„Schande“ als Schlüsselwort in J.M. Coetzees Roman „Disgrace“


Bachelorarbeit, 2014

41 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Der Begriff „Schande“ in seinen unterschiedlichen Ebenen und Facetten
2.1 Schande in Geschlechterverhältnissen
2.1.1 Sexuelle Gewaltverhältnisse
2.2 Rassendiskriminierung
2.2.1 Schwarz-Weiß-Ebene
2.3 Post-Apartheid Südafrika und die TRC
2.4 Biografisches Scheitern und Machtverlust

3 Schlussfolgerung

4 Bibliografie

1 Einleitung

“Disgrace is not just the most-discussed novel in Coetzee’s oeuvre; it is also one of the most widely discussed novels of the late twentieth century” (Drichel 148).

Meine Bachelorarbeit, die ich dem Roman Disgrace widme, verfolgt das Ziel, insbesondere den Begriff „Schande“ in seinen unterschiedlichen Ebenen und Facetten zu betrachten und herauszuarbeiten, wie dieser Begriff in J.M. Coetzees Roman Disgrace funktioniert und warum das Wort „Schande“ eine so bedeutende Rolle in Coetzees Roman spielt.

Hierzu möchte ich zunächst unter Punkt 2 Der Begriff „Schande“ in seinen unterschiedlichen Ebenen und Facetten die grundlegende Bedeutung des Wortes „Schande“ erläutern, um daraufhin einen kurzen Einblick in die Ebenen zu gewähren, die ich im Laufe meiner Bachelorarbeit thematisieren werde, das heißt, die Ebene der sexuellen Gewaltverhältnisse (2.1.1) welche ich unter Punkt 2.1 Schande in Geschlechterverhältnissen einleiten werde, die Schwarz-Weiß-Ebene (2.2.1), deren Einleitung unter Punkt 2.2 Rassendiskriminierung erfolgt sowie die Ebene des biographischen Scheiterns und des Machtverlustes (2.4) des Protagonisten, David Lurie. Das Scheitern sowie der Machtverlust treten in J.M. Coetzees Roman Disgrace immer wieder in Erscheinung – sei es in Bezug auf David Luries Vater-Tochter-Beziehung, seine, durch das Älterwerden hervorgerufene, körperliche Schwäche, seinen „Abstieg“ in sexueller und beruflicher Hinsicht oder im Hinblick auf seine schlussendliche Resignation.

Unter Punkt 2.3 Post-Apartheid Südafrika und die TRC möchte ich näher auf die Zeit der Post-Apartheid in Südafrika eingehen und als einen möglichen Lösungsansatz der Problematiken, die die Post-Apartheid-Ära Südafrikas mit sich bringt, die Truth and Reconciliation Commission vorstellen. Da ich vorab unter Punkt 2.2 einen kurzen Einblick in die Zeit der Apartheid Südafrikas geben werde sowie unter Punkt 2.2.1 die Schwarz-Weiß-Ebene in Coetzees Roman behandeln möchte, habe ich mich dafür entschieden, die Zeit der Post-Apartheid Südafrikas und die Truth and Reconciliation Commission unter 2.3 noch vor der Ebene des biographischen Scheitern und des Machtverlustes (2.4) zu thematisieren.

Jedoch werden sowohl die Zeit der Apartheid als auch die der Post-Apartheid Südafrikas thematisch in alle oben genannten Themenschwerpunkte beziehungsweise in alle Untersuchungsebenen mit einfließen.

2 Der Begriff „Schande“ in seinen unterschiedlichen Ebenen und Facetten

J.M. Coetzee wählte für seinen Roman den Titel Disgrace, bzw. Schande in der deutschen Übersetzung. Das Wort „Schande“ wird im Duden folgendermaßen definiert:

a. etwas, was jemandes Ansehen in hohem Maße schadet
b. in höchstem Maße beklagenswerter, empörender, skandalöser Vorgang, Zustand, Sachverhalt (duden.de).

Dieser Begriff spielt eine entscheidende Rolle in Coetzees Roman. Die „Schande“ ist allgegenwärtig:

The power of the single word, disgrace, stretches far. By using it as the title, Coetzee manages to convey an image, a description, an accusation, a blurring of the line between grace and disgrace, and finally, an acceptance (Herbert 59).

Die „Schande“ spiegelt sich in den unterschiedlichsten Ebenen und Facetten in Coetzees Roman wider. Lurie, Lucy, die Hunde und die weiße Bevölkerungsschicht Südafrikas müssen Schande erleiden (Herbert 62). Lucy, eine weiße Frau, die auf ihrer Farm in Südafrika von Schwarzafrikanern vergewaltigt wird, muss mit der Schande leben, ein Opfer der Wut und des Hasses der schwarzen Bevölkerungsschicht Südafrikas über das damalige Apartheidsystem geworden zu sein. Ihre Schande wächst in dem Moment, als ihr bewusst wird, dass sie von einem ihrer Vergewaltiger geschwängert wurde und ein Mischlingskind austragen wird. Als wäre dies nicht bereits genug, muss sich Lucy wenig später ihrem farbigen Farm-Manager Petrus, einem Verwandten einer ihrer Vergewaltiger, unterwerfen, um ihr Leben auf der Farm fortsetzen zu können. Sie willigt in eine „Vernunftehe“ ein, wird seine dritte Ehefrau, überschreibt ihm ihr Land und erhält im Gegenzug seinen Schutz (Head 77 und Van der Vlies 20). Petrus, der zu Beginn des Romans „lediglich“ ein einfacher, farbiger Lohnarbeiter war, wird im Laufe des Romans Lucys zukünftiger Ehemann und der Eigentümer ihres Grundstückes während Lucy ein Leben in Ungnade bevorsteht.

David Lurie erlebt die Schande auf vielen Ebenen. Hierzu möchte ich zunächst die bestehende Verbindung der Begriffe „Schande“ und „Scham“ anführen. Die Begriffe treten häufig in Verbindung miteinander auf, denn auf die Schande folgt oftmals ein Schamgefühl. Laut Marilyn Herbert (60) fühlt David Lurie zu Beginn des Romans keinerlei Scham im Hinblick auf die Violation Melanies. Dies ändert sich jedoch durch Lucys Vergewaltigung abrupt: “He takes Lucy’s attack personally. ‘Lucy’s secret; his disgrace’ ([Coetzee] p.109)“ (Herbert 60). David Lurie, der, eingesperrt in ein Badezimmer, seiner Tochter nicht zu Hilfe eilen kann, erlebt die Schande anhand jener Hilflosigkeit. Auch die Schande, ein Verhältnis mit einer seiner Studentinnen, Melanie, gehabt zu haben, wird ihm nach dem traumatischen Überfall auf ihn und Lucy bewusst. Er beginnt damit, das Ausmaß seiner damaligen Handlungen wahrzunehmen und spürt die Scham:

While David never ‘hates’ the desire that led to his disgrace, after Lucy’s rape he does fully acknowledge the offense he committed against the Isaacs family [...]. Part of the higher shame is an awareness of one’s own moral depletion, something that David gradually comes to acknowledge (McDonald 67).

David Lurie, ein Mann, der zwei gescheiterte Ehen zu verzeichnen hat und zu Beginn des Romans regelmäßig eine Prostituierte aufsucht, der seine eigene Karriere als Universitätsprofessor durch die eben erwähnte Affäre mit Melanie zerstört und diese in einen „tiefen Abgrund stürzt“, fällt in Ungnade und lebt ein Leben in Schande.

Der Begriff „Schande“ bezieht sich jedoch auch auf die weiße Bevölkerungsschicht Südafrikas, das heißt, auf die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerungsminderheit seitens der weißen Bevölkerungsmehrheit in der Zeit der Apartheidpolitik in Südafrika und auf die Problematik, die die Zeit der Post-Apartheid mit sich bringt. Denn der Hass, die Wut, die Erinnerung und die Frustration im Hinblick auf die Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die die Schwarzafrikaner in der Zeit der Apartheid erlebt haben, sind mit der Ära der Post-Apartheid nicht einfach aus den Köpfen der Leute verschwunden. Im Gegenteil. Wie in Coetzees Roman Disgrace veranschaulicht, setzt sich die Rassendiskriminierung auch in der Zeit der Post-Apartheid fort, jedoch „umgekehrt“ dieses Mal. Das heißt, eine weiße Frau wird von Schwarzafrikanern, welche die Unterdrückung ihrer Rasse in der Zeit der Apartheid erlebt haben, erniedrigt. Sie „bezahlt“ demnach die „Schuld“ und erlebt die Rache.

Schlussendlich müssen auch Lucys Hunde die Schande erleiden.

Lucy betreibt auf ihrer Farm eine Hundepension für die reinrassigen Wachhunde weißer Südafrikaner (Horstmann 135). Diese Hunde repräsentieren hilflose Opfer und können auch als Symbol für die arme schwarze Bevölkerung Südafrikas gesehen werden – eine Bevölkerungsschicht, die unerwünscht ist:

The dog with the hole in its throat still bares its bloody teeth. Like shooting a fish in a barrel [...]. Contemptible, yet exhilarating, probably, in a country where dogs are bred to snarl at the mere smell of a black man (Coetzee 110).

Die Hunde, eingesperrt in ihren Käfigen, haben nicht die geringste Chance sich zu verteidigen als sie kaltblütig von den schwarzen Eindringlingen, den Vergewaltigern Lucys, erschossen werden. Der bereits verstorbene Hund mit seinen gefletschten blutigen Zähnen – “The dog with the hole in its throat still bares its bloody teeth“ (Coetzee 110) – repräsentiert die Wut und das Verlangen nach Vergeltung und Rache, und das, obwohl er seinen Kampf längst verloren hat und tot am Boden liegt.

Schlussendlich, um noch einmal auf den zu Beginn erläuterten Begriff „Schande“ zurückzukommen, möchte ich noch verdeutlichen, dass laut Attridge nicht etwa Anmut (grace) das Gegenteil von Schande (disgrace) ist sondern vielmehr Ehre (honor): “‘Grace‘ is not, as it happens, the opposite of ‘disgrace’. The opposite of disgrace is something like ‘honor’ […]” (Attridge 178).

2.1 Schande in Geschlechterverhältnissen

Die Schande in Geschlechterverhältnissen spielt in J.M. Coetzees Roman Disgrace eine entscheidende Rolle. Unter Punkt 2.1.1 möchte ich mich daher mit den sexuellen Gewaltverhältnissen, die in Coetzees Roman auftauchen, beschäftigen. Im Hinblick darauf, werde ich Luries Treffen mit der Teilzeitprostituierten Soraya zur Sprache bringen sowie Lucys Vergewaltigung und Melanies „Beinahe-Vergewaltigung“ thematisieren: “Not rape, not quite that, but undesired nevertheless, undesired to the core“ (Coetzee 25). Auch Lucys Verhalten nach der Vergewaltigung ist ein interessanter Aspekt, den ich analysieren möchte und für den ich mögliche Erklärungen anbringen werde. Hierbei werden auch die Auswirkungen der Vergewaltigung seiner Tochter Lurie betreffend diskutiert werden wozu ich, unter anderem, eine Gegenüberstellung der Vergewaltigung Lucys und, ich möchte sie in meiner Arbeit auch als eine Vergewaltigung bezeichnen, der Vergewaltigung Melanies anbringen möchte.

2.1.1 Sexuelle Gewaltverhältnisse

“For a man of his age, fifty-two, divorced, he has, to his mind, solved the problem of sex rather well“ (Coetzee 1). David Lurie, der „[…] frustrierte Professor für Literatur- und Kommunikationswissenschaft, der alternde Casanova und ‚womanizer‘[…]“ (Horstmann 133), der zu Beginn des Romans regelmäßig jeden Donnerstagnachmittag die Teilzeitprostituierte Soraya aufsucht, um seinen Trieben gerecht zu werden, muss bald einsehen, dass Soraya jegliche Versuche Luries, sie auch privat kontaktieren und/oder treffen zu können, ablehnt: “Though Soraya still keeps her appointments, he feels a growing coolness as she transforms herself into just another woman and him into just another client“ (Coetzee 7).

David’s desire to get to know Soraya is based on an understanding of interaction between self and other that lacks respect for the other. […] His motivation for getting to know Soraya is selfish, solely based on his interest to protect his own, threatened subjectivity (Herlitzius 249).

Die eigentliche Schande beginnt, nachdem Soraya ihre Treffen mit David Lurie zum Schutz ihrer Privatsphäre beendet und Lurie eine Affäre mit einer seiner Studentinnen, Melanie Isaacs, beginnt, welche in der bereits erwähnten „Beinahe-Vergewaltigung“ ihren traurigen „Höhepunkt“ findet.

[…] [D]er daraus entstehende Skandal hat die von Lurie provozierte und unausweichlich gemachte Entfernung aus dem Amt zur Folge, denn wie sollte sich ein Hochschullehrer halten lassen, der vor Journalisten erklärt: ‚I was enriched by the experience‘ (Horstmann 133).

Melanie Isaacs wird ein Opfer des Machtmissbrauchs ihres Professors. David Lurie ist nicht in der Lage, der Schönheit Melanies zu widerstehen und nutzt seine Machtposition als Professor aus: “[…] [A] woman’s beauty does not belong to her alone. It is part of the bounty she brings into the world. She has a duty to share it” (Coetzee 16). “Melanie thought she would be safely respected by her teacher […]” (Herbert 38). Luries Affäre zerstört nicht nur seine Karriere als Universitätsprofessor, sondern stürzt auch das Leben der Studentin Melanie in einen tiefen Abgrund: “You have cut me off from everyone […]. You have made me bear your secret. I am no longer just a student“ (Coetzee 34). Nach einem Besuch von Melanies Vater erfährt Lurie schließlich, dass eine Beschwerde gegen ihn eingelegt wurde und kommentiert dies lediglich mit den Worten der Überraschung, dass Melanie niemals selber auf die Idee, eine Beschwerde einzulegen, gekommen wäre, da sie dafür viel zu unschuldig sei und auch zu unwissend im Hinblick auf ihre Rechte, die sie geltend machen könnte (Coetzee 39). Bei einem Essen mit einer seiner Ex-Frauen, Rosalind, von der sich Lurie Verständnis und eventuell sogar Unterstützung erhofft, bekommt er lediglich deren deutliche Ablehnung in Bezug auf das Geschehene zu spüren:

‘[…] I don’t know what you do about sex and I don’t want to know, but this is not the way to go about it. You’re what – fifty-two? Do you think a young girl finds any pleasure in going to bed with a man of that age? Do you think she finds it good to watch you in the middle of your…? Do you ever think about that?’ He is silent (Coetzee 44).

Als Lurie vor das Komitee tritt, wirkt dieses bereits sehr entschlossen im Hinblick auf die Einschätzung des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs und des Machtmissbrauchs seitens des Professors:

When Lurie is brought before the committee convened to consider the complaint brought by Melanie Isaacs […] he is forced to make a ‘confession’ of guilt by members of the committee who have plainly prejudged the issue. Coetzee here stoops to producing, in Dr Farodia Rassool, a caricature of the unswerving feminist who wants only a confession to the ‘abuse of a young woman’, and not Lurie’s fanciful confession that he ‘became a servant of Eros’ (Head 77).

Das Komitee fordert eine öffentliche Reuebekenntnis und möchte die wahre Schuldeinsicht Luries „spüren“. Lurie hingegen plädiert zwar sofort auf schuldig und streitet den Missbrauchsvorwurf nicht ab, er gibt seine Tat zu, jedoch zeigt er keine Reue und kein Schuldbewusstsein. David Lurie kann einfach nicht anders. Er ist verstockt und versteift und unfähig zur Entschuldigung, Wiedergutmachung, Sühne. Geradezu stoisch akzeptiert er selbst noch das Strafmaß der Existenzvernichtung – […] aber ein Gesinnungswandel wäre schlicht unzumutbar (Horstmann 134).

Folglich unterschreibt er „gezwungenermaßen“ seine Kündigung, da er den Anforderungen und den Erwartungen des Komitees nicht gerecht wird:

Lurie’s refusal to accept that his relationship with Melanie had any wider relation to the ‘long history of exploitation’ between white and non-white, or male and female [...] costs him his job at the university [...] (Hayes 196).

So wird in J.M. Coetzees Roman Disgrace abermals die „Schande“ repräsentiert, die in diesem Roman allgegenwärtig zu sein scheint. Die Schande, als Professor eine Affäre mit einer seiner Studentinnen zu haben. Die Schande, eine Überlegenheitsposition schamlos auszunutzen, die Schande des sexuellen Missbrauchs, und nicht zuletzt die Schande, nicht einmal Schuld und Reue zu empfinden und in Ungnade zu fallen.

Der Missbrauch Melanies ist jedoch nur eine Art „Vorbote“ im Hinblick auf die noch schrecklichere Vergewaltigung Lucys. Die „Schande“, das zentrale Thema in J.M. Coetzees Roman Disgrace, findet demnach ihren „traurigen Höhepunkt“ in der Vergewaltigung Lucys. „Gekrönt“ wird diese Schande nur durch David Luries Hilflosigkeit, nichts gegen die Vergewaltigung seiner Tochter Lucy tun zu können.

Während sich Lurie nach all den Geschehnissen in Kapstadt eine Auszeit nimmt und sich entschließt, seine Tochter Lucy, eine weiße lesbische Frau, die alleine auf einer Farm auf dem Land in Salem lebt, zu besuchen, werden beide Opfer eines Gewaltverbrechens, begangen von drei Schwarzafrikanern. Lurie, gefangen in Lucys Badezimmer, ist gezwungen untätig auszuharren, ohne zu wissen, was mit seiner Tochter geschieht, ohne ihr helfen zu können und ohne zu wissen, was mit ihm geschehen wird und ob er und seine Tochter diesen Überfall lebend überstehen werden:

So it has come, the day of testing. Without warning, without fanfare, it is here, and he is in the middle o fit. […] His child in the hands of strangers. In a minute, in an hour, it will be too late; whatever is happening to her will be set in stone, will belong to the past. But now it is not too late. Now he must do something (Coetzee 94).

Doch Lurie bekommt keine Gelegenheit dazu einzugreifen. Bevor einer der Täter ihn mit Spiritus überschüttet, um ihn schließlich anzuzünden, muss er miterleben, wie die geliebten Hunde Lucys, einer nach dem anderen, erschossen werden. Lurie, der sich in der Toilette löschen kann, trifft auf seine Tochter: “She is wearing a bathrobe, her feet are bare, her hair wet“ (Coetzee 97).

Lucy widerfährt das, was ihr eigener Vater in wenigstens einem Grenzfall selbst praktiziert hat, doppelt und dreifach (Horstmann 138). Ulrich Horstmann bezieht sich damit auf die von Lurie begangene Misshandlung Melanies “[…] [T]he damage inflicted on Lucy seems irreparable“ (Manhart 7). Lucy lehnt es vehement ab, über den Vorfall zu sprechen oder gar zur Polizei zu gehen um die Vergewaltigung zu melden: “[…] [A]s far as I am concerned, what happened to me is a purely private matter. […] It is my business, mine alone“ (Coetzee 112). Anstatt zur Polizei zu gehen akzeptiert Lucy das Angebot ihres Farm-Managers Petrus, dem bereits ein Teil ihres Landes gehört, ihm das restliche ihr noch verbleibende Land zu überschreiben und im Gegenzug seine dritte Ehefrau zu werden und somit seinen Schutz zu erhalten (Head 77 und Van der Vlies 20). Und das, obwohl sich herausstellt, dass Petrus die Täter nicht nur kennt, sondern sie auch beschützt und verteidigt, indem er, unter anderem, zum Beispiel deren Namen nicht preisgibt und es ablehnt zu helfen, die Täter festnehmen zu lassen. Auch ist Lucys Sicherheit durch Petrus keinesfalls gewährleistet – jedoch gesteht ihr das Abkommen mit Petrus zu, auf der Farm bleiben zu können (Herlitzius 221).

Lucy, die versucht, ihr Leben möglichst „normal“ fortzusetzen, weigert sich trotz Luries Drängen, die Farm zu verlassen, um an einem anderen Ort einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Sie gewinnt bald eine neue erschreckende Erkenntnis, mit der sie sich unweigerlich auseinandersetzen muss – sie ist schwanger. Von einem ihrer Vergewaltiger. Die „Schande“ des Geschehenen nimmt immer größere Ausmaße an und Lucy entscheidet sich, zum Entsetzen ihres Vaters, das Kind zur Welt bringen zu wollen:

Ihrem Vater an Dickschädeligkeit mehr als gewachsen, entschließt sie sich, den unerwünschten Fötus nicht abtreiben zu lassen, sondern das Kind der Notzucht zur Welt zu bringen und damit ihre ‚Schande‘, ihr Geschändetsein öffentlich zu machen. Der Natur, der sie so ihren Lauf läßt, traut sie auch die Bereinigung der zwiespältigen Gefühle gegenüber ihrer Leibesfrucht zu: ‚Love will grow – one can trust Mother Nature for that. I am determined to be a good mother‘ (Horstmann 138).

Die Vergewaltigungen zweier junger Frauen, Melanie und Lucy, stehen sowohl in einem Zusammenhang als auch in einem starken Kontrast zueinander:

[...] [T]he novel invites a comparison of the way David treats Melanie with the brutal rape of his daughter Lucy by three black youngsters as two variants of inter-racial rape [...] (Franssen 1).

Einerseits (Der Gegensatz folgt auf Seite 11, Zeile 19) spiegelt die Vergewaltigung Lucys den Missbrauch Melanies wider und bewirkt eine Veränderung in David Lurie, der unterbewusst beginnt, sich mit den Tätern, die seine Tochter vergewaltigten, zu identifizieren. Er „gerät ins Grübeln“ als Lucy ihn folgendes fragt:

’[…] When it comes to men and sex, David, nothing surprises me any more. Maybe, for men, hating the woman makes sex more exciting. You are a man, you ought to know. When you have sex with someone strange – when you trap her, hold her down, get her under you, put all your weight on her – isn’t it a bit like killing? Pushing the knife in; exiting afterwards, leaving the body behind covered in blood – doesn’t it feel like murder, like getting away with murder?’ […] ‚Perhaps,‘ he says. ‚Sometimes. For some men‘ (Coetzee 158-159).

David Lurie beginnt einzusehen, was er Melanie angetan hat und zu verstehen, was das Geschehene für Melanie selbst, aber auch für ihre Familie bedeuten muss: “He meets her father, is invited to the family home for dinner, and there awkwardly asks for forgiveness“ (Van der Vlies 20). Lurie gesteht seine Schande ein und resigniert. Ihm ist klar geworden, dass die Schande zu einem dauerhaften Zustand seines Lebens geworden ist. Ein Zustand, mit dem er lernen muss zu leben:

I am sunk into a state of disgrace from which it will not be easy to lift myself. It is not a punishment I have refused. I do not murmur against it. On the contrary, I am living it out from day to day, trying to accept disgrace as my state of being (Coetzee 172).

Die Reaktion auf die Entschuldigung Luries ist jedoch, aus der Sichtweise Luries betrachtet, eher unbefriedigend:

‘You are sorry. [...] But I say to myself, we are all sorry when we are found out. Then we are very sorry. The question is not, are we sorry? The question is, what lesson have we learned? The question is, what are we going to do now that we are sorry?’ (Coetzee 171-172).

Lurie, der sich „theatralisch” auf die Knie fallen lässt und um Vergebung bittet, fragt sich: “Is that enough? […] Will that do? If not, what more?” (Coetzee 173).

Diese Szene der Entschuldigung Luries im Haus der Isaacs trägt eine Spur Ironie in sich – denn durch das Niederknien David Luries vor Melanies Mutter und ihrer kleinen Schwester Desiree entsteht eben genau ein solcher „Show-Effekt“, den eine große Entschuldigung und eine Reuebekenntnis mit sich bringen, wie ihn David Lurie zu einem früheren Zeitpunkt im Roman nicht haben wollte. Die Rede ist von seiner Anhörung vor der Kommission, bei der er seine ehrliche Reue zeigen und eine öffentliche Entschuldigung verkünden sollte. Er vergleicht die Kommission, die TRC, im Laufe des Romans sogar mit einer Fernsehshow, die ein Drama in Verbindung mit Emotionen und Tränen sehen möchte, eine „show“, die die gesamte Öffentlichkeit verfolgen kann und an der sich das Publikum ergötzen kann (Coetzee 66). Somit trägt die Situation bei den Issacs, in der Lurie „theatralisch“ auf die Knie sinkt durchaus auch einen ironischen Charakter:

The irony […] is, of course, that Lurie here belatedly delivers the kind of ‘spectacle’ [...] he refused to deliver at the hearing: the performance of a ‘spirit of repentance’ [...] (Drichel 164).

Andererseits (Fortsetzung des Gedankenganges beginnend in der fünften Zeile auf Seite 10) meldet Melanie, auf Drängen ihres Freundes hin, im Gegensatz zu Lucy den Missbrauch – wenn auch einige Zeit später. Sie bringt Lurie vor das Komitee, wo er sich diesbezüglich äußern muss. Lucys Vergewaltigung hingegen scheint unwirklich: “In relation to Lucy’s rape it is important to notice that the event is not described: David […] assumes that Lucy has been raped […]” (Van der Vlies 21). Die Vergewaltigung scheint nicht existent, da Lucy, wie bereits zuvor erwähnt, nicht über das Geschehene reden möchte und auch die Polizei nicht einbeziehen möchte. Nicht einmal, nachdem einer der Täter in der Nachbarschaft auftaucht, alles abstreitet und kurz darauf beginnt, Lucy nachzustellen und sie zu beobachten. Sie rechtfertigt ihr schwer nachvollziehbares Verhalten, indem sie darauf hinweist, dass ihr Peiniger ein krankes, gestörtes Kind sei und dies nun einmal seine Heimat sei und er hier wohne und her gehöre (Coetzee 208).

Auch ist Lucys „Schande“, im Gegensatz zu Melanies, permanent. Sie ist schwanger und wird vermutlich ihr Leben lang durch die bloße Existenz ihres Kindes an die grausame Vergewaltigung erinnert werden. Laut Elleke Boehmer (145-146) projiziert Lucy, im Gegensatz zu Lurie, ihre Schande nur auf sich selbst und nicht auf ihre Peiniger. Lurie, der seine lesbische Tochter als eine für die Männerwelt „verlorene Frau“ sieht und es für möglich hält, dass Lucy möglicherweise genau aus diesem Grund das Opfer der Vergewaltiger wurde (Coetzee 76, 105), ist, wie bereits zuvor erwähnt, der Meinung, dass die Schönheit einer Frau nicht nur ihr selbst gehöre sondern sie diese teilen müsse und vertritt demnach einen anderen Standpunkt.

Abschließend fällt es schwer Lucys Verhalten, das heißt, die Tat nicht zur Anzeige bringen zu wollen und die Farm nicht verlassen zu wollen, nachzuvollziehen. Es sind jedoch einige mögliche Erklärungen für ihr Verhalten denkbar. Diese Aspekte, und auch die Vergewaltigung an sich, möchte ich daher erneut, jedoch diesmal unter dem Aspekt der Rassendiskriminierung (2.2) und im Hinblick auf die Schwarz-Weiß-Ebene unter Punkt 2.2.1, diskutieren.

[...]

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
„Schande“ als Schlüsselwort in J.M. Coetzees Roman „Disgrace“
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Anglistik & Amerikanistik)
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
41
Katalognummer
V283995
ISBN (eBook)
9783656842477
ISBN (Buch)
9783656842484
Dateigröße
717 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
“Disgrace“ as a keyword in J.M. Coetzee’s novel “Disgrace“
Schlagworte
Coetzee, Disgrace, Schande, Apartheid, post-apartheid, black, white, trc
Arbeit zitieren
Lea Lorena Jerns (Autor:in), 2014, „Schande“ als Schlüsselwort in J.M. Coetzees Roman „Disgrace“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/283995

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