Suizid und Identitätsraub in Hermann Hesses "Unterm Rad"


Hausarbeit, 2014

18 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hans‘ Werdegang
2.1 Kindheit und Entfremdung
2.2 Einflüsse der Maulbronner Klosterschule
2.3 Die Heimkehr und Tod

3. Hermann Heilner und Schuster Flaig

4. Fazit

5. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

In Hermann Hesses Roman „Unterm Rad“, der 1903/04 in Gaienhofen am unteren Bodensee, in größeren Teilen auch in Calw geschrieben, 1904 in der „neuen Züricher Zeitung“ und im „Kunstwort“ vorgedruckt wurde und erstmals 1906 bei S. Fischer als Buch erschien, heißt es zu Beginn des vierten Kapitels:

„Erfahrungsgemäß pflegen sich aus jeder Seminaristenpromotion einer oder mehrere Kameraden im Laufe der vier Klosterjahre zu verlieren. Zuweilen stirbt einer weg und wird mit Gesang beerdigt oder mit Freundesgeleit in seine Heimat überführt. Zuweilen macht sich einer gewaltsam los oder wird besonderer Sünden wegen entfernt. Gelegentlich, doch selten und nur in der älteren Klasse, kommt es etwa auch einmal vor, daß irgendein ratloser Junge aus seinen Jugendnöten einen kurzen, dunklen Ausweg durch einen Schuß oder durch den Sprung in ein Wasser findet.“[1]

Hermann Hesse erzählt die Geschichte von Hans Giebenrath, der am Ausgang des 19. Jahrhunderts, „als in Stuttgart noch die Pferdebahn fuhr“[2], eben diesen Sprung ins Wasser findet und dabei umkommt.

Aus dem Romanende geht die Frage hervor, ob der Tod nun ein tragischer Unfall im noch kurzen Leben eines strebsamen Knaben war, oder ob Hans, „unverstandene[s] Kind als Opfer falscher Erziehung von Schule und Elternhaus“[3] sinnbildlich zur „Anklage gegen die Bedrückung der Jugend in einem inhumanen Erziehungssystem“[4] der wilhelminischen Ära avanciert. Ein Erziehungssystem mit „reaktionäre Pädagogik“[5], die eine Individualisierung junger Zöglinge zu Gunsten der Gesellschaft unterbindet und diese stattdessen nicht nur erzieht, sondern vielmehr nach eigenem Ermessen formt. Wurde Hans Giebenrath durch dieses Systemgeflecht so intensiv geprägt und in die Ecke gedrängt, dass ihm, seiner Ansicht nach, keine andere Wahl als der Selbstmord blieb?

Diesen Fragen geht die folgende Hausarbeit nach und untersucht dabei drei, für Hans prägende Abschnitte seines Lebens: Seine Kindheit und deren Entfremdung, den Aufenthalt und die Einflüsse im Maulbronner Seminar sowie schließlich seine Rückkehr in die Heimat. Anhand dieser drei Szenerien und ihren spezifischen Personenkonstellation soll der Untergang von Hans als Objekt der Gesellschaft festgemacht werden.

Darüber hinaus soll der Versuch unternommen werden, Hans Seminarfreund Hermann Heilner sowie den Schuster Flaig, als zwei, dem System entgegenstehende Personen zu charakterisieren.

2. Hans‘ Werdegang

2.1 Kindheit und Entfremdung

Hans wohnt zusammen mit seinem Vater Josef Giebenrath in einer unbedeutenden Kleinstadt im Schwarzwald. Bevor man jedoch auf den Protagonisten eingeht, muss man seinen Vater in Augenschein nehmen, da dieser als „Figur des Durchschnittsbürgers“[6] stereotypisch für die Gesellschaft charakterisiert ist und man dadurch den beispielhaften Vergleich zu seinem Sohn ziehen kann.

So liefert bereits die Eingangspassage des Romans eine „ausgiebige Darstellung des philiströsen Vaters“[7], „Zwischenhändler und Agent“[8], der durch seine banale und durchschnittliche Anständigkeit beschlägt. Er zeichne sich „durch keinerlei Vorzüge oder Eigenheiten vor seinen Mitbürgern aus“[9] und hätte „mit jedem beliebigen Nachbarn Name und Wohnung vertauschen können, ohne daß irgend etwas anders geworden wäre“[10]. Auch seine intellektuellen Fähigkeiten werden vom Erzähler als begrenzt gedeutet, denn über mehr als eine „angeborene, streng abgegrenzte Schlauheit und Rechenkunst“[11] gehen sie nicht hinaus. Mit diesen Eindrücken über Vater Giebenrath wird das private, dörfliche Herkunftsmilieu beschrieben, in dem sich der jugendliche Protagonist befangen ist.

Hans sticht aus dieser kleinstädtischen Umwelt heraus und wird als „begabtes Kind“ bezeichnet, das „wie fein und abgesondert“[12] zwischen „den andern herumlief“[13]. Bereits auf den ersten Seiten des Romans wird so deutlich, dass Hans anders ist, eine Kontrastfigur dargestellt. Er wird geradezu als Ausnahmeerscheinung in dem „kleine[n] Schwarzwaldnest“[14] beschrieben, über dessen Talent und Begabung es „keinen Zweifel“[15] gäbe. Seine väterliche Beziehung ist vor allem geprägt von der Erwartung schulischer Leistungserfüllung und „eines Prestigegewinns zur Steigerung des familiären Ansehens.“[16]

Neben den täglichen Schulstunden verbringt Hans in seiner Freizeit zusätzliche Unterrichtsstunden beim Stadtpfarrer, bei dem er, über das normale Lernpensum eines Jungen seines Alters hinaus, Vers um Vers liest und immer neue Vokabeln wissbegierig in sich aufsaugt.[17]

Verführt von dieser Umwelt, als Kind zu „weich und unselbständig“[18], um der Umgebung auch einmal ein Nein entgegenzusetzen, wird der fleißige Knabe aus dem schwäbischen Kleinbürgertum zu einem von allen Seiten geförderten Musterschüler abgerichtet. Im Kampf mit den täglichen Anforderungen ist er auf sich selbst angewiesen und da ihm diese positivistischen Ideale in einem Alter aufgenötigt wurden, in dem er „noch zu jung war, an ihnen zu zweifeln und Widerstand zu entwickeln“[19], ist ihm der vereinsamte Weg der wilhelminischen Gesellschaft bereits geebnet worden.

In einem so wichtigen Lebensabschnitt eines jungen Menschen bei der Findung seiner eigenen Identität, führt der starsinnige Lerndruck seines Vaters, seiner Lehrer und des Pfarrers zu Einsamkeit und dem Verlust an festen sozialen Bindungen als Instanz des Ausgleiches in seinem Leben. Hans fühlt sich niemandem so nahe, dass er ihm oder ihr seine Gedanken und Empfindungen anvertrauen könnte. Er pflegt keine Freundschaften zu gleichaltrigen Burschen, noch kann er in einer Phase von adoleszenter Individualisierung Liebe oder Sexualität erfahren, geschweige denn sie reflektieren. Das Experimentieren mit den eigenen Potentialen sowie das Austesten von Grenzen als zentrales Element körperlicher Reifungsprozesse und psychischer Entwicklung wird durch die eiserne Disziplin des Jungen, sein Pensum zu schaffen, vollständig unterdrückt.

Der isolierende und zerstörerische Einfluss all dieser Anstrengungen und Emotionen sind in Hans‘ Familie besonders spürbar, „da ihm keine mildernden Kräfte entgegenwirken“[20]. Das mütterliche Element fehlt. Der Zerfall einer intakten Familie als Erziehungsgemeinschaft trifft Hans bei seiner Entwicklung der Bindungsfähigkeit zu seinen Mitmenschen und seiner „ganzen seelischen Kräfteordnung“[21] bei der Wurzel. Seine verstorbene Mutter hinterlässt in der Entwicklung des Jungen adoleszente Brüche, die aufgrund fehlender fürsorglicher Beziehungen nicht geschlossen werden. Besonders deutlich wird das bei Hans‘ Ankunft im Maulbronner Seminar und der anschließenden Verabschiedung seines Vaters, bei der keinerlei Gefühlsregungen aufkommen und stattdessen nüchterne Peinlichkeit zwischen Vater und Sohn herrscht.[22]

Zunächst entsteht der Eindruck, Hans hätte einzig wegen der Überlastung durch die Schule und durch seine fehlenden sozialen Bindungen „keinen Blick“ mehr für jene Plätze, an denen er als Kind glücklich war, die „kleine gotische Brückenkapelle“, „den Fluß“, die Stellfalle“, Wehr und Mühle“, die „Badewiese“ und schließlich sein ersehntes „Angeln“.[23] Hans ist es aber letztendlich selber, der die Entscheidung über seinen Werdegang akzeptiert und sich von seiner Kindheit verabschiedet, indem er sein lang nicht mehr benutztes Spielzeug im Garten vernichtet: „Er hob das Rädchen auf, bog daran herum, zerbrach es vollends und warf es über den Zaun“.[24]

Hans fühlt dabei sicherlich Verzweiflung, doch findet er sich schnell mit seiner Entscheidung ab: „Fort mit dem Zeug, das war ja alles schon lang aus und vorbei“.[25] Kurz darauf erfährt der Leser jedoch, dass der Abschluss seiner verkürzten Kindheit nicht spurlos an ihm vorbeigeht. Die „Vernichtung seiner kindlichen Welt“[26] wirkt auf den Protagonisten, als habe „der Knabe das Gefühl, er müsse sich hinwerfen und heulen“[27]. Doch gerade dies tut Hans in diesem Moment nicht. Im Gegenteil, er nimmt bewusst und willens Abschied und zerstört in einem symbolischen Akt „mit den schmächtigen Ärmlein“ eines Zöglings „den Kaninchenstall in hundert Stücke“[28]. Mit der Zerstörung wird gleichzeitig seine Kindheit zerstört und schafft damit Platz für seine neuen Aufgaben in den folgenden Jahren im Zuge des Erwachsenwerdens. Hesse präsentiert hiermit einen frühreifen Jüngling, dem durch räumliche und zeitliche Abgrenzung zum Geschehen rund um das Lernen „eine eigene soziale Welt geschaffen“[29] wird, in der das ‚normale‘ Aufwachsen eines Menschen nicht gewährt werden kann.

2.2 Einflüsse der Maulbronner Klosterschule

Nach dem hervorragend bestandenen Stuttgarter Landexamen, in dem sich Hans zur Freude seines Vaters und seiner Bezugspersonen des Heimatdorfes gegen gleichaltrige Schüler durchsetzt, kommt er in die elitäre Klosterschule Maulbronn. Kurz darauf, in der Mitte der Geschichte, ihrem Wendepunkt, bei dem der Direktor des Seminars mit Hans eine Unterredung führt, erscheinen die auf den Titel Bezug nehmenden Worte: „Nur nicht matt werden, sonst kommt man unsers Rad“[30].“ Eine symbolische Redensart, die ungezählte Bürgerväter ihren Söhnen mit auf den Weg gaben“[31]. Komm nicht unter die Räder! Eigne dir die in der deutschen Kaiserzeit wichtigen „Sekundartugenden (Fleiss, Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit)“[32] und möglichst viel Wissen an. Versage nicht „im Formungsprozeß des wilhelminischen Deutschlands, sonst stehst du vor einem Abgrund“[33]. Hinter dieser Auffassung von Bildung und Schule stehen die im Roman dargestellten Lehrer. Dementsprechend tragen sie und ihr leitgebendes Schulsystem einen großen Teil dazu bei, dass Hans sich im Laufe seiner Schulzeit in Maulbronn keine eigene Identität zulegen kann.

[...]


[1] Hesse, Hermann: Unterm Rad. In: Ders.: Gesammelte Werke. S.83.

[2] Gansel, Carsten: Hermann Hesses Unterm Rad als Adoleszenzroman – Plädoyer für eine andere Lesart. In: Odysseus, Robinson und Co. – Vom Klassiker zum Kinder- und Jugendbuch Band 33. S.129.

[3] Ebd. S.128.

[4] Ebd. S.130

[5] Ebd.

[6] Gansel, Carsten: Hermann Hesses Unterm Rad als Adoleszenzroman – Plädoyer für eine andere Lesart. In: Odysseus, Robinson und Co. – Vom Klassiker zum Kinder- und Jugendbuch Band 33. S. 96.

[7] Ehlenberger, Jan: Adoleszenz und Suizid in Schulromanen von Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille und Friedrich Torberg. In: Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft Band 28. Hg.v. Walter Gebhard, János Riesz, Richard Taylor. S.110.

[8] Hesse, Hermann: Unterm Rad. In: Ders.: Gesammelte Werke. S.7.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] Ebd. S.9.

[13] Hesse, Hermann: Unterm Rad. In: Ders.: Gesammelte Werke. S.9.

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Ehlenberger, Jan: Adoleszenz und Suizid in Schulromanen von Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille und Friedrich Torberg. In: Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft Band 28. S.111.

[17] Hesse, Hermann: Unterm Rad. In: Ders.: Gesammelte Werke. S.44.

[18] Gansel, Carsten: Hermann Hesses Unterm Rad als Adoleszenzroman – Plädoyer für eine andere Lesart. In: Odysseus, Robinson und Co. – Vom Klassiker zum Kinder- und Jugendbuch Band 33. S.131.

[19] Möhrmann, Renate: Motivation und Erscheinungsbild der Frühformen jugendlicher Vereinsamung (Hermann Hesse: Unterm Rad. Emil Strauß: Freund Hein. Thomas Mann: Buddenbrooks. Robert Musil: Törleß.) In: Der vereinsamte Mensch – Studien zum Wandel des Einsamkeitsmotiv im Roman von Raabe bis Musil. S.70.

[20] Möhrmann, Renate: Motivation und Erscheinungsbild der Frühformen jugendlicher Vereinsamung (Hermann Hesse: Unterm Rad. Emil Strauß: Freund Hein. Thomas Mann: Buddenbrooks. Robert Musil: Törleß.) In: Der vereinsamte Mensch – Studien zum Wandel des Einsamkeitsmotiv im Roman von Raabe bis Musil. S.70.

[21] Lichtenstein, Ernst: Erziehung Autorität Verantwortung – Reflexionen zu einer pädagogischen Ethik. Ratingen. S.17.

[22] Vgl. Hesse, Hermann: Unterm Rad. In: Ders.: Gesammelte Werke. S.54-56.

[23] Vgl. Ebd. S.12.

[24] Ebd. S.15.

[25] Ebd.

[26] Gansel, Carsten: Hermann Hesses Unterm Rad als Adoleszenzroman – Plädoyer für eine andere Lesart. In: Odysseus, Robinson und Co. – Vom Klassiker zum Kinder- und Jugendbuch Band 33. S.99.

[27] Hesse, Hermann: Unterm Rad. In: Ders.: Gesammelte Werke. S.16.

[28] Hesse, Hermann: Unterm Rad. In: Ders.: Gesammelte Werke. S.16.

[29] Gansel, Carsten: Hermann Hesses Unterm Rad als Adoleszenzroman – Plädoyer für eine andere Lesart. In: Odysseus, Robinson und Co. – Vom Klassiker zum Kinder- und Jugendbuch Band 33. S.103.

[30] Hesse, Hermann: Unterm Rad. In: Ders.: Gesammelte Werke. S.93.

[31] Esselborn-Krumbiegel, Helga: Demian/ Unterm Rad. 2., überarb. Und korrigierte Aufl. in der neuen Rechtschreibung. In: Oldenbourg Interpretationen. S.129.

[32] Grunder, Hans-Ulrich: Lehrkräfte und Schule in der Literatur und in der Pädagogik. In: Der Kerl ist verrückt! – Das Bild des Lehrers und der Lehrerin in der Literatur und in der Pädagogik. S.17.

[33] Gansel, Carsten: Hermann Hesses Unterm Rad als Adoleszenzroman – Plädoyer für eine andere Lesart. In: Odysseus, Robinson und Co. – Vom Klassiker zum Kinder- und Jugendbuch Band 33. S.129.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Suizid und Identitätsraub in Hermann Hesses "Unterm Rad"
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
18
Katalognummer
V285425
ISBN (eBook)
9783668391000
ISBN (Buch)
9783668391017
Dateigröße
537 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hermann Hesse, Unterm Rad, Suizid, Flaig
Arbeit zitieren
Thomas Aengeneyndt (Autor:in), 2014, Suizid und Identitätsraub in Hermann Hesses "Unterm Rad", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/285425

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