Mein Weg geht weiter – Nach schwerer Krankheit auf dem Jakobsweg


2014-11-13, 116 Seiten (ca.)

PDF, ePUB und MOBI

Originalausgabe


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Mein Weg geht weiter – Nach schwerer Krankheit auf dem Jakobsweg
Die Diagnose
Die Behandlungszeit
Die Vorbereitungszeit auf den Jakobsweg
Die große Reise nach Santiago de Compostela
25. Juli 2013 Donnerstag: Pasing – Montparnasse
26. Juli 2013 Freitag: Montparnasse – Pamplona
27. Juli 2013 Samstag: Pamplona – Cirauqui
28.Juli 2013 Sonntag: Cirauqui – Estella
29. Juli 2013 Montag: Estella – Los Arcos
30. Juli 2013 Dienstag: Los Arcos – Logrono
31. Juli 2013 Mittwoch: Logrono – Ventosa
1. August 2013 Donnerstag: Ventosa – Azofra
2. August 2013 Freitag: Azofra – Granon
3. August 2013 Samstag: Granon – Tosantos
4. August 2013 Sonntag: Tosantos – San Juan de Ortega
5. August 2013 Montag: San Juan de Ortega – Burgos
6. August 2013 Dienstag: Burgos – Ruhetag
7. August 2013 Mittwoch: Burgos – Hornillos
8. August 2013 Donnerstag: Hornillos del Camino – Castrojeriz
9. August 2013 Freitag: Castrojeriz – Fromista
10. August 2013 Samstag: Fromista – Carrion de los Condes
11. August 2013 Sonntag: Carrion de los Condes – Leon
12. August 2013 Montag: Leon
13. August 2013 Dienstag: Leon – Hospital de Orbigo
14. August 2013 Mittwoch: Hospital de Orbigo – Astorga
15. August 2013 Donnerstag: Astorga – Rabanal
16. August 2013 Freitag: Rabanal – El Acebo
17. August 2013 Samstag: El Acebo – Ponferada
18. August 2013 Sonntag: Ponferada – Villafranca del Bierzo
19. August 2013 Montag: Villafranca del Bierzo – Hospital
20. August 2013 Dienstag: Hospital – Fonfria
21. August 2013 Mittwoch: Fonfria – Triacastella
22. August 2013 Donnerstag: Triacastella – Samos
23. August 2013 Freitag: Samos – Sarria
24. August 2013 Samstag: Sarria – Portomarin
25. August 2013 Sonntag: Portomarin – Palas de Rei
26. August 2013 Montag: Palas de Rei – Melide
27. August 2013 Dienstag: Melide – Arzúa
28. August 2013 Mittwoch: Arzùa – Vilamaior
29. August 2013 Donnerstag: Endlich Santiago de Compostela!
30. August 2013 Freitag bis 1.9.2013 Sonntag: Santiago
2. September 2013 Montag: Santiago – Cee
3. September 2013 Dienstag: Cee – Finisterre / Fisterre
4. September 2013 Mittwoch: Fisterre – Santiago
5. September 2013 Donnerstag: Letzter Tag in Santiago
6. September 2013 Freitag: Abschied von Santiago de Compostela

Nachklang

Danksagung

Die Autorin

Bildnachweis

Lesetipps

MEIN WEG GEHT WEITER – NACH SCHWERER KRANKHEIT AUF DEM JAKOBSWEG

Die Rucksäcke, Schlafsäcke, Wanderhosen und viele andere Utensilien waren bereits gekauft. Wir hatten auch schon „probegepackt“ und festgestellt, dass wir gut unter dem empfohlenen Gewicht von 10% des eigenen Körpergewichtes lagen. Ende Juli sollte es losgehen, mit dem Zug nach Pamplona, einer Stadt in Nordspanien, von dort mit dem Taxi weiter zu dem einsamen Kirchlein „Santa Maria de Eunate“. Von dort aus wollten wir nach einer stillen Einkehr mit dem Weg nach Puente la Reina starten. Sechs Wochen hatten wir vor, uns auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu begeben, auf den Spuren von vielen, vielen Tausenden von Pilgern. Unsere Anspannung war groß, was uns auf diesem Weg wohl alles erwarten würde.

Doch wie kam es dazu, dass wir, mein Mann Roland und ich, diesen Weg gehen wollten? Eigentlich hatten wir uns schon vor elf Jahren vorgenommen, diese Reise zu wagen. Aber immer kam etwas dazwischen.

Der Auslöser, im Jahr 2013 den Weg wirklich zu gehen, war die schlimmste Zeit, die ich bisher in meinem Leben durchmachen musste: Am 21.11.2011 bekam ich die Diagnose „Brustkrebs“ im Alter von 58 Jahren.

Die Diagnose

Im Sommer bemerkte ich eine kleine Delle neben der Brustwarze, wenn ich meine Arme bewegte, z.B. beim Händewaschen. Ansonsten zeigte die Brust keinerlei Anzeichen für diese schlimme Erkrankung. Komischerweise sprach ich schon einige Zeit vorher zwei Ärzte und einen Heilpraktiker auf meine Brust an. Der eine Arzt ist ein recht bekannter Kinesiologe, der mir nach einigen Tests mit großer Überzeugung mitteilte, dass ich keine Veranlagung zu Brustkrebs hätte. Der zweite Arzt, ein äußerst guter Facharzt für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) hörte ebenfalls auf meine Frage in den Pulsen nichts Beunruhigendes in meinem Körper. Der dritte im Bunde, ein Heilpraktiker, der sehr bekannt für seine gute Augendiagnose ist, teilte mir nach einem tiefen Blick in meine Augen mit, dass er absolut nichts sehen könne. Bei allen drei Untersuchungen muss der Krebs schon da gewesen sein, so groß wie er bei der Diagnose bereits war. Nach diesen beruhigenden Aussagen sah ich die hin und wieder erscheinende „Delle“ als so etwas wie „Orangenhaut“ an. Dann bekam ich im Oktober 2011 einen blauen Fleck auf der linken Brust und Schmerzen in der Achselhöhle. Der Arzt, der TCM praktiziert, meinte, es sei schon möglich, dass in einer nicht zu kleinen Brust schon mal ein Äderchen platzt. Die Schmerzen vergingen wieder.

Anfang November erzählte mir meine Patentante, die damals 85 Jahre alt war, dass sie wahrscheinlich Brustkrebs habe. Auf meine Frage, wie sie das bemerkt habe, antwortete sie mir, dass es kein Knoten war, sondern eher so etwas wie eine „Schwellung“. Mir wurde heiß und kalt! Ich ging noch einmal zum Augendiagnostiker. Er teilte mir nach der Untersuchung wieder mit, dass im Auge nichts zu sehen sei, drängte jetzt aber doch darauf, dass ich zum Gynäkologen gehen solle, was ich am Montag darauf tat.

Es war ein sehr großer Befund mit fast fünf mal drei Zentimetern und schon befallenen Lymphknoten. Nun folgte die härteste Zeit in meinem Leben. Im ersten Augenblick dachte ich, dass ein solch großer Befall nicht zu überleben sei. Doch zum Glück bekam ich auf meine Frage: „Habe ich überhaupt noch eine Chance?“ ein klares „selbstverständlich“ vom Arzt zurück. Trotzdem brach unter mir der Boden weg. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, um unfallfrei mit dem Auto nach Hause zu fahren. Mein Mann, Roland, war am Morgen dieses Tages zu einer Dienstreise nach Hannover aufgebrochen. Als er dann am späten Nachmittag nichtsahnend bei mir anrief, bekam er von mir nur zu hören: „Bitte fahre mit dem nächsten Zug wieder nach Hause, ich habe wahrscheinlich Brustkrebs.“ Roland trat sofort die Heimreise an und war gegen elf Uhr nachts wieder zurück. Von diesem Augenblick an blieb er an meiner Seite wie ein Fels in der Brandung. Ohne ihn hätte ich das alles nicht so gut durchgestanden. Auch kümmerten sich meine Tochter Catrin und ihr Mann Markus um mich. Die beiden waren, so wie es ihre Zeit erlaubte, für mich da und lenkten mich oftmals mit Spieleabenden von meinen trüben Gedanken ab.

Nun ging es Schlag auf Schlag. Dienstagmorgen Mammographie, Diagnose „leider Mammakarzinom linke Brust bei 1.00 Uhr“. Ich war wie betäubt. Hatte ich Metastasen im Körper? Die Sonographie für den Oberbauch sollte ich erst eine Woche später bekommen. Nach einer zum großen Teil durchwachten Nacht weckte ich meinen Mann auf und bat ihn, dass wir einfach um 8.00 Uhr zur Radiologie fahren, damit ich gleich dran komme. Die Damen am Empfang des Radiologischen Zentrums München-Pasing waren sehr nett und machten die sofortige Untersuchung möglich. Als die Ärztin mir mitteilte, dass der Oberbauch frei von Metastasen ist, fiel ich ihr erst einmal um den Hals. Sie sah mich mitfühlend an und meinte, ich hätte nun ein schweres halbes Jahr vor mir, aber ich würde es schaffen. Danach wurde noch die Röntgenaufnahme der Lunge gemacht, das Ergebnis ebenfalls negativ. Ich weinte vor Glück. Das war der Mittwoch.

Am Donnerstag war die Biopsie an der Reihe, das Ergebnis sollte am Dienstag danach fertig sein. Montags wurde das Szintigramm des Knochengerüstes durchgeführt. Und wieder hatte ich Glück. Außer „altersbedingten Abnutzungserscheinungen“ kein weiterer Befund. Ich fühlte mich beinahe wieder gesund.

Das Ergebnis der Biopsie hieß „G 3, herr2-negativ, hormonbedingtes lobuläres Karzinom“. Auch das ließ mich wieder etwas aufatmen, wusste ich doch von früher, dass die hormonbedingten Tumoren im Allgemeinen etwas weniger aggressiv sind als die anderen. Heute sind aber auch die herr2-positiven Tumoren sehr gut behandelbar. Manchmal sprechen diese Tumoren sogar besser auf die Chemotherapie an als die hormonbedingten.

Was mir bis dahin sehr geholfen hatte, war der Kontakt mit der Leiterin einer Selbsthilfegruppe für Brustkrebs: die „mamazonen“. Diese Ansprechpartnerin, selbst an Brustkrebs erkrankt, unterhielt sich eine volle halbe Stunde erst mit mir und dann noch eine ganze Stunde mit meinem Mann, da ich anfangs nicht in der Lage war, so intensiv über das Thema „Brustkrebs“ zu sprechen. Eine meiner vier Schwestern, Medizinredakteurin und spezialisiert auf Krebserkrankungen, hatte mich zu dieser Selbsthilfegruppe gebracht und auch sonst mit Tatsachen versorgt, die mir sehr viel Mut machten.

Jetzt stand zur Wahl: „Was tun?“ Und vor allem „Wo?“

Der Frauenarzt, bei dem ich war, operierte selbst Brustkrebspatientinnen und hatte auch Markus’ Mutter, die ein paar Jahre vorher ebenfalls diese Diagnose bekommen hatte, operiert. Eine meiner Qigong-Schülerinnen meinte, mich zu einem recht bekannten Spezialisten bringen zu können, was allerdings fehlschlug, da ich keine Privatpatientin bin. Ich wollte von Anfang an in das Krankenhaus des Dritten Ordens in München. Irgendwie hatte ich dort ein gutes Gefühl. Und das trog mich auch nicht. Im dortigen Brustzentrum untersuchte mich als erstes der Leiter, Herr Oberarzt Dr. O. und erfreute mich sofort mit der Aussage, dass er von einer kompletten Heilung ausgehe.

Er zeigte mir zunächst die Möglichkeiten auf: Bei der enormen Größe meines Befundes wäre bei einer sofortigen Operation keine Brusterhaltung möglich gewesen. Er schlug mir deshalb vor, mich neoadjuvant, das heißt vor einer Operation, mit Chemotherapie zu behandeln. Das hätte auch den Vorteil, dass man am Haupttumor in der Brust und an den pathologisch vergrößerten Lymphknoten sehen könne, ob diese Form der Chemo, die ich bekommen sollte, auf meine Krebserkrankung einwirkt. Im Anschluss an acht Chemotherapien sollte die Operation erfolgen und nach der Wundheilung, ungefähr vier bis sechs Wochen nach der Operation, noch fünf bis sieben Wochen Bestrahlung. Danach eine Langzeittherapie über ca. fünf Jahre mit Aromatasehemmern.

Ich stimmte der Variante der neoadjuvanten Behandlung zu. Somit musste ich mich damit auseinandersetzen, den Tumor noch ungefähr ein halbes Jahr mit mir „herumzutragen“. Komischerweise machte mir das gar nichts aus. Ich war immer der Meinung gewesen, wenn ich mal Krebs bekommen würde, müsste ich mich sofort durch Operation davon befreien. Keinen Tag konnte ich mir vorstellen, wissentlich mit einem bösartigen Tumor in mir zu leben. Und jetzt funktionierte das auf einmal.

Und so wurde ich für drei Tage stationär aufgenommen, um den Port eingesetzt zu bekommen und die erste Chemotherapie unter Aufsicht zu erhalten. Der Port ist ein Gefäßzugang, um über längere Zeiträume hinweg Arzneimittel, in meinem Fall die Chemotherapie, direkt dem Gefäßsystem zuführen zu können.

Die Behandlungszeit

Während und direkt nach der ersten Chemotherapie fühlte ich mich gut und dachte, dass das so bleiben würde. Drei Tage danach bekam ich üble Nebenwirkungen und stellte fest, dass der Weg durch diese Form der Behandlung das Schwerste war, das ich jemals durchgemacht hatte. Ich bekam die sogenannte zweizyklische Chemotherapie, die in Fachkreisen als äußerst wirksam beschrieben wird. Anfangs tröstete ich mich noch damit, dass die erste Form wohl schwerer zu verkraften sei als die zweite Form. Doch ich wurde eines besseren belehrt. Auch die zweite Form bereitete mir üble Missbefindlichkeiten, die mich an den Rand dessen brachten, was ich glaubte, ertragen zu können. Ich fühlte mich nicht mehr mit meinem Körper verbunden, er roch anders und wurde mir fremd. Es war mir übel, ich konnte weder essen noch trinken. Mein Darm reagierte erst mit Verstopfung, dann mit Durchfall. Der Blutdruck sprang rauf und runter, der Puls ging im Liegen bis auf einhundertzwanzig Schläge hoch. Sodbrennen und ein merkwürdiges Schweregefühl in der Magengegend verhinderten die normale Nahrungsaufnahme und das Trinken über einige Tage. Nur mit großer Mühe konnte ich geringe Flüssigkeitsmengen und Essen zu mir nehmen. Ich kochte mir häufig Pfannkuchensuppe, die ich am besten vertrug und essen konnte. Mein Wissen über Qigong half mir in dieser Zeit sehr. Ich hielt mir bei Übelkeit häufig den sogenannten „Magenpunkt 36“, das ist ein Akupunkturpunkt seitlich unterhalb des Knies. Leichte energiestärkende Übungen, wie „Wecke das Qi“ taten mir sehr gut, wie auch eine spezielle nierenstärkende Form des Gehens, das sogenannte „XiXiHo-Gehen“.

Beim ersten Zyklus der Taxane, also meiner fünften Chemotherapie, landete ich per Sanitätswagen in der Notaufnahme der Klinik. Ich hatte Doppelbilder, wohl wegen der geringen Flüssigkeitsmenge, die ich zu mir nahm. Ich habe durch eine frühere schwere Kieferhöhlenoperation keinen knöchernen Orbitaboden mehr unter dem rechten Auge, so dass sich durch das Austrocknen der Schleimhäute die Lage des Auges veränderte. Nach einer größeren Gabe von NaCl (Salzwasser per Infusion) regelte sich das zum Glück wieder. Ich bat darum, die Menge der Taxane zu verringern. Diesem Wunsch wurde entsprochen, so dass ich nur noch 80% der ursprünglich vorgesehenen Menge bekam. Es ging besser, aber es blieb heftig. Viele Tränen und noch mehr Hadern begleitete die Zeit der Nebenwirkungen. Eineinhalb Wochen ging es mir schlecht, eineinhalb Wochen ging es mir einigermaßen gut. In dieser Zeit des „Gutgehens“ hielt ich sogar einen regelmäßigen Qigong-Kurs bei der AOK in München ab, zwei Wochen Kurs, eine Woche Bett abwechselnd. Auch bei unserer Qigong-Ausbildungsgruppe fehlte ich kein einziges Mal.

Trotz aller Schwierigkeiten ging ich immer wieder gut gelaunt in die Onkologie, um die nächste Chemo zu erhalten. Denn das menschliche Klima dort war äußerst angenehm. Schwester Monika blieb immer ruhig und fröhlich, trotz allem Stress. Auch die Ärztin, die mich betreute, baute mich jedes Mal auf und machte mir Mut.

Die Zeit raste dahin, so dass ich kaum zum Nachdenken kam. Schon ein dreiviertel Jahr später fiel es mir schwer, mich wieder richtig zurückzuerinnern. Man vergisst zum Glück schnell, und ich hatte die Chance, wieder ganz gesund zu werden. Mir war zu Ohren gekommen, dass einige Frauen, die die harte Behandlungsschiene aus Angst abgelehnt hatten, Knochenmetastasen bekamen und manche sogar starben. Mit einer dieser Frauen war ich gut bekannt, sie lebt leider auch nicht mehr. Lohnt sich das? Dann doch lieber eine harte Zeit der Chemo und danach geht es wieder weiter. Ich kann und möchte allen Frauen, die dieses Schicksal trifft, Mut machen, diesen Weg einzuschlagen. Ich durfte in der ganzen Zeit im Brustzentrum und der Onkologie des Dritten Orden in München beste Erfahrungen mit der Kompetenz und Menschlichkeit aller in diesem Haus Tätigen machen.

Trotz Chemotherapie belief sich die Größe des Tumors bei der Operation noch auf ca. drei Zentimeter. Vor allem aber erschreckte mich, dass die Lymphknoten, die bildgebend inzwischen gutartig und klein zu sein schienen, doch noch bösartig waren. Zum Glück hatte ich in Herrn Professor G. einen ausgezeichneten Operateur. Er ist ein Plastischer Chirurg, der sich auf „onkologische Frauen“ mit großen Befunden spezialisiert hat. Beherzt entfernte er auch noch die ersten zwei Segmente Lymphknoten, obwohl der Wächterlymphknoten gutartig war. Er war irritiert dadurch, dass dieser innerhalb der Brust lag und es keine weiteren gab. Deshalb sein radikales Verfahren, da er wusste, dass ich nach allem, was ich bis dahin durchgemacht hatte, kein Risiko wollte.

Nun folgte die Bestrahlungszeit, 33 Einheiten. Ich wurde wegen des Krebsbefalls der Lymphknoten im Brustbereich großräumig bestrahlt.

Auch in dieser Praxis traf ich auf ein ausschließlich sehr kompetentes Fachpersonal und vor allem auf eine sehr zugewandte Ärztin, wie schon im Brustzentrum des Dritten Ordens in München. Ihnen allen möchte ich von ganzem Herzen für die wunderbare Betreuung während dieser schlimmen Zeit danken!

Die Bestrahlungen verliefen problemlos. Nach den Behandlungen ging ich durch unseren schönen Nymphenburger Schlosspark zu Fuß nach Hause und übte im Freien Qigong. Das tat mir sehr gut – und ich blieb fit. Trotz der 33 Termine erlitt ich keinerlei Verbrennungen. Auch von dem Fatique-Syndrom (Müdigkeits-Syndrom), unter dem viele Frauen durch die Bestrahlung leiden, blieb ich verschont. Die Ärztin aus der Strahlentherapie-Praxis begleitete mich mit ihrem wunderbaren Humor und viel Zuversicht durch diese Zeit, die zwar im Gegensatz zu allem Anderen von der Anwendung her eher angenehm war, doch das Gefühl, dass Strahlen in den Körper eindringen, verunsicherte mich schon.

Im Mai 2012, zwischen der Chemotherapie und der Operation am 1. Juni, fuhr ich mit meinem Mann in unser Lieblingshotel, das Biohotel „Daberer“ in St. Daniel/Westkärnten www.biohotel-daberer.at. Diese Zeit tat mir unendlich gut. Die Hotelleitung und alle Mitarbeiter gingen auf sämtliche meiner Wünsche ein und bescherten mir somit zwei beinahe unbeschwerte Wochen. Denn meine Ernährung war in dieser Zeit recht schwierig, da ich kaum noch Geschmack im Mund hatte, manchmal allerdings sogar einen sehr schlechten bei bestimmten Nahrungsmitteln. Auf alles – und auf das Einheizen der Sauna nur für mich – ging das Personal wie selbstverständlich ein. Herzlichen Dank, Familie Daberer und Mitarbeiter!

Nach Abschluss der Bestrahlungen durfte ich in die Anschlussheilbehandlung. Ich entschied mich dafür, eine anthroposophische Klinik in der Nähe von Paderborn, „Schloss Hamborn“, aufzusuchen, da ich mich sehr gerne mit natürlichen Mitteln wieder aufbauen lassen wollte. Vor allem wollte ich Iscador, ein Mistelpräparat der Anthroposophen, kennenlernen. Es war eine wirklich gute Entscheidung. Ich fühlte mich in Schloss Hamborn sehr wohl. Ich liebe es schon seit langem, mich biologisch und vegetarisch zu ernähren, und genau das war dort Usus. Jeden Abend zog ich los, um mir frische Himbeeren von einem Demeter Fruchthof für mein Frühstück zu besorgen. Außerdem genoss ich die Natur ausgiebig durch einen täglichen Marsch mit meinen Nordic-Walking-Stöcken.

Ich fühlte mich schon da wieder sehr fit und bereit, den Jakobsweg zu gehen. Es zog mich schier dorthin. Immer wieder las ich alle Bücher, die ich nur finden konnte, um mich auf den Weg vorzubereiten. Mit den Erzählenden der Bücher pilgerte ich richtig mit. So war ich traurig, dass ich noch ein ganzes Jahr warten musste, um meinen langersehnten Traum wahrzumachen. Denn ich träumte in den Nächten wirklich schon vom Jakobsweg, wohl angeregt durch die viele Literatur, die ich mir einverleibte.

Einen Aussendungsgottesdienst für diesen Weg machten mein Mann und ich bereits im April 2012 in der Kirche des Angerklosters in München mit. Zu diesem Anlass erhielten wir unsere Pilgerausweise. Danach machten wir uns testweise auf den Weg von München nach Schäftlarn, den ersten Teil des Münchner Jakobsweges. Ich stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor meiner letzten Chemotherapie. Der Weg war 24 km lang bis Ebenhausen, der S-Bahn-Station, von der aus wir wieder nach München zurückfuhren. Nach 15 km war für mich eigentlich die Grenze erreicht. Doch ich musste weiter, denn wir waren mitten im Wald, und es gab keine Möglichkeit, früher zu einer S-Bahn zu gelangen. Am Abend hatte ich Schüttelfrost und Schmerzen im ganzen Körper. Zum Glück rief meine Tochter Catrin an und lud uns zu einem Spiele-Abend ein. Da konnte ich nicht nein sagen und quälte mich hoch. Kurz danach waren der Schüttelfrost und die Schmerzen wieder verschwunden. Der Leiter des Brustzentrums, Herr Dr. O., bekräftigte mich darin, dass es sehr gut sei, mich zu fordern.

Eigentlich wollte ich – als spirituell interessierter Mensch – die Dauer der intensiven Behandlung für mein inneres Wachstum nutzen. Welch hohe Erwartung! Heute bin ich froh, die Zeit einigermaßen überstanden zu haben. Es verwundert einen doch, wie viel ein Körper aushalten kann. Ich bin sehr dankbar, dass der schulmedizinische Weg heute so ausgereift ist, dass die Überlebensrate von früher 20% der erkrankten Frauen auf heute über 80% angestiegen ist.

Es half mir auch sehr, dass viele meiner Qigong-Schülerinnen und -Schüler mir zur Seite standen. Gerade hatten wir unsere erste Qigong-Kursleiter-Ausbildung begonnen, und schon musste ich meinem Schülerkreis sagen, dass ich Brustkrebs hatte. Die Anteilnahme war groß. So haben einige für mich gebetet. Eine ältere Schülerin, Maria, die selbst an Multipler Sklerose leidet, zündete jeden Tag eine Kerze für mich an. Besonders berührte mich, dass ein Muslim, der Ehemann einer Ausbildungsschülerin, mich in sein tägliches Gebet eingeschlossen hatte. Auch bat er seinen Vater, der nach Mekka zu einer Pilgerreise aufgebrochen war, mein Anliegen, gesund werden zu wollen, dorthin mitzunehmen. Die gesamte Pilgergruppe des Vaters betete in Mekka für mich. Es war ein schönes Gefühl, sowohl im christlichen als auch im islamischen Glauben getragen zu sein.

Die gesamte Zeit von der Diagnosestellung bis zum Abschluss der Behandlungen dauerte fast auf die Stunde genau 40 Wochen.

Am 19. April 2013 war ich bei der ersten Mammographie seit der Diagnose. Es war ein schwerer Gang für mich. Ich merkte deutlich, dass ich das Ganze noch nicht verarbeitet hatte. Wie auch! Die Erlösung kam, als der Arzt mir sagte, es sei alles in Ordnung. Am 23. April folgte die Sonographie des Bauchraumes. Auch hier war alles ohne Befund! Ich hätte weinen können vor Freude und großer Dankbarkeit. Roland, der mich begleitete, war ebenfalls sehr erleichtert. Nun stand dem Jakobsweg nichts mehr im Wege. Irgendwie habe ich seit dieser Nachsorgeuntersuchung das Gefühl, wieder ganz gesund zu sein. Hoffentlich stimmt mein Gefühl.

Fast täglich ging ich mit meinen Stöcken in den Park und trainierte für diesen Pilgerweg. Auch fuhren wir nochmal für 9 Tage in unser Lieblingshotel „der daberer“ nach Kärnten, wo wir weiter für den Weg trainierten. Es fiel mir erst hinterher auf, dass wir genau an dem Tag in Urlaub fuhren, als ich genauso alt wurde wie meine Omi – die Mutter meines Vaters – als sie starb.

Omi hatte mit 58 Jahren ebenfalls die Diagnose Brustkrebs bekommen. Sie starb am 17. Juni 1955, als ich noch nicht ganz zwei Jahre alt war. Merkwürdigerweise habe ich von klein an mit viel trauriger Liebe an Omi gedacht, obwohl ich sie nie bewusst kennengelernt hatte. Das Volkslied „Im schönsten Wiesengrunde“ war, seit ich es kannte, in meinem Gefühl mit ihr verbunden – warum auch immer, ich weiß es nicht. Heute habe ich das tiefe Gefühl, dass Omi mich durch diese Zeit von einer anderen Ebene aus begleitet hat und noch immer begleitet.

Meine Mutter bekam mit fast 57 Jahren Darmkrebs. Sie ließ sich operieren und war anschließend gerne dem Ausspruch eines Arztes gefolgt, sie könne den Krebs jetzt vergessen, die Darmenden des entnommenen Darmteiles seien krebsfrei gewesen. Ein anderer Arzt machte sie dagegen wohl auf die Gefahr aufmerksam und empfahl ihr regelmäßige Kontrollen. Aber sie wollte es wohl einfach vergessen können – was ich heute sehr gut verstehen kann! Im Oktober 1983 bemerkte Mutti wieder etwas im Darm. Sie ging zur Untersuchung und musste sich ab da mit der niederschmetternden Aussicht abfinden, dass sie laut untersuchendem Arzt höchstens noch zwei Monate zu leben habe.

Mein Vater beschäftigte sich daraufhin mit Möglichkeiten der alternativen Behandlung und stieß dabei auf Iscador, ein Mistelpräparat. Ich recherchierte ebenfalls und erfuhr von der Arlesheimer Lukasklinik der Anthroposphen. Mutti konnte im November noch in dieser Klinik aufgenommen werden. Am 19. Juni 1984, 11 Tage nach ihrem 60. Geburtstag, starb sie dann leider. Für meinen Vater war das eine sehr schwere Zeit, da er sich ein Leben so ganz alleine kaum vorstellen konnte. Zum Glück fand er wieder eine Frau, die er eineinhalb Jahre nach dem Tod meiner Mutter heiratete. Allerdings war diese Ehe nur noch von relativ kurzer Dauer, denn im November 1994 verstarb mein Vater an den vielen Metastasen, die er durch eine Hautkrebserkrankung bekam. Auch mein Großvater mütterlicherseits ist an Darmkrebs verstorben, gerade einmal fünf Jahre vor meiner Mutter.

Nun stellte sich die Frage, ob sich die Krebsdiagnosen in unserer Geschwister-Generation fortsetzen würden. Meine vier älteren Geschwister durften jedoch alle den 60. Geburtstag bei guter Gesundheit erleben. Meine jüngste Schwester bekam allerdings im Alter von 52 Jahren einen Schlaganfall, der zum Glück recht gut ausging. Als ich meine Diagnose bekam, war sie es, die mir immer wieder Mut zusprach und in engem Kontakt zu mir stand. Leider hat sie den guten Kontakt zu mir wieder abgebrochen, als ich „gesund“ war.

Was war das für eine „Gesundheit“, die ich wiedererlangt hatte? Ich war gebeutelt durch alles, was ich in diesen 40 Wochen durchgemacht hatte. Eingespannt in ein engmaschiges System während dieser Zeit war ich kaum zum Nachdenken gekommen. Aber danach begannen die seelischen Kapriolen. Ich war froh, dass ich schon vorher mit einer tiefenpsychologischen Therapie begonnen hatte, die ich zur Krankheitsbewältigung einer im Juni 2010 aufgetretenen cerebralen Dystonie antrat. Diese Therapie hatte mir schon bei der Diagnosestellung des Brustkrebses sehr geholfen. Im Nachhinein erwies sie sich als essentiell. Obwohl wir wenig über die Krebserkrankung sprachen, war Herr Dr. Mestekemper eine riesengroße Hilfe für meine seelischen Achterbahnfahrten. Manchmal ging es mir tagelang wunderbar und dann kamen die Abstürze in tiefe Löcher.

Ich hatte vor 25 Jahren schon einmal unter heftigen Panikattacken gelitten, die ich verabschieden konnte, indem ich lernte, diese Panik zu akzeptieren und einzuladen. Das war damals, als müsste ich lernen, den Tod anzunehmen, was mir fünf heftige Jahre bescherte. Aber dadurch konnte ich ohne Psychopharmaka diese schwere Krankheit zur Heilung bringen. Diese Bewältigungsstrategien des Annehmens konnte ich nun wieder gut gebrauchen. Insofern waren die Löcher schlimm, aber erträglich. Und ab der ersten Nachsorge war ich richtig entspannt. Ich hatte direkt danach einen Traum, in dem ich die Krankheit zu verabschieden hatte. Es war ein interessanter Traum, da ich Trauer über den Abschied verspürte. Der Grund war der, dass nun alles wieder „wie vorher“ sein würde. Doch noch im Traum merkte ich, dass natürlich nichts mehr wie vorher war. Und so wich die Trauer über die Verabschiedung der Krankheit einem wonnigen Gefühl, dass ich in dieser Zeit viele Erfahrungen sammeln durfte, die mein Leben jetzt sinnvoll begleiten.

Auch mein Aussehen ist anders geworden. Ganz davon abgesehen, dass ich nun mit Begeisterung eine Kurzhaarfrisur trage, die ich mir früher nie hätte schneiden lassen, ist mein Gesicht durchscheinender geworden, und ich mag nichts mehr an Schminke oder Make-up auftragen. Ganz „nackt“ fühle ich mich nun echt. Nur einen Schmuck habe ich reaktiviert: Ich habe meine bereits zugewachsenen Ohrlöcher wieder aufstechen lassen und besitze inzwischen eine bunte Sammlung an Ohrringen – vorwiegend von meiner Tochter Catrin – und einen selbstgemachten von meiner künstlerisch begabten Schwester Siegrit. Und trotz allem begleitet mich die Krankheit immer. Wahrscheinlich spreche ich vielen betroffenen Frauen aus der Seele, wenn ich sage, dass die Angst vor den regelmäßigen Untersuchungen eine treue Begleiterin geworden ist.

Einiges habe ich nach meiner Genesung in meinem Leben geändert: regelmäßiges Trockenbürsten am Morgen, mehr sportliche Betätigung als vorher. Und seit dem Frühjahr 2013 nehme ich wieder Ballettstunden bei einem sehr guten Ballettlehrer, Klaus Kerber, der auch unser Qigong-Ausbildungsschüler geworden ist. Und ich lege noch mehr Wert auf gesunde Ernährung als vor der Erkrankung.

Die Vorbereitungszeit auf den Jakobsweg

Mit Begeisterung stürzte ich mich nun in die intensive Zeit der Vorbereitung auf den Jakobsweg. Hierfür waren wir in einem sehr guten Geschäft in München, bei „Globetrotter“. Dort gibt es alles unter einem Dach. Wir wurden ausnehmend gut beraten. Man kann die Rucksäcke mit dem entsprechenden Gewicht beladen aufsetzen und spüren, mit welchem man sich wohl fühlt. Das Fachpersonal im Verkauf stellt den gewünschten Rucksack gleich auf die Person ein, die ihn kauft. Vor allem haben die Fachverkäufer einen guten Blick dafür, welchen Rucksack sie einem Käufer entsprechend seiner Statur anbieten können und auf was man achten sollte.

Zusätzlich wurde ich auf den Pilgerverein Paderborn aufmerksam, www.jakobusfreunde-paderborn.eu. Mit der Vize-Präsidentin, Frau Gesine de Castro, telefonierte ich ein paar Monate vor unserem Wanderbeginn fast eine Stunde lang. Sie schickte mir daraufhin viel Informationsmaterial, vor allem ein sogenanntes „Gelbes Heft“, in dem alle bekannten Unterkünfte mit kurzen Beschreibungen aufgeführt waren. Außerdem machte sie sich die Mühe, mir einige spanische Worte aufzuschreiben, die ich persönlich benötigte, z.B. weil ich Vegetarierin bin.

Weiterhin las ich wie ein Weltmeister Bücher über den Jakobsweg, Erfahrungsberichte genauso wie Wegbeschreibungen. Ich glaube, es gibt kein Buch über diesen Weg, das ich nicht gelesen habe. Meine Qigong-Schülerinnen und -Schüler schenkten mir einen großen Bildband über diesen Weg, an dem ich mich heute noch bei jedem Durchblättern erfreue.

Der Tag der Abreise rückte während unserer Vorbereitungen immer näher. Zu guter Letzt kauften wir die Fahrkarten für den Zug und packten unsere Rucksäcke. Hier meine Packliste:

Kleidung:

4 Unterhosen, 2 Unterhemden, 2 T-Shirts, 2 Hosen, 2 Paar Socken, Schuhe/Sandalen, Flip-Flops, Hut/Tuch, Fleece-Jacke, Regencape, Nachtgewand

2 Mini-Handtücher (Microfaser), 1 leichter Schlafsack, 1 einfaches Leintuch oder Hüttenschlafsack

Sachmittel:

Taschenmesser, Taschenlampe, Geldbeutel, EC-Karte, Ausweis, Krankenversicherungskarte, Handy, Wanderstöcke, Wäscheklammern, Trinkflaschen, Waschpaste, Feuerzeug, Wörterbuch, Reiseführer, Notizheft, Kugelschreiber, Pilgerpass, Fahrkarten, Geld, Kamera, Wecker

Körperpflege:

Duschmittel, Seife, Haarbürste/Kamm, Zahnbürste, Zahnpasta, Nagelzwicker, Hautcreme, Sonnenschutzmittel, Papiertaschentücher

Medizin:

Wundheilsalbe, Desinfektionsmittel, Pflaster, Blasenpflaster, Fußbalsam, homöopathische Reiseapotheke, evtl. Hirschhorntalg

Essbares:

Müsliriegel, Nüsse

Die Fahrt nach Pamplona würde einen Tag dauern, mit einer kurzen Nachtruhe in Paris, so dass wir am 26. Juli um 17.30 Uhr dort ankommen würden. Geplant war eine Übernachtung dort in der Pilgerherberge „Paderborn“, um uns dann am nächsten Tag mit dem Taxi nach „Santa Maria de Eunate“ fahren zu lassen. Es soll eine der schönsten Kirchen in dieser Gegend sein, die aber nicht direkt am Jakobsweg liegt. Von dort aus würde es nicht mehr weit sein nach Puente la Reina. Diesen Weg wollten wir als Einstieg nehmen, um dann am Sonntag, dem 28. Juli 2013, den langen Weg von 750 km zu beginnen.

Noch fuhren meine Gefühle Achterbahn. Immer wieder kam die Angst, es könnte bis dahin etwas auftreten, was mir den Jakobsweg unmöglich machen würde. Es standen noch zwei Untersuchungstermine an, einer bei der Frauenärztin und einer in der Onkologie.

Eigentlich fühlte ich mich gesund, aber die Unsicherheit über meinen Gesundheitszustand würde und wird mich sicherlich weiterhin begleiten. Der Schock war zu groß. Es war wie ein Trauma, das eine Form von Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) nach sich zieht. Diesen Gefühlen musste und muss ich mich immer wieder stellen und trotzdem die Zuversicht nicht verlieren.

Die große Reise nach Santiago de Compostela

25. Juli 2013 Donnerstag: Pasing – Montparnasse

Es war sehr windig, aber schön, als wir Abschied von zu Hause nahmen. Wir fuhren mit der S-Bahn nach Pasing. Von dort aus ging es weiter mit dem Zug nach Stuttgart, dann mit dem TGV nach Paris Est. Wir ließen uns mit dem Taxi zum Hotel „Innova“, in der Nähe des Bahnhofes Montparnasse bringen. Das Hotel war sauber, das Zimmer klein, aber für die kurze Nacht ausreichend.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Aufbruch am Pasinger Bahnhof

26. Juli 2013 Freitag: Montparnasse – Pamplona

Um 7.00 Uhr morgens gingen wir bei strömendem Regen zum Bahnhof Montparnasse, nur ca. 10 Minuten von unserem Hotel entfernt. Dort versorgten wir uns mit Croissants und Kaffee, um im Zug zu frühstücken. Wir hätten uns auch noch etwas für das Mittagessen mitnehmen sollen, denn im Zug gestaltete es sich um die Mittagszeit recht schwierig und teuer, etwas Vegetarisches zu essen zu finden. In Poitiers hatten wir einen „Zwangsaufenthalt“ von ca. 1 ½ Stunden, die Lok war defekt. Für uns war das nicht schlimm, da wir sowieso in Irun über zwei Stunden Aufenthalt haben würden, bis der Zug nach Pamplona weiterführe. In Hendaye, der Grenzstadt in Frankreich, mussten wir den Zug jedoch verlassen, weil er nicht mehr weiter nach Irun in Spanien fuhr. Der Grund wurde uns nicht genannt.

Wir stiegen in einen Bus um, der uns über die Grenze nach Irun brachte. Dort hatten wir ausreichend Zeit, uns zu orientieren. Das war auch gut so, denn am Bahnsteig war alles abgesperrt. Wir wurden durch eine „Menschenschleuse“ geleitet. Dort kontrollierten zwei Bahnangestellte unser Ticket. Erst dann durften wir den Bahnsteig und den Zug betreten. Der Zug war stark klimatisiert und dadurch eiskalt, so dass wir unsere Fleece-Jacken anziehen mussten. Die anschließende Fahrt durch die Pyrenäen war wunderschön! Eine herrliche Berglandschaft breitete sich neben uns aus.

Bei der Ankunft in Pamplona um 17.30 Uhr nahmen wir ein Taxi und nannten dem Fahrer die Adresse der Casa Paderborn. Entweder hatte er uns nicht richtig verstanden oder er wollte es nicht. Jedenfalls brachte er uns zum Zubringerbusbahnhof für den Flughafen. Anscheinend sahen wir mit unseren Rucksäcken und Sonnenhüten nach Sommerfrischlern aus. Es dauerte ein bisschen, bis wir ihm klarmachen konnten, wo wir wirklich hin wollten. Endlich erreichten wir, nach einer etwa halbstündigen Irrfahrt durch Pamplona, unser Ziel, die Casa Paderborn.

Die Hospitalera, die „Herbergsmütter“, in der Casa Paderborn waren so nett und reservierten uns zwei Betten, denn normalerweise sind die Herbergen abends bereits vollständig belegt. Die beiden, Ysabel und ihre Schwester, empfingen uns sehr freundlich. Wir bekamen zwei Betten in einem Vierbettzimmer, zusammen mit zwei Bulgarinnen. Obwohl es ein fürchterlich heißer Tag war, schauten wir uns noch das Stadtzentrum von Pamplona an, das lustigerweise durch einen Fahrstuhl im Freien erreichbar ist, da die Stadt auf zwei Ebenen errichtet wurde. Wir mussten also den Berg nicht zu Fuß besteigen.

Die Nacht war nicht gut, denn die Hitze blieb trotz offenem Fenster hartnäckig im Zimmer. Wir schliefen unruhig – sicherlich auch, weil am nächsten Morgen unsere große Pilgerreise begann …

27. Juli 2013 Samstag: Pamplona – Cirauqui

Mit dem Taxi ließen wir uns nach Muruzabal bringen, denn wir wollten die Reise sanft beginnen. Von dort hatten wir geplant, zu der eingangs schon erwähnten schönen kleinen Kirche „Santa Maria de Eunate“ zu gehen, um nach einer stillen Einkehr den Weg anzutreten. Leider dachten wir nicht daran, dass die Kirche geschlossen sein könnte – sie war es! Auf einem Plakat stand, dass sie erst um 10.30 Uhr geöffnet würde. Und jetzt war es erst 8.30 Uhr. Zwei Stunden wollten wir nicht warten. Ein Spanier, der mit dem Auto neben uns hielt, meinte, dass sie schon um 9.00 Uhr geöffnet wird. Wir warteten mit ein paar anderen Pilgern bis 9.15 Uhr, aber niemand erschien. Und so gingen wir etwas enttäuscht zurück auf den Jakobsweg nach Obanos, um von dort nach Puente la Reina zu gelangen, wo wir die Nacht verbringen wollten.

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Santa Maria de Eunate

Als wir in Puenta la Reina ankamen, war dort ein ziemlicher Trubel, denn das Jakobusfest, das jedes Jahr am 25. Juli stattfindet, wurde über das ganze Wochenende gefeiert. Stierattrappen in Fahrradform wurden durch den Ort geschoben. Die Kinder kreischten und waren begeistert. Dann fuhr noch eine Art „Stierauto“ herum, das aus allen möglichen Öffnungen Wasser spritzte. Es war ein fürchterlicher Lärm – zu viel für unseren ersten Tag. Und so beschlossen wir, in das nächstliegende Dorf zu wandern, um dort zu übernachten.

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Brücke in Puenta la Reina

Es war ein beschwerlicher Beginn unserer Reise, denn wir mussten in der Mittagshitze ein sehr steiles Stück Weg nach oben in Richtung Autobahn steigen. Der Anstieg dauerte – fast senkrecht hinauf – 25 Minuten. Ich war ganz schön geschafft! In Maneru, dem Ort der ersten Herberge, trafen wir auf Elke aus Norddeutschland und einen Vater mit zwei erwachsenen Kindern, einer Tochter und einem Sohn, aus Südafrika. Wir teilten unsere Melone, die wir in Puenta la Reina erstanden hatten, mit den vieren und ließen uns dazu überreden, mit ihnen bis nach Cirauqui zu gehen. Dort sollte es, laut Auskunft von Elke, eine schöne private Herberge geben. Der Weg dorthin war sehr entspannend und angenehm, nur der Aufstieg im Ort war nochmal etwas schweißtreibend.

Die Herberge „Maralotx“ sah wirklich einladend aus und war zum Preis von 10,-- Euro pro Person recht günstig. Es gab dort große Räume, die mit Etagenbetten ausgefüllt waren. Roland und ich bezogen eines davon gleich neben der Türe an der Wand, Roland oben, ich unten. Das Dorf Cirauqui, das leicht erhaben auf einem kleinen Hügel liegt, empfanden wir als sehr idyllisch. Es ist ein sehr alter Ort mit vielen verwinkelten Gässchen. Doch es gab keine Einkehrmöglichkeiten, und der Lebensmittelladen sollte erst wieder gegen Abend öffnen. In der Herberge wurde ein Pilgermenü bereitet. Aber nachdem wir Vegetarier sind, konnten wir nicht daran teilnehmen, denn es gab Schnitzel zu essen. Gerne hätten wir uns ein Menü geteilt, um die Beilagen zu essen und das Fleisch an andere zu verschenken, aber das wurde uns nicht erlaubt. Und so warteten wir notgedrungen bis zum Abend, um uns im Lebensmittelladen etwas Essbares kaufen zu können. In der Zwischenzeit duschten wir und wuschen unsere Wäsche. Und weil es hierfür kein warmes Wasser gab, holte Roland das Wasser einfach aus der Dusche nach oben auf die schöne Veranda zu den Waschzubern.

Die Nacht war fürchterlich, eine Dame aus Spanien schnarchte unheimlich laut und in den hellsten Tönen, und die Kirchenglocken, die viertelstündlich schlugen, hatten einen eigentümlich harten Klang. Viele im Schlafsaal waren wach, stöhnten, wälzten sich von einer Seite zur anderen. Um ca. 1.00 Uhr nachts reichte es mir. Ich stand auf und rüttelte die Dame. Sie schreckte hoch – und das Schnarchen hörte erst einmal auf. Doch kurz darauf begann das Konzert von Neuem. Um 2.15 Uhr hörte ich bewusst das letzte Mal den harten Klang der Kirchturmuhr direkt vor unserem Fenster, dann schlief ich wohl vor Erschöpfung ein.

Es war ein Start, wie wir ihn uns ganz anders vorgestellt hatten. Die geschlossene Kirche am Anfang, dann trafen wir in der Herberge Maralotx auf Pilger, die eigentlich keine Pilger mehr waren, sondern, wie sie erzählten, eher Menschen, die die sportliche Herausforderung suchten. Der Anstieg in der Mittagshitze war teuflisch und ich hatte dabei etwas zu viel Sonne abbekommen. Die Stimmung etwas gehoben hatte das Treffen mit Elke und der südafrikanischen Familie. Aber die erste Pilgermesse, die wir in der Kirche in Cirauqui erlebten, war eine ganz normale Messe ohne Pilgersegen, was wir sehr enttäuschend fanden. Und so hoffte ich, dass der ungute Beginn sich noch zu einem guten Pilgern wandeln würde, was zum Glück auch so war.

28.Juli 2013 Sonntag: Cirauqui – Estella

Um 3.30 Uhr früh dachte ich, es sei bereits 5.30 Uhr, weckte Roland, und wir begannen, uns anzuziehen. Elke kam und zeigte uns die richtige Uhrzeit. Und so legten wir uns angezogen nochmal gemeinsam in mein unteres Bett. An Schlafen war nicht mehr zu denken, wir dösten nur noch ein bisschen, denn der Schlaf war für uns nach all diesen Störungen vorbei. Gegen 6.00 Uhr früh gingen wir, nach dem „Genuss“ eines Automatenkaffees und abgepackten Keksen, gemeinsam mit Elke los. Es war zu dieser frühen Uhrzeit absolut ruhig im Dorf. Einige von den orange-gelben Laternen wiesen uns den Weg aus dem Ort heraus, dann wurde es richtig dunkel. Vor uns gingen zum Glück zwei junge Frauen mit Taschenlampen.

Der Weg gestaltete sich nicht einfach. Wir liefen bergab über eine alte Römerstraße, die sehr steinig war, vor allem große Steine lagen unregelmäßig auf der Erde. Insofern mussten wir gut aufpassen, um nicht zu stolpern. Unsere Augen gewöhnten sich mit der Zeit an die Dunkelheit. Langsam wurde es grau und die Sonne ging auf. Der Morgen war klar und freundlich, und wir bewunderten die herrliche Natur um uns herum. Es war ein abwechslungsreicher Weg: Wir gingen an Feldern und Weinbergen vorbei und begegneten vereinzelt Pferden, die auf kargen Koppeln grasten. Anschließend mussten wir an der Autobahn entlang pilgern, die wir mehrmals durch Tunnel unterquerten. Wir kamen durch kleinere Orte, Lorca und Villatuerta, wo wir einen Kaffee tranken, und an der Eremita de San Miguel Arcángel vorbei, bis wir nach einiger Zeit Estella erreichten.

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Kirche von Villatuerta

Elke ging weiter; sie hatte nicht so viel Zeit, da sie Lehrerin ist und Ende August wieder zu Hause sein musste. Wir wollten gerne in der Herberge ANFAS nächtigen, die von behinderten Menschen geleitet wird. Aber es gab dort nur einen riesigen Raum, der aussah, als ob er früher einmal ein Supermarkt gewesen wäre. Unzählig viele Etagenbetten standen darin – und man konnte sich vorstellen, wie viele Schnarcher dann in der Nacht den anderen den Schlaf rauben würden. So entschieden wir uns, das Hotel „Chapitel“ am Ort aufzusuchen. Durch einen Mittagsschlaf versuchten wir, unseren fehlenden Nachtschlaf nachzuholen. Ich war nach 15 Minuten wieder munter. Und so machten wir einen Rundgang durch Estella, auch, um unsere Pilgerpässe abstempeln zu lassen. Wir suchten ein gut aussehendes Restaurant auf und bestellten Bandnudeln mit Tomatensoße. Vegetarisches Essen zu bekommen, war auf dem ganzen Weg echt schwierig. Es wurden uns verkochte Nudeln mit einer rosa Soße serviert, die nach allem anderen schmeckte, nur nicht nach Tomatensoße – und daneben auf dem Teller lagen Pommes Frites! Der ganze Spaß kostete pro Person 9,50 Euro! Das konnte ja heiter werden!

Zurück im Hotel legten wir uns nochmal hin und schliefen ein. Nach dem Aufwachen ereilte mich das heulende Elend. Irgendwie fühlte ich mich falsch und außen vor. Ich wusste, noch eine durchwachte Nacht würde ich nicht durchhalten, deshalb das Hotelzimmer. Aber alle anderen waren zusammen in der Herberge und wir waren alleine. Meine Rolle wurde mir sehr gegenwärtig. In meiner Kindheit wähnte ich mich immer als Außenseiter und hätte so gerne dazugehört. Auch später passierte das immer wieder. Kurz nachdem wir nach unserem dreijährigen Aufenthalt am Benediktushof in Holzkirchen bei Würzburg wieder nach München zurückgingen, bekam ich Cerebrale Dystonie im Hals-Nacken-Bereich und 1 ½ Jahre später die Krebsdiagnose. Mir wurde klar, dass mein Gefühl, ein Außenseiter zu sein, eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung des Krebses gespielt haben könnte. Eine Last auf meinem Herzen – und der Tumor lag genau in der linken Brust über dem Herz. Die Tränen kamen und lösten den Druck in mir.

Gegen Abend schlenderten wir noch einmal in die Stadt, um etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen. Wir saßen vor einem Lokal in der Fußgängerzone. Neben uns diskutierten lauthals zwei Hundebesitzer. Ihre beiden kleinen „Lieblinge“ hingen noch an ihren Leinen, die auf der Straße lagen. Und so ärgerten sich die beiden kleinen Kläffer damit, dass immer einer die Leine des anderen ins Mäulchen nahm und daran zog. Der geärgerte zahlte es dann dem anderen mit gleicher Münze heim.

29. Juli 2013 Montag: Estella – Los Arcos

Gut ausgeschlafen verließen wir gegen 6.00 Uhr morgens das schöne Hotel. Es war wunderbar, bei Dunkelheit loszugehen. Anfangs ging es nur bergauf bis zum Kloster Irache mit dem legendären Weinbrunnen, der zu dieser frühen Stunde noch keinen Wein spendete, der aber, wenn er fließt, sehr gut sein soll. Aber wir sahen zwei Skarabäen, die mühsam über den Weg krabbelten. Nach einem unschönen Campingplatz rechts von uns kamen wir auf eine Anhöhe.

Und plötzlich schob sich die Sonne als glutroter Ball über den Horizont. Ein erhebender Augenblick! Anschließend wanderten wir durch eine herrliche Landschaft. Waldig mit einem riesigen Ausblick auf die angrenzenden Täler und Berge. In Azqueta machten wir Pause und frühstückten. Es war noch recht kühl. Mehrere ausgehungerte Katzen bettelten, indem sie „Männchen“ machten, um etwas Kuchen, den sie tatsächlich fraßen.

Weiter ging es durch die schöne Landschaft, immer bergauf, bergab, bis wir Villamayor erreichten. Dort bekamen wir einen ersten Vorgeschmack auf die Meseta. Kilometerlang wanderten wir auf Wirtschaftswegen in der prallen Sonne, bis endlich nach ca. 10, aber gefühlten 20 Kilometern der Ort Los Arcos auftauchte.

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Auf dem Weg nach Los Arcos

Eine langgezogene Gasse führte uns in den kleinen Ortskern. Dort bezogen wir Quartier in der Pension „Mavi“, die in einem idyllischen Gässchen lag. Das Zimmer war sauber und klein. Diesmal fiel ich saumüde mit schmerzenden Beinen ins Bett. Nach einer halben Stunde war ich so weit, dass ich duschen und meine Wäsche waschen konnte. Nachdem wir Mittag gegessen hatten, verwickelte ich Roland nach einem nochmaligen Mittagsschlaf in ein Gespräch. „Wie gehen wir mit uns um, wie mit unserem Leben?“ „Wofür lebe ich und habe meine Gesundheit wiedererlangt?“ Doch wirkliche Erkenntnisse kamen uns nicht, wir waren uns in unseren Vorstellungen uneinig. Roland vertrat mehr die Meinung, dass es nichts Besonderes geben muss, ich wollte – wohl bedingt durch meine Erkrankung – unbedingt Neues spüren. Doch ich merkte schnell, dass man das nicht erzwingen kann. Vielleicht würde der Weg ja noch was bringen?

Nach unserem Gespräch kauften wir ein und aßen unser Brot, den Käse, die Tomaten und Gurken und als Nachtisch Nektarinen und Bananen am Kirchvorplatz. Ein Pilger spielte auf der Geige, um sich seinen Weg zu verdienen. Zu Vivaldis „Winter“ aus den „Vier Jahreszeiten“ tanzten Roland und ich einen einfachen Tanz von Bernhard Wosien, einem Balletttänzer und Choreographen.

Die anschließende Pilgermesse in der Kirche von Los Arcos war schön: Jeder Pilger bekam ein Blättchen, auf dem in seiner Muttersprache ein Pilgergebet stand. Und so erlebten wir zum ersten Mal, dass wir als Pilger gesehen wurden.

30. Juli 2013 Dienstag: Los Arcos – Logrono

Wieder starteten wir früh morgens bei Dunkelheit. Das war während des gesamten Weges die schönste Zeit des Tages. Aus den Herbergen am Weg kamen vereinzelt Pilger. Ein stiller Aufbruch in die Dunkelheit, die uns wie ein angenehm kühler Mantel einhüllte. Aus dem Nachtblau des Himmels wurde ein Grau, im Osten begann es langsam weiß zu werden, später rot und gelb, aber im Norden blieb der Himmel dunkelblau. Unser Weg führte uns von Los Arcos nach Logrono. Kurz vor Sansol ging die Sonne an einem strahlend blauen Himmel auf. Wir schafften es gerade noch, den Fotoapparat bereit zu machen, um das herrliche Schauspiel zu fotografieren. Einen kurzen Augenblick später stand die Sonne bereits vollständig am Horizont. Ein Götterbild! Ich sang „Es tagt der Sonne Morgenstrahl“ der Sonne entgegen.

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Sonnenaufgang bei Sansol

In Santo Sepulcro gab es die bisher besten Croissants zum Frühstück. Sehr lange wanderten wir durch eine kurzweilige Natur nach Viana. Wieder ging der Weg ständig bergauf, bergab, zum Teil richtig steil. Ich war sehr froh über meine Nordic Walking Stöcke, die ich beim Abwärtsgehen schräg nach vorne aufstützte, um meine Knie zu schonen. Der Weg führte teilweise an der Straße entlang. Zum Glück war wenig Verkehr. Je näher wir nach Viana kamen, umso mehr wuchs der Wunsch, bis nach Logrono weiter zu pilgern, was ich aber später bereute. Denn obwohl wir Logrono schon die ganze Zeit sahen, war der Weg dorthin noch recht weit. Vor allem war es gar nicht so einfach, durch Viana hindurch zu finden, denn der Ort ist sehr verwinkelt. Man musste gut auf die gelben Pfeile achten.

Ein schattenloser Weg führte uns nach Logrono, nur ein winzig kleines Wäldchen und ein paar vereinzelte Bäume spendeten uns etwas Kühle. Die Sträucher am Wegrand gaben nur für die Füße Schatten. Und es kam noch schlimmer! Wir gingen an großen Autobahnauffahrten und -abfahrten vorbei und kamen auf eine rot geteerte „Pilgerrennbahn“ mit ein paar neu gepflanzten Bäumen, die noch keinen Schatten spendeten, da sie sehr klein waren. Das einzig Gute war, dass wir durch einen Tunnel mussten. Diese, vielleicht 5 bis 6 Kilometer lange Strecke von Viana nach Logrono forderte mich bis zum letzten! Das Thermometer zeigte gut über 40 Grad Celsius. Zum Glück begegnete uns noch eine nette Abwechslung: Donna Marias Stand kurz vor Logrono. Dieser Platz ist ein Highlight des Jakobsweges, wo man kleine Snacks und Getränke und selbstverständlich auch den Pilgerstempel „Sello“ bekam. Schon Donna Marias Mutter stand den Pilgern auf diese Weise zur Seite. Nach dem Tod der Mutter übernahm Maria dann den Stand. Weiter ging es unerträglich lange Minuten bis in die Stadt. Wir ergatterten für 30,-- Euro direkt gegenüber der Kathedrale in der Pension „La Redonda“ ein kleines Doppelzimmer.

Auf der Couch im Empfangsbereich sitzend, spürte ich die Überlastung meiner Beine und meines rechten Knies. Ich war so müde und geschafft, dass ich kaum noch aufstehen konnte, um ins Zimmer zu kommen. Eine Pilgerin aus Italien, die ebenfalls in dieser Pension wohnte, sprach uns an. Sie wollte wissen, ob wir auch Pilger seien, wo wir gestartet waren und wie weit wir gehen wollten. In unserem Zimmer angelangt, überkam mich die Sorge: „Halte ich durch?“ „Wie soll ich morgen weitergehen?“. Ich hoffte, am nächsten Morgen wieder mit einem guten Gefühl zu erwachen, um in die Dunkelheit gehen zu können … Vom Dunkel ins Licht …

Die Abendmesse in der Kathedrale Santa Maria de La Redonda war meditativ, aber nicht direkt auf Pilger ausgelegt. Trotzdem kam ich in eine gute Stimmung und fasste wieder Zuversicht. Wir blieben noch auf dem großen Platz in Logrono. Die Temperatur war nach wie vor sehr hoch, bei fast 40 Grad. Aber es kam langsam etwas Wind auf. Wir trafen die beiden Bulgarinnen, mit denen wir in Pamplona das Zimmer geteilt hatten. Nach dem Abendessen lernten wir neue Mitpilger kennen. Roland unterhielt sich mit Sven aus Norwegen, während ich mit Doris aus der Schweiz Bekanntschaft schloss. Sven hatte seinen letzten Tag, am nächsten Morgen flog er wieder nach Hause. Ihn lässt der Weg nicht mehr los. Während seine Frau mit einer Freundin auf Mallorca weilte, ging er zum wiederholten Male eine Etappe auf dem Camino. Den ganzen Weg hatte er schon längst hinter sich. Doris wiederum war zum ersten Mal auf dem Weg, startete aber bereits in Zürich und war dadurch schon einige Monate unterwegs. Sie wollte bis Santiago de Compostela weitergehen.

In der Nacht hatte ich solch starke Schmerzen in den Beinen und Füßen, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, am nächsten Tag wieder weiter zu pilgern. Aber ich schaffte es …

31. Juli 2013 Mittwoch: Logrono – Ventosa

Um 5.50 Uhr starteten wir am nächsten Morgen, ich konnte tatsächlich wieder gehen! Bei Dunkelheit wanderten wir lange durch die doch recht große Stadt. Es war etwas anstrengend, da die Hinweiszeichen, die Pilgermuscheln, in den Boden eingelassen und bei Dunkelheit nicht so gut auszumachen waren. Der Weg ging zu unserer Freude diesmal sehr eben weiter. Wir kamen an einem schönen Stausee vorbei, einem großen Erholungsgebiet – natürlich inklusive Mücken! Ich beklagte den ersten Mückenstich, der aber zum Glück der einzige blieb. Dazu waren wir beide an diesem Tag sehr geschafft. Wahrscheinlich hatte uns der gestrige Weg doch zu sehr überfordert mit den knapp 29 km. Wir erreichten ein Weinbaugebiet, in dem es ziemlich nach Chemie stank. Es wurde gespritzt, so dass die Blätter der Reben in den Weinbergen richtig blau aussahen. Ich weiß schon, warum ich keinen Wein aus konventionellem Anbau mag und wurde darin bestärkt.

Und wieder war die Autobahn neben uns. Der Maschendrahtzaun, der die Autobahn vom Pilgerweg trennt, war von zahlreichen Pilgergenerationen mit kleinen Kreuzen aus Stöckchen verziert worden. Uns fiel ein Standbild von einem übergroßen Stier aus schwarzem Metall ins Auge. Es ist eines der berühmten spanischen Stierstandbilder, die wie Schilder anmuten. Bevor wir Navarrete erreichten, streiften wir die Ruinen des alten Pilgerhospitals „San Juan de Acre“. In Navarrete hatten wir eine schöne Auswahl an Bars, in denen wir unser Frühstück einnehmen konnten. Aber mit der dortigen Kirche hatten wir wieder Pech, die Türe war verschlossen. Das ist Usus auf dem Jakobsweg, da es leider immer wieder Menschen gibt, die sich durch das Stehlen von Kirchengütern selbst bereichern müssen. Schade!

Weiter ging es durch Weinbaugebiete und an der Autobahn entlang, bis wir endlich nach links einbiegen konnten und nach Ventosa gelangten. Wir waren – auch wegen der Hitze – recht geschafft, als wir um 11.15 Uhr dort ankamen. Der Weg war schattenlos und sehr staubig, und die Temperatur dürfte wieder gut die 40 Grad-Grenze überschritten haben. Die einzige Herberge des Ortes war noch bis 14.00 Uhr geschlossen. Aber, man höre und staune, in dem verschlafenen Ort mit verschlossener Kirche und fehlendem Lebensmittelladen gab es ein wunderschönes Hotel! Es hat nur zwei Sterne, kommt aber in der Ausstattung gut an ein deutsches 4-Sterne-Hotel heran. Es hieß „Las Agendas“, und die Inhaber sprachen gut Englisch. Das Hotel empfing uns mit einem sehr liebevoll eingerichteten Zimmer mit vielen spanischen Antiquitäten, gepaart mit modernem Bad und einem Waschtisch aus Holz. Es wurde für uns persönlich vegetarisch gekocht, denn wir waren die einzigen Gäste. Der gedeckte Tisch war ein Gedicht! Die Dame des Hauses teilte an der langen Tafel mit einem dezenten Tischtuch einen kleinen Bereich ab und legte Sets unter die Teller, die stilvoll zur Tischdecke harmonierten. Wir bekamen ein Gemüserisotto serviert und als Nachtisch halbgefrorenes Limetteneis gespritzt mit Apfelcidre. Dezente Musik begleitete unseren Essensgenuss. Das Hotel kostete zwar 65,-- Euro und pro Abendessen 15,00 Euro, aber für das, was uns geboten wurde, war das angemessen. Die Besitzerin war sehr freundlich und entgegenkommend. Sie richtete uns abends noch ein schönes Frühstück, so dass wir uns morgens bald auf den Weg machen konnten.

Trotz des schönen Ambientes war meine Stimmungslage nicht so, wie ich sie gerne gehabt hätte. Ich war zwar ruhig, beinahe schon gleichgültig, aber auch schnell genervt, was Roland ertragen musste. Mein rechtes Knie schmerzte seit dem Vortag ziemlich stark, besserte sich aber im Laufe der Zeit immer mehr. Beim Pilgern selbst spürte ich zum Glück nichts. Jeden Abend dachte ich, dass ich am nächsten Morgen nicht weitergehen könne – und es ging doch immer weiter! Wir freuten uns auf eine gute Nachtruhe in dem schönen Hotel – aber weit gefehlt! Die Einwohner des Ortes machten die Nacht zum Tage. Selbst Kinder spielten bis Mitternacht und darüber hinaus im Freien. Es war dadurch ein Lärm im Gange, aber auch die Mütter taten das ihre dazu.

Als ich endlich einschlafen konnte, schreckte ich wieder hoch durch eine unbestimmte Angst, dass ich den Morgen nicht mehr erleben könnte. Das passierte mir immer wieder mal. Vielleicht, weil ich „gesund“ zum Arzt ging und dann mit der schweren Diagnose konfrontiert wurde? Ich hatte zum Glück vor vielen Jahren durch Panikattacken gelernt, Angst anzunehmen. Insofern konnte ich mit diesem Gefühl umgehen, so dass es sich immer recht bald wieder verabschiedete. Aber jede kleine Unstimmigkeit in meinem Körper nahm ich als Alarmsignal wahr. Und doch bewies ich mir beim Pilgern täglich, dass ich wohl gesund war, denn sonst hätte ich das nicht leisten können, was ich mir auf dem Weg zumutete.

1. August 2013 Donnerstag: Ventosa – Azofra

Trotz des wenigen Schlafes in der Nacht standen wir früh auf. Ich musste noch das Mistelpräparat spritzen, das ich zur Stärkung des Immunsystems verschrieben bekommen hatte, was immer etwas Zeit in Anspruch nahm, denn anschließend sollte ich jedes Mal noch10 Minuten ruhen. Wir erfreuten uns an dem liebevoll vorbereiteten Frühstück, bevor wir mit Sack und Pack das schöne Hotel um 6.10 Uhr verließen. Diesmal waren wir schnell durch den Ort Ventosa durch, er war sehr klein. Und wir hörten die gregorianischen Gesänge, mit denen die Pilger in der Albergue (Pilgerherberge) geweckt wurden. Es gab immer wieder Herbergen auf dem Weg, in denen erwartet wurde, dass die Pilger bis 6.00 Uhr im Bett blieben, so auch in Ventosa. Insofern gingen wir das erste Mal ganz alleine auf dem Weg in der Dunkelheit, was wir sehr genossen.

Wieder durften wir uns auf eine Wegstrecke einstellen, die dauernd auf und ab ging. Kurz nach 7.00 Uhr, als wir zum Glück gerade wieder auf einer Anhöhe waren, gab es einen wunderschönen Sonnenaufgang. Ein göttliches Schauspiel! Der Hügel davor war schwarz, dahinter gestaltete sich der Himmel in Rot- und Gelbtönen. Die Gelbtöne wurden von Augenblick zu Augenblick strahlender und heller, bis mit einem Mal die Sonne als goldgelber Ball am Horizont erschien. Plötzlich wurde das Tal in ein warmes, dunstiges Licht gehüllt, bis die Sonnenstrahlen die gesamte Ebene erreichten, wie in dem Lied „Und die Morgenfrühe …“ so schön beschrieben mit der Textpassage „die Sonne macht dann die Täler weit und das Leben, das wird sie uns bringen“. Für mich immer wieder sehr intensive Worte nach der Todesnähe, die ich vor kurzem noch verspürte. Es gibt so schöne Liedtexte, die diesen heiligen Vorgang beschreiben, z.B. bei dem Lied „Jeden Morgen geht die Sonne auf“ mit der Textstelle „… und die schöne, scheue Götterstunde, jeden Morgen nimmt sie ihren Lauf“. Und so ließen wir uns von diesen warmen Sonnenstrahlen in den ersten Ort Nájera geleiten, um ein zweites kleines Frühstück einzunehmen.

Nájera, ein hübscher Ort an einem Fluss, erwartete uns. Steil stieg der Weg aus dem Ort heraus wieder an, aber zum Glück nicht lange. Die Markierungen waren nicht gut, leider schon seit Ventosa. Man musste mit dem Blick zur Erde gehen, denn die Muscheln waren nur auf dem Gehweg am Boden hin und wieder eingelassen und die gelben Pfeile unten an die Bordsteinkanten angemalt. Manchmal war das Gras schon darüber gewachsen. Also hieß es, Augen offen und nach unten halten. Aber auch die vielen Fußspuren auf dem sandigen Weg waren ein Indiz dafür, dass wir uns auf dem richtigen Weg befanden. Wir wurden beinahe zu Pfadfindern.

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Najera am Rio Najerilla

Wir erstiegen eine Anhöhe. Es war ein wunderschönes Naturerleben! Rechts von uns sahen wir in einiger Entfernung das hohe Gebirge, und wir selbst befanden uns auf hügeligem Weinbaugebiet. Von der Anhöhe aus konnten wir das ganze Tal überblicken und schon unser nächstes Ziel Azofra ausmachen. Beim Bergabgehen begann wieder eine gute Wegmarkierung. Linksseitig waren ca. 2 m große Pfähle im Abstand von 1 km aufgestellt, auf denen rückwärts gezählt die Kilometer nach Santiago standen. Und so erreichten wir bei Kilometer 578 und großer Hitze den Ortsrand von Azofra.

Der Ort war wieder pilgerfreundlicher als Ventosa. Es gab einen ganztägig geöffneten Lebensmittelladen und eine schöne öffentliche Herberge „Alberge Municipal“ mit einem einladenden Hof, in dessen Mitte ein großer Springbrunnen stand. Wir waren um 11.15 Uhr noch zu früh, um 12.00 Uhr wurde erst geöffnet. Doch wir konnten im Hof sitzen und wurden durch die Reinigungsdamen dazu ermuntert, unsere Füße im Brunnen zu kühlen, was wir auch gerne taten. Vielleicht hatte ich deshalb an diesem Tag keine Schmerzen in den Beinen?

Wir aßen unser Mittagessen, selbst gemachte Bocadillos – große längliche Brötchen – mit Käse, Tomaten und Gurken belegt, wofür wir uns die Zutaten in Nájera eingekauft hatten. Als Pilger bekamen wir dort je einen halben Liter Wasser geschenkt! In der Herberge in Azofra gab es ausschließlich Zwei-Bett-Zimmer, die an ein Liegewagenabteil im Zug erinnerten. Vor den Betten war je eine Koje für das Gepäck.

Zwei Pilgerinnen, eine Deutsche und eine Spanierin, kamen nach uns an. Die deutsche Pilgerin hatte ziemliche Blasen an den Füßen. Wir halfen gleich mit Nadel, Feuerzeug und Blasenpflaster aus. Anschließend mussten wir unsere Wäsche waschen und hatten das Glück, dass eine Waschmaschine vorhanden war. Danach duschten wir und fielen in den wohlverdienten Mittagsschlaf. In der Zwischenzeit hatte sich die Herberge gefüllt. Auch eine Familie aus Münster, die wir in Los Arcos bereits getroffen hatten, war wieder da. Dieses Mal gab es viele Deutsche. Es entspannte uns direkt, wieder die eigene Muttersprache zu hören. Einige kochten sich selbst ihr Abendessen, so auch wir. Das, was ich in den vielen Erlebnisberichten gelesen hatte, dass abends Kontakte beim Essen geknüpft werden, hatten wir bisher noch nicht erlebt. Viele waren bereits in Gruppen unterwegs. Und die, die alleine waren, zeigten uns häufig, dass sie das auch bleiben wollten.

Auch wir waren gerne unabhängig und wollten nichts erzwingen. Man sollte seinen Weg so gestalten, wie man es braucht, denn kaum einer ist ohne Grund auf dem Jakobsweg. Unser Ziel war es, uns selbst und unser Miteinander wiederzufinden, nach all dem Schweren, das uns in den letzten knapp zwei Jahren begleitet hatte. Jeden von uns auf seine Weise. Diese Zeit hatte unser Eheleben geprägt. Zum Glück ist unsere Beziehung auf einem sehr stabilen Fundament gebaut, so dass wir uns immer wieder darauf stützen können. Ich war oft ungeduldig und ungerecht, manchmal richtig pampig. Dann überkam mich wieder ein Gefühl von tiefer Glückseligkeit, dass ich alles so gut überstanden hatte, gepaart mit der Hoffnung, nicht mehr krank zu werden. Zu diesem Gefühl hatte ein wunderbarer Arzt maßgeblich beigetragen, der nun selbst schwer erkrankt war. Ich konnte jetzt nur versuchen, ihm mit meinen täglichen Gebeten zu helfen und damit, dass ich ihn im „Gepäck“ mit dabei hatte.

Am Abend wendete sich das Blatt noch einmal. Nach unserem selbstgekochten Abendessen, Spagetti mit Gemüsesoße, saßen wir draußen am Springbrunnen. Wir unterhielten uns mit einem jungen Mann aus Freiburg. Er ist Erzieher von Beruf und studierte jetzt Soziale Arbeit und Philosophie. Er erzählte uns, dass er aus Langeweile den Camino ging. Mit Spiritualität konnte der sympathische junge Mann nichts anfangen. Wir kamen noch mit einer Norwegerin und einer Berlinerin in ein oberflächliches Gespräch. Etwas anderes war leider nicht möglich, da gegenüber am Brunnen zwei Damen dem Wein sehr zusprachen und die Lautstärke ihrer „lustigen Unterhaltung“ mit jeder neuen Flasche immer mehr zunahm.

Die Nacht war sehr heiß. Erst gegen Morgen kamen wir auf die glorreiche Idee, unsere Schwingtüren mit den Stöcken so zu verankern, dass sie leicht offen standen und trotzdem niemand herein konnte, so dass wir wenigstens noch ca. zwei Stunden etwas angenehmer ruhten. Denn um 5.00 Uhr läutete der Wecker und um 5.45 Uhr gingen wir wieder auf den Weg.

2. August 2013 Freitag: Azofra – Granon

Diesmal war es sehr dunkel, als wir starteten. Die Wegweiser konnten wir kaum erkennen. Wir hatten vergessen, unsere Taschenlampe aus dem Rucksack zu nehmen. Jetzt waren wir zu faul, nochmals nach ihnen zu kramen. Vor uns sahen wir jemanden mit einer Stirnlampe. Und so beschleunigten wir unseren Schritt, um ihn einzuholen. In der Dunkelheit kamen wir an einem Haus vorbei und merkten richtig, dass das Haus Wärme abstrahlte. Unsere Sensibilität auf die Umgebung erhöhte sich. Auch die vielen Getreidefelder gaben im Gegensatz zu den Weinbergen spürbare Wärme ab. Der Weg war langweilig, wir folgten eine gefühlte Ewigkeit einem staubigen Wirtschaftsweg. Nur die leichten Anstiege und Abstiege unterbrachen die Eintönigkeit. Und weil es im Osten ziemlich diesig war, gab es vor Ciruena einen recht späten und völlig anderen Sonnenaufgang, da die Wolken die aufsteigende Sonne verdeckten.

Der Ortsanfang von Ciruena war eine ganz merkwürdige neugebaute, luxuriöse Geisterstadt. Prächtige Häuser, zum großen Teil unbewohnt, mit einem riesigen Golfzentrum. Nach einer Weile erreichten wir den alten Ortskern, wo wir jeder ein Croissant und Schwarztee zu uns nahmen. Kaffee, stellte ich fest, vertrug ich immer weniger, obwohl er in Spanien wirklich gut war.

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Schafherde auf dem Weg nach Santo Domingo de la Calzada

Weiter ging es eintönig und meistens schnurgerade wieder den staubigen Wirtschaftsweg entlang, der zum großen Teil neben der Autobahn oder der Landstraße verlief. Endlich erreichten wir Santo Domingo de la Calzada, die Stadt mit dem Hühnerwunder.

Die Legende besagt Folgendes: Im Mittelalter pilgerte ein niederrheinisches Ehepaar mit seinem Sohn auf dem Jakobsweg. Eine hübsche Wirtstochter machte dem Sohn schöne Augen. Doch er war als frommer Pilger diesen Verführungen gegenüber unempfindlich. Aus Ärger darüber schmuggelte die Wirtstochter dem jungen Mann einen silbernen Becher in sein Gepäck, woraufhin der arme Pilger verhaftet und zum Tode verurteilt wurde. Sehr traurig zogen seine Eltern weiter. Als sie dann aus Santiago zurückkehrten, fanden sie ihren Sohn lebendig am Galgen hängend vor. Sie suchten den Bischof auf, der gerade mit dem Verspeisen von zwei gebratenen Hühnchen beschäftigt war und berichteten ihm, dass ihr Sohn am Leben sei. Der Bischof schickte das Ehepaar mit den Worten weg, dass eher seine zwei Brathühner anfangen würden zu gackern, als dass die Geschichte der Eltern wahr wäre. Und wie man sich vorstellen kann, fingen die beiden Brathühner tatsächlich an zu gackern. Der Sohn, von dem die Legende sagt, dass der Heilige Jakobus ihn während der ganzen Zeit gehalten habe, wurde lebend vom Galgen genommen und die Wirtstochter wurde verurteilt. Seitdem werden in der Kirche von Santo Domingo de la Calzada jeweils ein Hahn und eine Henne gehalten. Manchmal hört man sie während der Pilgermesse gackern.

Ein recht schöner Ort, dieses Santo Domingo de la Calzada, mit zwei Luxushotels der Kette „Parador“. Und die Kirche war geöffnet (!!), kostete aber Eintritt. Doch sie war wirklich sehenswert. Als Pilger bekamen wir einen Sonderpreis, wir zahlten statt 4,-- Euro nur 3,-- Euro. Es umfing uns eine schöne und ruhige Stimmung, die durch mittelalterliche sakrale Musik untermalt wurde. Leider entdeckten wir das Huhn und die Henne in der Kirche nicht, obwohl uns gesagt wurde, dass die beiden tatsächlich da waren.

Nach dem Verlassen des Ortes ging es wieder langweilig und staubig dahin. Der Kopf wurde nur gefordert durch die teilweise schlechten Markierungen. Genau um die Mittagshitze gab es wieder Aufstiege, die zwar nicht extrem, aber bei über 40 Grad ohne Schatten schwer zu ertragen waren. An diesem Tag flimmerte die Luft richtig. Interessant war, dass man von dem Ort Granon zuerst die Spitze des Kirchturms über einem grünen Feld sah. Von da an dauerte es immer noch eine gefühlte Ewigkeit, bis man nach zwei kleinen Auf- und Abstiegen endlich im Ort angekommen war.

Nun begann für uns zum ersten Mal das richtige „Pilgerfeeling“! Wir kamen in der Kirche von Granon unter, vielmehr im Kirchturm. Und wir wurden sehr freundlich auf Deutsch durch einen der freiwilligen Helfer dieser Herberge mit einem kühlen Glas Wasser begrüßt. Es war eine sehr idyllische Herberge, wenn man sich ganz oben auf der Empore einen Schlafplatz ergattern konnte. Oben, das war ein großer Raum mit Kochnische, zwei Dusch- und Toilettenräumen und einem sehr gemütlich eingerichteten Aufenthaltsraum, von dem aus eine Freitreppe nach oben führte, um zu einer Galerie zu gelangen, auf der ca. 12 dünne Gymnastik-Matratzen lagen, von denen wir gerade noch zwei nebeneinander liegende in Besitz nehmen konnten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Herberge im Kirchturm der Kirche von Granon

Eine wunderschöne Stimmung entstand, als wir uns zur Mittagspause hinlegten. Unterhalb der Treppe wurde leise gesprochen und gekocht. Dann legte jemand klassische Musik auf. Unter anderem erklang die schöne Arie aus der Mozart-Messe „Vesperae solennes de confessore“, KV 339, „Laudate Dominum“. In mir wuchs ein Gefühl von Geborgenheit. Ich döste vor mich hin, während Roland und Jimmy von den Fidschi-Inseln neben mir leicht schnarchten. Nach dem Aufstehen klimperte Jimmy auf der Gitarre herum, eine italienische Gruppe hatte am großen Tisch viel Spaß, und wir saßen am kleinen Tisch und planten die weitere Route. Draußen fegte ein heißer Wind, der sich aber hier im kühlen Kirchengebäude sehr angenehm lau anfühlte.

Später sangen Roland und ich ein Lied, genau in dem Augenblick, als der Hospitalero, der Herbergsvater, mit dem Pfarrer telefonierte. So war der Pfarrer gleich damit einverstanden, dass wir während des Gottesdienstes bei der Austeilung der Hostien das Taizé-Lied „Jesus Christ, bread of life“ sangen. Die Pilgermesse hier in Granon berührte uns sehr. Unser Gesang wurde von den Pilgern und auch von den Einheimischen sehr positiv aufgenommen, wir bekamen neben guten Stimmen auch eine schöne Ausstrahlung bescheinigt. Nach der Messe durften wir Pilger ins Kirchenmuseum und bekamen unseren Stempel in den Pilgerpass.

Danach gab es Abendessen für 50 Pilger. Bei der Vorbereitung halfen wir mit, wir kochten Gemüserisotto und Salat. Sogar ein Nachtisch wurde gereicht. Wir waren etwa 5 Deutsche unter 45 Pilgern, die vorwiegend aus Italien und Spanien kamen. Es gab ein munteres, ausgelassenes Treiben an den Tischen und viele Gespräche in den verschiedenen Sprachen. Auch wurde ein lustiges Lied, bei dem das Besteck als „Schlagzeug“ verwendet wurde, als Dankeschön für das gute Essen gesungen.

Die Nacht verlief für mich wieder sehr schlecht. Ich konnte bis 1.00 Uhr nicht schlafen. Trotzdem standen wir um 5.00 Uhr früh wieder auf.

Etwas ging mir am Morgen des Tages noch im Kopf herum. Nachdem ich die beiden betrunkenen Frauen gestern am Abend erlebt hatte, spürte ich deutlich, welch unterschiedliche Formen von Fröhlichkeit es gibt. Eine, die die Augen strahlen lässt, von Herzen kommt und alle Anwesenden mit einschließt, bei der auch andere bemerkt werden und zu Wort kommen. Und eine, bei der sich einzelne, meist zwei Verbündete, produzieren und gegenseitig anheizen. Diese Form wirkt auf mich selbstdarstellerisch und eigenverliebt. Die anderen sind nur Publikum und bleiben außen vor. Meist ist bei dieser Form Alkohol im Spiel. Die Augen leuchten nicht. Diese Menschen sind ganz auf ihre Außenwirkung bedacht. Das sind einfache Erkenntnisse, aber trotzdem war das für mich sehr intensiv wahrnehmbar.

3. August 2013 Samstag: Granon – Tosantos

Der Weg an diesem Morgen entging meinen Augen fast, da ich ihn beinahe schlafwandelnd hinter mich brachte. Zum Glück hatte ich meine Stöcke, an denen ich mich festhalten konnte, um nicht umzufallen. Es war dadurch ein interessanter Start. Aus dem Ort Granon herausgekommen ging es bergab. Es war stockdunkel und wir wanderten nach unten wie in einen dunkelblauen See hinein. Diesmal waren wir die ersten und blieben es auch lange. Anfangs führte uns der Weg im Zickzackkurs, aber er war gut ausgeschildert. Wenn man bei Nacht startete, musste man an jeder Ecke mit der Taschenlampe nach dem gelben Pfeil suchen.

Die erste Bar, sehr hübsch gelegen und gestaltet, hätte uns schon nach sehr kurzer Zeit in Redecilla del Camino eingeladen, was viel zu bald war. Auch Castildelgado war noch zu früh. In Viloria de Rioja sollte sich nach unseren Unterlagen auch eine Bar befinden, wir fanden sie aber nicht. Und in Villamayor del Rio war die Bar noch geschlossen. In uns machte sich Frust breit. Und so liefen wir die ganzen 15 km bis Belorado, ohne ein Frühstück im Bauch zu haben!

Der Weg ging wieder bergauf, bergab – und das bei meinem wenigen Schlaf! Kurz danach, früher als erwartet, tauchte Belorado auf.

Ein langgestreckter Ortsbeginn forderte uns Hungrige noch, bis wir endlich ins Zentrum gelangten. Und auf dem Weg zum Zentrum gab es wieder eine offene Kirche, die wir natürlich sofort aufsuchten. Am Marktplatz trafen wir auf einige Pilger, die sich wie wir auf ein sehr verspätetes Frühstück freuten. Und es empfingen uns gute Einkaufsmöglichkeiten. Gestärkt durch Schwarztee und eine Tortilla und durch ein kleines Nickerchen auf Rolands Schoß auf der Parkbank, was eine Pilgerin sofort fotografierte, schaffte ich doch noch die wenigen Kilometer bis nach Tosantos. Beinahe wollte ich uns schon ein Taxi bestellen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 116 Seiten

Details

Titel
Mein Weg geht weiter – Nach schwerer Krankheit auf dem Jakobsweg
Autor
Seiten
116
Erscheinungsform
Originalausgabe
ISBN (eBook)
9783656838791
ISBN (eBook)
9783656838814
ISBN (Buch)
9783656838845
Dateigröße
4997 KB
Sprache
Deutsch

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