläden, welche die Brüder 1971 an den Konzern REWE (vgl. Meck, FAZ.NET, 10.02.08) verkauften. Zumwinkel erhielt hierdurch, bereits vor seiner ersten Angestelltentätigkeit, ein "erheb­liches"[18] Vermögen. In den Jahren 1974 bis 1984 war er bei McKinsey beschäftigt, wo er später (1984) auch Partner und Mitglied der deut­schen Geschäftsführung wurde. Dieses Unternehmen verließ er allerdings 1985 als er den Vorstandsvorsitz im Versand­haus Quelle, wo er seit 1984 bereits als Berater beschäftigt war, übernahm. Fünf Jahre später (1990), kurz nach der ersten Postreform, wurde Zumwinkel Geschäftsführer der Deutschen Bundespost. Dieser Wechsel ist als ungewöhnlich zu betrachten, da der Bund, der damals noch alleiniger Eigentümer dieses Unternehmens war, Zumwinkel ein deutlich unter dem durchschnittlichen Verdienst von Managern in der freien Wirtschaft liegendes Gehalt anbot (vgl. Dohmen et al., SPIEGEL, 18.02.08, S. 20ff.). Von einem bis 80% gerin­gerem Gehalt als bei Quelle wird in den Presseberichten geschrieben (vgl. bspw. Hank/ Meck, FAZ, 17.02.08, S.2). Dieser nahm trotzdem an, nutzte dieses und andere Tat­sachen aber auch gezielt aus, um sich das Image eines „gute[n] Kaufmann[s]“ (Kietzmann et al., FOCUS, 18.02.08, S. 136ff.) bzw. des „saubere[n] Postmann[s]«“ (Storn, ZEIT, 21.02.08, S. 22) aufzubauen. Folglich „galt [Zumwinkel] eigentlich schon immer als Saubermann unter den Managern, als je­mand, dem man die Appelle an Moral und Verantwortung abnahm. [...] Nicht gegen, son­dern mit den Mitarbeitern und den Gewerkschaften baute er in achtzehn Jahren aus der Beamtenpost einen Logistik-Weltkonzern“ (Steltzner, FAZ, 15.02.08, S. 1).

Die Deutsche Bundespost wurde 1995 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und Zumwinkel wurde deren Vorstandsvorsitzender, was er auch bis zu seinem Rücktritt Mitte Februar 2008 blieb. Das Wirken an der Spitze der Post wird in den Presseberichten weit­gehend gelobt (vgl. bspw. Dohmen et al., SPIEGEL, 18.02.08, S. 23). Unter Zumwinkel wurde der Börsengang der Deutschen Post AG (2000) sowie der Deutschen Postbank AG (2004) vollzogen, deren Vorstandsvorsitzender ebenso Zumwinkel wurde. Ferner gehörte er in den Aufsichtsräten der Allianz, Deutschen Lufthansa, Deutschen Telekom, Morgan Stanley, Tchibo und von Arcandor (ehemals KarstadtQuelle) an (vgl. Blome, BILD, 15.02.08). Für sein „vorbildliches“ unternehmerisches Handeln erhielt Zumwinkel ver­schiedenste Auszeichnungen, darunter das Große Bundesverdienstkreuz (2003) und den Verdienstorden des Landes NRW (2007). Genaue Zahlen bezüglich des Gesamtein­kommens konnten in den verschiedenen Veröffentlichungen nicht gefunden werden. Als Referenzgröße ist aber bspw. anzugeben, dass der Ex-Postchef allein bei dem Post­konzern im Jahre 2006 knapp drei Millionen Euro verdiente (O. V., BILD, 15.02.08).

Strafrechtliche Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung [19]

Nach einer Razzia in seinem Privathaus sowie in den Büros in der Konzernzentrale der Deutschen Post AG am 14. Februar 2008 wurden Ermittlungen der Bochumer Staatsan­waltschaft gegen Zumwinkel öffentlich. Er wird der Steuerhinterziehung in Höhe von einer Million Euro verdächtigt, da er Zinserträge von Geldanlagen (was vermutlich aus dem Verkauf des elterlichen Handelsunternehmens stammt) nicht versteuerte, welche er in einer Stiftung in Lichtenstein "versteckt" haben soll (vgl. Kietzmann et al., FOCUS, 18.02.08, S. 136ff.). Durch die Hinterlegung einer Kaution musste Zumwinkel allerdings nicht in Untersuchungshaft bleiben (vgl. ebd.). Förderlich dürfte hier auch gewesen sein, dass Zumwinkel den Tatbestand zugab (Storn, ZEIT, 21.02.08, S. 22). In Folge dieser Ermittlungen trat Zumwinkel am 15. Februar als Postchef zurück. Dieses geschah allerdings eher weniger freiwillig. Vielmehr dürfte der Druck seitens der Bundes­regierung ihn hierzu bewogen haben (O. V. BILD, 15.02.08). Auch verlor Zumwinkel seine anderen Posten, lediglich in den Aufsichtsrat von Arcandor wurde er im April 2008 noch­mals gewählt. Dieser Konzern wolle erst Konsequenzen ziehen, wenn die Vorwürfe recht­lich geklärt wären (vgl. O. V., BILD, 23.04.08).

Die moralische Kommunikation

Die moralische Kommunikation im Falle Zumwinkel lässt sich ebenfalls auf zwei Ebenen differenzieren. Auf den ersten Blick wird die Steuerhinterziehung als Frage der Moral kommuniziert, zum anderen wird diese aber auch in dem Sinne differenziert, dass der (mutmaßliche) Täter „wohlhabend“ sei und dieser Steuerhinterziehung erstens nicht nötig habe und zweitens sich hierdurch selbst bzw. seinem aufgebauten Saubermannimage widersprechen würde. In diesem Sinne wird die Steuerhinterziehung als ein Fall von „Raffgier“ (Struck, zit. n. Dohmen, et al. SPIEGEL, 18.02.08, S. 20ff.) betrachtet, für welches es „null Verständnis" (ebd.) gebe. Für das Verhalten von Zumwinkel und anderen Steuersündern sei der Begriff der ‚neuen Asozialen’ [...] eine treffende Formulierung. Während Otto-Normalbürger seine Steuern zahlt, meinen andere für sie als "Leistungselite" könnten diese Regeln gar nicht gelten. Aber sie fahren täglich [...] auf den Straßen die der Steuerzahler finanziert hat. [Sie] sind es die am meisten von unserer Gesellschaft profitieren aber nichts dazu beitragen wollen (Peter zit. n. O. V., BILD, 14.02.08).

Mindestens genauso wichtig scheint das Kriterium zu sein, dass Zumwinkel sich im Vor­feld als Mann mit hohen moralischen Ansprüchen darstellte (Storn, Zeit, 21.02.08 , S. 22.). Wie bereits erwähnt trat Zumwinkel von fast allen seinen Führungspositionen zurück, es wurden auch Stimmen laut, die die Rückgabe der öffentlichen Auszeichnungen ver­langten und sein Werdegang wurde in dem Sinne z. T. „überarbeitet“, dass die „negativen“ Seiten seines Handelns (bspw. Fehlinvestitionen in ausländischen Märkten) herausge­hoben wurden. Dieser Achtungsverlust kann als „die Kehrseite des Spiels, das Zumwinkel lange meisterlich beherrschte [betrachtet wer­den]. Entblößt steht er da, er, der 2005 Konzernwerte wie ‚offenen Umgang’ und ‚Integrität’ aufstellte und in einer aktuellen Mitarbeiterzeitung ‚Führungskräfte sind Vorbilder’ predigt. [...] Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) behandelt ihn wie einen Paria, andere schimp­fen ihn einen ‚neuen Asozialen’“ (Storn, Zeit, 21.02.08, S. 22).

Der übersituative Bezug

Ähnlich wie im Fallbeispiel Nokia sind Argumentationen zu finden, die davon ausgehen, dass durch das Verhalten von Zumwinkel „[e]in weiteres Mal [...] das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft erschüttert“ (Dohmen et al., SPIEGEL, 18.02.08, S. 23) worden sei. Die Reichen, personalisiert durch Zumwinkel, stehlen sich durch Steuerhinterziehung aus ihrer Verantwortung. Es stelle sich folglich „die Frage, was die Gesellschaft zusammenhält, wenn die einen ihr Leben als Folge von Unsicherheiten wahrnehmen, die anderen sich aber unerschütterliche Sicherheiten ver­schaffen können. [...] Das untere Drittel der Gesellschaft muss mit den Folgen von Globali­sierung und schärferen Sozialgesetzen kämpfen. Die Schicht ganz oben, da, wo beim Kaffee die Sahne ist, macht mehr durch Maßlosigkeit von sich reden. [...] Das Opfer ist der deutsche Staat, die Allgemeinheit.“ (Dohmen et al., SPIEGEL, 18.02.08, S. 22).

„Unsere Manager müssen Ethos entwickeln. Sie müssen sich ihrer Vorbildfunktion für die Gesellschaft bewusst werden. Andernfalls wird unsere soziale Marktwirtschaft unglaub­würdig“ (Glos, zit. n. Gaugele et al. 17.02.08).

In diesem Sinne sind ebenso eine Vielzahl von Stimmen der Politiker und viele andere Vertreter von Wirtschaft und selbst der Kirchen vorzufinden, die die Managerelite im gleichen Sinne ermahnen (Wyputta, TAZ, 17.02.08, S. 1). Bspw. bestehe nach Schäuble die Gefahr, dass „[d]iese Leute alles kaputt“ machen würden, da sie das „Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft“ (zit. n. Dohmen et al., SPIEGEL, 18.02.08, S. 23) unterlaufen. Struck formuliert, auch in Zusammenhang mit Nokia, dass dieses Verhalten die Demo­kratie bedrohen würde und das hierin „ein Gemisch [zu sehen sei], das bei den Menschen pure Wut hervorruft“ (Struck, zit. n. Dohmen et al., SPIEGEL, 18.02.08, S. 24). Der über­situative Bezug kann somit wieder in der sozialen Marktwirtschaft bzw. darüber hinaus in einer der Demokratie zugeschriebenen Solidargemeinschaft gesehen werden.

2.3 Zusammenfassung und Ausblick

In diesem ersten Zugriff wurde sich sowohl dem Verständnis von Moral sowie auch den ausgewählten Fallbeispielen angenähert. Das „übliche“ weite Verständnis von Moral ist gegen die Betrachtungsweise von Moral als kommunikative Konstruktion abgegrenzt worden. Letztere Position ist auf die Fallbeispiele dadurch ange­wendet worden, dass der moralische Vorwurf, der Achtungsentzug und der über­situative Bezug herausgearbeitet wurden. Als Besonderheit im Fallbeispiel Nokia lässt sich fest­halten, dass die moralische Kritik hauptsächlich nicht an Personen, sondern an den Konzern als Ganzes bzw. das Produkt Nokia gerichtet ist. Eine weitere Besonderheit kann darin gesehen werden, dass die moralischen Statements schwerpunktmäßig in beiden Fallbeispielen von Politikern stammen.

Im nächsten Schritt soll zunächst grundsätzlicher danach gefragt werden, was die Gesell­schaft „zusammenhält“, also wie diese funktioniert. Dazu wird sich mit der Systemtheorie Luhmanns beschäftigt (Kap. 3) und diese anschließend zur erneuten Betrachtung der Fallbeispiele herangezogen (Kap. 4). Mit diesem zusätzlichen Wissen soll die Frage nach der Moral sowohl auf gesellschaftlicher Ebene (Kap.5), als auch in Bezug auf die Fall­beispiele erneut aufgegriffen werden (Kap. 6).

3 Die Systemtheorie: Eine Theorie mit Universalitätsanspruch

„Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen“ (Luhmann 1984, S. 13)

Im Folgenden soll die „Betrachtungsweise" von gesellschaftlichen Geschehnissen aus Sicht der funktional-strukturellen Systemtheorie nach Luhmann herausgearbeitet werden. Diese Darstellung erhebt dabei keinesfalls den Anspruch diese Theorie in ihrer Gesamtheit vorzustellen. Nichtsdestotrotz ist das Ziel der folgenden Ausführungen zu­mindest in Ansätzen in das systemtheoretische „Denken“ einzuführen und die Grundlagen für die Beantwortung der Fragestellung sowie für die Betrachtung der gewählten Fall­beispiele unter systemischer Perspektive zu liefern.

Luhmanns Vorgehen kann vereinfacht als ein „Weg vom Allgemeinen zum Speziellen“ (Berghaus 2004, S. 31) betrachtet werden. Ausgehend von seinem Entwurf einer allge­meinen Systemtheorie geht er zu seinem eigentlichen Gegenstand, nämlich der Be­schrei­bung von Gesellschaft als soziales System bzw. als Summe von allen Systemen über. Hier betrachtet er zum einen die Gesellschaft im Ganzen und zum anderen analysiert er konkrete gesellschaftliche Teil- bzw. Funktionssysteme mit dem von ihm ent­worfenen Theorie- bzw. Begriffsapparat. Hierzu gehören hauptsächlich makro­soziologische Systeme wie bspw. das Rechtssystem, das Wirtschaftssystem, das Wissen­schaftssystem u. v. m., aber auch mikrosoziologische Prozesse wie Interaktionssysteme und meso­soziologische Prozesse wie Organisationen. Diesem Weg vom Allgemeinen zum Speziellen soll sich hier sinngemäß angeschlossen werden: Nach einführenden Dar­stellungen allgemeiner Grundlagen und zentraler Begriffe der Theorie (Kap. 3.1) wird sich im zweiten Schritt dem „Besonderen“ dieser Theorie, nämlich dem Verständnis und der Rolle von Kommunikation (Kap. 3.2) gewidmet, worauf aufbauend die Systemtheorie als Gesellschaftstheorie betrachtet werden kann (Kap. 3.3).

3.1 Grundlagen der Systemtheorie

Die Anfänge der Systemtheorie sind in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu finden. Aus einer anfänglich biologischen Theorie entwickelte sich mit der Zeit ein umfang­reiches fächerübergreifendes Theoriemodell, das Luhmann für die Soziologie bzw. alle (Sozial-)Wissenschaften adaptierte und weiterentwickelte. Unter Bezug auf system­theoretische Erkenntnisse anderer Disziplinen und Systemforscher – darunter haupt­sächlich die des Biologen Maturana, des Kybernetikers von Foerster und des Anthropolo­gen Bateson – bestimmt er zentrale Begriffe einer „allgemeinen" Systemtheorie, die nicht nur für soziale Systeme – worauf Luhmann seinen Schwerpunkt legt – Geltung bean­sprucht, sondern darüber hinaus auch für andere Systemarten, darunter insbesondere biologische oder psychische Systeme. Deshalb bezeichnet dieser seine Theorie selbst als „eine besonders eindrucksvolle Supertheorie" (Luhmann 1984, S. 19) mit „Uni­versalitäts­anspruch" (ebd., S. 33).

Die Differenz von System und Umwelt

Luhmann betrachtet als den „primäre[n] Gegenstand der Systemtheorie nicht ein[en] Gegenstand (oder eine Gegenstandsart) ‚System’ [...], sondern die Differenz von System und Umwelt“ (Luhmann 1984, S. 115f.). Diese ist als der Ausgangspunkt aller systemi­schen Unterscheidungen zu betrachten. Sie entsteht dadurch, dass eine bestimmte Art von Geschehen (eine Operationsweise) zu einer Abgrenzung führt. Unter „Operation“ versteht Luhmann dabei die Aktivitätsart, die für das System konstitutiv ist, da dieses sich mit dieser „selbst produziert und reproduziert“ (Luhmann 1995, S. 26). Operationen sind somit für „jede Erhaltung und Änderung des Systems unerlässlich“ (Luhmann 1984, S. 79) und stellen die „Letztelemente der Systeme“ (ebd., S. 12) dar. Jeder Systemtyp hat dabei seine spezifische Operationsweise: biologische Systeme operieren durch Leben, psy­chische Systeme durch Bewusstseinsprozesse und soziale Systeme durch Kommuni­kationen. Operationen beziehen sich dabei auf sich selbst und schließen sich ab. Entsteht folglich ein System, grenzt es sich von „alle[m] andere[n]“ (ebd., S. 249) ab. Seine Opera­tionen „erzeugen eine Form, die zwei Seiten hat, nämlich eine Innenseite – das ist, die des Systems und eine Außenseite, die der Umwelt“ (Luhmann 1995, S. 27). Die Systemgrenze entsteht daher durch Operationen der Elemente eines Systems, die Unterschiede er­zeugen, die im System (und nur dort) einen Unterschied machen. Umwelt ist folglich etwas, dass es allein in Bezug auf ein bestimmtes System gibt. Demgemäß existiert auch nicht die oder eine Umwelt, die für alle Systeme die gleiche ist und für alle Systeme rele­vant wäre, sondern jedes System hat seine eigene Umwelt. Gleiches gilt für Systeme. Auch sie sind keine „substantiell [...] für sich bestehende Objekte [...], die in der Welt her­umschwimmen wie Fettaugen in der Suppe“ (ebd, S. 10), sondern sie sind lediglich durch ihre Abgrenzung (Differenz) zur Umwelt zu erkennen.

Komplexität

Wie gezeigt, ist in der Systemtheorie der Umweltbezug vorangestellt. Die Systemumwelt und die Abgrenzung von dieser gehören elementar zum System. Die Komplexität eines Systems ist dabei immer geringer als die Komplexität der durch diese konstituierte Systemumwelt. Dies erscheint gerade deshalb folgelogisch, da die Systembildung durch eine kontingente[20] Auswahl von Ereignissen geschieht und die Umwelt eines Systems folglich immer mehr Ereignismöglichkeiten enthalten muss als das System selbst. Zwischen Systemen und ihren Umwelten besteht daher ein Komplexitätsgefälle, in wel­chem die primäre Funktion von Systemen gesehen wird. Diese dienen „der Reduktion von Komplexität […], und zwar durch die Stabilisierung einer Innen/Außen-Differenz. Alles, was über Systeme ausgesagt wird […] lässt sich funktional analysieren als Reduktion von Komplexität" (Luhmann 1971, S. 11 [zit. n. Treibel 2000, S. 30]). Im Umkehrschluss kann in der (zu komplexen) Umweltkomplexität (evolutiv) der Auslöser von Systembildungen gesehen werden. Die Reduktion der (Umwelt-)Komplexität ist aber nur durch eine Erhö­hung (Aufbau) von (System-)Komplexität möglich: Werden die in einem System selektiv zugelassenen und selektiv relationalisierten Ereignisse ihrerseits im System selektiv rela­tionalisiert, so werden folglich auch mehr Ereignisse als zuvor möglich. Die Reduktion von Umweltkomplexität stellt sich folglich für das System zugleich als deren Steigerung her­aus. Komplexität wird also zugleich reduziert und gesteigert (vgl. Krause 2001, S. 157f.). Um dieses zu können müssen Systeme ihre Umwelt beobachten.

Systeme beobachten

Beobachten stellt nach Luhmann eine zweite zentrale Aktivität - neben der des Operierens - von Systemen dar. Er definiert Beobachtung – in Anlehnung an Brown (1979) – als „Unterscheiden und Bezeichnen". Hierfür ist für Systeme wiederum die System/Umwelt-Differenz leitend, da sie diese in sich hineinkopieren („reentry") um diese Abgrenzung intern als Grundkategorie für ihre sämtlichen Beobachtungen (Unterscheidungen) zu benutzen. Dieses Reentry kann als erster Schritt betrachtet werden die Umweltkom­plexität abzubauen. Systeme können folglich beobachten, indem sie zwischen sich selbst (Selbst­referenz) und allem anderen (Fremdreferenz) unterscheiden. Die System/Umwelt-Differenz kommt somit auf zwei Ebenen vor: „Das System selbst erzeugt und beobachtet die Differenz von System und Umwelt" (Luhmann 1997, S. 182). Dieses Operieren und Beobachten findet bei allen Systemen statt, also nicht nur bei psychischen Systemen (i. w. S. Menschen), wie man sich dieses gerne vorstellt. Genau wie psychische Systeme eine Unterscheidung benutzen („Ich“ vs. „Nicht-Ich“) konstruieren auch soziale Systeme diese Differenzierung („Wir“ vs. „Nicht-Wir“). Beobachtungen werden demzufolge auch von sozialen Systemen durchgeführt. Dieses wird sich bei den späteren Betrachtungen (Beo­bachtungen) der Fallbeispiele (Kap. 4) und der Konstruktion von Moral (Kap. 6) als wichtig erweisen.

Operativer Konstruktivismus

Die Betrachtung der System/Umwelt-Differenz als fundamentale Beobachtungskategorie von Systemen hat weitreichende Folgen: Zum einen betrifft dieses die Erkenntnis an sich. Alle Erkenntnis wird durch die Unterscheidung von Selbst– und Fremdreferenz eines Beobachters konstruiert, woraus sich ableitet, das „alle Erkenntnis (und damit Realität) eine Konstruktion ist“ (Luhmann 1996, S. 16). Was und wie etwas in der Welt beobachtet wird hängt somit von den operativen Konstruktionen eines Systems ab. Die Um“welt" stellt für beobachtende Systeme das Material bzw. „ein unermessliches Potential für Über­raschungen" (Luhmann 1997, S. 46) zur Verfügung, wobei vom Beobachter abhängt, welche davon durch seine Unterscheidungen „realisiert“ werden. Wer folglich etwas (z. B. ein System) beobachtet, unterscheidet es von allem anderen. Insofern beruhen alle Be­schreibungen in der „Realität“ (auch wissenschaftliche) auf Unterscheidungen durch Be­obachter und stellen somit Konstruktionen dar, die sich lediglich nach dem „Wie“ unter­scheiden[21].

Zum anderen sind die gesamten Möglichkeiten von Beobachten- und Erkennen- können, über die ein System verfügt, von der jeweils eigenen System/Umwelt-Differenz bestimmt, da es, wie dargestellt, ohne diese Unterscheidung nicht beobachten könnte. Jeder Be­obachter fügt seinem Beobachtungsgegenstand seine Unterscheidungskategorie hinzu und lässt alles Übrige – von ihm als unwichtig erachtete – weg, weswegen davon auszu­gehen ist, dass Beobachter bei der „Handhabung einer Unterscheidung [...] immer einen blinden Fleck oder eine Unsichtbarkeit im Rücken [haben]. Sie können sich als den­jenigen, der eine Unterscheidung handhabt, nicht beobachten“ (Luhmann 2002, S. 146). Dieses kann immer nur ein Beobachter des Systems, ein Beobachter des Beobachters, also ein Beobachter zweiter Ordnung. Dieser besitzt allerdings wiederum seinen eigenen blinden Fleck, der wiederum nur von einem Beobachter höherer Ordnung erkannt werden kann. Hiervon ausgenommen ist kein Beobachter, wie bereits erwähnt, auch nicht der wissenschaftliche Beobachter (vgl. bspw. Luhmann 1990a).

Sinn

Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Systemtheorie stellt Sinn dar. Dieser existiert dabei nicht einfach in der Welt an sich bzw. in der Umwelt von Systemen, sondern er wird von Beobachtern erst zugeschrieben und dient dem Aufbau von Systemkomplexität bzw. im Umkehrschluss der Reduktion von Umweltkomplexität. Sinn „ist demnach ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöp­fung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt" (Luhmann 1997, S. 44). Sinn ist als das allgemeinste Medium zu betrachten, auf dessen Grundlage Sinnsysteme arbeiten. Es hilft die Komplexität der Systemumwelt auf ein überschaubares Maß zu reduzieren, indem „ausgewählten Irritationen den Sinn von Informationen" (ebd, S. 47) gegeben wird. In der Sachdimension von Sinn entscheidet ein System (Be­obachter), was sinnvollerweise zu ihm bzw. nicht zu ihm gehört. In der Zeitdimension geht es um die Unterscheidung vorher (Vergangenheit) und nachher (Zukunft) und in der Sozialdimension um die Unter­scheidung zwischen den eigenen Perspektiven und denen der anderen. Nach diesen Sinndimensionen operieren psychische und soziale Systeme, d. h. mit Hilfe dieser be­obachten, ordnen und beschreiben sie sich und ihre Umwelt. Da es unendlich viele Be­obachter gibt, die auf eigene, unterschiedliche Unterscheidungen angewiesen sind, gibt es auch unendlich viele Varianten etwas als sinnvoll zu betrachten, womit ein „Sinnreichtum der Welt" (ebd., S. 56) festzuhalten ist.

Autopoiesis

Als letzter zentraler Bestandteil der Theorie Luhmanns ist das Konzept der Autopoiesis vorzustellen. Vereinfacht wird hierunter verstanden, dass Systeme sich durch die (Selbst-) Verknüpfung ihrer Elemente, aus denen sie bestehen, selbst erzeugen. Zu den auto­poie­tischen Systemen zählen biologische, psychische und soziale Systeme[22]. Insgesamt sind diese durch fünf Eigenschaften zu beschreiben, die im Folgenden kurz charakterisiert werden: Mit der operativen Geschlossenheit ist gemeint, dass System­operationen in den Grenzen des durch die Systemelemente abgegrenzten Systems statt­finden[23]. Bspw. kann ein Gedanke nur unmittelbar an einen Gedanken anschließen. In diesem Sinne sind Sys­teme geschlossen. Diese operative Geschlossenheit ist eng „verbunden“ mit (Um­welt-) Offenheit: Ein autopoietisches System erzeugt – wie eben dargestellt, auf der Grundlage seiner spezifischen Elemente durch die Beobachtung seiner Umwelt für sich (operativ) relevante Informationen. Wahrgenommene Umweltirritationen können insofern ein System veranlassen aus diesen eine Information zu machen. Bezogen auf ein soziales System, z. B. im Falle eines Wirtschaftsunternehmens, kann dieses sich durch ein Ereignis in seiner Umwelt, z. B. eine nachlassende Nachfrage nach seinen Produkten irritiert fühlen, also für sich eine Information bilden, auf die kontingent reagiert werden kann bzw. muss. Eine Information liegt folglich, ähnlich wie weiter oben in Bezug auf Sinn be­schrieben, nicht objektiv in der Umwelt vor und sie stellt auch keinen „Input“ in das System dar. Eine Information stellt vielmehr „eine unterscheidende Eigenleistung des seine Umwelt auf der Grundlage seiner operativen Codes beobachtenden Systems dar“ (Krause 2001, S. 28). Ein weiteres Kriterium ist die Strukturdeterminiertheit von auto­poietischen Systemen. Diese besagt, dass Systeme selektiv während ihrer Geschichte (in Auseinandersetzung mit ihrer systemspezifischen Umwelt gewonnene) Erfahrungen in ihrem „Gedächtnis" speichern. „Erinnerungswerte Ereignisse der relevanten Ereignis­klasse werden kondensiert und konfirmiert, für Wiederverwendbarkeit abrufbar bereit­gehalten oder bei Bedarf auch wieder vergessen“ (ebd., S. 30). Strukturdeterminiertheit besagt folglich, dass „ein System [...] unter seinen Elementen kontingent-selektive Ver­knüpfungen her[stellt] und hierdurch [...] seine Operationen“ (ebd., 29) strukturiert. Dieses steht in einem engen Verhältnis mit der Umweltangepasstheit, die besagt, dass ein System sich in seiner Umwelt nur „bewähren“ kann, wenn es für seine systemspezifischen Operationen in dieser „hinreichende Voraussetzungen vorfindet bzw. sich im Widerstand gegen die selbst geschaffenen Bedingungen der eigenen Möglichkeit erhält“ (ebd., S. 30). Bspw. braucht ein Bewusstsein als Umwelt Gehirnaktivität oder Kommunikation die Be­teiligung von Bewusstsein um „existieren“ zu können. Ein autopoietisches System ist darüber hinaus auch als temporäres System zu verstehen, da dieses sich aus Elementen in Form von Ereignissen von Moment zu Moment (durch die Gesamtheit je momenthaft aktualisierter Ereignisse) realisiert. So ist bspw. eine Kommunikation vorbei, wenn sie erfolgt ist.

Nach wie vor gilt, dass ein System (und damit auch ein autopoietisches System) immer unter der Bedingung von Komplexität operiert. Es kann immer nur einen Teil der Sinn-, Denk-, Gesprächsmöglichkeiten usw. aktualisieren. Als wichtigste Konklusion des Auto­poiesis-Konzeptes ist somit festzuhalten, dass autopoietische Systeme zwar autonom sind, aber nicht autark. „Sie verarbeiten Umweltereignisse zwar ‚in Eigenregie’, doch sie sind auf Irritationen und auf die Zufuhr von Energie von außen angewiesen“ (Bartmann et al. 1999, o. S.). Systeme gestalten somit ihr Verhältnis zur Umwelt immer nach Maßgabe der je eigenen Operationsweisen und die Verarbeitung von Irritationen aus der Umwelt geschieht dabei, wie bereits erwähnt, immer an eigenen Unterscheidungen. Im Umkehrschluss bedeutet dieses aber auch, dass Umweltereignisse niemals direkt in Systemereignisse übersetzt werden. Das System wählt vielmehr aus, was ihm Ereignis ist und was nicht, und darüber hinaus wählt es ob und wie es sich an diese Ereignisse an­schließt (vgl. ebd.).

Im nächsten Unterkapitel wird sich schwerpunktmäßig dem sozialen System und dessen Operationselement Kommunikation gewidmet.

[...]


[1] Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Moral noch weiter gefasst. Bspw. wird gelegentlich Moral i. S. eines (belehrenden) Fazits (bspw. von Erzählungen wie Fabeln) sowie als Summe psychischer und physischer Motivationen bzw. Dispositionen verstanden, etwa i. S. von 'Kampfgeist' (vgl. Werner 2006, S. 242). Diese ganz weiten Verständnisse von Moral werden im Weiteren nicht berücksichtigt.

Leicht abweichende Auffassungen von Moral, wie bspw. diese sei der „Zustand der Gesellschaft in Bezug auf die Einhaltung der gebotenen Verhaltensregelen“ (Fuchs–Heinritz et al. 2007, S. 443) sollen im obigen weiten Moralverständnis impliziert sein.

[2] Vereinfacht gesagt ist Sitte das deutsche Wort für Moral und dieses wiederum der lateinische Begrifft für das griechische Wort Ethik (vgl. Dudenredaktion 2007).

[3] Auf Unterscheidungen wie Gesinnungs-, Verantwortungs- und Erfolgsethik sowie zwischen materialer und formaler Ethik wird hiermit hingewiesen. (vgl. zur weiteren Unterscheidung Biller 1995, S. 94ff.; sowie Ott 2001).

[4] Die wissenschaftlichen, vornehmlich soziologischen Positionen hierzu sind allerdings als ambivalent zu betrachten. Es lassen sich sowohl Positionen finden, die diese Funktion der Moral teilen, bspw. bei Durkheim, Gehlen, Parsons oder Habermas, als auch Argumentationen, die diese – zumindest im Zuge der zunehmenden Modernisierung der Gesellschaft – verstärkt in Frage stellen oder der Moral sogar eine dysfunktionale Funktion zusprechen. Als Beispiel sind Baumann, Simmel, Geiger und Luhmann zu nennen (vgl. Endreß 2000, S. 69). Die Position von Luhmann hierzu wird im Weiteren noch genauer betracht (Kap. 5).

[5] Hiermit soll nicht bestritten werden, dass Menschen sich den moralischen Aspekten ihrer Handlungen und Entscheidungen zuwenden können. Dieses geschieht in der Regel allerdings reflexiv, also zumindest zeitlich dekontextualisiert.

[6] Die Definition von „moralischer Kommunikation [als] die Diskussion über Handlungen, bei der in Frage steht, ob diese Handlungen moralischen Ansprüchen genügen“ (Basse 1996, S. 1) wird dabei aufgrund ihrer enthaltenen Tautologie als unbrauchbar betrachtet.

[7] Bspw. konnte auf die papierförmige Berichterstattung der Bildzeitung nicht zugegriffen werden. Zum einen wird diese in der Trierer Bibliothek nicht archiviert - was sicherlich bekannte Gründe hat – zum anderen stellt der herausgebende Springer– Verlag kein systematisches Archiv erschienener Ausgaben zur Verfügung, was die gleichen Gründe haben könnte. Nach einer stichprobenhaften Überprüfung ist allerdings festzustellen, dass Berichte aus der Bildzeitung mit denen von Bild im Regelfall übereinstimmen.

[8] Methodisch ist hinzuzufügen, dass alle aufgelisteten Literaturangaben (siehe Literaturverzeichnis) bzgl. der Fallbeispiele gelesen wurden um sich ein möglichst umfassendes Bild der Geschehnisse zu machen. Bearbeitet und analysiert wurden allerdings nur diejenigen Artikel, die in den ersten beiden Wochen nach dem Geschehen der Ereignisse veröffentlicht wurden. Dieses ist zum einen durch die Notwendigkeit zur Begrenzung des quantitativen Umfangs des Materials, zum anderen aber auch qualitativ notwendig, da nur die zeitnahen Statements als moralische Kommunikation im obigen Sinne (vgl. Kap. 2.1.2) zu betrachten sind. Die wichtigsten Bezugsquellen sind in einem Anhang zusammengestellt.

[9] Nokia selbst gliedert seine Historie in vier Epochen: Die Jahre von 1865 – 1967 werden als „Nokia's first century“, die Jahre 1968 – 1991 als „The move to mobile“, die Jahre 1992 – 1999 als „Mobile revolution“ und die Jahre seit 2000 als „Nokia now“ eingeteilt (vgl. www.nokia.com/A4303001, Zugriff 15.10.08).

[10] Vgl. http://www.nokia.com/A4303001, Zugriff: 15.10.08.

[11] Vgl. http://www.connect.de/themen_spezial/Nokia-Volles-Programm_4704309.html, Zugriff: 15.10.08.

[12] Darüber hinaus hat (bzw. bezogen auf das Bochumer Werk hatte) Nokia in Deutschland Standorte in Düsseldorf (Hauptsitz, Forschung und Entwicklung von Netzinfrastruktur, Vertrieb, Kundenservice und Verwaltung), Bad Homburg (Luxusmobiltelefone „Vertu” und Unternehmenslösungen), Ulm (Forschung und Entwicklung). Lediglich in der Bochumer Fabrik wurden noch „normale“ Mobiltelefone hergestellt (vgl. O. V., FAZ, 16.01.08, S. 1).

[13] Vgl. http://www.nokia.com/A4303001, Zugriff: 15.10.08.

[14] Von anderen Stellen wurde in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass über die direkten, festangestellten Arbeitsplätze, bis zu 1.000 bei Nokia beschäftigte Leiharbeiter und Mitarbeiter bei Zulieferfirmen betroffen sind. Die Zahlen variieren folglich von 2.300 (laut Nokia) über 4.000 Arbeitsplätze (bspw. Polke-Majewski, ZET.DE, 18.01.08)

[15] Vgl.http://www.nokia.com/A4303001, Zugriff: 15.10.08.

[16] Zwecks Einordnung der aus den Artikeln zitierten Aussagen von Personen, die nicht die Autoren der Artikel sind, werden deren gesellschaftliche Positionen im Anhang aufgeführt.

[17] Nokia wurde auch vorgeworfen Teile der Subventionen zu Unrecht erhalten zu haben, da die Anzahl der Arbeitsplätze nicht eingehalten wurde. Dieser Vorwurf wird in den Presseberichten allerdings uneinheitlich wiedergeben und wurde, zumindest nach den hier herangezogenen Quellen nicht endgültig geklärt. V. a. die Auslegung der Kopplung von erhaltenen Subventionszahlungen an die Schaffung von Arbeitsplätzen ist als strittig anzusehen, da Erstens das Hinzuzählen von Leiharbeitern zu den geschaffenen „Dauerarbeitsplätzen“ unterschiedlich interpretiert wird (vgl. O. V. ZEIT.DE, 11.03.08) und Zweitens die Subventionsbedingungen zwischenzeitlich auch verändert wurden (vgl. Kap. 4.3.2).

[18] Die genaue Summe des Erlös der Handelskette wird in den Presseartikeln nicht genannt.

[19] In den Medien wird der Fall Zumwinkel weiter gefasst. Zum einen ist Zumwinkel Ende des Jahre 2007 in die Schlagzeilen geraten, weil er ein privates Aktienpaket direkt nach dem Anstieg des Postaktienkurses in Folge des Abschluss der Verhandlungen über den Postmindestlohn verkauft hat. Er habe somit trotz (bzw. wegen) bevorstehender Entlassungen bei Konkurrenzunternehmen der Deutschen Post AG „Kasse gemacht“ (O. V., Bild, 05.12.07), nach Darstellungen der Deutschen Post AG wäre der Verkauf rechtlich aber zu keinem andere Zeitpunkt möglich gewesen (vgl. Storm, 21.02.08, S. 23). Zum anderen ist Zumwinkel zum Symbol für einen „Wirtschaftskrimi, wie es noch kaum einen gab in Deutschland“ (Dohmen et al., SPIEGEL, 18.02.08, S. 22) geworden, bei dem gegen bis zu 1000 weitere mutmaßliche Täter ermittelt wurde bzw. immer noch wird (vgl. ebd., S. 20ff.).

Auch die „moralischen“ Komponenten der Datenbeschaffung (durch Hehlerware seitens des Bundesnachrichtendienstes (BND)) werden im Folgenden ebenso wie Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bonn gegen Zumwinkel im Rahmen der sog. „Telekom-Bespitzelungsaffäre” (hier steht Zumwinkel im Verdacht die Ausspähung von Telefondaten über mehr als ein Jahr lang angeordnet zu haben (vgl. Meck, FAZ.NET, 14.02.08) nicht berücksichtigt.

[20] Kontingenz ist bei Luhmann ein häufiger Begriff, den er als „alles, was weder notwendig, noch unmöglich ist“ (Luhmann 1992, S. 96) definiert. Der Ausdruck soll die zahllosen Handlungsmöglichkeiten, die in komplexen sozialen Systemen (Gesellschaften) existieren erfassen. Kontingenz ist dabei bereits als Reduktion von Komplexität zu verstehen (vgl. Luhmann 1978, S. 44). Genaueres hierzu folgt in Kap. 3.2.2.

[21] Damit wird die Welt an sich nicht geleugnet. Für Luhmann besteht „kein Zweifel [...], dass die Außenwelt existiert“ (Luhmann 1990b, S. 40). Luhmann distanziert sich folglich von einem radikalen Konstruktivismus, der die Existenz der Welt in Frage stellt, sowie von der „alteuropäischen“ Ontologie. Sein Ansatz ist „dazwischen“ einzuordnen (vgl. Nassehi 1992). Luhmann selbst bezeichnet diesen als „unterscheidungsorientierten, differenztheoretischen oder beobachtertheoretischen Ansatz“ (Luhmann 2002, S. 298) bzw. einfach als „operativen Konstruktivismus (Luhmann 1991, S. 73, Fn. 20 [zit. n. Berghaus 2004, S. 27]).

[22] Entsprechend Luhmanns Typologie von Systemen sind autopoietische Systeme von allopoietischen Systemen (Trivial-Maschinen) zu trennen. Für letzte gilt das Konzept der Autopoiesis nicht, da diese Systeme sich nicht selbst erzeugen. Sie sind außengesteuert.

[23] Hier wird vermutlich das Gleiche gemeint wie mit Selbstreferenz. Deswegen wird auch synonym von selbstreferenzieller Geschlossenheit gesprochen.

Ende der Leseprobe aus 93 Seiten

Details

Titel
(K)eine Frage der Moral? Systemtheoretische Überlegungen
Untertitel
Zu den Fallbeispielen Schließung des Nokio Werkes in Bochum und Steuerhinterziehung Zumwinkel
Hochschule
Universität Trier  (Hochschule)
Note
2
Autor
Jahr
2008
Seiten
93
Katalognummer
V286360
ISBN (eBook)
9783656865445
ISBN (Buch)
9783656865452
Dateigröße
1628 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
frage, moral, systemtheoretische, überlegungen, fallbeispielen, schließung, nokio, werkes, bochum, steuerhinterziehung, winkel
Arbeit zitieren
Alexander Hecker (Autor:in), 2008, (K)eine Frage der Moral? Systemtheoretische Überlegungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286360

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