Begründung, Methodik und Wirkung der christlichen Zen-Rezeption


Thesis (M.A.), 2014

110 Pages, Grade: 1,5


Excerpt


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Vorbemerkungen
2.1 Zum Synkretismus-Begriff
2.2 Anmerkungen zum Zen
2.2.1 Kurzer Abriss der Geschichte des Zen-Buddhismus
2.2.2 Inhaltliche Aspekte
2.3 Christliche Anlagen
2.3.1 Aspekte christlicher Mystik
2.3.2 Christliche Meditation

3. „Christliches Zen“
3.1 Buddhistische Wegbereiter
3.1.1 Suzuki Daisetsu Teitaro
3.1.1.1 Zum Zen-Verständnis Suzukis allgemein
3.1.1.2 Zen und christliche Mystik
3.1.2 Yamada Kōun Rōshi
3.1.2.1 Sanbōkyōdan
3.1.2.2 Zen und Christentum
3.2 Pionierleistungen
3.2.1 Heinrich Dumoulin SJ
3.2.1.1 Rechtfertigung der Zen-Meditation für Christen
3.2.1.2 Inhaltliche Angleichungen
3.2.2 Thomas Merton OCSO
3.2.2.1 Kontemplation und Mystik
3.2.2.2 Zen und Christentum
3.2.3 Hugo Makibi Enomiya-Lassalle SJ
3.2.3.1 Zen als Notwendigkeit
3.2.3.2 Zen-Meditation für Christen
3.2.3.3 Zen und christliche Mystik
3.3 Weitere Aspekte christlicher Zen-Rezeption
3.3.1 Christliche Sanbōkyōdan-Meister
3.3.1.1 Johannes Kopp SAC
3.3.1.2 Willigis Jäger OSB
3.3.1.3 AMA Samy SJ
3.3.2 Christliche k ō an
3.3.3 Zen-christliche Befreiungstheologie
3.4 Fazit

4. Reaktionen, Bewertungen und Folgen der christlichen Zen-Rezeption
4.1 Amtskirchliche Stellungnahmen
4.2 Christlich-theologische Bewertungen
4.3 Buddhistische Reaktionen
4.4 Interreligiöser Dialog
4.5 Zen-Meditation in katholischen Klöstern

5. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„ Im Zen kommt die Seele Gott bis an die Grenze ihrer M ö glichkeit entgegen. “ 1

Hugo Makibi Enomiya-Lassalle SJ (1898-1990)

Das 20. Jahrhundert steht wohl, angesichts von Globalisierung und Migration, wie kein anderes vor ihm im Zeichen der Begegnung der Religionen. Gerade der Buddhismus, der seit dem 19. Jahrhundert besonders in gelehrten Kreisen als echte Alternative zum Christentum angesehen wurde, stellte dieses vor große Herausforderungen. Denn mit der zunehmenden westlichen Säkularisierung und dem damit „korrespondierende[n] Interesse an einer erneuerten Spiritualität“2 sowie der wachsenden Bekanntschaft mit nicht-christlichen Meditationsmethoden wuchs im 20. Jahrhundert das Interesse an östlicher Meditation immens. Hierbei spielte der Zen-Buddhismus eine wichtige Rolle, kam es im Westen doch insbesondere in den 1970er Jahren zu einem regelrechten „Zen-Boom“, sodass Zen seither „eine unübersehbare Größe in der modernen Spiritualität des Westens“3 darstellt.

Ob die folgende Einschätzung des britischen Geschichtsphilosophen und Kulturhistorikers Arnold Toynbee (1889-1975) überzogen ist, sei dahingestellt - jedenfalls zeigt sie, welche Bedeutung der Begegnung von Christentum und Buddhismus beigemessen werden kann:

Sollte in tausend Jahren ein Historiker die Geschichte unserer Tage schreiben, wird er sich weniger mit dem Vietnamkrieg, dem Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus oder dem Rassismus befassen als vielmehr mit dem, was sich ereignete, als Christentum und Buddhismus einander tief zu beeinflussen begannen.4

Dieser Einfluss wird besonders daran deutlich, dass sich eine Vielzahl von Christen dem Zen- Buddhismus zuwandten und seine Meditationsmethoden übernahmen, dabei ihre christliche Identität jedoch nicht in Frage stellten. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff „christliches Zen“ geprägt, den wohl erstmals der irische Jesuit William Johnston (geb. 1925) in seinem 1970 erschienenen Buch „Christian Zen - A Way of Meditation“ (dt. „Zen - ein Weg für Christen“) verwendete.5 Seither wurden zahlreiche Bücher publiziert, die sich mit dem Nutzen und der Vereinbarkeit des Zen (-Buddhismus) mit dem Christentum befassen; zudem wurde Zen als Meditationsmethode in katholische Klöster integriert.

Die vorliegende Arbeit möchte dieses Phänomen der christlichen Zen-Rezeption näher untersuchen und dessen Begründung, Methodik und Wirkung herausarbeiten. Es sollen also die Voraussetzungen der Rezeption dargestellt, sowie die Fragen beantwortet werden, wer, wann, wie und warum rezipierte und was die Folgen dieser Rezeption sind bzw. waren. Ferner wird zu klären sein, ob sich das „christliche Zen“ als synkretistisches Phänomen bezeichnen lässt und ob dieses überhaupt noch „christlich“ ist bzw. dem eigentlichen Zen (-Buddhismus) gerecht wird. Handelt es sich hierbei also um Synkretismus, Inklusivismus (bis hin zu „Diebstahl“) oder lediglich um eine Rückbesinnung bzw. Vertiefung der eigenen, christlichen Tradition? Hierfür soll zunächst eine Bestimmung des Synkretismus-Begriffs erfolgen, um die dahingehende Fragestellung präzisieren zu können. Eng damit verbunden ist auch die Frage, ob „Zen“ vom „Buddhismus“ ablösbar ist, weshalb danach kurz auf die Geschichte des Zen- Buddhismus eingegangen wird. Sodann sollen inhaltliche Aspekte des Zen sowie der christlichen Mystik und Meditation dargestellt werden, da diese gemeinhin als Anknüpfungspunkte und als Rechtfertigung der Zen-Meditation für Christen dienen.

Was die „Vertreter“ des „christlichen Zen“ angeht, die im Anschluss daran vorgestellt werden, so ist festzuhalten, dass angesichts des immensen (literarischen) Œuvres der hier behandelten Personen nur einige deren wichtigster und für diese Arbeit relevanter Thesen Erwähnung finden können. Bei der Auswahl der Vertreter handelt es sich natürlich um eine stark selektive; ein Anspruch auf Vollständigkeit kann ob der zahlreichen Publikationen zu diesem Thema nicht erhoben werden. Dennoch soll versucht werden, diejenigen Rezipienten vorzustellen, die gemeinhin als die wichtigsten gelten und welche versuchten, Zen in das Christentum zu integrieren. So kann beispielweise Karlfried Graf Dürckheim (1896-1988), den Manfred Bergler als „Meister des ‚christlichen Zen‘“6 bezeichnet, keine Erwähnung finden, war sein Interesse doch vornehmlich psychotherapeutischer Natur. Auch Alan Watts (1915-1973), der einen immensen Einfluss auf die US-amerikanische „Beat-Generation“ ausübte und dies nachhaltig inspirierte,7 wird außen vorgelassen, genauso wie der bereits erwähnte William Johnston, der zwar den Begriff „christliches Zen“ prägte, sich inhaltlich jedoch nicht nennenswert von Hugo Makibi Enomiya-Lassalle, der großen Gestalt der frühen Rezeption, unterscheidet.8 Ferner soll der Schwerpunkt der Arbeit auf der christlichen Zen- Rezeption liegen, weshalb die buddhistische Rezeption des Christentums, wie sie beispielsweise von der „Kyōto-Schule“9 vorangetrieben wurde, keine Beachtung finden wird.

Abschließend sollen christliche wie buddhistische Bewertungen der christlichen Zen- Rezeption sowie deren Folgen, die sich u.a. im Interreligiösen Dialog oder der Aufnahme der Zen-Meditation in katholische Klöster artikulierten, Erwähnung finden. Festzuhalten ist zudem, dass sich der Großteil der Arbeit auf den deutschsprachigen Raum erstrecken wird, da sich das „christliche Zen“ hier besser entfalten konnte als in anderen Ländern und sein Einfluss ungleich größer war, wie von Brück / Lai feststellen: Im Vergleich mit England und Amerika ist das Besondere an der deutschen Situation, daß der Einfluss buddhistischer Meditationspraxis bis tief in die Kirchen hinein wirksam und - besonders in der katholischen Kirche - teilweise von den Orden und Kirchen ausdrücklich gefördert wurde.10

2. Vorbemerkungen

2.1 Zum Synkretismus-Begriff

Zwar existiert keine „allgemeine, somit auch allgemein-verbindliche Theorie des Synkretismus“11, weshalb der Begriff heutzutage oft unterschiedlich verwendet wird. In seiner weitesten Bedeutung lässt er sich wohl aber als Sammelbegriff für „jede Verbindung oder Mischung verschiedener kultureller Phänomene“12 umschreiben. Etwas präziser, jedoch in dieselbe Richtung zielend, beschreibt Ebertz in einer Arbeitsdefinition Synkretismus als Ergebnis eines Prozesses, in dem „kulturelle Elemente (der Sprache, von Werten, Normen, Vorstellungen, Symbolen und Riten) unterschiedlicher, wenn nicht sogar als gegensätzlich definierter Traditionen […] mehr oder weniger lose miteinander kombiniert, verflochten, vermischt, fusioniert oder sogar identifiziert“ werden, wobei solche Verbindungen „von einzelnen, aber auch im Rahmen von Gruppen und Organisationen kollektiv produziert werden“ und im kulturellen Kontext „als legitim reflektiert, akzeptiert, propagiert, ignoriert oder toleriert oder als illegitim bekämpft und stigmatisiert werden“13 können, wobei sich „polemische Abstoßung und aneignende Integration“14 nicht ausschließen müssen. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, dass solche Prozesse „sogar zur Herausbildung und Ausgliederung strukturell autonomer und autokephaler Formulierungen, also zu religiös spezifischen Gruppenbildungen“15 führen.

Aufgrund der Unschärfe des Synkretismus-Begriffs gestaltet sich die Abgrenzung zu in ähnlichem Zusammenhang verwendeten Begriffen wie „Akkommodation“, „Indigenisierung“‚ „Inkulturation“ oder „Kontextualisierung“ als schwierig. Im Zuge diverser Definitionsversuche, die seit den 1960er Jahren anhalten, wurde auch des Öfteren vorgeschlagen, die eben genannten Begriffe als Grade oder Erscheinungsformen von Synkretismus zu bezeichnen, um diesen dann genauer spezifizieren zu können.16 Erwähnenswert scheint hierbei der Beitrag Berners, der zwischen Synkretismus auf System- und Elementebene unterscheidet und eine Diskrepanz ausmacht zwischen dem „exklusiven Selbstverständnis einer monotheistischen Rel[igion], das einen Synkretismus auf Systemebene ausschließt, und den Strategien zur (synkretistischen) Verarbeitung heterogener rel[igiöser] Elemente“17. Während der „Element-Synkretismus“ lediglich einzelne Elemente übernehme, diese mehr oder weniger bewusst umdeute und mit anderen Elementen verschmelze, wolle der „System-Synkretismus“ durch Aufhebung von Systemgrenzen das Konkurrenzverhältnis zwischen Religionen reduzieren. Jedoch stellt sich die Frage, inwieweit Prozesse auf der Elementebene das ganze System berühren.18

Da mit dem Begriff Synkretismus v.a. von Seiten der Theologie eine vorwiegend negative Wertung einhergeht, zumeist im Sinne der „Beschreibung eines Abfalls vom Wesen des Christentums“19, war und ist der Begriff in Religionswissenschaft und Ethnologie durchaus umstritten und immer wieder wurden Forderungen laut, auf den Begriff zu verzichten bzw. alternativ z.B. von „Austauschprozessen“ zu sprechen.

Auf der anderen Seite bezog beispielsweise die pluralistische Theologie synkretistische Prozesse wertschätzend in die theologische Reflexion ein und verwies darauf, dass synkretistische Prozesse religiöse Traditionen durchaus bereichern könnten und „dem erstarrten Christentum zu neuen Ausdrucksweisen oder gar Inhalten verholfen haben“20. Hierbei wird das Problem reflektiert, dass zum einen die Annahme, eine Religion habe ein Zentrum und klare Grenzen, eine Fiktion darstellt21 und dass zum anderen „Religionen überhaupt nur im Austausch untereinander entstehen und sich entwickeln“22. So hält es dann auch John Roxborogh für möglich, „rel[igiösen] S[ynkretismus] als einen Vorgang in den meisten Epochen und Ereignissen christl[icher] Gesch[ichte] zu diskutieren“23. Da also das Synkretismus-Problem im Laufe der Geschichte des Christentums immer wieder auftrat und dieses entscheidend mitprägte, sei die Frage nicht, „ob es in der Kirche Synkretismus gibt oder nicht“, sondern vielmehr, „welchen Synkretismus es gibt und um welchen man sich bemühen muß“24.

Auch unter missionswissenschaftlichen Gesichtspunkten erscheint Synkretismus als unvermeidlich, da bei der Formulierung und Übermittlung der (christlichen) Botschaft in eine fremde Sprache und Kultur notwendigerweise auf religiöse Begriffe, Symbole, Gesten usw. zurückgegriffen werden muss, die aus der anderen Tradition stammen und von dieser „vorgeprägt“ sind. So entstehen zwangsläufig Spannungen, da zum einen dasjenige, auf das aus der fremden Kultur bzw. Religion zurückgegriffen wird, eine andere, neue Bedeutung erhält und folglich Verständnisprobleme mit sich bringt. Zum anderen erfährt auch die ursprüngliche Botschaft eine Umdeutung, wenn sie in eine andere Gedankenwelt, die über eigene philosophische und religiöse Vorstellungen verfügt, integriert und dort weiter ausgearbeitet bzw. reformuliert wird.25 Abgegrenzt aber wird dieser positiv bewertete „symbiotische Synkretismus“, der auch als „Inkulturation“ bezeichnet werden kann, von einem „synthetischen Synkretismus“, der die Identität der sich gegenseitig beeinflussenden Religionen gefährdet. Da der Vorgang der Inkulturation immer mit synkretistischen Abläufen und Elementen einhergeht, laufe dieser immer Gefahr, in christliche Identität gefährdenden Synkretismus umzuschlagen.26

Aus fundamentaltheologischer Sicht markiert Synkretismus gerade dieses grundlegende Problem von religiöser Identität: „Dem christl[ichen] Glauben ist durch die bibl[ische] Botschaft die Bemühung um Reinerhaltung von Lehre und Praxis aufgetragen. […] Als ‚S[ynkretismus]‘ wird gegenüber solcher ‚Identität‘ abgegrenzt, was die gebotene Übereinstimmung nicht bewahrt, sondern das rein zu Erhaltende mit davon Verschiedenem verbindet.“27 Da jedoch religiöse Zusammenhänge zu komplex sind, als dass Identität im strengen Sinn bewahrt werden könnte,28 kann es hier kein objektiv definierbares Kriterium dessen geben, was bereits Synkretismus ist und nicht mehr Übereinstimmung mit der „reinen Lehre“. Die Beurteilung dessen, was als Synkretismus angesehen wird, ist „immer in Konzepte rel[igiöser] Identität verwoben“: „Was aus der einen Perspektive noch als Identität erscheint, wird aus einer anderen bereits als S[ynkretismus] bewertet“29.

Um der negativen Sicht auf solche Prozesse, die im Allgemeinen als „Synkretismus“ bezeichnet werden, entgegenzuwirken, wurde des Öfteren vorgeschlagen, diesen z.B. als „notwendiges Stadium im Wachstumsprozeß“30 oder als „Phase im Aneignungsprozeß“ zu verstehen, wobei davon auszugehen sei, dass gerade „eine starre Aufrechterhaltung der Totalität der eigenen Tradition Identitätsschwäche verrät“31. Daher plädiert Döring in Anlehnung an Michael von Brück für den alternativen Begriff der „kreativen Integration“, der gerade die gegenwärtige Situation besser treffe. Bei der Begegnung der Religionen im Dialog sei ein „gegenseitiges Erleuchten unterschiedlicher religiöser Erfahrungen und Begriffe [möglich], die jedoch dadurch nicht ineinander aufgelöst werden“32. So könne die Begegnung der Religionen auch für das Individuum einen großen Beitrag zu wahrer Selbstfindung und besserer Selbsterfahrung leisten und eine Neuinterpretation des eigenen Glaubens ermöglichen.33 Verwandte Konzepte könnten „einander gegenseitig so interpretieren, daß die eine Kategorie dazu verhilft, das Wesen der anderen tiefer zu verstehen, ohne daß beide miteinander identifiziert würden“34, weshalb „kreative Integration“ weder die Aufgabe der eigenen Identität, noch „eine Art Superreligion im Sinne einer synkretistischen Vermischung“35 anstrebe. Ein solcher Ansatz sei auch für den interreligiösen Dialog hilfreich, da Entfremdung und Verabsolutierungen überwunden und die Möglichkeit der gegenseitigen Unterstützung bei spiritueller Lebensweise sowie bei sozial-politischem Handeln gegeben werde.36

Was bedeuten diese verschiedenen Ansätze nun für die vorliegende Arbeit? Dass es sich bei „christlichem Zen“ um Synkretismus in seiner weitesten Bedeutung handelt, kann wohl nicht bestritten werden - allein die für dieses Phänomen gewählte Bezeichnung führt schon die beiden verschiedenen Religionen Christentum und Zen (-Buddhismus) zusammen. Zu klären sein wird vielmehr, ob es sich dabei lediglich um Synkretismus auf Elementebene handelt, oder inwieweit schon das ganze „System Christentum“ verändert wird - ob also von problemfreiem „Inkulturationssynkretismus“ oder von christliche Identität gefährdenden prinzipiellem Synkretismus gesprochen werden kann. Wie dargelegt wurde ist die Grenze hier höchst subjektiv, weshalb auf eine abschließende Wertung verzichtet werden soll, ob „christliches Zen“ als das eine oder als das andere, also als „gut“ oder „schlecht“, zu bezeichnen ist. Vielmehr soll aufgezeigt werden, mit welchen Kategorien von Synkretismus christliches Zen zu fassen ist, ob beispielsweise auch der Begriff der „kreativen Integration“ zutreffend ist und wie es von den Religionen selbst bzw. deren Vertretern (christliche wie buddhistische) bewertet wurde und wird.

2.2 Anmerkungen zum Zen

Nach von Brück können prinzipiell zwei Aspekte des Zen unterschieden werden: Einerseits seine historische Entwicklung als sinisierte Form des Mahāyāna-Buddhismus, andererseits seine Meditationspraxis, die „nicht unbedingt an ein bestimmtes soziales und weltanschauliches System gebunden ist“37. Gerade diese praktische Dimension sei vom Zen selbst immer schon betont worden. Da beide Aspekte für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind, wird zunächst ein kurzer historischer Überblick über die Geschichte des Zen- Buddhismus gegeben, wobei der Fokus insbesondere auf den Phasen liegen soll, in denen sich Zen mehr oder weniger deutlich vom Buddhismus löste.38 Hierbei wird auch kurz auf den Transfer des Zen in den Westen, insbesondere nach Deutschland, eingegangen werden. In einem zweiten Teil sollen anschließend inhaltliche Aspekte des Zen-Buddhismus dargelegt werden, um nachvollziehen zu können, worum es in der praktischen Ausübung dieser Schule geht. So soll eine Voraussetzung geschaffen werden, um die christliche Rezeption gerade der Zen-Praxis einordnen zu können.

2.2.1 Kurzer Abriss der Geschichte des Zen-Buddhismus

In der Tradition beruft sich Zen (Chinesisch ch ’ an) auf den Religionsstifter selbst: „Als der Buddha einst den dharma 39 vor einer großen Mönchsversammlung darlegen wollte, hob er eine Blume empor und schwieg dabei. Nur Mahākāshyapa lächelte.“40 Ebendieser Mahākāshyapa gilt als der erste von 28 indischen Patriarchen, die vermutlich aber keine historische Sukzessionslinie darstellen, sondern eher der Legitimation der Zen-Schule dienen sollten.41 Denn vor Bodhidharma, dem legendären 28. indischen Patriarchen, der Zen im 6. Jhd. n. Chr. nach Westen, d.h. nach China, gebracht haben soll, sind keinerlei Berichte bekannt, die auf eine eigenständige Zen-Schule in Indien hinweisen.42 Auch in China tritt eine erkennbar eigenständige Zen-Schule erst ab dem 8. Jhd. nachweislich in Erscheinung, wenngleich sich der zweite chinesische Patriarch Hui-k’o (wohl 487-593) historisch belegen lässt.43 Nichtsdestotrotz wurzelt Zen in der indischen Prajñāpāramitā-Tradition, die vermutlich von Waldmönchen begründet wurde, um mit der Besinnung auf Askese und Meditation sowie dem Rückzug in die Einsamkeit den etablierten, verweltlichten Buddhismus zu seinen Ursprüngen zurückzuführen.44 So könnte auch Zen eine Reaktion auf Streitigkeiten zwischen buddhistischen Schulen gewesen sein, die den Buddhismus „wieder auf einfache Prinzipien verpflichten [wollte], vor allem aber auf die Praxis der Meditation“45. Zugleich aber näherte sich der Zen-Buddhismus in China dem Taoismus an: Taoistische Sprache und Gedankengut wurden übernommen bzw. buddhistisch abgewandelt, sodass die Lehre des Zen- Buddhismus als „eine zutiefst chinesische Interpretation der indischen Doktrin der Erleuchtung“46 angesehen werden kann. In der Folgezeit bildeten sich u.a. auf Grund diverser Lehrstreitigkeiten zahlreiche Sukzessionslinien heraus, die im 8. / 9. Jhd. ihren Höhepunkt fanden47 und im 12. / 13. Jhd. eine spezifische Ch’an-Kunst hervorbrachten, die zwar in China wenig wertgeschätzt wurde, in Japan jedoch umso mehr.48 Im 14. Jhd. schließlich „verfiel der Ch’an-Buddhismus und die von ihm inspirierte Kunst in eklatanter Weise“49.

Ein Jahrhundert zuvor jedoch war Zen als Rinzai- bzw. S ō t ō - Schule offiziell in Japan eingeführt worden,50 hatte dort bereits sehr früh staatliche Förderung erhalten und konnte so, im Gegensatz zu China, einen relativ großen Einfluss auf Kultur und Alltagsleben Japans ausüben.51 So wurde Zen beispielsweise vom neuen Schwertadel angenommen und verlieh dem Ehrenkodex der Samurai (bushid ō) eine „neue, ethische Dimension“52. Außerdem trug Zen dazu bei, dass die sogenannten michi bzw. d ō („Wege“), die zunächst „Beruf, Fachkenntnis; im Sinne einer Fähigkeit oder eines Wissens, zu deren Erwerb es langer und unermüdlicher Übung bedarf“53 bezeichneten, um eine meditative Komponente dahingehend erweitert wurden, dass sie nun eine Kunstfertigkeit darstellten, „die, wenn sie mit Ernst und Fleiß und Ausschließlichkeit betrieben wird, sogar zu religiöser Erleuchtung führen kann.“54 Besonders eng ist hierbei, neben Gartengestaltung und Kalligraphie, die japanische Teezeremonie (chad ō) mit Zen verknüpft; sie wurde im 15. und 16. Jahrhundert von ZenMeistern begründet und vervollkommnet, löste sich aber bald als gesellschaftliche Ausdrucksform vom Zen und erfasste alle Volksschichten.55

Im 18. / 19. Jhd. begann der Niedergang des vom Neo-Konfuzianismus in seiner politischen Bedeutung abgelösten (Zen-) Buddhismus, der seinen Tiefpunkt in der Meiji-Restauration von 1868 hatte, als sich Japan nach Westen hin öffnen, aber gleichzeitig seinen nationalen Charakter bewahren wollte.56 Um die Legitimation des Kaisers und des Nationalismus zu gewährleisten, wurden die alten, indigene japanische Kulte als „Staatsshintō“ etabliert, wohingegen der Buddhismus als fremde, nicht einheimisch-japanische Religion angesehen und gewaltsam unterdrückt wurde.57 Im Zweiten Weltkrieg unterstützen viele Zen-Buddhisten die japanische nationalistische Kriegspolitik aktiv, sodass beispielsweise Soldaten in Zen- Klöstern ausgebildet wurden, „zur Disziplinierung des Denkens und der Emotionen“58. Zudem wurde das Selbstopfer für die Nation als Ideal proklamiert: „[Wenn befohlen wird zu] marschieren: marsch, marsch; [oder zu] schießen: peng, peng. Dies ist die Manifestation der höchsten Weisheit [der Erleuchtung]“59. In der Moderne konnte Zen nicht mehr zu einer „werteprägenden Kraft in der japanischen Gesellschaft“60 werden, ganz im Gegensatz zum Westen, wo es jedoch - im Vergleich zu anderen Strömungen des Buddhismus - erst „spät ins Blickfeld der professionellen Wissenschaft und gebildeten Öffentlichkeit“61 getreten war, nämlich seit dem Auftritt des Zen-Meisters Shaku Sōen und seines damaligen Sekretärs Suzuki Daisetsu bei dem Weltparlament der Religionen 1893 in Chicago.

In der frühen christlich-religionswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Zen- Buddhismus wurde oft auf die Unterschiede zwischen Zen und Christentum hingewiesen, wobei ersterem durchaus auch die Möglichkeit zur Wahrheitserkenntnis zugestanden wurde.62

Während z.B. Friedrich Heiler Zen als „Magie“ bezeichnete und in diesem den Buddhismus zu einem „geistlosen und stumpfen Vorsichhinstarren herabgesunken“ sah, würdigte Rudolf Otto Zen als „Mystik“ und „tiefe Religion“.63

Zu hohem Bekanntheitsgrad außerhalb akademischer Kreise verhalfen danach v.a. Suzuki Daisetsu, auf den unten noch näher eingegangen wird, sowie Eugen Herrigel mit seinem erstmals 1948 erschienenen Bestseller „Zen in der Kunst des Bogenschießens“64, in dem er sich dem Zen über die „mystische Übung“ des Bogenschießens annähert.65 Herrigel betont hier,66 dass er sich als Student für die (christliche) Mystik begeisterte, jedoch keinen Weg fand, zum Kern der dort beschriebenen Erfahrung vorzudringen. Als er an die Kaiserliche Tohoku-Universität in Japan berufen wurde, um Geschichte der Philosophie zu lehren, sah er darin eine gute Möglichkeit, den Zen-Buddhismus kennenzulernen, der einen Versenkungsweg lehre und vor allem Lehrer bereitstelle, welche diesen vermittelten. Was sich Herrigel davon erhoffte, war „nicht Spekulation, sondern unmittelbare Erfahrung dessen […], was als grundloser Grund des Seienden“67 nicht gedacht, begriffen, gedeutet werden könne. Von Seiten der Japaner jedoch, mit denen Herrigel unmittelbar nach seiner Ankunft in Kontakt trat, wurde ihm erklärt, dass es für Europäer unmöglich sei, in das Zen einzudringen, sein Wesen zu erfassen und dass er mit einer der japanischen Künste beginnen solle, die mit Zen in Beziehung stünden.68

Erwähnenswert ist des Weiteren die Rezeption des Zen im Gefolge Carl Gustav Jungs, infolgedessen Zen „von seinen buddhistischen Grundlagen befreit als Therapieverfahren eingesetzt“69 wurde, obwohl Jung selbst im Vorwort zu Suzuki Daisetsus „Die große Befreiung“ vor einer „direkte[n] Übertragung des Zen auf westliche Verhältnisse“ warnte: diese sei „weder empfehlenswert noch überhaupt möglich“70. Zudem fand insbesondere die Zen-Meditation Eingang in christliche Kreise, was Hauptgegenstand der vorliegenden Arbeit ist, und unten einer ausführlichen Analyse unterzogen werden soll.

2.2.2 Inhaltliche Aspekte

Zen beansprucht, „eine besondere Überlieferung außerhalb der Schriften“ zu sein, „unabhängig von Wort und Schriftzeichen: unmittelbar auf des Menschen Herz zeigen, - die eigene Natur schauen und Buddha werden.“71 In dieser Hinsicht unterscheidet sich Zen von anderen Schulen des Buddhismus, in denen das Studium bzw. Lesen der Sūtras als heilswirksam gilt.72 Die japanische Bezeichnung zen, Chinesisch ch ’ an, Sanskrit dhy ā na kann mit „Versenkung, Meditation“ übersetzt werden und bezeichnete schon im frühen Buddhismus die letzte Etappe auf dem „edlen achtfachen Pfad“73: die „rechte Konzentration“, welche durch vier Versenkungsstufen (dhy ā nas) eingeübt wird.74 Somit kann also das Programm einer schweigenden Sitz-Meditation (Japanisch za-zen) auf den historischen Buddha zurückgeführt werden, denn auch im Zen-Buddhismus ist dies die zentrale Übung, mit deren Hilfe unmittelbare Einsicht in die Wirklichkeit erlangt werden soll. Die Praxis des z azen besteht aus oft stundenlangem regungslosen Sitzen mit aufrechter Wirbelsäule, wobei der Atem beruhigt und die Aufmerksamkeit geschärft wird. So soll hellwache Bewusstheit erreicht werden, die bei gleichzeitiger Bewusstseinsruhe sämtliche Eindrücke wahrnimmt.75 Ein intensives Meister-Schüler-Verhältnis, bei dem der Schüler den Meister regelmäßig aufsucht (dokusan), begleitet das zazen, dessen Ziel kensh ō („Wesensschau“) bzw. satori („Erleuchtung“)76 ist - ein von allem Anhaften befreites, entleertes Bewusstsein, das einen Einblick in die Wirklichkeit erlaubt. Hierbei wird jegliche Dualität des rationalen Bewusstseins in eine Alleinheitserfahrung aufgehoben und ein als tiefstes Glück beschriebener zeitfreier Augenblick erlebt. Dieser Zustand der Nicht-Dualität wird im Zen als nirv āṇ a interpretiert, als eine Wirklichkeit, die lediglich aufgrund der menschlichen Verblendung nicht wahrgenommen wird.77 Es wird also durch den Einblick in das wahre eigene Wesen, das als latent in allen Wesen vorhandene „Buddha-Natur“ bezeichnet wird, nur die immer schon vorhandene Erleuchtung zum Vorschein gebracht. Dennoch wird diese Einsicht meist als plötzlicher Durchbruch beschrieben, als Wiedergeburt in eine andere Bewusstseinsebene, in der die Einheit aller Phänomene sowie der Tod des Ichs erlebt werde.

In diesem Kontext wurde die indische Reinkarnationslehre häufig umgedeutet in die „Vorstellung von der Wiedergeburt im Augenblick des Erwachens zur tiefen Schau des eigenen Wesens.“78

Mit dieser Erfahrung endet der Weg jedoch nicht, sondern beginnt vielmehr erst: So macht die körperliche Arbeit (samu) einen weiteren wichtigen Teil der Übung aus, bei der das „Gegenwärtig sein im Augenblick“ während alltäglichster Verrichtungen eingeübt und integriert werden soll. Überhaupt ist der Zen-Buddhismus stark weltimmanent ausgerichtet und sucht die Erleuchtung gerade in der Profanität des Alltags.79

Die Erlangung der Erleuchtungserfahrung wird zwar durch einen Meister festgestellt und bestätigt, entzieht sich jedoch inhaltlich jeder Beschreibung,80 weshalb immer wieder betont wird, dass diese nicht in Worte gefasst, sondern nur erfahren werden kann, wie z.B. der Zen- Meister Tennō Dōgo (748-807) folgendermaßen festhielt: „Wenn du sehen willst, dann sieh unmittelbar. Fängst du an nachzudenken, verfehlst du es.“81 Wegen dieser Auffassung, dass es unmöglich sei, die Wirklichkeit in Worte zu fassen, herrscht im Zen eine Skepsis gegenüber der Sprache vor, die sich unter anderem in sogenannten k ō an („öffentliche Angelegenheiten“) äußert. Hierbei handelt es sich um paradoxe Aussprüche oder Handlungen von Zen-Meistern, die mit dem Verstand nicht gelöst bzw. nachvollzogen werden können, wie beispielsweise die Frage nach dem Geräusch der einzelnen klatschenden Hand. Vielmehr soll das rationale Denken an seine Grenzen geführt, schließlich überwunden und somit ein Erleuchtungserlebnis hervorgerufen werden.82 Auch gilt es, sich von allem Anhaften an Gedanken oder Konzepte freizumachen, weshalb im Zen wenig Wert auf Dogmen gelegt wird. So gibt es Erzählungen, in denen Zen-Meister Sūtra-Rollen zerreißen83 oder Aussprüche von sich geben, wie: „Triffst du den Buddha, wirst du ihn töten.“84 Somit kann gesagt werden, dass dem Zen einerseits nichts heilig ist, andererseits alles, da in allem die Buddha-Natur schlummert.

2.3 Christliche Anlagen

2.3.1 Aspekte christlicher Mystik

Der Begriff „Mystik“ erscheint als Substantiv erstmals im 17. Jahrhundert in französischer Sprache („la mystique“) und setzte sich erst im 18. und 19. Jahrhundert allgemein durch. Seine Wahrnehmung und Beschreibung wurde in christlichem Kontext entwickelt,85 wenngleich sich mystische Elemente in vielen Religionen finden lassen.86 Für die Frage nach der Qualität mystischer Erfahrungen gibt es nach Haas zwei mögliche Deutungen, die kontrovers diskutiert werden: „1. die mystische Erfahrung ist auch psychologisch abhängig vom religiösen Kontext […]; 2. die mystische Erfahrung ist hinsichtlich ihrer psychologischen Qualität überall die gleiche […]. Die erste Lösung ist ‚konstruktivistisch / kontextuell‘, die zweite ‚perennialistisch‘ genannt worden.“87 Bezüglich der Etymologie herrscht weitgehend Konsens: So ist der Begriff vom Griechischen myein („sich schließen“; v.a. auf das Schließen von Augen und Mund bezogen) herzuleiten.88 Das Adjektiv „mystisch“ ist seit der Antike belegt und wurde in der Spätantike philosophisch bedeutsam: „Je mehr man sich höheren, göttlicheren Dingen zuwende, um so mehr werde die Ausdrucksweise mystisch und geheimnisvoll.“89

Als gemeinsamen Grundzug mystischer Denker bzw. solcher, deren Schriften als mystisch gelten, macht Leppin „eine religiöse Haltung [aus], die eine Transzendenz Gottes gegenüber dem Menschen als gemeinsame Erfahrungstatsache voraussetzt und diese Transzendenz schon im Diesseits punktuell zu überwinden trachtet“90, was durch den Weg der Introspektion, der Innenschau geschehe. Spezifisch christlich ist hierbei, dass Jesus Christus auf verschiedene Weise die entscheidende Vermittlungsgröße dieser Überwindung der Schranke zwischen Gott und Mensch darstellt. Nicht selten kam es zu Konflikten mit Amtskirche oder bekenntnistheologischen Vorgaben (z.B. „sola scriptura“), da bei der mystischen Erfahrung unmittelbare Begegnung mit Gott beansprucht wird und andere Vermittlungsinstanzen relativiert und hinterfragt werden können. Häresieprozesse, wie z.B. gegen Meister Eckhart, belegen dies. Auf der anderen Seite gehörte beispielsweise Bernhard von Clairvaux zu den machtvollsten Gestalten der Kirche seiner Zeit.91

Für christliche mystische Texte sind einige Aussagen des Apostels Paulus von zentraler Bedeutung,92 allen voran Gal 2,20 („nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“) und Röm 6,3-6, dessen Aussage „Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt“ (Vers 6) in späterer mystischer Literatur dahingehend gedeutet wurden, dass der „Weg zu Gott ein Weg der Leugnung des eigenen Ich“ sei, wobei „alle ichhaften Züge in radikalster Weise“93 zu bestreiten seien.

Da jedoch christliche Mystiker in ihren Aussagen z.T. stark voneinander abweichen und die Subsummierung unter den Oberbegriff „Mystik“ oft schwer fällt, sollen im Folgenden zentrale Aussagen der wichtigsten und für diese Arbeit relevantesten Vertreter kurz dargestellt werden.

Wenngleich Ansätze schon bei früheren Denkern vorhanden waren, gelten als eigentlicher Beginn der christlichen Mystik die wohl aus dem 5. / 6. Jahrhundert stammenden Texte des Dionysios Areopagita, der dank dieses Pseudonyms jahrhundertelang mit der in Apg 17,34 von Paulus bekehrten Person identifiziert und somit in dessen Nähe gerückt wurde. Sie unterstreichen, „dass christliche Mystik von ihren Anfängen an auch eine Anwendungsform neuplatonischer Philosophie ist“94, indem sie sich um einen „Weg aus der Welt der Unterscheidung zurück in die grundlegende Einheit, in der alle Unterschiede aufgehoben sind“95, bemühen. Dieser Weg beginnt laut Dionysios mit einem Reinigungsprozess, in dem alles Materielle abgestreift werden, sodann eine Erleuchtung und schließlich die Einheit mit Gott vollzogen werden soll: „Denn nur wenn du dich bedingungslos und uneingeschränkt deiner selbst wie aller Dinge entäußerst, wirst du in Reinheit zum überseienden Strahl des göttlichen Dunkels emporgetragen, alles loslassend und von allem losgelöst.“96 Dionysios gilt zudem als Begründer der „negativen Theologie“, die jede Rede von Gott, alle Konzepte und Begriffe ablehnt, da es unmöglich sei, Gott dadurch gerecht zu werden, indem man sich „im Bereich der Benennung und damit des unterscheidenden, diskursiven Verstehens“97 bewege. Wenn Dionysios aber von Gott spricht, so tut er dies in paradoxer Weise, z.B. indem er von diesem als „überlichtes Dunkel“ spricht.98 Vor allem aufgrund seiner „Autorität“ beeinflussten die Texte des Dionysios Denker der Ost- und Westkirche immens, wobei unterschiedliche Schwerpunkte gelegt wurden.

Im Osten wurde die Rezeption der Theologie des Dionysios „immer stärker mit einer Theologie und Spiritualität der Askese verbunden“, wobei eine „gewisse Entintellektualisierung der Mystik zugunsten der Betonung praktischer Lebens- und Erfahrungsformen“ sowie eine „Zuspitzung auf die Existenzweise des Mönchs“99 erfolgten.

Als eine der bedeutendsten Strömungen im byzantinischen Mönchtum sei der Hesychasmus (vom griechischen h ē sychia, „Stille“) genannt, der im 12. / 13. Jahrhundert v.a. von Mönchen des Athos-Bergs entwickelt wurde. Er arbeitete eine methodische Anweisung heraus,100 die zur unmittelbaren Schau des göttlichen Taborlichts führen sollte. Im 14. Jahrhundert entwickelte sich eine heftige Kontroverse um ebendiese Praxis, die als abergläubisch und häretisch verunglimpft wurde, da ein direkter Zugang zu göttlichem Licht unmöglich sei. Als Verteidiger des Hesychasmus lieferte Gregor Palamas (1296-1359), ein Mönch vom Berg Athos, eine präzise Darlegung desselben. Zunächst ist die Begegnung mit Gott für Palamas reine Gnade, da sie nur durch Gott selbst eröffnet werden kann. Ferner unterschiedet er zwischen dem Wesen Gottes, das für Menschen unerreichbar sei, und der Energie Gottes, die als Ausflussweisen Gottes in der ganzen Schöpfung wahrnehmbar sei.101 Diese Energie Gottes, als Taborlicht bezeichnet, lässt zugleich Teilhabe an und Distanz zu Gott zu, vergleichbar mit der Sonne, durch deren Strahlen der Mensch zwar an ihrer Energie Anteil haben kann, jedoch sie selbst (ihr Wesen) unerreicht bleibt. Was bei der Schau des Taborlichts genau geschehe, liege über allem begrifflichen Erkennen und wird von Palamas daher paradox als „geistige Sinneswahrnehmung“ beschrieben, als ein über den Intellekt hinausgehendes „geistliches“ (nicht geistiges, mit Mitteln menschlicher Vernunft erlangbares) Erkennen, das Gott allein gewähre.102

Im Osten wie im Westen war der primäre Ort für mystische Erfahrungen und Lehren das Kloster bzw. die Einsiedelei. Doch während diese sich im Osten kontinuierlich entwickeln konnten, war die Existenz der Klöster im Westen lange unsicher.

Dort kam es ab dem 12. Jahrhundert zu einer Intensivierung mystischer Frömmigkeit, insbesondere durch den Zisterzienser-Abt Bernhard von Clairvaux (1090-1153), dessen Rang in der Geschichte der Mystik mit dem des Dionysios vergleichbar ist. Er war Repräsentant einer monastischen Reformbewegung, die zu Schlichtheit (gegenüber Prunk) und Innerlichkeit (gegenüber Äußerlichkeiten) zurückkehren wollte, und ein führender Prediger des Zweiten Kreuzzugs.103 Mit ihm erhält eine erotische Komponente Einzug in die christliche Mystik, die leidenschaftliche Liebe (inklusive sexuellen Verlangens) bietet für ihn die stärksten Metaphern für die (liebende) Einheit von Seele und Christus. Von großer Bedeutung ist hier seine spirituelle Interpretation des Hoheliedes, als Beschreibung des Aufstiegs der Seele zu Gott. So bezeichne beispielsweise das Küssen des Mundes die direkte, intime Begegnung der Seele mit Jesus Christus (unio mystica), der das Küssen der Füße (tiefste Selbstdemütigung) sowie der Hände (Nachfolge, Ähnlichwerden) Christi vorausgehen.104 Die Mystik Bernhards kann also „im innersten Kern als monastische Bußtheologie“105 bezeichnet werden, die in ihrem Bestreben, alle Leidenschaften zu überwinden, zur Zerstörung des eigenen Ichs tendiert. So kann der Mensch das mystische Geschehen zwar vorbereiten, jedoch bedarf er immer auch des Gnadenhandelns Gottes. Zudem ist dieses Geschehen bei Bernhard kein völliges Verschmelzen der Seele mit Christus, sondern nur momenthaft und viel geringer als die letzte Einheit am Ende der Zeiten, denn bei dem Kuss nehme das menschliche Subjekt das göttliche noch wahr.106

Auch bei Victor von Hugo (gest. 1141) findet sich eine erotische Bildsprache, sein Weg zur mystischen Vereinigung erfolgt aber zunächst über die Vernunft, die in einem ersten Schritt entfaltet werden muss. Es folgt in der meditatio kritische Betrachtung und Reflexion derselben, bis sie völlig durchdrungen ist und auf der dritten Stufe, der contemplatio hinter sich gelassen wird und die unio mystica erfolgt.107

Mystische Elemente finden sich auch bei den Armutsbewegungen ab dem 12. Jahrhundert, wobei der heilige Franziskus von Assisi (1181/82-1226) einen Grenzfall darstellt. Zwar lehrte dieser, der Mensch solle ganz hinter seiner Botschaft verschwinden und dass der Geist nicht unbedingt an ein Amt gebunden sei, weshalb eine unmittelbare Berührung zwischen Gott und Gläubigen möglich sei. Auch erfolgte mit der Stigmatisierung die Identifikation mit Christus selbst, jedoch fehlen „ unio- Gedanken“, wie sie o.g. Denker äußerten, völlig.108

Da die „mystische Bildwelt der westlichen Christenheit in besonderer Weise feminine Züge entwickelt hatte“ und vermeintlich typisches weibliches Verhalten mit der Metapher von Braut (Seele) und Bräutigam (Christus), in der sich „das Geschlechtsstereotyp von der weiblichen Passivität ausdrückte“109, eine Aufwertung erfuhr, konnten sich viele Frauen besonders mit mystischem Gedankengut identifizieren. So gab es im Kreise der Beginen - semireligiöse Vereinigungen von Frauen, die nicht in Orden lebten - viele mystisch orientierte Schriftstellerinnen, wie beispielsweise Mechthild von Magdeburg (ca. 1207-ca. 1282) oder Marguerite Porete (gest. 1310).110

Als bedeutendster und bekanntester Mystiker des Mittelalters gilt der Dominikanermönch Meister Eckhart (1260-1328), der davon ausging, dass der Mensch im eigentlichen Sinne kein Sein habe, sondern dass sein Sein in Gott liege. Nur jener, der sich ganz Gott zuwende, kehre auch ganz zu seinem eigenen Sein zurück - der mystische Weg soll dabei Hilfe leisten. Als innersten Kern und Wesen des Menschen macht Eckhart ein „Seelenfünklein“111 aus, als Ausdruck der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und Berührungspunkt mit Gott. Dieses sei im Menschen immer schon vorhanden, jedoch denjenigen, die an Äußerem hängen, verdunkelt, weshalb Jungfräulichkeit nötig sei, um die Geburt des Sohnes in der Seele zu ermöglichen.112 Eckhart versteht den Begriff der Jungfrau spirituell; für ihn ist jungfräulich, wer frei von allen bildlichen Vorstellungen und arm ist: „Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat.“113 Ähnlich wie für Mechthild von Magdeburg ist für Eckhart das historische Ereignis der Geburt Jesu von geringerer Bedeutung, denn das „Grundereignis der christlichen Heilsgeschichte ereignet sich immer neu im einzelnen Menschen, die Geburt des Sohnes findet neu in der einzelnen Seele statt - und ist zugleich Rückkehr zu deren Grund und Ursprung.“114 Der Mensch wird dann aber nicht neu, sondern legt nur frei, was schon in ihm ist. Den Weg dorthin beschreibt auch Eckhart als Aufstieg: durch Abwendung von allen Dingen erfolgt eine Reinigung, die die „Einbildung“ in Gott ermöglicht. Um das Lösen des Menschen von allem, was ihn an dem Weg zu Gott hindert, näher zu bezeichnen, führt Meister Eckhart zwei neue Wörter in die deutsche Sprache ein: „Gelassenheit“ (im Sinne von: Lassen von allem: von Irdischem und von allen eigenen Ansprüchen) und „Abgeschiedenheit“ (sich zurückziehen von „allen Dingen“, d.h. von allem Äußeren). Letzteres gilt ihm sogar mehr noch als die höchst christliche Tugend, die Liebe, da Abgeschiedenheit die einzige Tugend sei, die nicht auf die Geschöpfe ausgerichtet, sondern von ihnen gelöst sei. Gelassen werden soll also von allem „Geschöpflich-Natürlichen“, aber auch von jedem Bild davon: „Der Mensch muss noch die Bilder von den Dingen verlieren, um nicht an ihnen zu hängen“115. Das Wegführen von der Kreatur führe nämlich zu Gott:

„Leer sein aller Kreatur ist Gottes voll sein, und voll sein aller Kreatur ist Gottes leer sein.“116 Der Mensch müsse im Inneren Platz für Gott schaffen, „dann kommt Gott in ihn hinein“: „Wenn sich der Mensch demütigt, kann Gott in seiner ihm eigenen Güte sich nicht enthalten, sich in den demütigen Menschen zu senken und zu gießen“117. Dies sei jedoch nicht als Herbeizwingen Gottes zu verstehen, denn wenn das „Fünklein“ ganz freigelegt ist, dann hat der Mensch sich selbst schon aufgegeben.

Stark inspiriert von Meister Eckhart und dessen Gedanken - wenn auch mit anderer Akzentuierung - fortsetzend, waren Johannes Tauler (ca. 1300-1361) und Heinrich Seuse (ca. 1295/97-1366); von Tauler wiederum stark beeinflusst war Martin Luther (1483-1546). Als Ignatius von Loyola (1491-1556), der Mitbegründer des Jesuitenordens, seine „Exerzitien“ verfasste, griff auch er auf mystische Quellen zurück und verhalf der asketischen Variante mystischer Frömmigkeit zu neuem Aufleben. Zu nennen sind ferner die Karmeliten Theresa von Avila (1515-1582) und Johannes vom Kreuz (1542-1591), die die Passivität der Seele betonten.118

Was die heutige Situation angeht, so ist für den Protestantismus zu konstatieren, dass dort der spezifische Ort der Mystik verloren ging, nämlich das Kloster. Zwar wurden gerade von Luther „mystische Wege in gebrochener Weise fortgeführt“119 und auch für Schleiermacher lässt sich mystischer Einfluss nachweisen. Jedoch finden sich vielfach Vorbehalte gegenüber der Mystik, die schon Luther teilweise formulierte: So komme das Heil nicht von innen, aus dem Menschen heraus, sondern durch das Wort von Gott her. Von daher herrscht insbesondere im deutschsprachigen Raum weitgehend Einigkeit darüber, dass Protestantismus und Mystik unvereinbar seien.120

Im Raum der Orthodoxie hingegen, wo palamitische Mystik und Hesychasmus lange Zeit einflussreich blieben, erlebte die Mystik seit dem 18. Jahrhundert auch außerhalb klösterlicher Spiritualität eine Neubelebung und prägte die orthodoxe Frömmigkeit sowie die russische Literatur entscheidend mit.121

Im Katholizismus wurde dagegen seit jeher ein ambivalentes Verhältnis zur Mystik gepflegt, das von kirchlicher Anerkennung bzw. sogar hoher Wertschätzung (z.B. Dionysios Areopagita, Bernhard von Clairvaux) bis hin zu Ablehnung und Verurteilung (z.B. Marguerite Porete sowie einige Sätze Meister Eckharts) reichte. In der Neuzeit lässt sich ein Neuaufleben mystischer Literatur beobachten, das aber weniger in der Alltagswelt als vielmehr im monastischen Kontext von Bedeutung ist. Der mystische Strom blieb hier immer lebendig, „aber er hat nicht noch einmal eine solche Kraft entfaltet wie im Mittelalter“122.

2.3.2 Christliche Meditation

Eng verbunden mit der christlichen Mystik ist die Kontemplation bzw. Meditation als Weg nach innen, wo die mystische Erfahrung geschehen kann. Beide Begriffe hängen miteinander zusammen und werden teilweise synonym verwendet, wobei aber Kontemplation als Ziel der Meditation gesehen werden kann. Ersteres meint nämlich „die intuitive Schau der obersten Wahrheiten, im rel[igiösen] Sinne: Gottes“123, wohingegen Meditation einen Aspekt, eine Methode auf dem Weg zu dieser Gottesschau bezeichnet.

Christliche Meditation lässt sich erstmals bei den Wüstenvätern nachweisen und fand „als Element geistl[ichen] Lebens früh Eingang in die Ordensregeln“124, beispielsweise Benedikts von Nursia (ca. 480-547). Als biblische Schlüsselstelle galt Ps 1,2, die als Aufforderung gedeutet wurde, sich unablässig der Meditation125 des Wortes Gottes zu widmen und sich so biblische Texte gründlich und ganzheitlich anzueignen. Hierbei wurde ein Wort oder Satz aus der Heiligen Schrift ausgewählt und solange rezitiert, bis es sich in das Herz des Beters eingeprägt hatte und - gemäß der Vorgabe „Betet ohne Unterlass“ (1Tess 5,17) - zu einem beständigen inneren Gebet geworden war.126 Das primäre Ziel war dabei, das Leben sowohl innerlich wie auch äußerlich nach biblischen Vorgaben zu prägen, wobei auch „das innerliche Gewahrwerden der Gegenwart Gottes […] zu den wesentlichen Elementen im Meditieren der Mönchsväter“127 gehörte.

In der Ostkirche entwickelte sich aus dieser Meditation das bis heute praktizierte Jesus- oder Herzensgebet, das aber weniger „ein Gebet mit ganz bestimmten Inhalten“ darstellt, sondern vielmehr „Meditation im Sinne einer Methode mit starker psychosomatischer Komponente auf dem Weg zu mystisch geprägter Gotteserfahrung“128. Hierbei wird kontinuierlich die Formel „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes“ (beim Einatmen), „erbarme dich meiner“ (beim Ausatmen) wiederholt. Zwar ist diese erstmals im 6. Jahrhundert bzw. als Übung, die die Gegenwart Jesu mit Ein- und Ausatmen verbindet „im 7. Jhd. im sinaitischen Mönchtum bezeugt“, jedoch erfolgte eine „klare Ausprägung der Methode […] erst im 13. / 14. Jhd. bei Mönchen des Athos“129. Während der Rezitation soll eine bestimmte Körperhaltung eingehalten werden: Auf dem Boden oder einem niedrigen Schemel sitzend wird der Kopf gesenkt, das Kinn an die Brust angelegt und Schultern sowie Rücken gebogen. Der Fokus der gesamten psychischen und geistigen Aufmerksamkeit wird so auf das im Nabel oder Herz lokalisierte Zentrum des Körpers gerichtet. Durch das Bewusstmachen des Ein- und Ausatmens soll der Atem beruhigt und so gleichzeitig der Körper zur Ruhe und der Geist zur Konzentration gebracht werden.130 Das „Gezwitscher“ der Gedanken wird abgebrochen und der Geist gesammelt, d.h. auf Gott ausgerichtet.131 Schließlich würden die Worte ins Herz eindringen, es vollständig ausfüllen und das göttliche Taborlicht könne geschaut werden.132

Im Westen bildete sich im Mittelalter eine Vielfalt meditativer Praktiken heraus, wobei die Bibel Gegenstand der Meditation blieb und sich zwei Themenkomplexe als besonders wirkmächtig herauskristallisierten: Buße und Vita Christi. Während bei der Bußmeditation die Hinwendung zu Gott durch die Abkehr von der Sünde erfolgen soll, ist bei letzterem Thema, das maßgeblich von Bernhard von Clairvaux geprägt wurde, das Leben - und hier v.a. die Passion - Christi Gegenstand der Meditation. Durch Miterleben und Mitleiden der Lebensgeschichte Jesu wird ein an Christus ausgerichtetes Leben angestrebt, das in mystischen Erfahrungen münden könne. Die methodische Systematisierung der Meditation steht in engem Zusammenhang mit der mystischen Theologie, die einen vierstufigen Weg ausarbeitete: lectio (Memorieren biblischer Texte) - meditatio (deren innerliche, geistige Durchdringung) - oratio (Bitten Gottes um erkanntes Heil) - contamplatio (Gott selbst gewährt einen Vorgeschmack auf die ewige Seligkeit). Mithilfe geistlicher Übungen werden also gestufte Seelenvermögen durchschritten an deren höchsten Stufe die Erfahrung Gottes steht, die neben contemplatio auch beispielsweise als unio oder extasis bezeichnet werden.

Als Beispiele für die Fülle von z.T. minutiös ausgearbeiteten Meditationsmethoden seien die Exerzitien des Ignatius von Loyola sowie die karmelitische Meditation genannt. Auf vier Wochen angelegt sollen Erstere das Leben ordnen sowie zur Entscheidungsfindung beitragen; sie enthalten u.a. Vita Christi-Meditationen oder ein mit Atmung verbundenes Durchmeditieren von Gebetstexten. Im Mittelpunkt des von der karmelitischen Tradition (v.a. Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz) ausgearbeiteten kontemplativen Gebets steht das liebevolle Zwiegespräch mit Gott, das starke Tendenzen zur mystischen Vereinigung aufweist. Neben diesen methodisch-systematisierten Meditationsformen, die v.a. im monastischen Kontext ausgearbeitet und praktiziert wurden, fanden meditative Elemente auch Einzug in die Volksfrömmigkeit, was sich z.B. in der Herz-Jesu-Verehrung oder dem Rosenkranz artikuliert.133

Im 20. Jahrhundert lässt sich eine verstärkte westliche Beachtung des Jesusgebets, ein wiedererwachtes Interesse an der Meditation sowohl im katholischen als auch im evangelischen Bereich134 sowie ein „Herauswachsen der Meditation aus kirchlichen Binnenräumen“ beobachten, wobei „die Begegnung des westlichen Christentums mit den Meditationsmethoden nichtchristlicher Religionen, insbesondere des Buddhismus (Zen) und des Hinduismus (Yoga)“ am „weitaus wichtigsten für das Verständnis von Meditation in der Gegenwart wurde“135. Einen wichtigen Beitrag hierzu lieferte die im Folgenden ausführlicher dargelegte christliche Zen-Rezeption.

3. „Christliches Zen“

3.1 Buddhistische Wegbereiter

Zu Beginn der Betrachtungen über die christliche Zen-Rezeption stehen zunächst zwei Zen- Buddhisten, die für die weitere Entwicklung der christlichen Zen-Rezeption überhaupt erst die Voraussetzungen schufen. Suzuki Daisetsu Teitaro (1870-1966) ist für die Verbreitung des Zen über die Grenzen Japans hinaus von hervorragender Bedeutung, mit ihm beginnt „die Ablösung des Zen vom japanischen Mutterboden, […] seine Universalisierung“136. Suzukis Zen-Verständnis ist somit von besonderer Relevanz, da es das westliche - insbesondere auch das hier behandelter christlicher Zen-Meister - maßgeblich mitbestimmte und gleichzeitig einen Brückenschlag zum Christentum erlaubte. Thomas Merton sah in ihm gar „ein Symbol unserer Zeit wie Gandhi und Einstein“137. Die zweite wichtige Figur ist Yamada Kōun Rōshi (1907-1989), ein buddhistischer Zen-Meister, der „eine ganze Generation christlicher Zen- Lehrer ausgebildet hat“138 und zu dessen großen Schülerkreis viele der für diese Arbeit relevanten „Zen-Christen“ gehörten.

3.1.1 Suzuki Daisetsu Teitaro

Wie bereits dargelegt wurde, befand sich der japanische Buddhismus zur Zeit Suzukis in einer tiefen Krise: Er hatte an Privilegien und im Volk an Ansehen verloren, hinzu kam die Auseinandersetzung mit dem Christentum bzw. der westlichen Zivilisation überhaupt. In dieser Zeit traten verschiedene Reformbewegungen auf den Plan, von denen einige „besonders die Laienschaft für den Buddhismus zu gewinnen“139 versuchten. Dies war auch der Weg von Shaku Sōen (1860-1919), welcher den Buddhismus als universalen Glauben interpretierte und für eine Öffnung nach Westen plädierte. In seinen Reden „finden sich schon ähnliche Versuche, dem westlichen Menschen den Zen-Buddhismus durch Vergleiche mit christlichen Gedankengängen verständlich zu machen, wie später in dem Werk Suzuki´s“140.

[...]


1 Enomiya-Lassalle (1986), Klappentext.

2 Nicol (1992), 337.

3 Sörensen (1999), 100.

4 Zitiert nach Johnston (1977), 9.

5 Vgl. Dehn (1995), 19; Bergler (1984), 46.

6 Bergler (1984), 52.

7 Watts war Studentenpfarrer, quittierte aber den kirchlichen Dienst, nachdem der Versuch, Zen in seine Arbeit einzubeziehen, von seinen kirchlichen Vorgesetzten abgelehnt wurde. Vgl. von Brück / Lai (1997), 255f.

8 Vgl. dazu Dehn (1995), 20-23. Ein zentraler Punkt Johnstons wird jedoch in Kapitel 3.3.2 Erwähnung finden. 5

9 Vertreter dieser „Schule“ beschäftigten sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit europäischer Philosophie und Christentum und waren bemüht, „durch diese Auseinandersetzung vor allem den Zen-Buddhismus philosophisch neu zu formulieren“. Von Brück / Lai (1997), 167.

10 A.a.O., 207.

11 Gensichen (1990), 11.

12 Berner u.a. (2004), 1959.

13 Ebertz (1996), 285.

14 Berner u.a. (2004), 1964.

15 Ebertz (1996), 286.

16 Vgl. Markschies (2001), 538f.

17 Berner u.a. (2004), 1960.

18 Vgl. Döring (1996), 434f.

19 Berner u.a. (2004), 1959.

20 Stolz (2001), 528.

21 Vgl. Berner u.a. (2004), 1960.

22 A.a.O., 1963.

23 A.a.O., 1966.

24 Döring (1996), 434.

25 Vgl. Berner u.a. (2004), 1968.

26 Vgl. Döring (1996), 434f.

27 Berner u.a. (2004), 1966f. Dies stellt jedoch kein spezifisch christliches Problem dar. Vergleichbare Forderungen finden sich z.B. auch in Judentum, Islam oder Theravāda-Buddhismus. Vgl. ebd.

28 Religionsgemeinschaften wie auch persönliche religiöse Überzeugungen sind notwendigerweise und zwangsläufig Veränderungen unterworfen.

29 Berner u.a. (2004), 1967.

30 So Raimundo Panikkar. Vgl. Döring (1996), 444.

31 Döring (1996), 435.

32 Döring (1996), 438.

33 Vgl. a.a.O., 438f.

34 A.a.O., 442. Döring zitiert hier von Brück.

35 A.a.O., 444f.

36 Vgl. a.a.O., 440.

37 Von Brück (2004), 7.

38 Dieser Fokus ist für die in der Einleitung formulierte Frage nach der Möglichkeit der Ablösung des Zen vom Buddhismus von entscheidender Bedeutung.

39 D.h. die buddhistische Lehre.

40 Zitiert nach von Brück (2004), 34.

41 Von Brück vermutet an verschiedenen Orten zugleich herausgebildete Bewegungen als Ursprung des ch’an in China. Vgl. a.a.O., 22f.

42 Vgl. Pörtner / Heise (1995), 165.

43 Vgl. von Brück (2004), 19, 26f. Hui-k’o gilt als Nachfolger Budhidharmas, welcher zugleich als 28. indischer und erster chinesischer Patriarch geführt wird.

44 Vgl. a.a.O., 23.

45 Pörtner / Heise (1995), 159. Aus diesem Grund kann Zen auch als „Meditationsschule des chinesischen Buddhismus“ bezeichnet werden. So z.B. von Brück (2004), 7.

46 Pörtner / Heise (1995), 159. Zu Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkten in Denken und Sprache vgl. von Brück (2004), 10-12, 20f.

47 Vgl. von Brück (2004), 52. Die größte Streitigkeit war wohl die zwischen der sogenannten Nord- und SüdSchule, bei der es um die Frage ging, ob die Erleuchtung allmählich, graduell (Nord) oder plötzlich, spontan (Süd) erfolge. Zwar unterschieden sich beide Schulen bzgl. Lehre und Praxis wohl nicht sonderlich voneinander, dennoch sprach die Südschule von einem „Schisma“. Vgl. a.a.O., 40f.

48 Vgl. Munsterberg (1978), 27f.

49 A.a.O., 52.

50 Rinzai wurde von Eisai (1141-1215), Sōtō von Dōgen (1200-1253) begründet. Sie sind bis heute die größten Zen-Schulen Japans und unterscheiden sich im Stil etwas voneinander: während im Sōtō-Zen v.a. die Meditation und maßvoller intellektueller Zugang betont werden, liegt im Rinzai-Zen der Akzent, neben der Meditation, auf den sogenannten k ō an und einem „möglichst direkten Zu- und Durchgriff auf die Erleuchtung“ (Pörtner / Heise (1995), 201). Zu Meditation und k ō an vgl. Kapitel 2.2.2.

51 Vgl. Munsterberg (1978), 56. Vgl. dazu jedoch auch Pörtner / Heise (1995), 201, die darauf hinweisen, dass dieser Einfluss im Westen oft überbewertet wird.

52 Pörtner / Heise (1995), 202.

53 A.a.O., 226.

54 A.a.O., 229.

55 Vgl. von Brück (2004), 81-83.

56 Vgl. a.a.O., 89f.

57 Vgl. Victoria (1999), 22f.

58 Von Brück (2004), 92. Zu einer detaillierten Verbindung von Zen und japanischem Nationalismus vgl. Victoria (1999).

59 Zen-Meister Harada Daiun Sogaku, zitiert nach Victoria (1999), 9.

60 Von Brück (2004), 93.

61 Bergler (1984), 39.

62 Vgl. a.a.O., 41f.

63 Vgl. Keller (1995), 12.

64 Nach von Brück / Lai das weitverbreitetste buddhistische Buch im deutschen Sprachraum. Vgl. von Brück / Lai (1997), 210.

65 Vgl. Herrigel (1999), 16.

66 A.a.O., 22-24.

67 A.a.O., 15.

68 Vgl. a.a.O., 24f.

69 Haas (1993), 295.

70 Suzuki (1999), 33f.

71 Zitiert nach von Brück (2004), 27. Die Worte werden traditionell Bodhidharma zugeschrieben.

72 Vgl. Pörtner / Heise (1995), 167. Dies bedeutet aber nicht, dass nicht auch im Zen Sūtras rezitiert werden. Vgl. dazu von Brück (2004), 30.

73 Dieser ist wiederum die letzte der „vier edlen Wahrheiten“: die Wahrheit vom Weg zur Aufhebung des Leidens.

74 Vgl. López-Gay (2001), 1421.

75 Vgl. von Brück (2004), 13.

76 Die Begriffe werden oft synonym verwendet, jedoch bezeichnet kensh ō „das erste Aufleuchten der Erleuchtung oder von satori“, dem endgültigen Erwachen. Rzepkowski (1973), 148 (Anmerkung 46).

77 Vgl. von Brück (2004), 7-9, 18.

78 A.a.O., 9

79 Vgl. von Brück (2004), 15-17.

80 Vgl. Waldenfels (2001), 1420.

81 Zitiert nach Suzuki (1994), 17.

82 Vgl. Pörtner / Heise (1995), 171.

83 Vgl. Munsterberg (1978), 42f. Auch dies ist eine zunächst schwer nachvollziehbare Handlung, die aber vom Anhaften befreien soll.

84 Zitiert nach Yamada (1989), 30.

85 Vgl. Leppin (2007), 7.

86 Vgl. Gerlitz (1994), 534ff.

87 Haas (1993), 294 (Anmerkung 36).

88 Vgl. Leppin (2007), 8.

89 Heidrich (1984), 268.

90 Leppin (2007), 9.

91 Vgl. a.a.O., 9-11.

92 Diese waren aber ursprünglich anders gemeint und wurden erst später mystisch gedeutet. Vgl. dazu a.a.O., 18.

93 A.a.O., 19.

94 A.a.O., 26.

95 A.a.O., 31.

96 Zitiert nach a.a.O., 33.

97 A.a.O., 32.

98 Vgl. a.a.O., 28.

99 A.a.O., 40.

100 Das sogenannte Jesusgebet, das in Kapitel 2.3.2 näher beschrieben wird.

101 Damit greift Palamas zum einen auf neutestamentliche Begrifflichkeiten zurück, die auch schon die Kirchenväter verwendeten. Andererseits ist hier noch immer der neuplatonische Einfluss spürbar. Vgl. Leppin (2007), 53.

102 Vgl. a.a.O., 54f.

103 Vgl. a.a.O., 56-58.

104 Vgl. Chidester (2000), 239.105 Leppin (2007), 64.

106 Vgl. a.a.O., 67-69.

107 Vgl. Chidester (2000), 240f.

108 Dasselbe gilt auch für Hildegart von Bingen. Mit Bonaventura (ca. 1217-1274) aber erhalten eindeutig mystische Züge Eingang in die Franziskanerbewegung. Vgl. Leppin (2007), 80-85.

109 A.a.O., 87.

110 Vgl. a.a.O., 86f.

111 Eckhart wählt hierfür verschiedene Bezeichnungen, beispielsweise auch „Grund“, meint aber dasselbe. Vgl. a.a.O., 99.

112 Der Vorgang der Geburt erfolgt nach Eckhart gegenseitig: „Im gleichen Zuge, da er seinen eingeborenen Sohn in mich gebiert, gebäre ich ihn zurück in den Vater.“ Zitiert nach a.a.O., 105.

113 Zitiert nach a.a.O., 100.

114 Ebd.

115 A.a.O., 103.

116 Zitiert nach a.a.O., 104.117 Zitiert nach ebd.

118 Vgl. a.a.O., 111f., 115.119 A.a.O., 116.

120 Vgl. a.a.O., 118.

121 Vgl. a.a.O., 113f.

122 A.a.O., 116.

123 Mieth (1993), 326. 124 Nicol (2002), 965.

125 Lat. meditari bezeichnet „eine intensive und wiederholte Beschäftigung mit einer Sache“. Nicol (1992), 338.126 Vgl. Seitz (2001), 91f.

127 Nicol (1992), 339.128 A.a.O., 343.

129 A.a.O., 344.

130 Vgl. Chidester (2000), 244f. Chidester zieht an dieser Stelle explizit den Vergleich zu anderen Religionen, u.a. dem Buddhismus: „Like hesychasm, the practices of Hindu yoga, Buddhist meditation, Taoist alchemy, and many other religious disciplines begin with adopting a specific bodily posture, regulating the flow of breathing, and focusing attention in a particular region of the body.“ A.a.O., 245.

131 Vgl. Seitz (2001), 91f.

132 Vgl. Chidester (2000), 245.

133 Vgl. Nicol (1992), 339-342.

134 Deutlich wird dieses Interesse u.a. an den praktisch-theologischen Auswirkungen, die sich in einem neuen Zugang zum biblischen Wort, sowie dem Einzug meditativer Elemente in Homiletik, Seelsorge, Religionspädagogik oder Gottesdienst zeigen. Vgl. a.a.O. 351f.

135 A.a.O., 347f.

136 Keller (1995), 13.

137 Rzepkowski (1971), 9.

138 Von Brück / Lai (1997), 164. 139 Rzepkowski (1973), 33.

140 Rzepkowski (1971), 4. Vgl. dazu auch eine Broschüre, die anlässlich des Weltparlaments der Religionen von Zen-Kreisen in Japan verteilt wurde und die Veranstaltung als „sehr gute Gelegenheit in den christlichen Ländern den Mahayana-Buddhismus bekannt zu machen“ bezeichnete. Rzepkowski (1973), 40.

Excerpt out of 110 pages

Details

Title
Begründung, Methodik und Wirkung der christlichen Zen-Rezeption
College
LMU Munich
Grade
1,5
Author
Year
2014
Pages
110
Catalog Number
V284811
ISBN (eBook)
9783656844709
ISBN (Book)
9783656844716
File size
925 KB
Language
German
Keywords
christliches Zen, interreligiöser Dialog, Synkretismus, Mystik, Meditation
Quote paper
Alexander David Wolf (Author), 2014, Begründung, Methodik und Wirkung der christlichen Zen-Rezeption, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/284811

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