Funktion und Arrangement von Musik im Theater Christoph Marthalers: "Die Schöne Müllerin" und "Riesenbutzbach"


Magisterarbeit, 2012

87 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Hinführung

I. Im Anfang war das Ohr, oder: Was ist und was kann Musik im Theater?
1.1 Klärung und Eingrenzung des Gegenstandes
1.2 Auflösung der Gattungsgrenzen zwischen Sprech- und Musiktheater
1.3 Systematik und Funktion der „akustischen Schicht“ im Zeichensystem Theater

II. Musik und Gesang bei Christoph Marthaler
2.1 Chorgesang: Konsonanz und kollektive Erinnerung
2.2 Sologesang und Stimme
2.3 Arrangement und musikalische Konfiguration
2.3.1 Instrumental - Vokal - Grenzbereiche
2.3.2 Szenisch - nicht szenisch
2.3.3 Zerfallserscheinungen
2.4 Rhythmisierung und musikalische Grundstruktur der Inszenierung
(Musikalisierung)
2.5 Zwischenergebnis und Überleitung

III. Zwei Inszenierungsanalysen
3.1 Zwischen Kulturkampf und Finanzkrise: Riesenbutzbach
3.1.1 Das Projekt
3.1.2 Verständigung zwischen Gesang und Geräusch
3.1.3 Klingender Kindergeburtstag
3.1.4 „ Clash of Cultures “
3.1.5 Heute und Gestern
3.1.6 Alte und neue Welt
3.1.7 Staying alive?
3.1.8 Staying alive!
3.1.9 Resümee
3.1 Wenn Musik der Liebe Nahrung ist...: Die Schöne Müllerin
3.2.1 Das Projekt
3.2.2 Annäherungsversuche, oder: Das Problem mit der Kommunikation
3.2.3 Ausflüge
3.2.4 Dissonanzen
3.2.5 Pause
3.2.6 Dissonanzen II
3.2.7 Harmonie?
3.2.8 Ernüchterung
3.2.9 Trost
3.2.10 Resümee

IV. Pankower Kneipenlieder, oder: die Macht der Musik - ein Fazit

Quellenverzeichnis

Hinführung

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll das Verhältnis zweier Kunstformen untersucht werden, deren Wege sich von Beginn ihrer Entwicklung an teils annäherten, teils weiter voneinander entfernten, sich aber vor allem immer wieder in fruchtbarer Weise kreuzten: Musik und Theater verbindet eine lange währende und unverbrüchliche Beziehung. Aus ihrem Zusammentreffen kann etwas Neues entstehen, das bisweilen sogar die Grenzen beider Künste zu sprengen und neu zu definieren in der Lage ist.

Ein eindrucksvoller Beweis hierfür ist das Theater Christoph Marthalers. An seinem Beispiel soll aufgezeigt werden, welche Potenziale der Einsatz von Formen musikalischer Artikulation für das Theater bereit hält. Dabei reicht die Bandbreite der Untersuchungsgegenstände von Chor-Gesang, und solistischem Singen, über Instrumentalvortrag, sowie Grenzbereiche zwischen Sprache, Gesang und Geräusch, bis hin zur Übertragung musikalischer Strukturen auf szenische Abläufe.

Hierzu soll zuvor ein systematisierender und zugleich problematisierender Überblick über die spezifischen Gegebenheiten musikalischer, beziehungsweise allgemein akustischer Ereignisse im Zeichensystem Theater gegeben, sowie die bestehenden Gattungsgrenzen zwischen Sprech- und Musiktheater hinterfragt werden.

Am Ende seien die gewonnen Erkenntnisse anhand zweier Theaterarbeiten Christoph Marthalers, bei denen jeweils Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten im Funktionsspektrum musikalischer Artikulationsformen festzustellen sein werden, überprüft und erweitert.

I. Im Anfang war das Ohr, oder: Was ist und was kann Musik im Theater?

„Die Tonsprache ist Anfang und Ende der Wortsprache, wie das Gefühl Anfang und Ende des Verstandes, der Mythos Anfang und Ende der Geschichte, die Lyrik Anfang und Ende der Dichtkunst ist.“ (Richard Wagner, Oper und Drama)1

1.1 Klärung und Eingrenzung des Gegenstandes

Für eine Annäherung an den Themenkomplex „Musik im Theater“ scheint jene Systematisierung hilfreich, die die Autoren des Artikels „Musik“ im Metzler Lexikon Theatertheorie vorgenommen haben. Der Artikel2 unterscheidet vier mögliche Dimensionen einer Bezugnahme von Musik und Theater: 1) Musik und Theater, im Sinne des Begriffs „Musiktheater“3, zunächst als Sammelbegriff für Formen wie Oper, Operette, Musical, Singspiel und ähnliches. Ebenso wird jedoch auf den Gebrauch des Begriffs durch Komponisten der musikalischen Moderne hingewiesen, die damit eine Abgrenzung der eigenen Werke gegenüber der konventionellen Oper vor allem des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts erreichen wollen. Weiterhin wird die Verwendung des Begriffs „Musiktheater“ für Inszenierungen von Werken des musikalischen Repertoires angeführt, die sich bewusst von konventionellen, älteren Aufführungs- traditionen absetzen und so der theatralen Seite der Aufführung gegenüber der musikalischen zu künstlerischer Eigenständigkeit verhelfen wollen. „Musiktheater“ in diesem Sinne kann also analog zum Begriff „Regietheater“ verstanden werden. Zuletzt, und dieser Aspekt ist für den Gegenstand der vorliegenden Arbeit von besonderer Wichtigkeit, verweisen die Autoren im Umfeld des Begriffs „Musiktheater“ auf Hybridformen im Theater der jüngsten Vergangenheit, in denen der Einsatz von Musik eine entscheidende Rolle spielt, die „sich dabei aber weder um Gattungsgrenzen scheren, noch etwa an Partiturzusammenhänge oder Ähnliches gebunden fühlen“.4

Als zweite Beziehungsdimension nennt der Artikel Musik im Theater, im Sinne von Schauspielmusik.5 Hier wird unterschieden zwischen Rahmenmusik, die keinen Bezug zur Handlung des Bühnengeschehens aufweisen muss und so genannter Inzidenzmusik, die als Teil der fiktionalen Realität der Bühne rezipierbar ist (etwa Trinklieder, Märsche etc.) und in dieser aufgeht. Hinzu kommt außerdem eine dritte Variante, die weder Rahmenmusik, noch Teil der szenischen Fiktion ist, sondern der „Erzeugung einer Atmosphäre“ dienen und auch „erzählerische Funktionen übernehmen“ kann. Diese Form der „Schauspielmusik“6 ist es freilich auch, die aufgrund ihres inflationären Einsatz im Theater seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von manchen als „Soundtrack“ abqualifiziert wurde, als welcher sie nur Hintergrundfunktion jenseits ihres eigentlichen Potenzials erfülle.7 Mit Blick auf die bereits unter Punkt 1 genannten Hybridformen und die damit verbundenen Tendenzen zur Entgrenzung der Gattungen im Gegenwartstheater ist im Bereich „Schauspielmusik“ zuletzt darauf hinzuweisen, dass oftmals fraglich ist, ob ein theatrales Ereignis überhaupt der Gattung Musik- oder Sprechtheater zuzuordnen ist, und ob demnach die in ihm enthaltene Musik überhaupt als „Schauspielmusik“ klassifizierbar ist.8 Dieses Problem wird weiter unten noch einmal eingehender zu behandeln sein.9

Doch zunächst sei die Systematik des Lexikonartikels weiter referiert. Als dritte Dimension der Bezugnahme von Musik und Theater findet man dort Theater als Musik, also Musikalisierung des Theaters.10 Robert Wilson, Einar

Schleef und Christoph Marthaler sind die hier zu nennenden Regisseure, die diese Entwicklung seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute entscheidend vorangetrieben haben. Es handelt sich dabei um Formen, in denen „statt Handlung und Psychologie […] vornehmlich Rhythmus und motivische Arbeit - mit musikalischen wie außermusikalischen Elementen - die Dramaturgie der Aufführung“ bestimmen.11 Die maßgebliche und, soweit ich sehe, bislang einzige Studie zu diesem Thema hat David Roesner vorgelegt.12 Roesner spricht darin von theatralen Ereignissen mit musikalischen Begriffen wie Ton, Motiv, Melodie und Thema und analysiert unter anderem das Theater Marthalers unter musikalischen Aspekten wie eine Partitur.13

Die vierte und letzte Beziehungsdimension ist schließlich - in Umkehrung der zuvor genannten - Musik als Theater, also Theatralisierung von Musik. Hierunter fallen Tendenzen zu einer Erweiterung des musikalischen Materials in der neuen Musik, etwa durch Präparieren von Musikinstrumenten oder Einbeziehung alltäglicher Geräusche. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Komponisten wie John Cage oder Mauricio Kagel, aber auch zeitgenössische Arbeiten aus dem Gebiet der Klanginstallationen fallen in diesen Bereich.

Von diesen vier möglichen Dimensionen einer Durchdringung von Theater und Musik ist die erste (Musiktheater) für den Gegenstand dieser Arbeit nur insoweit von Bedeutung, als sie sich auf die genannten Hybridformen und die Gattungstrennung zwischen Sprech- und Musiktheater bezieht. Der zuletzt genannte Punkt 4 kann dagegen ganz außer Acht gelassen werden. Punkt 3, die Musikalisierung des Theaters, muss in einer Untersuchung, die die Arbeit Christoph Marthalers zum Gegenstand hat, zumindest Erwähnung finden, da er einer der Grundpfeiler dieser Entwicklung im gegenwärtigen Theater ist. Jedoch soll dieser Bereich nur im Überblick besprochen und daraufhin untersucht

werden, inwieweit die Musikalisierung Impulse für ein Verständnis des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes geben kann. Der Focus der vorliegenden Arbeit soll auf der Bezugnahme nach Punkt 2 liegen, also dem Einsatz von Musik im Theater, dies jedoch nicht im Sinne des oben erwähnten „Soundtracks“, der nur als Grundierung dient und eigentlich Hintergrundsfunktion erfüllt. Und auch der Begriff „Schauspielmusik“ im Allgemeinen, der ein Verhältnis zwischen Theater und Musik evoziert, das, bildlich gesprochen, eher dem eines Hauptgerichts zur Beilage entspricht, soll hier weitgehend vermieden werden.

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu untersuchen ist also der bewusste und funktionale Einsatz von Musik - auch und vor allem autonomer Musik - im Theater, speziell in demjenigen Christoph Marthalers, das heißt von Gesangs- und Instrumentalstücken, die von den Schauspielern selbst auf der Bühne vorgetragen werden. Als Grundlegung dieser Untersuchung soll nun zunächst die Frage nach dem Sinn einer Gattungstrennung zwischen Sprech- und Musiktheater gestellt werden.

1.2 Auflösung der Gattungsgrenzen zwischen Sprech- und Musiktheater

Eine solche Trennung war keineswegs immer so klar und selbstverständlich, wie die heutige Existenz reiner Schauspiel- und Opernhäuser mit ihrem jeweiligen Stammpublikum - aus dem so mancher wohl nur unter Zwang seinen Fuß in das jeweils andere Institut setzen würde - vermuten lässt. Der Ursprung des europäischen Theaters liegt im kultischen Ritual, in dem Musik, Tanz und szenische Darstellung zu einer Einheit verschmolzen, welche sich als Kern und Ausgangspunkt der antiken Tragödie weiter fortsetzte.14 Und auch für größeren historische Zusammenhänge kann konstatiert werden: „Das reine Sprech- und das reine Musiktheater treten theatergeschichtlich aufs Ganze gesehen nur selten auf.“15 Die polare Konstellation der theatralen Gattungen existiert in dieser Weise erst seit dem 19. Jahrhundert, wo die Formen der „Oper […] und der Literaturdramatik des Bildungstheaters sich sozusagen berührungslos als ästhetische Größe idealisieren.“16 Richard Wagners Musikdrama, dessen eigentliches Anliegen es war, Sprache und Musik, Theater und Oper im Gesamtkunstwerk zu vereinen, vertiefte schließlich diese Kluft noch, anstatt sie zu schließen17 und zementierte sie zumindest in den Köpfen der meisten Theaterbesucher bis heute. Freilich zeigten sich mit den Avantgarden am Anfang des 20. Jahrhunderts schon bald Tendenzen zur Erneuerung des Theaters, in deren Rahmen über die Potenziale der menschlichen Stimme und der akustischen Anteile am theatralen Ereignis allgemein neu nachgedacht und nach einer Vereinigung der Gattungen verlangt wurde.18 Ihre Ausstrahlung auf die weitere Entwicklung der Gattungstrennung blieb aus heutiger Sicht aber vergleichsweise gering.

So konnte es beispielsweise auch dazu kommen, dass Erika Fischer-Lichte noch in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in ihrem Standardwerk „Semiotik des Theaters“ eine Unterscheidung zwischen „dramatischem Theater“ und Oper vornimmt und konstatiert, Musik füge dem theatralischen Code keine neuen Zeichenfunktionen hinzu und stelle somit „kein ihn mit Notwendigkeit konstituierendes Element dar“. Die Gattung Sprechtheater komme daher ohne musikalische Zeichen aus.19 Hanns-Werner Heister versteigt sich in einem Aufsatz aus dem Jahr 1993 gar zu der Aussage, der Einsatz von Musik im zeitgenössischen Theater falle in den Bereich der Unvernunft, durch das Umschlagen von Sprechen in Singen ergebe sich eine „unproduktive Pseudomorphose des Sprech- ans Musiktheater“.20 Als Konsequenz fordert

Heister „ein Sprechtheater ohne Hintergrundsmusik, ein Musiktheater ohne Geräuschkulissen“.21 Abgesehen von einer geradezu grotesk anmutenden Verknüpfung dieser Forderung mit einem - wie auch immer damit in Verbindung stehenden - Ruf nach Begrenzung des „schrankenlosen Verwertungstrieb[s] des Kapitals“ bei Heister22, läuft eine solche Sichtweise dem eigentlichen Potenzial der Kunstform Theater grundlegend zuwider und verkennt es.

Denn wie oben angedeutet, ist die Trennung von Sprech- und Musiktheater - zumal eine so radikal-ideologisch verfochtene - spätestens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts nicht (mehr?) sinnvoll und zu relativieren, beziehungsweise ganz aufzuheben. Die Entwicklungen sowohl des Theaters23, als auch der Musik24 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts legen eine neue Sicht auf die Durchdringung von Musik und Theater und das Überdenken alter Gattungsdefinitionen nahe.25

Als Ausgangspunkt solcher Überlegungen bietet sich nun besonders die menschliche Stimme, sozusagen als Ur-Medium der Tonerzeugung durch den Menschen, an. Ihre Ausdrucksmöglichkeiten reichen weit über die Funktion der bloßen Mitteilung von Informationen hinaus: der artikulierte Sprechakt ist nur ein Teil einer ganzen Palette von Lautäußerungen und akustischen Effekten, die sich mit der Stimme hervorbringen lassen. Und auch im Vorgang des Sprechens selbst gibt es, wie Patrick Primavesi ausführt, einen Variantenreichtum von „Unterbrechung und Schweigen, Verzerrungen der Artikulation, Stottern, beschleunigte[m] oder gedehnte[m] Sprechen“ bis hin zu „Verschiebungen der Tonhöhe und [dem] Oszillieren zwischen Sprechen und Singen“, durch welchen „die Stimme als Musik und zugleich als Geräusch wahrnehmbar“ wird.26 Mit diesen und weiteren Möglichkeiten stimmlicher Artikulation, „die sich einer klassischen Wirkungsästhetik der Stimme weitgehend entziehen, wird im gegenwärtigen Theater (z.B. Schleef und Marthaler) experimentiert.“27 Ausgehend von diesem Aspekt der besonderen Bedeutung der Stimme für das zeitgenössische Theater entwickelt Primavesi in der Folge eine Phänomenologie der Stimme auf der Bühne und erläutert im Zuge seiner Untersuchung auch historische Theoriebildungen zum Thema. Beispielsweise führt er Jean-Jacques Rousseau an, der schon im 18. Jahrhundert die „Durchdringung von Gesang und Sprache auf der Bühne als Vorbedingung einer neuen Kunstform“ fordert, „mit der die Stimme als zeichenhafter und theatraler Prozeß zur Geltung kommen sollte.“28 Auch zeigt Primavesi an einer Szene aus Hamlet, dass die mitteilende Funktion der Stimme im Stück Lüge, ihr Brechen und Verstummen, also das „Nichtsprechen“, dagegen Wahrheit bezeuge.29 In den Schauspiel- und Sprechtheorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dagegen werde das Sprechen im Theater und das Theater insgesamt „dem Prinzip der kommunikativen Mitteilung unterworfen“, wodurch „die ästhetische Qualität der Stimme oder gar Aspekte ihrer Inszenierung“ gar nicht erst in Betracht gekommen seien.30 Erst die oben bereits erwähnten historischen Avantgarden der 20er und 30er Jahre versuchten einen veränderten Umgang mit der Stimme im Sinne der „Darstellung eines körperhaften Restes, der nicht in Sprache aufgeht.“31

Schon am Anfang seiner Untersuchung gelangt Primavesi dabei zu dem noch weiter greifenden und für unsere Fragestellung besonders bedeutsamen Standpunkt, dass das gegenwärtige Theater „nach einer lange währenden Konzentration auf Bildwirkungen in zunehmendem Maße an einer Auslotung und Veränderung des akustischen Raumes“ arbeite.32 Es zeitige außerdem

Tendenzen, „ein der stimmlichen Artikulation immanentes szenisches Potential zu verstärken und auszustellen.“33 Überträgt man diese Erkenntnisse über die Stimme nun auf das Zeichensystem Theater insgesamt und kehrt so zur Ausgangsfrage nach dem Stellenwert der Musik im Theater, beziehungsweise der Trennung der Gattungen zurück, so lässt sich eine oben geforderte Neuordnung der beiden Künste zueinander wie folgt formulieren.

Hierzu sei zunächst folgender chinesischer Ausspruch zitiert: „Wenn ein Mensch Freude empfindet, dann drückt er sie durch Worte aus. Wenn ihm das Wort dazu nicht genügt, dann dehnt [i.e. singt Anm. d. Verf.] er das Wort. Wenn ihm das gedehnte Wort nicht genügt, dann fügt er das Instrumentalorchester hinzu. Wenn das Orchester nicht ausreicht, beginnen unwillkürlich seine Hände zu schwingen und die Füße den Boden zu stampfen.“34 Singen wäre demnach also nur als eine andere, höhere, beziehungsweise höher emotionalisierte Form des Sprechens einzustufen, das sich mit diesem sozusagen auf der gleichen fließenden Stufenfolge der Mittel befindet. Analog hierzu ließe sich nun auch für die akustischen Ereignisse im Theater insgesamt eine solche Stufenfolge, oder vielleicht besser: ein Reservoire unterschiedlicher Erscheinungsformen denken. Darin befinden sich Sprache und Gesang, Musik und Geräusche nicht getrennt, sondern bilden gemeinsam und auf gleicher Ebene eine „akustische Landschaft“35 oder Schicht, die zusammen mit einer zweiten, nämlich der visuellen Schicht, das rezipierbare Theaterereignis ausmacht. Das reine Sprech- oder das reine Musiktheater wären dann nur zwei spezifische, mehr oder weniger extreme Varianten in der Ausprägung ihrer akustischen Schicht.

In diesem Zusammenhang sei noch auf die Filmmusikforschung hingewiesen, der diese Einteilung in Schichten entlehnt ist. Obwohl die Fragestellungen zur Beziehung zwischen visueller und akustischer Schicht im Film großteils andere sind als im Theater, kann die Beschäftigung mit Filmmusik doch manch wertvollen Impuls auch für unser Thema geben. Hierbei lohnt es

sich vor allem, eben die gerade eingeführte akustische oder auditive Schicht im Film näher zu betrachten, zu der „neben der Musik auch Geräusche, die menschliche Rede sowie die Stille“ zählen.36 Musik verweist beim Film, mehr noch als im Theater, immer auf etwas von sich Verschiedenes, meist auf den Bildinhalt, und verschmilzt dabei geradezu mit diesem - oft so rückstandsfrei, dass sie vom Zuschauer gar als Teil des Bildes rezipiert und sozusagen gar nicht gehört wird.37 Dieser Sachverhalt kann - und sollte - für das Theater sicherlich nicht behauptet werden. Und doch lässt sich in diesem Zusammenhang eine Erkenntnis gewinnen, die (auch für die spätere Analyse der Musik bei Marthaler) gewinnbringend sein kann: Jessica Merten weißt darauf hin, dass das Hören aufgrund physiologischer Voraussetzungen des Menschen „dem emotionalen Fühlen (als unbewusster Aneignung der Welt)“ entspricht, „während das Sehen dem Denken […] als bewusster Aneignung der Welt“ gleichkommt.38 Die akustische Schicht kann also, und dies gilt nun ausdrücklich auch für das Theater, Aufgaben wahrnehmen, zu denen die visuelle Schicht nicht oder nur teilweise in der Lage ist.

Ein weiterer für uns interessanter Ansatz aus der Filmmusikforschung ist schließlich die dort gebräuchliche Einteilung in diegetische und nicht-diegetische Musik.39 Ersteres meint Musik, deren Quelle Teil der fiktionalen Realität des Films ist (etwa eine Gruppe von Musikern oder ein Radio), und die also nicht nur vom Zuschauer, sondern auch von den Figuren dieser filmischen Realität rezipiert, oder sogar bewusst selbst hervorgebracht werden kann. Sie kann dabei sowohl aus dem „Off“ als auch im „On“ erklingen.40 Ihr gegenüber steht mit der so genannten nicht-diegetischen diejenige Musik, welche ausschließlich für den Zuschauer zu hören ist, und immer aus dem „Off“ erklingt.41 Sie ist zwar mit der visuellen Schicht verbunden und so ein Konstituens der filmischen Realität, sie kann auch die Handlungen der Figuren begleiten oder gar von diesen ausgelöst werden, wird von den Figuren jedoch nicht wahrgenommen. Letzteres nun kann auch für die meiste Musik in der Oper geltend gemacht werden, wie überhaupt das gesamte Modell von diegetischer und nicht-diegetischer Musik durchaus auf den Einsatz von Musik im Theater übertragbar ist.42 Besonders im Hinblick auf die erwähnten Hybridformen, also auch das Theater Christoph Marthalers, erscheint eine Anwendung dieses Modells und eine Untersuchung der damit verbundenen Fragen sehr lohnend.

Um die Vorgänge in der nun etablierten „akustischen Landschaft“ des Theaters besser verstehen zu können und mit ihr ein brauchbares Analysemodell an der Hand zu haben, soll diese nun als nächstes noch etwas genauer betrachtet und vor allem ihre Potenziale und Auswirkungen im Hinblick auf die kommunikative Interaktion zwischen den Figuren untersucht werden.

1.3 Systematik und Funktion der „akustischen Schicht“ im Zeichensystem

Theater

Für ein tieferes Verständnis der akustischen Schicht und vor allem ihrer musikalischen Anteile sei zunächst noch einmal auf die oben bereits erwähnte „Semiotik des Theaters“ von Fischer-Lichte zurückgegriffen. Bei allen bereits angedeuteten problematischen Aussagen Fischer-Lichtes zur Musik im Theater, beginnt sie ihre Ausführungen doch mit einer Systematisierung des Phänomens, die so einfach wie fundamental ist. Hinsichtlich der Musik als eines theatralischen Zeichens unterscheidet sie: „(1) Musik, die durch die Tätigkeit des Schauspielers A erzeugt wird und (2) Musik, die von Musikern im Orchestergraben bzw. von Musikern oder Technikern off-stage hervorgebracht wird. Die Tätigkeit des Schauspielers, welche Musik erzeugt, kann a) als Singen und b) als Musizieren bestimmt werden.“43 Soweit so grundlegend. Schon im nächsten Satz aber macht Fischer-Lichte eine Setzung, die im Sinne der von ihr aufrechterhaltenen strikten Gattungstrennung sinnvoll sein mag, mit Blick auf unsere vorangehenden Überlegungen jedoch noch einmal überdacht werden muss, ja angezweifelt werden kann:

„Das Singen des Schauspielers denotiert im dramatischen Theater das Singen der Rollenfigur X, im Musiktheater dagegen ein besonderes Sprechen von X. Es übernimmt also hier spezielle Zeichenfunktionen, die im dramatischen Theater von den paralinguistischen Zeichen realisiert werden, und erfüllt sie auf besondere Weise.“44

Einmal abgesehen von der bereits erwähnten zweifelhaften Unterscheidung zwischen „dramatischem Theater“ und „Musiktheater“45, ist die damit vorgenommene Einordnung der Musik in das Gefüge der theatralen Zeichensysteme mit Blick auf die bisher gewonnen Erkenntnisse über eine akustische Schicht, wie gesagt, nicht aufrecht zu erhalten. Denn weiterhin heißt es bei Fischer-Lichte:

„Während in der Oper das Singen zur Definition der Gattung gehört und insofern das Faktum des Singens selbst nicht als bedeutungstragendes Element gelten kann, muss es im dramatischen Theater als solches bewertet werden. Denn hier fungiert das Spezifikum, dass X singt, seinerseits als ein Zeichen, das entweder in Bezug auf die augenblickliche Verfassung von X oder die besondere soziale Situation o.a. interpretiert werden muss. Das Musizieren von A denotiert stets das Musizieren von X. Hinsichtlich dieser Funktion sind die den musikalischen Zeichen beizulegenden Bedeutungen unmittelbar auf die Rollenfigur X bezogen, und zwar vor allem hinsichtlich der Subjektebene.“46

Obgleich der Aussage, Musik und Gesang seien bedeutungserzeugend hinsichtlich der Subjektebene von X47, grundsätzlich zuzustimmen ist, negiert die hier erneut bekräftigte Setzung, im Sprechtheater singe immer auch X, wenn A singt48, doch völlig die oben erdachte Möglichkeit, dass Gesang im Ausdrucksspektrum der akustischen Landschaft schlicht eine gesteigerte, höher emotionalisierte Form der Artikulation sein könnte, deren Umschlagen vom und ins Sprechen eine gesonderte Untersuchung lohnt.

In diesem Zusammenhang sei noch eine weitere problematische Aussage Fischer-Lichtes zitiert, über die es, meines Erachtens, neu nachzudenken gilt. Nachdem sie aus dem weiter oben zitierten chinesischen Ausspruch zur stufenweisen Entwicklung des Singens aus dem Sprechen gefolgert hat, dass die musikalischen Zeichen des Gesangs im Stande seien, „diejenigen Zeichenfunktionen der paralinguistischen Zeichen [zu] übernehmen, die auf den Ausdruck von Stimmung und Emotion der Rollenfigur gerichtet sind“49, fährt Fischer-Lichte fort:

„Die Bedeutungen, welche die musikalischen Zeichen des Gesanges zu erzeugen vermögen, lassen sich nicht unmittelbar auf die Ebene der Intersubjektivität beziehen, sondern nur sehr vermittelt auf dem Wege über die auf der Subjektebene konstituierten Bedeutungen.“50

Und ergänzend dazu ist in einer Fußnote zu lesen:

„Dies ist insofern von großer Bedeutung als daraus folgt, dass alle jene Theaterformen, in denen Musik als dominante Komponente fungiert, kaum Probleme der Interaktion und Kommunikation darzustellen vermögen, es sei denn, sie entwickelten einen spezifischen gestischen Code.“51

Mit dieser Aussage sind wir nun beim Kernthema der vorliegenden Arbeit angekommen, der Funktion von Musik und Gesang im Theater Christoph Marthalers. Denn es wird unter anderem Anliegen des Inszenierungsanalyseteils der Arbeit sein, eben jene gerade zitierte Aussage zum kommunikativen Potenzial von Musik zu widerlegen und gerade dieses als eine der Hauptfunktionen des Musikgebrauchs bei Marthaler auszuweisen: Wo und warum geht das Sprechen der Figuren in Singen über, wo und warum Geräusch in Musik? Solche und weitere Fragen sollen dabei thematisiert werden.

Als Grundlegung hierfür folgt nun der zweite Teil der Arbeit, in dem - auch vor dem Hintergrund der bisher gewonnenen Erkenntnisse - ein Überblick über Formen und Funktionen von Musik und Gesang im Theater Christoph Marthalers gegeben werden wird, bevor anschließend in einem dritten Teil zwei Inszenierungen Marthalers unter diesem Aspekt analysiert werden sollen.

II. Musik und Gesang bei Christoph Marthaler

Christoph Marthalers Theater tauchte in den frühen 1990er Jahren als etwas völlig Singuläres und Neues in der deutschsprachigen Theaterlandschaft auf.52 Es ist bis heute in der Originalität seiner Ästhetik weitgehend einzigartig und hat inzwischen mit einigen Produktionen, wie etwa Murx, Kultstatus erreicht. Dieser besonderen Stellung entsprechend ist viel geschrieben worden über Marthalers Arbeiten - und auch über die (prominente) Rolle der Musik in ihnen. Bei einem Großteil der Autoren herrscht dabei Einigkeit über die generelle Funktion, die der Musik und vor allem dem (Chor-)Gesang bei Marthaler zuzuschreiben sei: die zahlreichen, meist nummernartig eingesetzten Lieder seien Ausdruck eines utopischen Ideals. In den trostlosen, meist im Wortsinn ausweglosen Räumen, die Anna Viebrock für Marthaler baut und in denen seine Figuren oft große Teile der Aufführung mit Warten zubringen, würden die plötzlich auftauchenden Momente gemeinsamen Gesangs die „kollektiven Sehnsüchte nach Harmonie“ zeigen53, seien Orte einer Alternative zu ihrem gegenwärtigen trost- und ausweglosen Zustand. Stefanie Carp hat diese Bedeutung des Singens bei Marthaler mit folgenden Worten beschrieben:

„Das Schlafen und Singen erzählt davon, was die Menschen auch sein könnten. Es kann diesen Gedanken der anderen Möglichkeit erwirken, ohne ihn konkret formulieren zu müssen. In den hoffnungslosen Zuständen und nüchternen Räumen wird doch auf einer nicht konkreten Utopie beharrt. Das Utopische entsteht mit der Musik und im Schlaf, in den Traumzeiten also. Von der Romantik kommt auch dieses Theater nicht los. Die Welt, wie sie ist, ohne eine Energie der Erlösung, ist offenbar nicht vorzeigbar. Die utopische Energie ist die

Musik, ist das Unbewusste, wenn man so will, das Entlastete. Daneben steht das unverschämt hässliche Leben und lacht sich tot.“54

Dies ist sicherlich ein wichtiger Aspekt der Funktion von Musik und Gesang bei Marthaler, der sich auch an vielen Stellen in seinem Werk empirisch belegen lässt. Jedoch sind die vielfältigen Möglichkeiten der akustischen Landschaft des Marthaler-Theaters damit bei weitem nicht abgedeckt.

Susanne Schulz fasst in ihrer Studie zur Identität der Figur bei Marthaler das Potenzial der Musik denn auch weiter und sieht es ganz allgemein im „Aufreißen von Welten jenseits der materiellen Welt des Theaterabends“.55 Entscheidend ist dabei, dass zunächst keine Wertung vorgenommen wird, die in der Musik „aufgerissenen“ Welten also neutral gefasst werden und nicht zwangsläufig utopischen Charakter haben müssen. Hinsichtlich des Gesangs der Figuren, der in unterschiedlichsten Formen, szenischen Kontexten und Zielsetzungen auftreten könne56, findet sich bei Schulz eine weitere wichtige Aussage, wonach die gesangliche Äußerung bei Marthaler „wie in der Oper eine musikalisierte Form des Sprechens“ oder aber „ein Bruch innerhalb des szenischen Verlaufs“ sein könne. „Der Gesang kann aber auch das Singen der Figuren bedeuten, also realistisch motiviert auf Illusion zielend eingesetzt sein.“57 Dies gibt ersten Aufschluss über die weiter oben bereits angedeutete große Bandbreite zwischen Sprechen, „diegetischem“ und „nicht-diegetischem“ Singen und lässt das kommunikative Potenzial musikalischer Artikulation erahnen. Überhaupt hebt Marthalers Theater die oben geschilderte Trennungslinie zwischen Schauspiel- und Musiktheater auf, überschreitet die Grenzen konventioneller Stimmästhetik und öffnet so „den universalen Fundus der menschlichen Stimme vor aller Unterscheidung von Sing- und Sprechlagen.“58

Nachdem also damit bereits Variantenreichtum und Multifunktionalität akustischer Ereignisse bei Marthaler angedeutet sind, soll im Folgenden - auch als Grundlage für die späteren Inszenierungsanalysen - versucht werden, diese in einer Art Phänomenologie des Musikeinsatzes in Marthalers Arbeiten noch differenzierter darzustellen. Dies soll konkret in den vier Teilbereichen „Chorgesang“, „Sologesang und Stimme“, „Arrangement und musikalische Konfiguration“, sowie „Rhythmus und Musikalisierung“ geschehen. Anschließend wird, vorbereitend auf den dritten Teil der Arbeit, ein Zwischenergebnis festzuhalten sein.

2.1 Chor-Gesang: Konsonanz und kollektive Erinnerung

Der Chor bildet die Grundstruktur und den Kern der meisten von Christoph Marthalers Arbeiten, sowohl aufgrund einer oftmals durchgehenden Anwesenheit aller Figuren auf der Bühne, als auch im Sinne gemeinsamen, oft mehrstimmigen und immer technisch perfekten Gesangs im Kollektiv. Die chorische Form prägt so meist „eine gesamte Produktion, und, wenn man weiter blickt, das Gesamtwerk des Regisseurs.“59 Eine so intensive Auseinandersetzung mit dem Chor auf der Bühne zeugt zum einen natürlich grundsätzlich von einem musikalischen Ansatz, beziehungsweise dem Bewusstsein um die erwähnte Auflösung der Gattungsgrenzen im Theater Marthalers und weist es als eine der oben bereits mehrfach erwähnten Hybridformen aus.60 Auf struktureller Ebene hat eine solche „permanente Ensemble-Konfiguration aus simultanen Arrangements von Einzelfiguren und Figuren-Gruppen“61 zur Folge, dass Marthalers Arbeiten meist nicht aus herkömmlichen Konfigurationsfolgen bestehen, sondern durch ständige Verlagerungen des inszenatorischen Fokus mittels szenischer Arrangements geprägt sind.62 Der konkrete gesangliche oder sprachliche „Chor-Auftritt“ im Sinne einer „Nummer“ ist dadurch auch keine abgeschlossene Form, sondern stellt als (kleinerer) Gesangs- oder Sprech-Chor eine „zeitweise Verdichtung“ der Grundstruktur „großer Chor“ dar.63 Hans-Thies Lehmann bezeichnet diese spezielle Art des Chor-Kollektivs aus schweigsam- trostlosen und wartenden Marthaler-Kreaturen, als einen „sozialen Chor“, „der sich zwar aus Einzelstimmen zusammensetzt, aber nicht nur immer wieder im Chorgesang sich vereint, sondern auch schon im Wechsel der Stimmen durchgehend chorische Qualität behält.“64 Die Figuren dieses Chor-Ensembles sind, wie Marthaler selbst sagt, „im Grunde Autisten“, die „gar nichts Gemeinsames machen können.“65 Die technisch perfekte Mehrstimmigkeit ihres Gesangs ist dann umso mehr ein überraschender Effekt:

„Wenn alle weit auseinander sitzen und diese verlorenen und nicht versöhnbaren Autisten plötzlich gemeinsam singen. Das ist eine starke Utopie, besonders wenn sie komplizierte Lieder schön singen können.“66

In der Mehrstimmigkeit von Marthalers Chören entsteht also ganz grundlegend eine Konsonanz der Figuren, sowohl im übertragenen wie im Wortsinne. Diese ist Voraussetzung für kommunikative Interaktion.

Dieser grundsätzlichen Kommunikationsfunktion entsprechend unter- scheidet Susanne Schulz drei Arten des Chorgesangs bei Marthaler.67 Sie verwendet dabei Begriffe, die zunächst keinen musikalischen Bezug haben, sondern aus dem Analyseinstrumentarium dramatischer Rede stammen. So könne der Chorgesang rein monologisch sein, indem alle Figuren „wie aus einem Munde“ und mit der gleichen Blickrichtung singen. Dies kann einerseits freilich Einigkeit bedeuten, aber - im Sinne der Multifunktionalität musikalischer Artikulation - auch „das Hineinzwingen des Einzelnen in eine Gruppenstruktur“.68 Insofern können aus der vermeintlichen Harmonie des

Chorgesangs auch komische Wirkungen entstehen, wenn beispielsweise das Ausscheren des Einzelnen aus der Gruppe ausgestellt wird und so ein Kontrast zur technisch perfekten Konsonanz des Gesangs entsteht.69 Zum zweiten können die Chormitglieder auch bewusst „aneinander vorbei reden“ (sprich: singen), indem sie sich beispielsweise mit unterschiedlichen Blickrichtungen positionieren, wodurch sie verträumt, isoliert und einsam wirken - auch dies in effektvollem Kontrast zum gesanglichen Einklang, durch den die Isolation und also partiell gestörte Kommunikation freilich noch deutlicher hervortritt. Zum dritten kann der Chorgesang dialogisch organisiert sein, indem die Figuren einander zugewandt singen und dabei szenisch ein Gespräch andeuten. Dadurch können sie singend in Kommunikation treten, obgleich sie im Grunde dasselbe singen und Gesang eine an sich monologische Struktur aufweist. Mit Blick auf diese unterschiedlichen Ausprägungen des Chorgesangs kann erneut das hohe kommunikative Potenzial einer musikalischen Artikulationsweise festgestellt werden: „Was die Sprache oft nicht vermag, kann bei Marthaler das Lied: es führt die einsamen, aneinander vorbeiredenden und -agierenden Figuren über die dialogisch-musikalische Struktur zu einer Gemeinschaft zusammen.“70

Darüber hinaus ist es ein weiteres Charakteristikum des Chorgesangs bei Marthaler, dass er streckenweise durch den Kontrast zwischen der Trostlosigkeit der Bühne, sowie der auf ihr agierenden Figuren und der hohen technischen Qualität ihres Live-Gesangs verfremdende Effekte hervorrufen kann.71 Diese können zusätzlich auch dadurch entstehen, dass der Chor etwa durch typisch chorische Aufstellung als Gruppe mit gleicher Blickrichtung und ähnlicher Körperhaltung gewissermaßen aus der szenischen Realität fallen und als Gesangschor sozusagen eine konzertante Situation schaffen kann.72

1 Wagner (1869), S. 204.

2 Risi/ Sollich (2005), S. 209.

3 Vgl. ebd., S. 210ff.

4 Ebd., S. 212.

5 Vgl. ebd., S. 212f.

6 Da dieser Terminus, wie wir weiter unten sehen werden, reichlich problematisch ist, erscheint er hier in Anführungszeichen.

7 Siehe dazu beispielsweise Müller (1979), 5-8.

8 Vgl. dazu auch Risi/ Sollich (2005), S. 213.

9 Siehe unten Kapitel 1.2 ab S. 7.

10 Risi/ Sollich (2005), S. 213.

11 Ebd.

12 Roesner, David: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen 2003.

13 Ebd., S. 89ff.

14 Vgl. Ritter (2001), S. 10.

15 Bayerdörfer (1999), S. 8.

16 Ebd., S. 4.

17 Ritter (2001), S. 11.

18 Vgl. Bayerdörfer (1999), S. 4.

19 Fischer-Lichte (2007), S. 178.

20 Heister (1993), S. 273.

21 Ebd., S. 284.

22 Ebd.

23 Spätestens seit Robert Wilson.

24 Beispielhaft seien hier die oben bereits erwähnten John Cage und Mauricio Kagel, sowie - für die jüngere Vergangenheit bis in die Gegenwart - Heiner Goebbels genannt.

25 Vgl. dazu auch Risi/Sollich (2005), S. 213, sowie Primavesi (1999), S. 145.

26 Ebd., S. 147.

27 Primavesi (1999), S. 147.

28 Ebd., S. 155.

29 Ebd., S. 160.

30 Ebd., S. 162.

31 Ebd., S. 163.

32 Ebd., S. 145.

33 Primavesi (1999), S. 166.

34 Zitiert nach Fischer-Lichte (2007), S. 174.

35 Vgl. dazu Primavesi (1999), S. 168.

36 Merten (2001), S. 30.

37 Vgl. dazu Piel (2008), S. 43.

38 Merten (2001), S. 28.

39 S. zum Folgenden Mücke (2012)a, S. 123f.

40 Vgl. Mücke (2012)b, S. 374.

41 Vgl. ebd.

42 Risi/ Sollich (2005), S. 213.

43 Fischer-Lichte (2007), S. 173.

44 Ebd.

45 Durch welche ja impliziert wird, Musiktheater sei nicht „dramatisch“. Allerdings stellt sich hier dann die Frage, was es stattdessen ist. Postdramatisch? Oder gar praedramatisch?

46 Fischer-Lichte (2007), S. 174f.

47 X und A beziehen sich dabei auf das von Fischer-Lichte durchgehend verwendete Grundmodell der Voraussetzung für Theater: Eine Person A präsentiert eine Rolle X, während eine Person S zusieht. S. Fischer-Lichte (2007), S. 16.

48 Das heißt: bringt auch die Rollenfigur zwangsläufig Inzidenzmusik (siehe oben) als Teil ihrer Realität hervor, wenn der sie verkörpernde Schauspieler auf der Bühne singt.

49 Fischer-Lichte (2007), S. 174.

50 Ebd.

51 Ebd., S. 248, Fußnote 379.

52 Nach einigen Projekten in der Schweiz, dort vor allem am Theater Basel, markierte die Produktion Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! 1993 an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz den Beginn eines Siegeszugs des Marthaler-Theaters im ganzen deutschsprachigen Raum und darüber hinaus.

53 Lehmann (2008), S. 238.

54 Carp (2001), S. 109.

55 Schulz (2002), S. 88.

56 Ebd., S. 85.

57 Ebd.

58 Bayerdörfer (2006), S. 220.

59 Schulz (2002), S. 90.

60 Vgl. dazu auch Primavesi (1999), S. 166.

61 Schulz (2002), S. 78.

62 Ebd., S. 79.

63 Schulz (2002), S. 78.

64 Lehmann (2008), S. 238.

65 Marthaler in einem Interview, zitiert nach Schulz (2002), S. 79.

66 Ebd.

67 Siehe zum Folgenden Schulz (2002), S. 86.

68 Ebd.

69 Vgl. dazu auch Baur (1999), S. 105.

70 Schulz (2002), S. 86.

71 Ebd.

72 Vgl. dazu Baur (1999), S. 105: „Ein Chor, der als Gesangschor auf der Bühne steht, bedarf keiner weiteren Legitimation, sein Status ist klar.“ Siehe dazu auch unten Kapitel 2.3.2 zur Oszillation zwischen szenischem und nicht-szenischem Singen.

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Funktion und Arrangement von Musik im Theater Christoph Marthalers: "Die Schöne Müllerin" und "Riesenbutzbach"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
87
Katalognummer
V285134
ISBN (eBook)
9783656850687
ISBN (Buch)
9783656850694
Dateigröße
2763 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Marthaler, Musiktheater
Arbeit zitieren
Christoph Hetzenecker (Autor:in), 2012, Funktion und Arrangement von Musik im Theater Christoph Marthalers: "Die Schöne Müllerin" und "Riesenbutzbach", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/285134

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