Dieter Wellershoff und der Nouveau Roman (unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Alain Robbe-Grillet)


Magisterarbeit, 1999

79 Seiten, Note: sehr gut (1,3)


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Der Nouveau Roman
2.1. Die wichtigsten Vertreter des Nouveau Roman
2.1.1. Nathalie Sarraute
2.1.2. Claude Simon
2.1.3. Michel Butor
2.2. Alain Robbe-Grillet
2.2.1. Die theoretischen Schriften Robbe-Grillets

3. Dieter Wellershoff und der Neue Realismus
3.1.1. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Nouveau Roman
3.1.2. Alain Robbe-Grillet und Dieter Wellershoff

4. Vergleichende Stilanalyse/Erzählerische Praxis
4.1. "Die Radiergummis"
4.1.1. Formale Aspekte
4.1.2. Inhaltliche Aspekte
4.1.3. Umsetzung theoretischer Forderungen
4.2. "Die Niederlage von Reichenfels"
4.2.1. Formale Aspekte
4.2.2. Inhaltliche Aspekte
4.2.3. Umsetzung theoretischer Forderungen
4.3. "Ein schöner Tag"
4.3.1. Formale Aspekte
4.3.2. Inhaltliche Aspekte
4.3.3. Umsetzung theoretischer Forderungen
4.4. "Einladung an alle"
4.4.1. Formale Aspekte
4.4.2. Inhaltliche Aspekte
4.4.3. Umsetzung theoretischer Forderungen

5. Zusammenfassung

6. Ausblick/Offene Fragen

7. Literaturverzeichnis

1. EINLEITUNG

Die Beschäftigung mit der Frage, inwieweit Wellershoff durch den Nouveau Roman beeinflußt wurde, läßt bereits nach kurzer Zeit erkennen, daß eine Eingrenzung dieses umfangreichen Themas nötig ist. Aus diesem Grund werden die Arbeiten von Nathalie Sarraute, Claude Simon, Michel Butor, Samuel Beckett u.a. nicht näher betrachtet. Auch die Betrachtung des Werkes von Alain Robbe-Grillet muß sich in exemplarischer Weise auf einzelne Werke beschränken, da sonst der vorgegebene Rahmen dieser Arbeit nicht einzuhalten wäre. So werde ich mich bei den theoretischen Texten Robbe-Grillets insbesondere mit der Essay-Sammlung "Argumente für einen neuen Roman" sowie dem Vortrag "Neuer Roman und Autobiographie" beschäftigen.

Anhand der Romane "Die Radiergummis" und "Die Niederlage von Reichenfels" werde ich dann versuchen, seine theoretischen Äußerungen im Hinblick auf die praktische Realisierbarkeit zu überprüfen.

Die wissenschaftliche Untersuchung dieses Themas impliziert vor allem die Frage, inwieweit Dieter Wellershoff und sein Konzept des Neuen Realismus durch den Nouveau Roman beeinflußt wurde. Als Einstieg in das Thema halte ich es für unumgänglich, sich zunächst mit der Theorie des Nouveau Roman zu beschäftigen, sofern man überhaupt von einer einheitlichen Theorie sprechen kann. Desweiteren ist dann zu klären, inwieweit sich Ähnlichkeiten bzw. Differenzen in Wellershoffs theoretischem Konzept wiederfinden.

Da allein das literaturtheoretische Werk von Dieter Wellershoff den zur Verfügung stehenden formalen Rahmen dieser Arbeit füllen könnte, muß ich mich auch bei der Untersuchung seiner theoretischen Äußerungen begrenzen. Ich werde daher für den theoretischen Teil dieser Arbeit die Essays "Literatur und Veränderung" und "Literatur und Lustprinzip" zugrunde legen, da diese zeitlich in die gleiche Schaffensphase wie die zu untersuchenden Romane "Ein schöner Tag" und "Einladung an alle" fallen. Torsten Bügner führt ein weiteres wichtiges Argument für die nähere Betrachtung dieser Essays an, wenn er sagt, daß die in diesen Bänden enthaltenen Essays die "Grundpfeiler von Wellershoffs Literaturtheorie" bilden (vgl. Bügner,1993,S.50).

Ob und inwieweit die theoretischen Forderungen von Wellershoff bzw. Robbe-Grillet ihre praktische Umsetzung in den zu untersuchenden Werken gefunden haben, wird eine vergleichende Stilanalyse versuchen zu klären, welche exemplarisch an den Romanen "Die Radiergummis", "Die Niederlage von Reichenfels", "Ein schöner Tag" und "Einladung an alle" durchgeführt wird.

Da Wellershoff nicht nur als Autor, sondern auch als Germanist Anerkennung genießt, halte ich es für unumgänglich, die ausführliche Sekundärliteratur zu diesem Themenkomplex näher zu betrachten.

Das umfangreiche Werk beider Autoren läßt sich im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend analysieren, deshalb werde ich mich auf die o.g. vier Romane beschränken, die meines Erachtens besonders interessant sind im Hinblick auf die theoretischen Äußerungen von Wellershoff und Robbe-Grillet. Bei der Romananalyse werde ich mich ebenfalls aus den o.a. Gründen auf einzelne Aspekte, die bezüglich der literaturtheoretischen Forderungen interessant sind, beschränken müssen.

Da ein besonderer Schwerpunkt bei dieser Arbeit der Frage nachgeht, inwieweit vor allem Robbe-Grillets Schriften einen Einfluß auf Wellershoff hatten, werde ich mich bei der Stilanalyse zuerst den Romanen Robbe-Grillets zuwenden, bevor ich die ausgewählten Romane von Wellershoff näher untersuche.

Im Zusammenhang hiermit soll auch das Rezeptionsverhalten der Leser betrachtet werden. Zu klären ist vor allem die Frage, ob das Bedürfnis nach einer veränderten Literatur überhaupt jemals eine Widerspiegelung beim Leser durch veränderte Rezeptionsgewohnheiten gefunden hat.

Auch werde ich versuchen, eine Antwort auf die Frage zu finden, inwieweit Wellershoffs Literaturkonzept bedeutsam für die Germanistik war bzw. ist. Seine Rolle bei der Literaturproduktion wird dabei ebenfalls betrachtet werden müssen.

2. DER NOUVEAU ROMAN

In der 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in Frankreich eine literarische Strömung, die später unter dem Begriff "Nouveau Roman" ihren Platz in den Literaturgeschichten fand. Diese Bezeichnung faßt unterschiedliche Ansätze diverser Autoren zusammen, welche alle den Versuch unternahmen, die bisher gängigen literarischen Konventionen zu durchbrechen. "Den jungen Autoren war nur eines gemeinsam: Mißtrauen gegen als allgemeingültig anerkannte Wahrheiten, gegen Konventionen und Klischees." (Gärtner,1990,S.201) Brigitta Coenen-Mennemeier führt als einzige Gemeinsamkeit "die energische Absage an kohärente Handlung, kompakte Figurenpsychologie, lineare Zeit und gedeutete Räume [...]" an. (Coenen-Mennemeier,1996,S.1 f)

Eine weitere Gemeinsamkeit nennt dagegen Brigitte Burmeister, indem sie hervorhebt, daß diese Literatur keineswegs einen großen Leserkreis gefunden hat (vgl. Burmeister,1983,S.8). "Das Leserproblem dürfte eher in einer gewissen Ratlosigkeit darüber bestehen, was solche Romane uns zu sagen haben, was man mit ihnen anfangen soll." (Burmeister,1983,S. 8 f)

Die Nouveaux Romanciers ließen sich dadurch jedoch wenig irritieren, sahen dies im Gegenteil als Bestätigung dafür an, wie nötig es war, mit der bestehenden Romantraditon zu brechen (vgl. Burmeister,1983,S.10).

Diese Literatur provozierte den Leser, denn sie forderte von ihm, sich mit der Romanproduktion auseinanderzusetzen, indem sie gegen die traditionelle Schreibweise verstieß. So werden auch die teils heftigen Reaktionen verständlich, welche der Nouveau Roman auslöste (vgl. Burmeister, 1983,S.11). Doch es entstand keinesfalls eine "[...] kohärente Theorie, [...] sondern ein bewegliches Ensemble von Reflexionsgegenständen und Denkmustern, von Überzeugungen, Absichtserklärungen und Zielstellungen." (Burmeister,1983,S.12)

Als führende Repräsentanten des Nouveau Romans nennt Winfried Wehle in Frankreich Alain Robbe-Grillet, Michel Butor, Claude Simon, Nathalie Sarraute, Robert Pinget und auch Samuel Beckett. Insbesondere der allen gemeinsame Verleger Jérôme Lindon wurde zu einem verbindenden Faktor (vgl. Wehle,1972,S.10 f).

Desweiteren gab es eine Gruppe von Autoren, die sich aus dem Umfeld der Zeitschrift 'Tel Quel' entwickelte und ähnliche Ziele wie der Nouveau Roman verfolgte. Zu ihnen zählten Philippe Sollers, Jean Ricardou, Jean-Pierre Faye, Marc Saporata, Raymond Jean und Jean Thibaudeau. Allerdings erlangten diese Autoren bei weitem nicht die Aufmerksamkeit, die Alain Robbe-Grillet und den o.a. Autoren zuteil wurde (vgl. Wehle, 1972,S.11 f).

Doch gab es durchaus eine Diskrepanz zwischen den theoretischen Absichten dieser neuen Literatur und ihrer praktischen Umsetzung. Insbesondere Robbe-Grillet fand diese Diskrepanz aber völlig normal und hat sie auch offen eingestanden (vgl. Wilhelm,1969,S.13 f).

So unabhängig voneinander die einzelnen Romankonzeptionen auch entstanden waren, so gab es dennoch einige charakteristische Gemeinsamkeiten, die Brigitte Burmeister anführt. Die größte Gemeinsamkeit ist die Ablehnung der Erzählform des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts (vgl. Burmeister,1983,S.14). Erlebte Wirklichkeit sollte ihren Niederschlag im Roman finden, und die Nouveaux Romanciers vertraten die Auffassung, daß die traditionellen Erzählschemata mit ihren entsprechenden substantiellen Elementen dazu nicht mehr in der Lage waren (vgl. Burmeister,1983,S.14 f).

"Die Romane sollten eine veränderte Welt neu sehen lehren." (Burmeister,1983,S.15) Ihre Ablehnung gegenüber dem "Balzac-Roman" beinhaltete auch eine Kritik am Leser, der Gefallen fand an dieser konventionellen und aus ihrer Sicht trivialen Sichtweise und Darstellung der Welt (vgl. Janvier,1967,S.12).

Die Nouveaux Romanciers beriefen sich dabei weniger auf wissenschaftliche Gesellschaftsanalysen, als vielmehr auf ihr subjektives Lebensgefühl, welches sie in ihren Werken zum Ausdruck bringen wollten. Diese wären sozusagen die notwendige literarische Umsetzung auf eine veränderte Welt, die den Menschen mit ganz anderen Problemen konfrontiert, als die Gesellschaft im 19. Jahrhundert (vgl. Burmeister,1983,S.15).

Konsequenterweise wurden auch die traditionellen weltanschaulichen Denkstrukturen in Frage gestellt. Ein allgemeingültiger Konsens über die erlebte Wirklichkeit existierte nicht mehr. Dadurch rückte weniger das Thema des Romans in den Mittelpunkt, als vielmehr die schriftstellerische Umsetzung dessen, was der Autor über die veränderte Welt ausdrücken wollte (vgl. Burmeister,1983,S.16 f). "In der écriture, der Gestaltungsweise, erblickten die nouveaux romanciers die wesentliche Aussage, die ein Schriftsteller über die Welt machen kann." (Burmeister,1983,S.17) Hierbei stand eine zentrale Fähigkeit im Mittelpunkt: das Fragen (vgl. Janvier,1967,S.11).

Der Roman sollte sich selbst zum Gegenstand der Kritik und der Veränderung machen (vgl. Burmeister,1983,S.18). Dazu gehörte auch die Irritation des Lesers, indem der Eindruck, "es mit einem Stück Leben zu tun zu haben statt mit einem literarischen Text" gezielt verhindert wurde (vgl. Burmeister, 1983,S.19). Die Fiktion sollte deutlich machen, wie sehr die Wahrnehmung der Welt schon durch vorgefertigte und verfestigte Denkstrukturen bestimmt war. Der Bruch mit den gängigen Erwartungen des Lesers sollte zu einer Reflexion über die veränderte Wirklichkeit führen.

Im Zentrum standen hierbei die sprachlichen Möglichkeiten, die fiktive Welten herzustellen vermochten und so in der Lage waren, neue Möglichkeiten der Zusammenhangsbildung durchzuspielen (vgl. Burmeister,1983,S.19).

"Es ging ihnen nicht um die Abschaffung des Romans, sondern um eine Neubestimmung dessen, was er, im Unterschied zu anderen kulturellen Praktiken, über die Wirklichkeit aussagen könne." (Burmeister,1983,S.20)

Francoise van Rossum-Guyon führt insbesondere auf der "technischen Seite" des Schreibens zahlreiche Gemeinsamkeiten der Nouveaux Romanciers an. Besonders wichtig ist, daß zum einen die Romanfigur als Mittelpunkt der Handlung entfällt, zum anderen die logische Handlungsführung des Geschehens unterbleibt. Je nach Text sind folgende Gemeinsamkeiten typisch:

1) zahlreiche Rollen und teils widersprüchliche Sichtweisen,
2) sehr viele episodenhafte Handlungsteile,
3) in diese Teile sind zusätzliche Geschichten integriert,
4) einige zentrale Motive oder Themen dienen zur Erzeugung der Fiktion,
5) eine neue Erzähllogik soll deutlich werden,
6) abstrakte Figuren werden verwendet,
7) intertextuelle Bezüge werden in den Text eingefügt,
8) häufige Spiegeleffekte auf der Satzebene,
9) die Transparenz des Erzählverfahrens

(vgl. Rossum-Guyon,1980,S.154 f).

"All diesen Techniken ist gemeinsam, daß sie das Interesse von der erzählten Geschichte weg auf die Funktionsweise des Textes verlagern unter Freilegung des Aussageprozesses." (Rossum-Guyon,1980,S.155)

Natürlich sollten auch bestimmte Rezeptionsgewohnheiten verändert werden. Dieser Anspruch beinhaltete das Problem, daß eine solch veränderte Leseweise sich nicht erzwingen läßt (vgl. Burmeister,1983,S.21 ff).

Der Leser soll vor allem aufgeschlossen für diese neue Art des Romans sein, und er soll aktiv den neuen Sinn des Textes entschlüsseln. So soll sowohl eine psychologisierende Leseweise als auch eine allzu realistische Leseweise vermieden werden (vgl. Rossum-Guyon,1980,S.159).

Der Leser soll schlicht akzeptieren, daß er vielleicht vergeblich nach eindeutigen Charakteren, Handlungssträngen und Moralitäten sucht. Er soll sich immer wieder neu auf den Text einlassen. Das, was dem Leser befremdlich erscheint, soll dieser auch nicht als Ausdruck der Psyche des Autors interpretieren, sondern als Ergebnis harter und langwieriger Arbeit. Dabei kann es sogar soweit gehen, daß der Autor seine Sicht des Textes durch eine Interpretation des Lesers neu definiert (vgl. Rossum-Guyon,1980,

S.159 f). Jeder Text stellt dem Leser aus sich selbst das Problem seiner Funktionsweise, und die Antwort darauf muß der Leser für sich allein herausfinden (vgl. Rossum-Guyon,1980,S.166).

"Der Nouveau Roman stellt also mehr Fragen, als er Lösungen bereithält." (Rossum-Guyon,1980,S.167)

2.1. Die wichtigsten Vertreter des Nouveau Roman

Zweifellos steht Robbe-Grillet hier an erster Stelle. Da er auch für die hier zu untersuchende Fragestellung eine herausragende Rolle einnimmt, werde ich mich Robbe-Grillet später ausführlicher widmen. Im Zusammenhang mit dem Nouveau Roman fallen ansonsten vor allem die Namen Nathalie Sarraute, Michel Butor und Claude Simon.

2.1.1. Nathalie Sarraute

Nathalie Sarraute vertrat eine ganz eigene Linie innerhalb der Nouveaux Romanciers. Sie wehrte sich auch immer gegen die Sammelbezeichnung Nouveau Roman und hat diese vielmehr als ein Etikett verstanden, welches man nachträglich auf ihre Werke geklebt hat (vgl. Schulze,1986,S.345).

In ihrer Essay-Sammlung "Zeitalter des Argwohns" von 1956 hat sie ihr literaturtheoretisches Konzept formuliert (vgl. Wellershoff,1988,S.402).

Besonders charakteristisch für Sarraute ist das Bestreben, Verhaltensweisen losgelöst vom Individuum darzustellen. Dabei ging es ihr auch um die psychologischen Feinheiten, die zu diesem Verhalten im Vorfeld geführt haben (vgl. Schulze,1986,S.346). Sie geht davon aus, daß es eine Art allgemeinen psychischen Fundus gibt, der unabhängig von dem jeweiligen Charakter in bestimmten Situationen zum Ausdruck kommen kann. Dabei orientiert sich Nathalie Sarraute an dem in der Malerei gängigen Prinzip der Abstraktion und Gegenstandslosigkeit (vgl. Schulze,1986,S.346 f).

"Gegenstandslos wird die Literatur nach ihrer wiederholt geäußerten Auffassung, wenn der psychische Stoff in der gleichen Weise vom traditionellen Charakter gelöst wird, wie die Malerei die Farbe von der wiedererkennbaren Figur gelöst hat." (Schulze,1986,S.347)

Problematisch ist dabei natürlich, daß eine psychische Komponente sich nicht so ohne weiteres von der Person trennen läßt, die diese Regung zeigt.

So ist für die Werke Sarrautes charakteristisch, daß der Leser oft nicht klar zuordnen kann, welche Person in der Erzählung die dargestellten Empfindungen und Gedanken hat. Dieses ungewöhnliche Erzählen zwingt den Leser, sich ganz auf die emotionalen Verhaltensweisen zu konzentrieren, ohne in der Lage zu sein, eine bestimmte Figur in ihrem ganzheitlichen Charakter erkennen und identifizieren zu können (vgl. Schulze,1986,S.348).

"Das einfachste technische Mittel, den Leser in dieser Weise zu einem Wandel seiner Aufmerksamkeitsrichtung zu erziehen, sind die berühmten drei Pünktchen der Nathalie Sarraute, die Auslassung der Zuordnung des gerade Dargestellten." (Schulze,1986,S.348)

Desweiteren wiederholt Sarraute Szenen aus der gleichen Perspektive, was zusätzlich zu einer Irritation beim Leser führen kann. Sie bietet so eine Bandbreite der Charaktere, eine Vervielfältigung der Erlebnisse. Dadurch erreicht sie das Ziel einer gewissen Abstraktion (vgl. Schulze,1986,S.348).

Es besteht bei diesem Verfahren allerdings die Gefahr, daß die Figuren nur noch eine Art Kurzporträt bieten, sozusagen zum Modellcharakter werden. Auch kommt Sarraute mit ihrem Anspruch in Konflikt, Beziehungen zwischen Menschen zeigen zu wollen - und jeder Mensch ist immer ein individuelles Gemisch aus verschiedenen psychologischen Verhaltensweisen und Charakterzügen. Hier stößt sie an die Grenzen der Abstraktionsmöglichkeiten und der Gegenstandslosigkeit in der Literatur (vgl. Schulze,1986,S.348 f).

Sarraute versucht denn auch, durch verschiedene Gestaltungstechniken ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden. So widmet sie sich in ihrem zweiten Roman dem Problem von Authentizität und Inauthentizität. "Letztere äußert sich in den Rollen und Masken, die sich die Menschen im alltäglichen Umgang miteinander zuschreiben und überstülpen und auch selbst annehmen oder sich aufzwingen lassen." (Schulze,1986,S.350)

Besonders wichtig ist in diesem Roman das Phänomen der Subkonversation, welches durch die Darstellung der inneren Wahrnehmungen und Gedanken in Bezug auf die tatsächliche Kommunikation der Figuren ins Blickfeld rückt.

"Was ein Kommunikationspartner wirklich meint oder ungewollt durch seine authentischen Regungen zu verstehen gibt, erscheint nur im Gedankenstrom des 'hörenden' Partners als dessen Deutung." (Schulze,1986,S.351)

Die Subkonversation enthüllt das, was bei einer Konversation nur unterschwellig mitschwingt und sich etwa im Tonfall, in der Mimik und Gestik entlarvt. Der Subkonversation und der Konversation Sarrautes entsprechen die sonst üblichen Stilmittel des Dialogs und der erlebten Rede. Mit dem Unterschied, daß die Erzählperspektive der Subkonversation von der dritten zur ersten Person wechselt (vgl. Wilhelm,1969,S.72).

Es ging Sarraute um die Darstellung einer neuartigen Psychologie; die klassische Psychoanalyse Freuds hat sie entschieden abgelehnt (vgl. Coenen-Mennemeier,1996,S.55). Sie lehnt es ab, ein Geschehen psychologisch zu analysieren und thematisch in ihrem Roman zu verarbeiten. Stattdessen geht es ihr darum, die menschliche Psyche selbst darzustellen, mit all ihren Facetten und uneingestandenen Regungen (vgl. Wilhelm,1969,S.77).

Dabei sind es die sogenannten Tropismen, die für die psychische Struktur ihrer Figuren eine entscheidende Rolle spielen. "Benannt nach einem biologischen Phänomen, der subtilen Reaktion von Pflanzen auf Außeneinflüsse, etwa auf Sonneneinstrahlung, bezeichnen >tropismes< in Nathalie Sarrautes neuartiger Psychologie spezifische und bisher ästhetisch inexistente intersubjektive Reaktionen." (Coenen-Mennemeier,1996,S.54)

Es sind die unvorhersehbaren Reaktionen des Anderen, die jene Innenwelten auslösen, die Sarraute beschreibt. Unter der Oberfläche spielen sich also permanent "Mini-Dramen" ab, die das ganze Spektrum menschlicher Emotionalität umfassen. Sarraute möchte vor allem die Entwicklung dieser kleinsten psychischen Regungen zeigen (vgl. Wilhelm,1969,S.55 f).

Dabei tritt der Dialog und die Beschreibung von Mimik und Gestik anstelle komplexer Handlungsstränge (vgl. Wilhelm,1969,S.57).

Dieses Vor- bzw. Unterbewußte ist geprägt von Angst und Aggressivität, und in der Subkonversation kommen diese Emotionen zum Ausdruck. Wichtig ist hierbei die intersubjektive Beziehung - erst durch den Anderen werden diese unterschwelligen Prozesse ausgelöst (vgl. Coenen-Mennemeier,1996,S.55).

"Diese Grundstruktur vorbewußter intersubjektiver Relationen sieht Sarraute als allgemeinmenschliche Bedingtheit an." (Coenen-Mennemeier,1996,S.55)

Dabei ist die Beziehung zu diesem Anderen durchaus ambivalent: einerseits sehnt sich der Mensch nach vertrautem Kontakt, andererseits fürchtet er sich genau vor diesem Kontakt. Das führt dazu, daß sich Sarrautes Figuren ständig mißtrauisch belauern (vgl. Janvier,1967,S.57 ff u. 65 f). Mimik, Gestik, Sprache - alles dient dem Schutz, dem Rollenspiel vor dem Anderen (vgl. Janvier,1967,S.72).

Die Menschen in Sarrautes Romanen sind Getriebene, ständig auf der Suche nach Kontakt und Anerkennung (vgl. Wellershoff,1988,S.405).

"Doch ihre gesellschaftliche Anpassung versperrt ihren Erregungen den unmittelbaren Ausdruck und verschiebt sie in die Gedankensprache des Infragespräches." (Wellershoff,1988,S.405)

Diese beiden Ebenen, zwischen denen sich Sarrautes Figuren bewegen, kreuzen sich im Dialog (vgl. Wellershoff,1988,S.402).

Allerdings kritisiert Wellershoff trotz aller Anerkennung für Sarrautes Werk, daß ihr Verfahren letztlich zu durchschaubar bleibt und den Leser trotz aller Variationen immer die gleichen Mechanismen erwarten, das wiederkehrende Verhältnis zwischen Dialog und Subgeschehen (vgl. Wellershoff,1988,S.414).

"Der Dialog erscheint als konventionell, trivial, sozial, gebändigt, das Subgeschehen ist emotional und exzessiv." (Wellershoff,1988,S.414)

Für Wellershoff liegt darin eine große Schwäche dieses Konzepts, die auch erklärt, warum sich die Sicht von Sarraute nicht in größerem Maße durchgesetzt hat. Ludovic Janvier hat hierfür eine andere Erklärung:

"Erbarmungslos und peinlich genau legt uns Nathalie Sarraute ein anstößiges Porträt unserer selbst vor." (Janvier,1967,S.76) Und nicht zuletzt deshalb wird ihr Werk so unterschiedlich bewertet.

2.1.2. Claude Simon

Im Gegensatz zu den meisten anderen Nouveaux Romanciers vertrat Claude Simon keine eigene theoretische Romankonzeption. Allerdings hat er sich durchaus mit literaturhistorischen Konzepten und Fragestellungen auseinandergesetzt (vgl. Coenen-Mennemeier,1996,S.90).

Zu Beginn seiner schriftstellerischen Arbeit blieb er mit seinen erzählerischen Dichtungen der traditionellen Romanstruktur treu. Beeinflußt wurde er dabei vor allem in formaler Hinsicht durch die Arbeiten von Proust, Joyce, Faulkner u.a. (vgl. Wilhelm,1972,S.63). Dabei lassen die Werke der Jahre 1952-54 durchaus "das Suchen ihres Verfassers nach einer seinem Wesen kongenialen Romanform erkennen" (vgl. Wilhelm,1972,S.63).

Simons theoretisches Interesse galt eher Überlegungen zum Verhältnis von Kunst, Literatur und Wissenschaft. Für ihn hat ein Maler ebenso wie ein Schriftsteller keine Wahl - beide müssen etwas zum Ausdruck bringen, ein individuelles Bedürfnis stillen (vgl. Wilhelm,1969,S.93 ff).

Die Figuren seiner Romane sind dem Schicksal ausgeliefert, Spielball von nicht kontrollierbaren Kräften. Der Mensch in seiner ohnmächtigen Position, dem Tode geweiht - das ist ein zentrales Thema bei Simon (vgl. Wilhelm,1969,S.87). "Das menschliche Leben ist für Simon demnach letzten Endes nicht mehr als eine Summe zusammenhangloser Absurditäten. [...] Wir sind geboren, um in der Zeitlichkeit zu vergehen." (Wilhelm,1969,S.87 f)

Simons Hinwendung zum Nouveau Roman wird an seinem Werk "Le vent" von 1958 deutlich. Insbesondere der veränderte sprachliche Stil, im Vergleich zu seinen früheren Werken, ist hier von Bedeutung. Es geht nunmehr darum, durch sprachlich-stilistische Besonderheiten die Präsenz und den Sieg des übermächtigen Schicksals über das Individuum zu verdeutlichen (vgl. Wilhelm,1972,S.63 ff). Die von Simon behandelten Themen zeigen eine weitere Differenz zu den anderen Nouveaux Romanciers: "Es sind die bei manchen Nouveaux Romanciers so verpönten >großen< Themen wie Kampf, Liebe, Erotik, die Simon behandelt, jedoch nicht, um ein weiteres Mal ihre Strukturen zu analysieren, sondern um sie in den umfassenden Sog der Auflösung hineinzustellen." (Coenen-Mennemeier,1996,S.91)

Besonders wichtig in Simons Werken ist die Erinnerung. Die Erinnerung dient als Vermittlerin der 'wirklichen' Welt (vgl. Janvier,1967,S.77). Und so sind auch seine Figuren geprägt von Erinnerungen. Der rückwärts gewandte Blick vermischt sich mit der Gegenwart und macht diese so zum Teil erst erleb- und überlebbar, wie beispielsweise in "La route des Flandres". Kurt Wilhelm spricht in diesem Zusammenhang von einem Roman, "in dem das Erzählerische dem Gedächtnis verpflichtet bleibt" ( vgl. Wilhelm,1969,S.113). Dies führt dazu, daß der Roman von fragmentarischen Episoden bestimmt ist, die keiner inhaltlichen und zeitlich chronologischen Reihenfolge unterliegen. Die Erinnerungen der einzelnen Figuren werden oft durch Assoziationen ausgelöst, andere entwickeln sich aus Gesprächen (vgl. Wilhelm,1969,

S.114 ff). Einzelne Wörter genügen, um den jeweiligen Kontextwechsel einzuleiten. Helmut Pfeiffer spricht in diesem Zusammenhang vom Wort als Bedeutungsknoten, welcher verschiedene Realitätsbereiche miteinander in Beziehung setzt (vgl. Pfeiffer,1986,S.360).

"Das Wort bildet nicht die Dinge ab, sondern setzt sie in Beziehung; in der literarisch freigesetzten Vieldeutigkeit des Wortes wird die Welt poetisch rekombinierbar." (Pfeiffer,1986,S.360)

Auch in Simons späteren Werken kommt der Sprache eine besondere Bedeutung zu, wie beispielsweise in "Les corps Conducteurs":

"Simons Sprache ist referentiell bezogen, zugleich aber verweist sie auf sich selbst als Schema der Erfahrung." (Stierle,1980,S.175)

2.1.3. Michel Butor

Butor hat sich schon früh mit literaturtheoretischen Fragen im Hinblick auf den Roman befaßt. Er war der Ansicht, daß der traditionelle Roman der veränderten Lebensrealität nicht mehr gerecht werde und war auf der Suche nach neuen Erzähltechniken und Romanformen (vgl. Wilhelm,1972,S.38).

Kurt Wilhelm bezeichnet Butor als einen Schriftsteller, "[...] der es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem Roman eine unserer Zeit und unserer Wirklichkeit adäquate Form zu geben oder zumindest daran mitzuarbeiten, diese Form zu finden." (Wilhelm,1969,S.30)

Seine Romane waren vor ihrer Entstehung alle bis ins Detail geplant und durchdacht - Julius Wilhelm spricht in diesem Zusammenhang von einer "durchgeistigten Romankunst" (vgl. Wilhelm,1972,S.38 f).

Im Gegensatz zu Simon ist Butor der Ansicht, daß der Mensch der chaotischen Wirklichkeit nicht schutzlos ausgeliefert ist, sondern Strategien entwickeln kann, um sich in einer veränderten Welt zurechtzufinden (vgl. Wilhelm,1969,S.32). Dabei umfaßt seine Realitätsvorstellung auch psychische Strukturen und bleibt nicht auf externe Wahrnehmungsreize beschränkt (vgl. Wilhelm,1969,S.33). Eine besondere Rolle kommt dabei dem Traum zu, der häufig eine Schlüsselrolle in Butors Werken einnimmt (vgl. Ringger,1986,S.386 und 392). Es geht Butor nicht darum, Wirklichkeit abzubilden, sondern der Roman ist das Mittel, um die Sichtweise der Menschen über die Realität in Frage zu stellen und aus anderen Perspektiven zu beleuchten (vgl. Ringger,1986,S.387). Besonders wichtig ist dabei die Erkenntnis, daß die Wirklichkeitserfahrung des Menschen oftmals durch sekundäre Informationsquellen geprägt ist. Eine herausragende Rolle nimmt dabei der Bericht ein, den Butor in drei Arten unterteilt: "[...] den Tatsachenbericht, den phantastischen Bericht oder das Märchen und den zwischen diesen beiden stehenden, den Roman." (Wilhelm,1969,S.33 f)

Der Roman kann helfen, sich mit und in der veränderten Realität zurechtzufinden, da der Roman im Gegensatz zum Märchen nicht dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit widerspricht (vgl. Wilhelm,1969,S.34 ff).

Um allerdings der Komplexität der veränderten Wirklichkeit gerecht zu werden und zu einer wirklichen Lebenshilfe zu werden, muß auch der Roman neue Ausdrucksformen finden. Und dabei liegt es am Romanschriftsteller, diese neuen Formen zu entwickeln (vgl. Wilhelm,1969,S.36 f).

"Den gesamten Komplex der Beziehungen zwischen der Romanwirklichkeit und unserer Lebenswirklichkeit bezeichnet nun Butor als Symbolismus." (Wilhelm,1969,S.38) Wichtig ist dabei, daß in jedem Roman diese Beziehungen anders dargestellt werden. So liegt es am Leser, diese Relationen zu entwirren und zu reflektieren - vorausgesetzt, daß der Schriftsteller diese Relationen in seinem Roman verarbeitet hat. Dies soll in einer Weise geschehen, "[...] daß der externe Symbolismus sich in einem internen Symbolismus reflektiert und bestimmte Teile des Werkes in bezug auf das Ganze dieselbe Rolle spielen wie dieses Ganze in bezug auf die Wirklichkeit, in der wir leben." (Wilhelm,1969,S.38) Dabei läßt Butor den Leser aber nicht hilflos allein, sondern er bietet durch eine Reflexion des Romans im Innern eine gewissse Hilfestellung zum Verständnis an (vgl. Wilhelm,1969,S.43). Butor betrachtet dabei diese Reflexion des Romanciers als Beginn einer öffentlichen Reflexion und Kritik. Sein Werk braucht die kritische Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit, um zur Vollendung zu gelangen. Deshalb sucht er eine echte Kommunikation mit dem Leser und ist dankbar für dessen Kritik (vgl. Wilhelm,1969,S.44). Erst im Leser soll das Werk seinen Sinn entfalten (vgl. Wolfzettel,1980,S.242). Dies bedeutet auch, daß ein Werk das Menschliche spiegelt und auf das Leben des Rezipienten durch die Lektüre zurückwirken kann und soll (vgl. Wolfzettel,1980,S.240).

Das Buch kann so zum "Treffpunkt und Werkzeug des Bewußtseins" werden (vgl. Janvier,1967,S.160).

Wenn die Beziehung zur Lebenswirklichkeit so eine bedeutende Rolle spielt, so werden auch die Themen der Romane durch sein Verhältnis zu dieser Realität vorgegeben, sozusagen als Antwort des Bewußtseins auf bestimmte Lebenssituationen (vgl. Wilhelm,1969,S.38).

So ist Butor denn auch der Ansicht, daß Literatur nicht unabhängig von der Lebenswirklichkeit entstehen kann, ja daß ihr sogar die Aufgabe zukommt, der Gesellschaft bestimmte Erkenntnisse bewußt zu machen. Dadurch wird die Literatur in die Lage versetzt, Leben zu verändern - vor allem das des Schriftstellers (vgl. Wilhelm,1969,S.39 ff).

"Man schreibe Romane, so meint also Butor, um seine Existenz zu verändern." (Wilhelm,1969,S.41)

Insbesondere Butors Kindheitserlebnisse und seine Reiseerfahrungen fließen in sein Werk mit ein (vgl. Ringger,1986,S.392).

Die Romane Butors sind thematisch miteinander verknüpft, bauen teilweise sogar aufeinander auf. Dies bedeutet, daß die Helden Butors eine Entwicklung durchlaufen, sozusagen an den Erkenntnisprozessen vorangegangener Erzählungen teilhaben und dieses implizite Wissen auf neue Situationen anwenden können (vgl. Wolfzettel,1980,S.223 f).

Friedrich Wolfzettel spricht in diesem Zusammenhang von einem "Werk der Stufen" (vgl. Wolfzettel,1980,S.241). Und immer ist das Ich der zentrale Ausgangspunkt für die Suche.

"Es geht darum, das Dasein zu zwingen, sich von innen her zu entschlüsseln." (Wolfzettel,1980,S.223)

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die zahlreichen mythischen Bezüge, die sich in Butors Werken finden. Seine Figuren müssen sich in einer "verschlingenden Zeit" und "behexten Räumen" zurechtfinden (vgl. Janvier,1967,S.138). Dabei kann das Buch zur Rettung werden, sowohl für den Autor, als auch für den Leser (vgl. Janvier,1967,S.143 f).

"Schreiben meint demzufolge aufhellen und aufbauen." (Janvier,1967,S.158)

Butors ganzes Werk ist geprägt durch dieses Streben nach Veränderung und Klarheit in einer unüberschaubar gewordenen Lebenswirklichkeit (vgl. Wilhelm,1969,S.45 f).

2.2. ALAIN ROBBE-GRILLET

In der Literaturwissenschaft ist Robbe-Grillet stets ein umstrittener Autor

geblieben, von den einen heftig kritisiert, von anderen hochgelobt und in Frankreich als "Erneuerer des Romans" gefeiert (vgl. Schuh,1986,S.369).

Seine theoretischen Ausführungen sollten keine allgemeinverbindliche Theorie des Romans sein, sondern eher die Suche nach neuen Möglichkeiten artikulieren, sozusagen als Basis für eine öffentliche Diskussion.

Häufig wurden sie jedoch genau in dieser nicht gewünschten Weise interpretiert, was Robbe-Grillet den Vorwurf der Diskrepanz zwischen Werk und Theorie einbrachte (vgl. Schuh,1986,S.373 und Janvier,1967,S.100).

Für Robbe-Grillet war der Nouveau Roman weniger eine Theorie, als vielmehr die Suche nach einer nicht aufzuhaltenden neuen Romanform (vgl. Coenen-Mennemeier,1996,S.14). Er wehrt sich auch gegen die Interpretation, daß er sich besonders um Objektivität in seinen Werken bemüht hat. Ihm geht es gerade um die Darstellung des subjektiven Blicks, der entsprechend befremdlich sein kann (vgl. Coenen-Mennemeier,1996,S.14).

Die Darstellung von Realität ist ihm besonders wichtig, was jedoch nichts mit dem realistischen Roman des 19. Jahrhunderts zu tun hat. Diese Realität aus neuen Blickwinkeln zu erfassen, das ist ein zentraler Punkt bei der Suche nach dem Nouveau Roman (vgl. Coenen-Mennemeier,1996,S.16). Robbe-Grillet fordert eine Sprache, die entlarvt. Dabei kritisiert er besonders die Verwendung der Metapher. "Metaphern suggerieren für Robbe-Grillet implizit eine [...] Einheit oder im Gegenteil eine [...] Feindschaft zwischen Mensch und Welt." (Coenen-Mennemeier,1996,S.12) Hans-Manfred Schuh teilt das Werk Robbe-Grillets in zwei zentrale Phasen ein: die erste Phase endet 1959 mit "Die Niederlage von Reichenfels", die zweite Phase setzt mit dem Erscheinen von der "Blauen Villa in Hongkong" 1965 ein. Die zweite Phase ist, im Verhältnis zum Leser, durch eine gesteigerte Irritation und Orientierungslosigkeit gekennzeichnet. Robbe-Grillet provoziert und irritiert die Leser zunehmend durch die Darstellung von pervertierter Sexualität und besonders gewalttätigen Obsessionen (vgl. Schuh,1986,S.370 f).

2.2.1. Die theoretischen Schriften Robbe-Grillets

Robbe-Grillet war überzeugt, für ein großes Publikum zu schreiben, so daß ihn die Kritik und Mißbilligung seiner Werke doch verletzt hat. In seiner Essay-Sammlung "Argumente für einen neuen Roman" versucht er denn auch, das scheinbar Widersprüchliche in seinen Werken und seinen theoretischen Äußerungen zu erklären. Bereits mit seinen ersten Artikeln in der Wochenzeitschrift "L'Express" erregte er Aufsehen, allerdings in von ihm so nicht erwarteter, negativer Weise. So hatte er geschrieben, daß sich die Formen des Romans entwickeln müßten, wenn sie lebendig bleiben wollten. Die Kritik warf ihm daraufhin Vereinfachung und Unsinnigkeit vor. Robbe-Grillet reagierte auf diese Kritik mit einem längeren Essay, welcher in der "Nouvelle Revue francaise" erschien. Verwundert mußte er jedoch feststellen, daß statt der Beseitigung von Mißverständnissen seine Ansichten jetzt als Schule verstanden wurden und er als Begründer einer "Schule des Blicks" galt, der man auch andere Schriftsteller zuordnete (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.6 f). Dabei wollte Robbe-Grillet keinesfalls eine neue Theorie des Romans mit seinen Texten begründen. Auch weist er den Vorwurf zurück, daß er seine Ansichten über neue Formen des Romans den anderen Romanciers aufzwingen wolle (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.7). Für ihn war die Bezeichnung Nouveau Roman lediglich geeignet, solche Schriftsteller zusammenzufassen, die ähnlich wie er selbst auf der Suche nach neuen Romanformen waren. Es ging ihm um die Darstellung der neuen Beziehungen zwischen Mensch und Welt, die seiner Ansicht nach auch neue formale Strukturen erforderten (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.7 f).

Der Schriftsteller ist für Robbe-Grillet immer eingebunden in seine Zeit, was sich zwangsläufig auch in seinen Werken widerspiegeln muß.

"Der Schriftsteller muß bereit sein, mit Stolz sein eigenes Datum zu tragen, sich der Tatsache bewußt, daß es kein Meisterwerk in der Ewigkeit gibt, sondern nur Werke in der Geschichte, und daß sie nur von Bestand sind, wenn sie die Vergangenheit hinter sich lassen und die Zukunft anzeigen." (Robbe-Grillet,1965,S.9)

Für ihn muß jeder Romancier seine eigene Form finden, wobei die ständige Reflexion besonders wichtig ist. Schreiben ist für Robbe-Grillet eine "geduldige Arbeit", die verlangt, daß jeder Satz wohl überlegt und konstruiert

wird (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.10 f).

Daraus ergibt sich für ihn auch die Konsequenz, daß das Werk eines Schriftstellers natürlich Entwicklungsstufen aufweist, wie sein eigenes Werk dies auch beinhaltet. Vor allem die angebliche Diskrepanz zwischen Theorie

und Praxis versucht er so zu entkräften. Seiner Ansicht nach ist diese Beziehung eher dialektischer Natur, geprägt von Übereinstimmungen und Gegensätzen (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.11).

Er mißt den Werken in diesem Zusammenhang die größere und entscheidendere Rolle bei: "Außerdem liegt auf der Hand, daß die Ideen im Vergleich zu den Werken kurz sind und daß diese durch nichts ersetzt werden können." (Robbe-Grillet,1965,S.12)

Es geht ihm darum, kritische Fragen aufzuwerfen, was für Robbe-Grillet eine zentrale Aufgabe von Kunst und Literatur ist. Der Romancier trägt die Verantwortung bei der Auswahl solcher Fragen. Weniger wichtig ist ihm die Rechtfertigung für die Art der Fragen. Schließlich geht es um Fragen, deren Antworten man zu Beginn des Werkes noch nicht kennt (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.13).

Er sieht keinesfalls eine einheitliche Richtung, in die sich der Roman bewegen wird. Einzig eine Tendenz und "Leidenschaft der Beschreibung" ist für ihn erkennbar, welche eine "realistische Schreibweise von noch unbekannter Art" aufzeigt (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.13 f).

Robbe-Grillet kritisiert vor allem die festgelegte Vorstellung des Genres. Ihn stört, daß die Balzac-Tradition noch immer ihre Gültigkeit hat und daß insbesondere der psychologischen Analyse ein - seiner Ansicht nach - zu großer Stellenwert eingeräumt wird (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.15).

"Seither ist ein guter Roman die Studie einer Leidenschaft - oder des Zusammentreffens mehrerer Leidenschaften oder des Fehlens von Leidenschaften - in einem gegebenen Milieu geblieben." (Robbe-Grillet,1965,S.15)

Er liefert jedoch auch Erklärungsansätze, warum dies noch immer so ist. Das wichtigste Argument ist dabei die Sprache, die sich in den letzten dreihundert Jahren nur sehr wenig gewandelt hat. Und dies, obwohl die Gesellschaft in diesem Zeitraum gravierende Veränderungen durchgemacht hat. Nach Ansicht von Robbe-Grillet kann also die etablierte Romankunst mit ihren alten Formen nur scheitern, da sie noch nicht gelernt hat, die veränderte Lebenswirklichkeit schriftstellerisch angemessen umzusetzen. Ein Indiz dafür findet man daher auch in der Literaturkritik, die ihren "Überdruß an der heutigen Romankunst" nur allzu deutlich aus- und bespricht (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.16).

Da aber offenbar viele der Auffassung sind, daß doch bereits alles gesagt wurde, fallen die Zukunftsprognosen der Kritiker eher düster aus:

"Die Lösung, auf die viele verfallen, ist einfach: diese Änderung sei unmöglich, die Kunst des Romans sei im Aussterben." (Robbe-Grillet,1965,S.16 f) Ein Urteil, dem sich Robbe-Grillet keinesfalls anschließen kann. Er hält die Erneuerung des Romans im Gegensatz dazu durchaus für möglich, kritisiert allerdings die Schwierigkeiten, die seitens der Literaturproduktion die Schriftsteller behindern. Die kollektive Ablehnung den neuen Versuchen gegenüber erklärt sich für Robbe-Grillet durch die Angst vor Veränderung und durch die Angst, etablierte Werte in Frage stellen zu müssen (vgl. Robbe-Grillet,1965,S.17).

[...]

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Dieter Wellershoff und der Nouveau Roman (unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Alain Robbe-Grillet)
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Fakultät für Philologie)
Note
sehr gut (1,3)
Autor
Jahr
1999
Seiten
79
Katalognummer
V28585
ISBN (eBook)
9783638303248
Dateigröße
649 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dieter, Wellershoff, Nouveau, Roman, Berücksichtigung, Werkes, Alain, Robbe-Grillet)
Arbeit zitieren
Sylvia Hauschild (Autor:in), 1999, Dieter Wellershoff und der Nouveau Roman (unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Alain Robbe-Grillet), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28585

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