Wie viel Polizeiwissenschaft will die Polizei?


Masterarbeit, 2014

52 Seiten, Note: 2,15


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

II. Abkürzungsverzeichnis

1 Einführung
1.1 Das schwere Erbe der Polizeiwissenschaft
1.2 Ziel der Masterarbeit
1.3 Aufbau der Masterarbeit

2 Die Variablen der Frage „Wie viel Polizeiwissenschaft will die Polizei?“
2.1 Abgrenzung „Allgemeine Wissenschaft in der Polizei“ und „Polizeiwissenschaft“
2.2 Singuläre Polizeiwissenschaft oder pluralistische Polizeiwissenschaften
2.3 Weitere Akteure der inneren Sicherheit als wichtiger Gegenstand der Polizeiwissenschaft?
2.4 Die Variable „Polizei“ in der Frage nach dem Wollen
2.5 Das „Wollen“ im Sinne dieser Arbeit
2.6 Zusammenfassung Wissenschaft und Akteure

3 Das „Wollen“ – der Befund
3.1 Motive des Wollens und „Wollen durch Brauchen“?
3.1.1 Der positive Ansatz
3.1.2 Der negative Ansatz
3.1.3 Zusammenfassung zur möglichen Motivlage
3.2 Das „Wollen“ – (traurige) Punkte des Befundes
3.2.1 Das Vorgehen und verschiedene Ansätze
3.2.2 Der Blick auf Polizeiwissenschaft und Polizeiforschung als Teil davon
3.2.3 Polizeiwissenschaft und -forschung an Polizei-Hochschulen als Befund zum Wollen
3.2.4 Der Anspruch „Wollen durch Nutzen“ als Geißel der Polizeiwissenschaft und die notwendige Bewertung
3.2.5 Bewertung des Befundes zum Wollen

4 Eine (beinah) pessimistische Zusammenfassung

III. Danksagung

IV. Literaturverzeichnis

II. Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einführung

Seit Jahren greift die Polizei auf verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zurück und nutzt die durch deren Arbeit entstehenden (Erkenntnis-)Vorteile für die eigene Aufgabenerfüllung. Beispielsweise sind Kriminalwissenschaften seit langem akzeptiert und wurden durch die verschiedenen Polizeien der Länder in den täglichen Arbeitsalltag der (Kriminal-)Polizei eingebettet. Undenkbar wäre es heute, auf das Wissen zur DNA-Analyse oder der Daktyloskopie zu verzichten und damit Möglichkeiten der Strafverfolgung nicht auszuschöpfen. Ganz im Gegenteil, die Polizei verlangt nach diesen Möglichkeiten (vgl. Jaschke, S. 4). Die Akzeptanz solcher Wissenschaftsbereiche scheint sich in den Augen der Polizei aus einem erbrachten Nutzen im Rahmen der eigenen Aufgabenerfüllung zu ergeben. Der greifbare Nutzen dieser wissenschaftlichen Tätigkeiten steht dabei im Vordergrund und wird durch häufige Erfolgserlebnisse, beispielsweise der Ergreifung eines Täters dank der Nachweisführung biologischer Wissenschaft, weiter befördert. Es erscheint der Polizei so einfach, diese Teilbereiche der unzähligen wissenschaftlichen Disziplinen als „gebraucht“ oder „nützlich“ zu akzeptieren und sie aus diesem Grunde zu „wollen“. Weil die Kriminalwissenschaften gebraucht werden, sind sie gewollt und zogen in den vergangenen Jahren in den polizeilichen Alltag ein.

1.1 Das schwere Erbe der Polizeiwissenschaft

Was in Bezug auf die Kriminalwissenschaften (heute) mühelos möglich klingt, ist mit Blick auf die Polizeiwissenschaft mit Sicherheit nicht einfach. In den vergangenen Jahren entwickelten Polizeiforscher wie Rafael Behr, Thomas Feltes, Reinhard Mokros und Jo Reichertz Theorien, Ansätze und Überlegungen, die (Problem-)Felder der Polizeiarbeit aufzeigen und mögliche Schlüsse, die als Verbesserungen verstanden werden könnten, zulassen. Allerdings zeigen verschiedene Beispiele, dass Erkenntnisse der Polizeiwissenschaft und daraus mögliche Rückschlüsse von der Polizei nicht umgesetzt oder zumindest nicht in Entscheidungen einbezogen werden. So werden nach wie vor erlebnisorientierte Berufsanfänger und Absolventen von Polizei-Hochschulen im Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und bei unzähligen Demonstrationsanlässe oder Sportveranstaltungen eingesetzt. Gerade dabei stellt sich die Frage nach dem Warum. Warum werden Erkenntnisse, die derartige und konfliktreiche Problemfelder beschreiben und sich daraus potentiell ergebende Schlussfolgerungen aktuell nicht umgesetzt? Welche Erkenntnisse könnten wichtig sein, wie stellt sich die aktuelle Situation innerhalb des Bezugsrahmen „Innere Sicherheit“ dar und welche Variablen machen die aktuelle Situation zur bestehenden? Fragen, die die Polizeiwissenschaft untersuchen könnte. Doch ist sie gewollt1 ? Fragt wohl kaum jemand ob beispielsweise die Kriminalistik gewollt ist, mangelt es der Polizeiwissenschaft in den Augen der Entscheider am erkannten Wert (vgl. Ammermann, S. 22). Diese Bewertung könnte ganz erhebliche Folgen für die Polizeiwissenschaft bedeuten und das Wollen einer Polizeiwissenschaft durch die Polizei beeinflussen. Derzeit fehlt ein Befund zu diesem Wollen. Aus diesem Grund wird innerhalb dieser Arbeit ein aktueller Befund zum Wollen der Polizeiwissenschaft durch die Polizei erhoben und dabei die forschungsleitende Frage „Wie viel Wissenschaft will die Polizei?“ in den Vordergrund gestellt.

1.2 Ziel der Masterarbeit

Diese Arbeit verfolgt das erklärte Ziel, einen Befund zum Wollen einer Polizeiwissenschaft durch die Polizei zu erheben, der als Grundlage geeignet wäre, Maßnahmen zu planen, die (falls nötig) die Akzeptanz der Polizeiwissenschaft stärken könnten. Anlässlich erster Recherchen innerhalb der Fachliteratur wurde erkannt, dass (sekundär) häufig negativ über das Wollen der Polizeiwissenschaft durch die Polizei2 berichtet wird, was als Symptom des „Wollens“ bezeichnet werden könnte. Insoweit ergab sich bei der Bewertung dieses Symptoms die Vermutung, dass die Polizeiwissenschaft Problemen in Bezug auf ein Wollen durch die Polizei unterworfen ist. Für die Erstellung dieser Arbeit musste daher abgeschätzt werden, ob positive oder negative Symptome erhoben werden sollten. Positive Symptome würden Punkte beschreiben, die erkennen lassen, dass die Polizeiwissenschaft etabliert ist. Zumindest würden diese Punkte zeigen, dass die Polizeiwissenschaft nicht abgelehnt wird. Da es jedoch Ziel dieser Arbeit ist, einen Befund zu erheben, der später als Grundlage dienen könnte, Maßnahmen zu planen, die geeignet erscheinen würden, die Polizeiwissenschaft besser zu etablieren, müssten Bereiche identifiziert werden, die eine Etablierung bisher hemmen. Mit Blick auf dieses Ziel scheinen die negativen Symptome bedeutend wichtiger, schließlich könnten diese Symptome auf Hemmnisse der Polizeiwissenschaft in Bezug auf das Wollen der Polizei dazu schließen lassen. Fraglich ist in diesem Sinne, wie ein solcher Befund erhoben werden könnte. Vermeintlich klare Aussagen zum Wollen der Polizeiwissenschaft finden sich in verschiedenen, von staatlichen Institutionen verfassten Quellen (vgl. DHPol-Gesetz). Darin getroffene Aussagen könnten jedoch einzig Lippenbekenntnisse bleiben und nicht der Realität des „Wollens“ einer Polizeiwissenschaft durch die Polizei entsprechen, weshalb sie kritisch zu betrachten sind. Echte und belastbare Aussagen zum Wollen ergeben sich fernab von vermeintlichen Versprechen nur in echter Interaktion der Polizeiwissenschaft mit den Akteuren der inneren Sicherheit. Wenn dabei stattfindende Aktivitäten von der Polizei abgelehnt würden, könnte ein reales Wollen kontra der Polizeiwissenschaft erkennbar werden. Insoweit wären derartige Interaktionen als Symptome eines vorhandenen oder nicht vorhandenen Wollens zu verstehen und geeignet, einen Befund zur Frage „Wie viel Wissenschaft will die Polizei?“ zu erstellen.

Insoweit wurde bewertet, dass das beschriebene Vorgehen Erfolg für die Beantwortung der Frage „Wie viel Wissenschaft will die Polizei?“ verspricht. Methodisch wird die Hypothese „Polizeiwissenschaft ist durch die Polizei nicht gewollt“ aufgestellt, was im Verlauf erklärt wird.

1.3 Aufbau der Masterarbeit

In einem ersten Schritt muss die Frage nach dem Wollen einer Polizeiwissenschaft analysiert und die dabei sichtbar werdenden Variablen definiert werden. Daher werden die Variablen der forschungsleitenden Frage „Wie viel Wissenschaft will die Polizei?“ schrittweise ergründet und dargestellt. Von besonderer Bedeutung ist dabei, was unter Polizeiwissenschaft überhaupt verstanden wird. Schließlich kann kein Befund zum Wollen einer Polizeiwissenschaft erhoben werden, wenn nicht definiert wurde, was Polizeiwissenschaft ist und vor allem nicht ist, weshalb diese Arbeit durch eine Abgrenzung der Polizeiwissenschaft zu allgemeiner Wissenschaft in der Polizei eingeleitet wird. Insoweit eine Abgrenzung erreicht wurde, muss dem interdisziplinären Ansatz der Polizeiwissenschaft entsprochen werden. Deshalb werden anschließend die Definitionsansätze zur Polizeiwissenschaft dargestellt und gezeigt, dass eine Polizeiwissenschaft nicht allein auf die Polizei begrenzt werden darf und weitere Akteure die Innere Sicherheit beeinflussen. Wird ein Befund zum Wollen der Polizei erstellt, muss deutlich erkennbar sein, wer die Bezugsobjekte innerhalb der Polizei sind. Aus diesem Grund wird alsdann gezeigt, welche möglicherweise unterschiedlichen Bereiche innerhalb der Polizei etwas wollen und wie diese Akteure in Verbindung stehen. Dicht mit diesem Ansatz verbunden, scheinen persönliche Bestrebungen etwaiger Entscheider, die unterschiedlichen Beweggründen unterworfen sein könnten. Denkbar ist in diesem Zusammenhang, gerade in Bezug auf einzelne Persönlichkeiten, dass verschiedene Motive zum Wollen führen, weshalb eine Betrachtung dieser unabdingbar für die Erstellung eines Befundes im Sinne der forschungsleitenden Frage erscheint und daher erfolgt.

Nach diesen vorbereitenden Schritten folgt, unter Beachtung des vorab definierten Verständnisses zu einer Polizeiwissenschaft, die engere Erfassung eines in der Literatur recherchierbaren Befundes zur Frage „Wie viel Wissenschaft will die Polizei?“. Wie bereits beschrieben, wird dabei besonderer Wert auf den Umgang der Polizei mit polizeiwissenschaftlicher Forschung gelegt und die genannte Hypothese herangezogen. Bei der Betrachtung dieser Befundquellen wurde deutlich, dass den Polizei-Hochschulen auf dem Papier eine tragende Rolle zur Beförderung der deutschen Polizeiwissenschaft zugeschrieben wird. Insoweit könnten deren Arbeiten, tatsächliche Forschungs- und Wissenschaftsaktivitäten aber auch die etwaige Organisation, als Symptome eines Wollens der Polizeiwissenschaft betrachtet werden. Gerade die Betrachtung der Arbeit von Polizei-Hochschulen zeigte, dass der Polizeiforschung ein erwarteter Nutzen auferlegt wird. Fraglich ist dabei, ob diese Erwartungshaltung nützlich oder schädlich für die Polizeiwissenschaft ist, weshalb die Erfassung des Befundes um diesen Punkt erweitert wurde.

Diese Arbeit erfasst klar strukturiert den Befund zum Wollen der Polizeiwissenschaft durch die Polizei und diskutiert Variablen des Ergebnisses. Bedeutend ist dabei nicht welchen Einfluss Maßnahmen wie die Reduzierung von Polizeiplanstellen oder die Eröffnung und Schließung von Polizeirevieren auf die innere Sicherheit haben, sondern ob die Polizei Erkenntnisse der Polizeiwissenschaft in die Überlegungen dieser Art und die anschließenden Entscheidungen einbeziehen will. Ist ein Wollen erkennbar, der derartige Entschlüsse bewusst auf Erkenntnissen einer wie auch immer verstandenen Polizeiwissenschaft basieren lässt? In diesem Sinne könnte den Entscheidern klar sein, dass entschiedene und später durchgeführte Maßnahmen relevant für die innere Sicherheit sind, sowohl im positiven, als auch negativen Sinne. Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die eine konkrete Entscheidung direkt beeinflussen könnten, muss die Frage gestellt werden, ob die Polizei Willens ist, solche wissenschaftlichen Erkenntnisse umzusetzen und ob sie Polizeiwissenschaft überhaupt will.

Nun untersucht diese Arbeit, ob eine Polizeiwissenschaft gewollt ist und erhebt dabei den erkennbaren Befund in Form negativer Reaktionen der Polizei auf die Aktivitäten der Polizeiwissenschaft.

2 Die Variablen der Frage „Wie viel Polizeiwissenschaft will die Polizei?“

Welche Polizeiwissenschaft könnte gewollt sein, wer ist Teil dieser Polizeiwissenschaft und wer könnte die Polizeiwissenschaft wollen? Was versteht diese Arbeit unter Wollen? Jene Variablen der kurzen Frage „Wie viel Polizeiwissenschaft will die Polizei?“ werden im nachfolgenden Kapitel notwendigerweise betrachtet und ein Überblick zu den wichtigen Aspekten der aktuellen Diskussion um Polizeiwissenschaft gegeben.

2.1 Abgrenzung „Allgemeine Wissenschaft in der Polizei“ und „Polizeiwissenschaft“

Die vorliegende Arbeit stellt nicht die allgemeine Frage, ob Polizei Wissenschaft, in der mannigfaltigen Anzahl verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen, -sparten, zweige, oder -bereiche, will. Sie stellt konkret die Frage, ob Polizeiwissenschaft gewollt ist. Zu allgemein nach grundsätzlichem Wollen von Wissenschaft gefragt, wäre eine verneinende Antwort schwerlich ernst zu nehmen, gar als überflüssig zu betrachten. Schließlich gehören die Kriminalwissenschaften (z.B. Kriminalistik mit Einflüssen aus Biologie, Chemie, Physik usw.) zur Wissenschaft im Allgemeinen und die Arbeit der Polizei ist ohne diese Wissenschaftsbereiche nur schwer vorstellbar. In diesem Sinne lassen beispielsweise die Organigramme der Landeskriminalämter in Deutschland Rückschlüsse auf die Wertschätzung der allgemeinen Wissenschaft für die Polizeiarbeit zu. Beispielhaft existiert in Sachsen-Anhalt eine Abteilung „Kriminalwissenschaften“ im dortigen Landeskriminalamt (vgl. Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt, S. 31). Laut Festlegungen Sachsen-Anhalts stellt die Abteilung „Kriminalwissenschaften“ eine Zentralstelle innerhalb des Bundeslandes dar und übernimmt Gutachteraufgaben, aber auch grundlegende wissenschaftliche Obliegenheiten (vgl. Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt, S. 11). Dafür werden mitunter erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt, was ein Indiz für die Bewertung der Wissenschaft und die prognostizierten Vorteile ist. Ähnliche Strukturen sind innerhalb aller Landespolizeien existent, was die Verbreitung der Wissenschaft im Allgemeinen innerhalb der Polizei und damit das Wollen, die Wissenschaft an der Arbeit der Polizei zu beteiligen, erkennbar macht. Aufgrund dieser Feststellung kann, natürlich ohne Verleugnung möglicher Konflikte bei der tatsächlichen Umsetzung, festgestellt werden, dass der Wissenschaft am Beispiel der naturwissenschaftlich-forensischen Wissenschaft oder der Rechtswissenschaften eine besondere Bedeutung innerhalb der Polizei zugemessen wird (vgl. Frevel 2012 a, S. 35). Entgegen dieser Feststellung ist die Polizeiwissenschaft wohl (noch) nicht derartig entwickelt (vgl. Neidhardt, S. 7) und anerkannt. Aus diesem Grunde wird anlässlich dieser Arbeit zwischen den vermeintlich etablierten Wissenschaftsbereichen und der noch jungen deutschen Polizeiwissenschaft unterschieden. Auf Grund der forschungsleitenden Frage ist nur letztere Wissenschaftsdisziplin Gegenstand dieser Arbeit.

2.2 Singuläre Polizeiwissenschaft oder pluralistische Polizeiwissenschaften

Die Diskussion um den Umfang und Horizont der Polizeiwissenschaft wird ausgedehnt geführt (vgl. Feltes 2007, S. 3), weshalb diese Arbeit ein Verständnis von Polizeiwissenschaft entwickeln muss, um einen Befund zum Wollen dieser skizzierten Polizeiwissenschaft überhaupt erheben zu können.

So ist schon die Diskussion, ob die Polizeiwissenschaft in der Singularform oder in der Pluralform zu verstehen ist (vgl. Feltes 2007, S. 3) ernstlich darzustellen. Reichertz versteht unter Polizeiwissenschaften „[…] die (interdisziplinäre) Bündelung (aller) Wissenschaften, die für Polizeiarbeit von Bedeutung sind (darunter z.B. die Kriminalistik), als ‘Polizeiwissenschaft‘ würde man eher die Wissenschaft von der Polizei und ihrem Handeln verstehen können […].“ (Reichertz 2007, S. 128). Reichertz schließt sich der ersten Plural-Variante an, Feltes der Singular-Variante (vgl. Reichertz 2007, S. 128; vgl. Feltes 2007, S. 3), ohne diesen Begriff als Zentrierung auf die Polizei zu verstehen. In diesem Zusammenhang darf die Meinung von Birkenstock/Hauff/Neidhardt nicht unerwähnt bleiben, wonach Polizeiwissenschaft eine Bündelungsfunktion übernehmen müsse (vgl. Birkenstock/Hauff/Neidhardt, S. 134). Sprachlich beschreiben sowohl Reichertz als auch Birkenstock/Hauff/Neidhardt eine Bündelungsfunktion, wobei dem Verständnis nach die Erklärung nach Reichertz nicht mit der von Birkenstock/Hauff/Neidhardt bezeichneten Bündelungsfunktion, in Form einer Sammelstelle, verwechselt werden darf. Beide Ansätze nutzen zwar den Begriff „Bündelung“, basieren aber auf durchaus unterschiedlichen Ansätzen. Reichertz argumentiert, Polizeiwissenschaft müsse Wissenschaftsdisziplinen zum Zwecke des gemeinsamen Handelns bündeln, Birkenstock/Hauff/Neidhardt hingegen erklären, Polizeiwissenschaft müsse als Erkenntnis- bzw. Informationszentralstelle agieren. In diesem Sinne ist der Ansatz von Birkenstock/Hauff/Neidhardt/ kritisch zu bewerten, da er die Polizeiwissenschaft(en) als eigenständige Wissenschaft abwertet. In diesem Sinne widerspricht auch Mokros einer Beschränkung der Polizeiwissenschaft auf eine Bündelungsfunktion (vgl. Mokros 2011, S. 4), wie sie in Ansätzen durch Birkenstock/Hauff/Neidhardt beschrieben wird. Mokros argumentiert, dass ein alleiniges Sammeln von Informationen nicht den Ansprüchen einer eigenständigen Wissenschaft entsprechen würde. Auch Stock schließt sich dieser Argumentation an und erklärt, dass die Polizeiwissenschaft zwar Informationen und Erkenntnisse sammeln sollte, überdies und in Abgrenzung zu Birkenstock/Hauff/Neidhardt aber auch eine Polizeitheorie entwickeln sollte (vgl. Stock 2000, S. 106). Frevel hingegen resümiert, dass die methodischen Zugänge zu disparat seien und die Bildung von Theorien in diesem Zusammenhang eher nicht zu erwarten sei (vgl. Frevel 2008, S. 6).

Reichertz erklärt seinen oben genannten Ansatz zum differenzierten Verständnis, ob im Singular oder Plural von Polizeiwissenschaft(en) gesprochen werden sollte mit, in seinen Augen, vorprogrammierten Debatten, wer zu einer Polizeiwissenschaft (Singular) gehören würde und das eine singuläre Verständnisform der Polizeiwissenschaft zu stark auf die Polizei zentriert werden würde. Feltes hingegen argumentiert, dass eine Polizeiwissenschaft im Singular gerade nicht zu zentriert auf das Berufsfeld „Polizei“ ist (vgl. Feltes 2007, S. 3) wie Reichertz behauptet. Feltes schreibt den im Plural genannten Polizeiwissenschaften auch die „[…] Rechtswissenschaft, Kriminologie, Kriminalistik, Soziologie, Psychologie, Politologie, Kriminalbiologie, Verwaltungs- und Wirtschaftswissenschaft, sowie alle anderen Wissenschaften, denen sich die Polizei und andere Sicherheitsdienstleister bedienen.“ (Feltes 2007, S. 3) zu. Dies entspräche nicht seinem Verständnis von Polizeiwissenschaft in der Singularform. Die Argumentation von Feltes erscheint in ihrer Dimension schlüssig, zeigt sie doch, dass eine Polizeiwissenschaft als selbstständig verstanden werden muss, ohne Bezugswissenschaften auszuschließen oder als reine Bündelungsstelle verstanden zu werden. Demnach kann sie unter Verwendung der Erkenntnisse der benannten Wissenschaftsbereiche Theorien entwickeln, die den Bezugspunkt „Innere Sicherheit“ in Relation zu ganz unterschiedlichen Einflussfaktoren setzt. Dabei kann auch die Polizei zum Gegenstand der Wissenschaft gemacht werden, ohne die Polizeiwissenschaft ausschließlich darauf zu beschränken oder zu verkürzen. Polizeiwissenschaft kann demnach als eine interdisziplinäre Integrationswissenschaft verstanden werden (vgl. von Denkowski/von Denkowski, S. 58).

Einig sind sich Feltes und Reichertz in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand der Polizeiwissenschaft. Feltes schließt sich der von Reichertz geschaffenen Definition3 des Gegenstandes an (vgl. Feltes 2007, S. 3), wodurch sich eine sehr weit aufgestellte Polizeiwissenschaft erschließt.

Im Vordergrund dieser von Reichertz und Feltes beschriebenen Wissenschaft steht also das sogenannte Polizieren, das von Reichertz als das zusammengefasste Handeln aller staatlichen und privaten Akteure zum Herstellen der inneren Sicherheit beschrieben wird (vgl. Reichertz 2007, S. 128). Neidhardt hingegen sieht in der singulären Polizeiwissenschaft „[…] die Wissenschaft von der Polizei in ihrem Sein und Sollen. Sie befasst sich mit der Polizei als Funktion, als Institution und mit ihrem Handeln. Ihr Zweck ist die systematische Erforschung polizeibezogener Phänomen und Fragestellungen.“ (Neidhardt, S. 16) und zentriert die Polizeiwissenschaft durchaus auf das Berufsfeld Polizei. Neidhardt stellt außerdem fest, dass sich die Polizeiwissenschaft nach angeblichen Definitionen, die er kritisch betrachtet, im Kern mit der Polizei als Organisation und Institution und polizeilichem Handeln beschäftigen würde (vgl. Neidhardt, S. 12). Er erklärt aber, dass seinem Verständnis nach auch private Partner und ihre Einflüsse auf die Gegenstand der Polizeiwissenschaft sein können (vgl. Neidhardt, S. 17). Damit lehnt Neidhardt die Verkürzung der Polizeiwissenschaft ab. Eine derartige Verkürzung würde die Polizeiwissenschaft auf die Polizei und ihr Handeln reduzieren. Andere Partner, Akteure und Einflussnehmende würden dann als nicht notwendig für die wissenschaftliche Arbeit einer Polizeiwissenschaft erachtet. Definitionen, die der Polizeiwissenschaft nur die Polizei als Untersuchungsgegenstand zuschreiben, müssen im Schatten der beschriebenen Debatte als historisch überholt angesehen werden. Schließlich zeigt die von der Polizeiwissenschaft zu unterscheidende4 kriminologische Forschung der letzten Jahre eindrucksvoll, dass die innere Sicherheit ganz erheblich und in großem Umfang, von den Aktivitäten privater Partner wie Sicherheitsdienstleister und besonders von dem Engagement der Nachbarschaft und sozialen Gruppen beeinflusst wird (vgl. Feltes 2008, S. 106). Demnach wäre eine Reduzierung der Polizeiwissenschaft auf die Polizei gänzlich ungeeignet. Verstanden werden muss also, dass die Polizei als wichtiger Partner in einem weitverzweigten Netzwerk „Innere Sicherheit“ agiert. Demnach muss eine Wissenschaft, die auch die Rolle der Polizei beleuchtet, den Netzwerkgedanken verinnerlichen und die dadurch entstehenden Interaktionseinflüsse beachten.

Im Sinne Feltes ist demnach der singuläre Begriff „Polizeiwissenschaft“ innerhalb dieser Arbeit anzuwenden, da er gerade nicht auf die Polizei fokussiert.

2.3 Weitere Akteure der inneren Sicherheit als wichtiger Gegenstand der Polizeiwissenschaft?

Wäre allein die Polizei für die Gewährleistung der inneren Sicherheit verantwortlich, würde sich Polizeiwissenschaft auf diesen dann einsamen Akteur beschränken, weshalb die Frage nach dem Vorhandensein anderer Akteure zu beantworten ist. In der oben beschriebenen Annahme, Polizeiwissenschaft müsse die Akteure der inneren Sicherheit und deren Tätigkeiten als Forschungsgegenstand ansehen, ist es überaus bedeutsam, diese Akteure der inneren Sicherheit zu identifizieren. Dabei ist wohl unstrittig, dass der Staat und die von ihm eingesetzte Polizei einen gewichtiger Akteur der inneren Sicherheit ist und bleibt (vgl. Reichertz/Bidlo/Englert, S. 182).

Gerade gesellschaftliche Veränderungen, wie die Privatisierung von Sicherheitsaufgaben (vgl. Feltes/Reichertz 2009, S. 7) und der damit verbundenen Beteiligung auch anderer Akteure wie Medien (vgl. Reichertz/Bidlo/Englert, S. 181) und privater Unternehmen (beispielsweise NGOs) (vgl. Reichertz/Bidlo/Englert, S. 182) an der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit zeigen, dass das Verständnis, wer als Akteur der inneren Sicherheit an der Aufrechterhaltung der selbigen beteiligt ist, ganz erheblichen Einfluss auf eine Polizeiwissenschaft haben kann. In diesem Zusammenhang spricht Ammermann von einem bisher bestehenden Monopol der Sicherheitsverwaltung durch die Polizei, welches aktuell aufgeweicht wird (vgl. Ammermann, S. 11). Sogar Nachbarschaftsgruppen und private Initiativen werden als Teil der Akteure innerer Sicherheit gesehen (vgl. Ammermann, S. 17). Dabei weist Ammermann darauf hin, dass die Polizei ihre eigene Rolle in der Interaktion dieser privaten Akteure falsch einschätzen und demnach Gefahr laufen würde, in eine Krise zu geraten, obgleich sie weiterhin als Hauptakteur auftritt (vgl. ebd.). Im Gegensatz dazu stellt Meyer dar, dass derartige private Organisationen nicht als Akteur der inneren Sicherheit bezeichnet werden können. Seiner Meinung nach sind sie aufgrund fehlender Ressourcen, um tatsächliche Veränderungen, beispielsweise der Gesetzeslage, herbeizuführen, nicht als Akteure zu bezeichnen (vgl. Meyer, S. 15). Sie seien vielmehr Akteure, die von außen indirekten Einfluss nehmen können, indem sie Netzwerke nutzen (vgl. Meyer, S. 16). Jedoch verfügen sie nicht über ausreichende Ressourcen, Veränderungen selbst herbeizuführen (vgl. ebd.).

Ammermanns Hinweis zu einer möglichen Fehleinschätzung der Polizei zur eigenen Rolle kann als real bezeichnet werden, insoweit auch das Bundesinnenministerium die Akteuren der inneren Sicherheit in einer eigenen Definition stark eingeschränkt und dadurch private Anbieter, Initiativen und Nachbarschaftsgruppen ausschließen würde (vgl. Feltes 2008, S. 105). In Bezug auf die Nennung von Akteure der inneren Sicherheit setzt sich Feltes deutlich von dieser Definition des Bundesinnenministeriums ab. Feltes widerspricht der Definition, innere Sicherheit sei abschließend von den Akteuren „Polizei“, „Geheimdiensten“ und „Technischem Hilfswerk“ beeinflusst (vgl. ebd.) und erklärt, der Begriff der inneren Sicherheit müsse deutlich weiter gefasst werden, was dem Grunde nach Reichertz Darstellung entspricht. So habe die Polizei nicht mehr die Alleinherrschaft über die (vgl. Ammermann, S. 17).

Dennoch schreibt Feltes der Polizei eine ganz bedeutende Rolle als Akteur der inneren Sicherheit zu. So sei die Polizei für die Bürger die wohl wichtigste, weil unspezifische Hilfsinstitution (vgl. Feltes 2008, S. 107). Auch Braun vertritt diese Meinung, schränkt aber ein, dass der Staat nur eine Grundversorgung der inneren Sicherheit liefern kann und private Sicherheitsunternehmen darüber hinaus agieren könnten (vgl. Braun). Trotzdem sei die Polizei abseits realer Straftaten zum Großteil mit Einsätzen wie Ruhestörung oder Nachbarschaftsstreitigkeiten eingesetzt, was eben nicht zur Strafverfolgung, wohl aber zum Verständnis der inneren Sicherheit gehört, da es dabei auch um die Gewährleistung der Rechtsordnung ginge (vgl. Feltes 2008, S. 106). Die Polizei erfüllt nach Neidhardt Kernaufgaben im Bereich der inneren Sicherheit (vgl. Neidhardt, S. 16).

Feltes weist darauf hin, dass die jetzt zahlreichen Akteure der Sicherheit oftmals mit Dissonanzen agieren (vgl. Feltes 2008, S. 107) und bettet dies in den Kontext, dass sowohl die Innenministerien, die Polizei selbst als auch die zugehörigen Gewerkschaften zu den Akteuren der inneren Sicherheit gehören (vgl. ebd.) und oftmals ohne gemeinsamen Konsens agieren.

Es wird also klar, dass weitere Akteure neben der Polizei die innere Sicherheit beeinflussen und Polizeiwissenschaft nicht fehlerhaft auf die Polizei allein zu beschränken ist.

[...]


1 Zum Verständnis dieser Arbeit in Bezug auf den Terminus Wollen siehe Punkt 2.5.

2 Der Satzbaustein „das Wollen der Polizeiwissenschaft durch die Polizei“, bezieht das Wollen der Polizei auf die Polizeiwissenschaft. Damit ist nicht gemeint, dass die Polizei negativ berichtet.

3 „Ein Problem mithin, das die Fundamente der Gesellschaft berührt, also für deren Überleben und Entwicklung notwendig ist. Aus meiner Sicht wäre die Frage nach den Möglichkeiten der Herstellung innerer Sicherheit, also des Polizierens, wie ich es im Anschluss an alte Traditionen der Polizeyforschung nennen möchte, eine solche Frage.“ (Reichertz 2007, S.128).

4 Ohne die Polizeiwissenschaft unzulässig zu verkürzen.

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Wie viel Polizeiwissenschaft will die Polizei?
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Veranstaltung
Polizeiwissenschaft
Note
2,15
Autor
Jahr
2014
Seiten
52
Katalognummer
V285869
ISBN (eBook)
9783656860884
ISBN (Buch)
9783656860891
Dateigröße
646 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Polizeiwissenschaft, Kriminologie, Polizei, Wollen, Ablehnung der Polizei, Ruhr-Universität-Bochum, MAKRIM, Topic_Polizei
Arbeit zitieren
Martin Zink (Autor:in), 2014, Wie viel Polizeiwissenschaft will die Polizei?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/285869

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