Diagnostik im Allgemeinen Sozialen Dienst. Die Arbeitshilfe des Bayerischen Landesjugendamtes zur Feststellung des erzieherischen Bedarfs


Hausarbeit, 2013

78 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

1. GRUNDLAGEN UND PRINZIPIEN SYSTEMISCHER DIAGNOSTIK
1.1 SOZIALE SYSTEME IM LUHMANN´SCHEN SINNE
1.1.1 System und Umwelt
1.1.2 Operieren, Selbst-/Fremdreferenz und Autopoiesis
1.1.3 Soziale Systeme als Kommunikationssysteme
1.2 DER DIAGNOSTIKBEGRIFF IN DER SYSTEMISCHEN (SOZIAL-)ARBEIT
1.2.1 Abkehr von einem traditionellen diagnostischen Verst ä ndnis
1.2.2 Definition Systemischer Diagnose nach Ritscher
1.3 RITSCHERS AXIOME UND PERSPEKTIVEN EINES SYSTEMISCHEN DIAGNOSTIK-MODELLS
1.3.1 Beziehung statt Individuum
1.3.2 Diagnose als Beobachtungsystem
1.3.3 Zirkularit ä t
1.3.4 Rekursivit ä t
1.3.5 Die raum-zeitliche Gestalt des Systems
1.4. FOLGERUNGEN AUS DEN SYSTEMISCHEN GRUNDANNAHMEN UND ANFORDERUNGEN AN KONKRETE DIAGNOSTIKKONZEPTE IN DER PRAXIS

2. DIAGNOSTIK IN DER KINDER- UND JUGENDHILFE
2.1 DIE BEDEUTUNG DIAGNOSTISCHER ARBEIT IN DER KINDER- UND JUGENDHILFE
2.2. FUNKTIONEN VON PSYCHOSOZIALER DIAGNOSTIK IM HANDLUNGSFELD DES ASD

3. SOZIALPÄDAGOGISCHE DIAGNOSE - EINE ARBEITSHILFE DES BAYERISCHEN LANDESJUGENDAMTES
3.1 KURZE BESCHREIBUNG DER ARBEITSHILFE
3.2 THEORETISCHE RAHMUNG
3.3 ANWENDUNG UND HANDHABUNG IM HILFEPROZESS
3.4. CHANCEN UND GRENZEN

4 FAZIT
4.1 BEURTEILUNGEN DER ARBEITSHILFE ANHAND DER VORGESTELLTEN AXIOMEN SYSTEMISCHER DIAGNOSTIK
4.2 SCHLUSSFOLGERUNGEN UND ANREGUNG FÜR DIE ANWENDUNG UND HANDHABUNG DER ARBEITSHILFE IN DER PRAXIS

5. LITERATUR

6. ANHANG
6.1 SOZIALPÄDAGOGISCHE DIAGNOSETABELLEN - KURZFASSUNG 20 MERKMALE
6.2 SOZIALPÄDAGOGISCHE DIAGNOSETABELLEN - LANGFASSUNG 80 MERKMALE
6.3 ABSCHLIEßENDE BEWERTUNG DER FACHKRAFT
6.4 KONKRETISIERUNGEN MIT ALTERSSPEZIFISCHEN BEISPIELEN
6.5 ENTSCHEIDUNGSFINDUNG UND HILFEPLANUNG
6.5.1 Ausgangslage
6.5.2 Bedarf
6.5.3 Hilfeart
6.5.4 Leistungen
6.5.5 Zusammenarbeit
6. 6 SITUATIONSERFASSUNG UND HANDLUNGSPLAN GEMÄß DER SYSTEMISCHEN DENKFIGUR . SITUATIONSERFASSUNG UND HANDLUNGSPLAN
6.6 BEZIEHUNGSDIAGNOSE

Einleitung

Die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) der Jugendämter befinden sich zunehmend in ei- nem Spannungsfeld zwischen Aufgabenoptimierung aufgrund knapper zeitlicher Ressourcen und der Förderung positiver Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen inner- halb der Familie, sowie der Gewährleistung eines fachlich fundierten Kinderschutzes. Im Be- reich der kostenintensiven Hilfen zur Erziehung befindet sich die Bezirkssozialarbeit mehr und mehr unter Legitimationsdruck. Die zum Teil öffentlichen, von den Medien transportier- ten Kinderschutzdebatten1 und die damit einhergegangene Überprüfung der strukturellen und fachlichen Aufstellung der betroffenen Ämter haben die Kostendebatte im Bereich der Hilfen zur Erziehung und des Kinderschutzes zwar wieder in den Hintergrund gedrängt, die Bezirkssozialarbeit steht jedoch nach wie vor besonderen Herausforderungen gegenüber. (vgl. ZBFS-BLJA2 2009, S.7) Häufige personelle Fluktuationen, zum Teil durch die stetig vo- ranschreitende Flexibilisierung des Berufslebens begründet, beeinträchtigen vielerorts den Wissenstransfer und -erhalt berufserfahrener Kolleginnen und Kollegen an die nachfolgen- den Neu- bzw. Quereinsteiger. Des Weiteren wird von einigen Kolleginnen und Kollegen der Allgemeinen Sozialen Dienste eine Veränderung der Lebensumstände der Klientel benannt und eine stetig steigende Anzahl sogenannter „Multi-Problem-Familien“ vernommen. Diag- nostische Verfahren und Standards im Bereich der Hilfen zur Erziehung und des Kinder- schutzes müssen zum einen der Komplexität des jeweiligen Einzelfalls gerecht werden: Probleme müssen definiert werden und Ressourcen für einen gelingenden Hilfeverlauf identi- fiziert und nutzbar gemacht werden - zum anderen müssen diese so aufgebaut sein, dass sie Handlungsorientierungen geben und Entscheidungsprozesse erleichtern.

Bis dato konnte sich eine Vielzahl diagnostischer Modelle und Verfahren im Bereich der Kin- der- und Jugendhilfe etablieren. Sie unterscheiden sich jedoch erheblich „z.B. hinsichtlich der Bedeutung, die dem Fachwissen und der Expertise der Sozial- arbeiterinnen und Sozialarbeiter im Vergleich zur Selbsteinschätzung der Klienten zugemessen wird; hinsichtlich des Verhältnisses von Breite und Tiefe (zwischen de- taillierten Diagnosen zu Teilbereichen und umfassenden, überblickartigen Skizzen der gesamten Lebenssituation) und hinsichtlich des Ausmaßes, in dem die Vergan- genheit (insbesondere die Lebensgeschichte der Person) betrachtet wird.“ (Heiner 2004, S. 7)

Den unterschiedlichen Modellen und Verfahren liegen ebenso unterschiedliche theoretische Grundannahmen und Begründungen zugrunde.

Der Autor ist Studierender des berufsbegleitenden Masterstudiengangs in ‚Psychosozialer Beratung’ an der Evangelischen Hochschule Darmstadt und darüber hinaus als sozialpäda- gogische Fachkraft im Allgemeinen Sozialen Dienst im Jugendamt Mannheim tätig. Der im Rahmen des Masterstudiums anzueignende Beratungsansatz verfügt über ein breites, sys- temtheoretisches Fundament. So entstand die Idee ein speziell für die Bezirkssozialarbeit im ASD entwickeltes Diagnosekonzept einem systemischen Verständnis von Diagnostik gegen- überzustellen. Der Autor entschied sich hierbei für das vom Bayerischen Landesjugendamt (2009) entwickelte Diagnosekonzept als Arbeitshilfe zur Feststellung des erzieherischen Be- darfs.

Im ersten Kapitel sollen zunächst die Grundlagen und Prinzipien Systemischer Diagnostik anhand einiger systemtheoretischer Aspekte von Niklas Luhmann sowie der Axiome eines systemischen Diagnosemodells nach Wolf Ritscher allgemein ausgeführt werden. Im zweiten Kapitel erfolgen dann Ausführungen über die Besonderheiten der Diagnostik im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Eine Beschreibung der o.g. Arbeitshilfe, sowie deren Anwendung und Handhabung erfolgt in Kapitel Drei. In einem weiteren Schritt sollen in die Chancen und Grenzen des Modells für den Alltag im ASD erläutert werden. Schließlich folgt in Kapitel Vier eine kritische Reflektion des Modells in der Gegenüberstellung mit den kennengelernten sys- temischen Grundhaltungen und schließlich ein Resümee für die Anwendung und Handha- bung in der Praxis.

1. Grundlagen und Prinzipien Systemischer Diagnostik

Um die Besonderheit des systemischen Verständnisses von Diagnostik in psychosozialen Arbeitsfeldern zu verdeutlichen, ist es zunächst wichtig, einige zentrale systemtheoretische Grundlagen kurz darzustellen. Inzwischen existiert ein ausgeprägtes systemisches Theoriegebäude. Im Folgenden konzentriert sich der Autor indes auf die allgemeine Systemtheorie und die Theorie Sozialer Systeme von Niklas Luhmann.

1.1 Soziale Systeme im Luhmann´schen Sinne

Im sozialpädagogischen Alltagsverständnis ist bei sozialen Systemen oft von ganzen Gesell- schaften oder deren Teilgruppen bis hin zum Familienverbund die Rede. Das stimmt mit Luhmann überein, sein Verständnis von sozialen Systemen geht jedoch noch weiter. Für ihn wird jeder soziale Kontakt bereits „als System begriffen (,) bis hin zur Gesellschaft als Ge- samtheit der Berücksichtigung aller möglichen Kontakte.“ (Luhmann 1984, S. 33) Die Bedingungen für das Zustandekommen oder die Aufrechterhaltung von sozialen Syste- men ist jedoch weitaus komplexer, als es zunächst den Anschein haben mag. Deshalb soll in den nächsten Schritten zunächst kurz auf den Aufbau und die Funktionsweise von Systemen 4 eingegangen werden, wobei sich soziale Systeme und Systeme im Allgemeinen nicht vonei- nander unterscheiden im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeiten, die ihre Funktion und ihren Erhalt betreffen (vgl. Berghaus 2011, S. 31).

1.1.1 System und Umwelt

Das systemtheoretische Verständnis von Umwelt ist deutlich von dem Allgemeinverständnis zu unterscheiden. Umwelt ‚existiert’ hierbei einzig und allein in Bezug auf ein System, bzw. wird durch die systemeigenen Operationen definiert und erzeugt. Es handelt sich somit nicht um eine feste Größe, sondern um einen vom System selbst bestimmten Bezugsrahmen. Luhmann leugnet dabei keinesfalls, dass es eine reale Welt mit physischen Materialien, Luft, Wärme, physikalischen Bedingungen, etc. gibt - er setzt diese sogar voraus. Aus der Sicht eines Systems ist ‚Welt’ jedoch immer nur zugänglich als Umwelt. (vgl. Berghaus, S. 39 ff.) An dieser Stelle wird auch der konstruktivistische ‚Überbau’ der Systemtheorie deutlich. Er- kenntnisse sind lediglich Beobachtungen der Realität; Beobachtung wiederum ist Selektion und damit Reduktion von Komplexität. Realität wird so zur konstruierten Realität für das be- obachtende System, ist damit immer nur Umwelt. Beobachten kann somit als aktiver Prozess des Unterscheidens, Bezeichnens, des Erkennens und Handelns bezeichnet werden. (vgl. ebd. S. 43)

1.1.2 Operieren, Selbst-/Fremdreferenz und Autopoiesis

Nach Luhmann sind Operationen jene Aktivitätsarten die ein System in Differenz zur Umwelt (re)produzieren. Der Typus eines Systems wird hierbei durch seine spezifischen Operationen definiert:

„Biologische, psychische und soziale Systeme operieren auf eine jeweils ganz be- stimmte, charakteristische Weise: Biologische Systeme leben. Psychische Systeme operieren in Form von Bewusstseinsprozessen, wie Wahrnehmen und Denken. Und die charakteristische Operationsweise sozialer Systeme, (...) ist Kommunikation.“ (Berghaus 2011, S. 38)

So verschieden die Operationsweisen der drei Systemtypen auch sein mögen, sie folgen schließlich alle denselben Leitprinzipien. Sie operieren stets in Differenz zu ihrer Umwelt und in Autopoiesis3 (vgl. ebd.). Die Abgrenzung zur Umwelt ist gleichzeitig die Außengrenze ei- nes Systems. „Ein System beobachtet, indem es seine System/Umwelt-Grenze in sich hin- einkopiert und als Basis für alles Beobachten/Unterscheiden benutzt“ (Berghaus 2011, S. 44). Dieser Vorgang wird auch Selbst-/Fremdreferenz genannt. Luhmann nennt zwei Er- scheinungsformen der System/Umwelt-Differenz. Einen durch das System selbst, durch sei- ne spezifischen Operationen produzierter Unterschied und einen „als im System beobacht- bare(n) Unterschied“ (Luhmann, 1997, S. 45, teilweise kursiv im Original). Dabei können Be- obachtungen, Unterscheidungen und Bezeichnungen sowohl als Selbstbeobachtung aus dem System aber auch als Fremdbeobachtung aus anderen Systemen der Umwelt hervor- gehen.

1.1.3 Soziale Systeme als Kommunikationssysteme

Wie bereits erwähnt verlangt die allgemeine Systemtheorie die exakte Angabe der Operatio- nen, die für ein autopoietisches System charakteristisch und konstitutiv sind. „Der basale Prozess sozialer Systeme, der die Elemente produziert, aus denen diese Systeme bestehen, kann unter diesen Umständen nur Kommunikation sein.“ (Luhmann 1984, S. 192) Dabei hat Luhmann eine Auffassung von Kommunikation, die sich radikal von unserem Alltagsverstän- dis unterscheidet: Nicht Menschen kommunizieren, sondern Kommunikation kommuniziert selbst (vgl. ebd. 2004, S. 261 f.). Die Metapher der Übertragung von Nachrichten ist für ihn unbrauchbar, da der Gebrauch der Metapher „die Identität dessen was übertragen wird“ (1984, S. 194) übertreibt. Er beschreibt Kommunikation als stets selektives Geschehen:

„Kommunikation greift aus dem je aktuellen Verweishorizont, (...) etwas heraus und läßt anderes beiseite. Kommunikation ist Prozessieren von Selektion. Sie selegiert freilich nicht so, wie man aus einem Vorrat das eine oder andere herausgreift. (...). Die Selektion, die in der Kommunikation aktualisiert wird, konstituiert ihren eigenen Horizont. Sie konstituiert das, was sie wählt, schon als Selektion, nämlich Information. Das, was sie mitteilt, wird nicht nur ausgewählt, es ist selbst schon Auswahl und wird deshalb mitgeteilt.“ (Ebd. 1984, S. 194).

Daraus ergibt sich nicht nur ein zwei-, sondern ein dreistelliger Selektionsprozess (Abb. 1). Die Selektion der Information, die der Mitteilung und die der Annahme, bzw. des Verstehens (vgl. ebd. 1997, S.190).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Berghaus 2011, S. 86

Während die ersten beiden Selektionen beim Sender4 liegen, obliegt die letzte Selektion dem Empfänger. Mitteilungen und Informationen sind nicht als fertige Einheiten in der Welt vorzufinden, sie werden erst durch die Beobachtung und den Beobachter, die Selektion des Annehmens und Verstehen, als solche erzeugt. Während im Alltagsverständnis der Sender üblicherweise als wichtigere Instanz im Kommunikationsablauf gesehen wird, kehrt Luhmann dieses Dominanzgefälle um. So entscheidet nicht länger die Mitteilungsabsicht des Senders, sondern die Annahme und die Interpretation des Empfängers darüber, ob Kommunikation vorliegt oder nicht. (vgl. Berghaus, 2011, S, 89)

Die Kommunikationsformen sind hierbei jedoch nicht nur auf gesprochene und geschriebene Worte begrenzt, sie beinhaltet ebenso nonverbale Formen der Kommunikation, also auch Mimik, Gestik und Handlungen.

1.2 Der Diagnostikbegriff in der systemischen (Sozial-)Arbeit

1.2.1 Abkehr von einem traditionellen diagnostischen Verständnis

In ihren Bemühungen um eine Professionalisierung der Sozialen Arbeit prägte Alice Salomon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland erstmals den Begriff der Sozialen Diagnose. Ihre Idee: Soziale Arbeit muss neben vielfältigen sozialwissenschaftlichen Kennt- nissen, über Recht, Wirtschaft, Pädagogik auch über eigene Methoden zur Ausgestaltung geplanter Hilfeprozesse verfügen. Für Salomon vollzog sich die Soziale Diagnose in fünf Schritten: Erkundigungen einholen, dem Ausfindigmachen von Ressourcen, der Deutung, der Planung geeigneter Hilfen und der Evaluation. (vgl. Kuhlmann 2004, S. 11 ff.)

Salomon wies immer wieder darauf hin, dass im Umgang mit Aussagen der verschiedenen Akteure im Umfeld der Bedürftigen Vorsicht geboten sei, da sich deren Erinnerungen trüben und Parteilichkeit ebenso vorkommen könnte. Sie sah daher ein wichtiges Handwerkszeug der Sozialarbeiter in der „Skepsis gegenüber alltäglich benutzten Urteilen. Fürsorgerinnen müssten wissen, dass es sich bei der verallgemeinernden Regel stets nur um Hypothesen handelt - unverzichtbar, aber immer wieder in Frage zu stellen.“ (ebd. S.17) Salomon merkte schon damals kritisch an, dass es sich bei der Diagnose im psychosozialen Feld nie um exakte Beschreibungen, sondern stets um Deutungen und Interpretationen der Sozialarbeiter handele (vgl. ebd. S. 17 ff.).

Salomons Auffassung von Diagnostik als Deutung und Interpretation eines Sozialarbeiters, geriet in den Jahrzehnten nach ihr scheinbar mehr und mehr in den Hintergrund und der Di- agnostikbegriff in der psychosozialen Arbeit vielerorts in Kritik. So wurde ihm u.a. unterstellt sich eines organmedizinischen und des psychologisch-behavioristischen Paradigmas zu be- dienen (vgl. Ritscher 2004, S. 68) und „die Anpassung an eine lineare, eindimensionale, un- kritische und die ganzheitliche Sicht vernachlässigende psychosoziale Praxis voranzutreiben“ (Ritscher 2004, S.68). In der systemtheoretischen Fachwelt wurde und wird die Passgenauigkeit der Begriffsverwendung u.a. immer wieder kritisch diskutiert. Ritscher hält die Verwendung des Diagnostikbegriffs jedoch weiterhin für geeignet. So verbindet er die Vorzüge klassischer Diagnosekonzepte als eine „systematische, begrifflich-theoretische und transparente professionelle Beschreibung und Benennung von psychosozialen Krisen, (...), und den Beteiligten Personen“ (ebd.) und schließt dabei zugleich objektivistische und kausallineare Denkformen und Realitätsbeschreibungen aus (vgl. ebd.).

1.2.2 Definition Systemischer Diagnose nach Ritscher

Zu Beginn der Arbeit wurden einige der zentralen systemtheoretischen Aspekte ausgeführt. Von Luhmann wissen wir nun, wie soziale Systeme operieren und das Wahrnehmen, Be- obachten und Kommunizieren immer zugleich auch Selektionsprozesse sind, mit denen eine systemspezifische Umwelt und die System-/Umweltgrenzen eines Systems konstituiert wer- den. Diese und weitere Aspekte fasst Ritscher (2004) in einem Definitionsversuch wie folgt zusammen:

„Systemische Diagnose versteht sich als eine hypothetisch bleibende Beschreibung sozialer Wirklichkeiten unter systemischer Perspektive. Der ‚Diagnostiker’ bzw. die ‚Diagnostikerin’ bilden mit den zu ‚diagnostizierenden’ Menschen ein gemeinsames, sie integrierendes System der Beobachtung/Beschreibung/Analyse. Die zirkul ä re Be- ziehung zwischen diesen beiden Teilsystemen des ‚Diagnosesystems’ entscheidet zusammen mit den theoretischen Vorannahmen des/der Professionellen über die be- obachteten und beschriebenen Informationen. (...). Aus der die Systemelemente ver- einheitlichenden Aufgabenstellung und der gemeinsamen Abgrenzung gegen alle an- dere Systeme (durch Werte, Mythen, handlungsleitende Ideen, in der Systemtradition verankerte Geschichten u.a.) ergibt sich die Identit ä t des Systems. Die zu einer Ge- stalt verbundenen Elemente stehen in einem wechselseitigen Abh ä ngigkeitsverh ä lt- nis: sie schaffen und erhalten durch ihre stetigen kommunikativen Beziehungen die Regeln, nach denen sie mit sich selbst innerhalb des Systems und mit ihren Umwel- ten kommunizieren.“ (S. 72 f.)

Ritscher verbindet in seiner Definition mehrere Dimensionen und Perspektiven eines systemischen Diagnostikmodells. Seine Axiome bilden eine wichtige Grundlage für ein tieferes Verständnis der Besonderheiten systemischer Diagnostik.

1.3 Ritschers Axiome und Perspektiven eines systemischen Diagnostik-

1.3.1 Beziehung statt Individuum

Der systemische Blick richtet sich nicht auf das Individuum sondern fokussiert die Ausgestaltung der Beziehungen. Das Tun des Einen erhält seinen Charakter so erst in dem Tun und Reagieren des Anderen. So kann beispielsweise das aggressive und resignierende Verhalten eines Kindes nur in seiner Bedeutsamkeit erfasst werden, wenn dieses in Beziehung zu den Reaktionen und Handlungen der übrigen Familienmitglieder gestellt wird. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Erkenntnis, dass jeder den Anderen braucht um seinen eigenen Standpunkt im System zu sichern. (vgl. Ritscher 2004, S. 69)

1.3.2 Diagnose als Beobachtungsystem

Wie wir bereits im ersten Kapitel erfahren haben, ist unsere Aneignung von Welt immerzu Selektion. Diese Prämisse gilt im selben Maße auch für den Diagnostiker. „Alle systemischen Wahrnehmungen, Beschreibungen, Analysen und Erklärungen sind an die zirkuläre Beziehung zwischen dem beobachteten/beschreibenden (z.B. dem ‚diagnostizierenden’) Menschen und den von ihm beobachteten/beschriebenen Menschen, (...) gebunden. Jede Wahrnehmung/Beobachtung/Beschreibung ist also ein Beziehungsereignis, innerhalb dessen die gewonnenen Informationen Sinn und Bedeutung gewinnen.“ (ebd., S. 69 f.)

Dies bedeutet, dass die Art und Weise der Beziehungsgestaltung zwischen den diagnostizie- renden und den diagnostizierten Menschen entscheidend dafür ist, welche Phänomene in einer Diagnose wie bewertet und beschrieben werden. Der Diagnostiker betrachtet ein Sys- tem somit nicht neutral distanziert aus der Position eines Panoptikons5 heraus, vielmehr kon- stituiert er gemeinsam mit den zu beobachtenden Menschen ein durch kommunikative Aus- tauschprozesse begründetes neues soziales System - ein Beobachtungssystem.

1.3.3 Zirkularität

Kommunikation wird nicht als linearer sondern als zirkulärer Prozess gestaltet, in dem sich alle Elemente eines Systems in wechselseitiger Abhängigkeit befinden. Dabei sind die Prozesse „sowohl in Richtung Zukunft, wie auch in Richtung Vergangenheit prinzipiell unabgeschlossen“ (Ritscher 2004, S. 70), weshalb ihre Beschreibung einer im Einzelfall zu begründenden Interpunktion bedarf (vgl. ebd.).

1.3.4 Rekursivität

Bedenken wir, dass jedes Systemelement, wie z.B. eine Person sich mit allen anderen Sys- temelementen in stetigen Austauschprozessen befindet, so scheint es nur logisch, dass kommunikative Handlungen eines Einzelnen über vielfältige Beziehungswesen wieder auf diesen zurück wirken (vgl. Ritscher 2004, S. 70). So können hier beispielhaft Triangulations- beziehungen in familiären Konflikten genannt werden: Ein Kind, das sich inmitten der Tren- nungsstreitigkeiten der Eltern befindet, kann sich aufgrund der miterlebten gegenseitigen Abwertungen der Eltern möglicherweise verstärkt in sich zurückziehen und emotional von einem oder beiden Elternteilen distanzieren, obwohl es sich nach Nähe zu beiden Elterntei- len sehnt.

Die systemische Ethik der Verantwortung für das eigene Tun leitet sich aus eben diesen Überlegungen ab (vgl. Ritscher 2004, S. 71).

1.3.5 Die raum-zeitliche Gestalt des Systems

Die Selbst- und Fremdreferenz eines Systems ist für diesen Erhalt von besonderer Bedeu- tung. Durch die Abgrenzung gegenüber der Umwelt entwickelt ein System sowohl seine ei- gene Identität, es gelangt aber auch zur Entwicklung eigener Handlungsorientierungen für seine Mitglieder. Die Stabilität und Integrationsfähigkeit eines Systems wird also durch die Abgrenzung und Unterschiedlichkeit gewährleistet (vgl. ebd.). „Die durch die Grenzen um- schriebene Gestalt des Systems zeigt sich unter einer sozialräumlichen und einer zeitlichen Perspektive.“ (ebd., S.71) Als Handlungsraum der Mitglieder tritt das System als sozialräum- liche Gestalt auf. Die Mitglieder gestalten diesen sowohl ideell als auch materiell. Er ist der Bedeutungskontext für sämtlichen kommunikativen Austausch zwischen den Mitgliedern. (vgl. ebd., S. 71) Ein System unterliegt jedoch auch dem „steten Wechselspiel von Behar- rung und Veränderung“ (ebd., S. 71), die in eine Systementwicklung münden. Durch Verän- derungen in der Umwelt, werden Systeme dazu angeregt sich dieser anzupassen und sich selbst weiterzuentwickeln. Über die Zeit verändern sich so auch ihre Gestalten (vgl. ebd.).

1.4 Folgerungen aus den systemischen Grundannahmen und Anforderungen an konkrete Diagnostikkonzepte in der Praxis

Wir erinnern uns zunächst daran, dass Diagnostik immer zugleich auch Reduktion von Kom- plexität ist. „Als Erkenntnisprozess selektiert Diagnostik aus der Fülle möglicher oder tat- sächlicher Erscheinungen heraus und erzeugt dabei spezifische Erkenntniseinheiten. (...). Luhmann zufolge geht es dabei um die Erzeugung von symbolischen Generalisierungen.“ (Ludewig 2009, S. 93, kursiv im Original) Diese sollen es möglichst erlauben häufiger auftre- tende Erscheinungsformen, z.B. Probleme bei der Lebensbewältigung, einer übergeordneten Kategorie oder einem bestimmten Typus zuzuordnen. Dadurch wird eine rasche Orientierung im psychosozialen Bereich begünstigt, da hierbei nicht jedes Mal auf die individuellen Details des Einzelfalls eingegangen werden muss. Gleichzeitig erleichtern Generalisierungen wie Kategorien und Typen die innerfachliche Verständigung (vgl. Ludewig 2009, S. 93 und Kunstreich et al 2004, S. 29). So ist bspw. die Diagnose ‚Borderlinestörung’ hilfreich um rasch Ideen über bestimmte Aspekte der Persönlichkeitsstruktur und der Lebensgestaltung etc. zu erhalten. Es besteht jedoch auch die Gefahr, dass Assoziationen unser Handeln be- stimmen, die zwar bei einer Vielzahl von Adressaten mit der ‚gleichen’ Diagnose zutreffen mögen, jedoch im jeweiligen Einzelfall nicht bei den Betroffenen in Erscheinung treten. (vgl. Ludewig 2009. S.93 f.) Dies erlaubt folgenden Rückschluss für ein konkretes Konzept sys- temischer Diagnostik:

Konzepte müssen so angelegt sein, dass der diagnostische Prozess zwar durch Generalisierungen und Kategorisierungen Vereinfachung und Überschaubarkeit ermöglicht - es bedarf aber auch eines kritischen Umgangs mit eben diesen als definitorische Größen, die im Einzelfall stets in Beziehung mit den Wirklichkeitsbeschreibungen der Adressaten und der Professionellen zu setzen sind.

Systemische Therapie- und Beratungsansätze verstehen Diagnose nicht als Abbildung der einen ‚wahren’ Realität, sondern als komplexes Zusammenspiel eines konstitutiven Prozes- ses, bei dem verschiedene Systeme miteinander in Wechselwirkung treten (vgl. Schlippe und Schweitzer 2007, S. 87). „Wirklichkeit ist nie losgelöst von subjektiven Wahrnehmungs-, Selektions- und Bewertungsprozessen, sondern bedingt dieser.“ (Wanner 2011, S. 8)

Systemische Diagnostikkonzepte müssen konstruktivistische Gesichtspunkte dahin- gehend berücksichtigen, dass der Beobachter nie aus einer objektiven Position her- aus die Lebenswirklichkeit eines Familiensystems ergründen kann. Beobachtungen sind immerzu geprägt, von den eigenen Sichtweisen, biografischen Erfahrungen, dem fachlichen Wissen, der Beziehungsgestaltung innerhalb des Helfer-Klient-Systems und weiteren mehr. Gegenstand systemischer Diagnosen sind und bleiben daher stets subjektive Beobachtungen.

Systemische Diagnosen und Diagnostik bedürfen des Dialoges. Es geht darum „die Bedingungen zu ergründen, die es dem Hilfe Suchenden ermöglicht haben, sein bisheriges Leben“ (Ludewig 2009, S. 95) zu meistern. Lebensprobleme und Problemsysteme werden „als Prozesse der psychischen und kommunikativen Sinnverarbeitung verstanden, zu deren Überwindung vorhandene Ressourcen (re)aktiviert werden.“ (ebd., S. 95).

Systemische Diagnostik zielt darauf ab mögliche Problemalternativen zu erkunden und vorhandene Ressourcen nutzbar zu machen. Da Systeme immerzu gleich auch 11 als gewordene Gestalten zu betrachten sind, kann Diagnostik als „Dialog unter Exper- ten verstanden werden, die ihren jeweiligen Sachverstand (Expertise) einbringen“ (Ludewig 2009, S. 96). Das Erleben der Adressaten wird so zu einem zentralen Moment eines systemischen Diagnostikkonzeptes. Es bedarf hierbei stets eines kommunikativen Aushandlungsprozesses zwischen Professionellen und den Hilfesuchenden. Dieser muss sich auch in konkreten Konzepten wiederfinden.

Wie bereits in Punkt 1.3.1 erwähnt liegt das Augenmerk systemischer Beratung und Therapie auf den Beziehungen, dem ‚Dazwischen’ statt auf dem Individuum selbst. Nicht nur die Mitglieder eines Systems stehen in Beziehung zueinander; Professionelle, die mit Familien und Einzelnen arbeiten, treten ebenso in Beziehung zu diesen. Dabei werden häufig nicht nur unterschiedliche Beziehungsqualitäten sichtbar, sondern auch hierarchische Unterschiede in Form von auszudifferenzierenden Machtverhältnissen.

Diagnostikkonzepte müssen so ausgestaltet sein, dass sie Einzelne oder Systeme in Beziehung zu anderen Systemmitgliedern, aber auch zu ihrer Umwelt erfassen. Machtverhältnisse und Beziehungsqualitäten sollen insofern Berücksichtigung finden, als dass sie für eine positive Weiterentwicklung des Systems förderlich, bzw. hinder- lich sind. Außerdem sollen Professionelle mit der Beziehungsqualität und ihrer ihnen häufig (vom System oder der Institution) gegebenen (Definitions-)Macht als Teil eines eigenen Beobachtungssystems und nicht als neutrale, objektive Beobachter Berück- sichtigung finden.

Wir haben uns nun mit einigen Anforderungen an ein systemisches Diagnostikkonzept für die Praxis auseinandergesetzt. Unser Zugang hierzu führte uns systematisch von systemtheore- tischen Grundlagen, über Ritschers (2004) Vorstellungen von systemischer Diagnostik hin zu möglichst konkreten Gesichtspunkten, die einem Konzept in der Praxis, wie z.B. im Hand- lungsfeld des Allgemeinen Sozialen Dienstes, möglichst inne wohnen sollten. Die bisherigen Schilderungen wurden eher allgemein gehalten, da diese ebenso anregend und bereichernd für andere Jugendhilfe fernen Disziplinen herangezogen werden können. In den folgenden Kapiteln liegt der Fokus hingegen auf den konkreten Besonderheiten der Di- agnostik im ASD des Jugendamtes.

2. Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe

2.1 Die Bedeutung diagnostischer Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe

Mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) wurden die Rolle des Jugend- amtes und seine Aufgaben bei der Ausgestaltung von Hilfeprozessen zum Teil neu bestimmt 12 (vgl. Harnach-Beck 1995, S. 15). Die Gewährung von Hilfen obliegt alleine dem Jugendamt, während bei der Erbringung von Hilfeleistungen „freie Träger soweit wie möglich einzubezie- hen sind.“ (ebd.) Das Jugendamt trägt die Verantwortung für die „Überprüfung der tatsächli- chen und rechtlichen Voraussetzungen des Tätigwerdens der Jugendhilfe“ (ebd.) des Weite- ren jedoch auch die Steuerung der Hilfe in Bezug, auf Planung, Einleitung und Evaluation der Hilfeleistungen, also die gesamte Strukturierung des Hilfeprozesses. Im KJHG wurden weitreichende und bedeutsame Entscheidungsaufgaben dem Jugendamt zugeteilt, „die in stärkerem Maße, (...) die Abklärung von Tatbeständen, die Ermittlung von Entstehungsbe- dingungen sowie die fachliche Beurteilung von Problemkonstellationen mit Blick auf eine zu entwerfende Änderungsstrategie notwendig machen.“ (ebd., S. 16) Über das ‚Ob’ und ‚Wie’ diagnostischer Arbeit im Bereich der Kinder und Jugendhilfe wird bis heute immer wieder ge- stritten (vgl. Hillmeier 2004, S. 203). Die zu treffenden Entscheidungen über das Schicksal von Kindern und Familien machen eine fachliche Begründung professionellen Handelns je- doch unabdingbar.

In Zeiten einer fortschreitenden Ökonomisierung des Sozialen steht auch die Jugendhilfe in einem zunehmenden Legitimationsdruck. Laufende Hilfen müssen regelmäßig auf ihre Wirk- samkeit hin überprüft und wenn nötig so angepasst werden, dass sie die Adressaten bei ih- rem Veränderungsprozess nachhaltig unterstützen. Hierfür bedarf es psychosozialer Diag- nostik, Verfahren und Konzepte in der Praxis, die Aussagen und Prognosen darüber zulas- sen, mit welchen Maßnahmen eine Familie, ein Kind oder Jugendlicher möglichst erfolgreich zu Veränderungen in den als problematisch erlebten Lebensumständen gelangen können. Nicht nur im Bereich der Hilfen zur Erziehung sind die Fachkräfte des ASD auf diagnostische Strategien angewiesen. Insbesondere bei Mitwirkung in Verfahren vor den Familiengerichten und bei der Beurteilung gewichtiger Anhaltspunkte im Sinne des § 8a SGB VIII, werden den Fachkräften qualifizierte und fachlich begründete Einschätzungen über das Wohlergehen von Kindern und deren Entwicklungspotentiale und -chancen in den verschiedensten Kontex- ten abverlangt.

Für alle Aufgabengebiete, in denen diagnostische Verfahren angewandt werden, gilt: „Diag- nostik in der Jugendhilfe ist nicht nur ein Akt aufgabenbezogenen Erkenntnisgewinns, son- dern wirkt verändernd bereits von Anfang an.“ (ebd., S. 204 ) Sie dient also nicht nur dem Zeck Aufschluss über die zu ergründenden kindlichen oder familiären Umstände zu geben - sie gibt auch Handlungsorientierung und begründet das weitere fachliche Vorgehen, ob in einer konkreten Beratungssituation oder bezogen auf einen umfassenderen Hilfeprozess.

2.2 Funktionen von psychosozialer Diagnostik im Handlungsfeld des ASD

Die sozialpädagogischen Fachkräfte des ASD stehen regelmäßig vor der Herausforderung Entscheidungen in Situationen treffen zu müssen, „die hoch komplex, undurchsichtig und 13 zudem im schnellen Wandel begriffen sind.“ (Harnach-Beck 1995, S. 18). Umso wichtiger erscheint es eine diagnostische Strategie zu verfolgen, mit welcher die für das weitere Vorgehen benötigten Informationen, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zusammengetragen werden können. Die Art der Informationen, die hierbei benötigt werden, hängt maßgeblich von der Funktion ab, welche psychosoziale Diagnostik6 im Einzelfall erbringen soll. Folgende Funktionen sind hierbei vorrangig zu nennen:

- Prüfung von Leistungstatbestandsvoraussetzungen zur Entscheidung über den Ein- satz finanzieller Mittel aber auch über das Schicksal von Kindern und Familie.
- Begründung von Sozialer Arbeit als Verwaltungshandeln. Diese muss im Zweifelsfall einer gerichtlichen Prüfung standhalten.
- Fachliche Einschätzung der Situation von Kindern und Familien und deren zusam- menfassende Dokumentation, insbesondere im Bereich der Hilfen zur Erziehung u.a. jedoch auch bei Bewertung gewichtiger Anhaltspunkten für Kindeswohlgefährdungen vorzunehmen.
- Vorbereitung zur Auswahl konkreter und geeigneter Hilfen für Kinder, Jugendliche und Familien.

(vgl. hierzu insgesamt auch Hillmeier 2004, S. 204 f.)

Im Allgemeinen Sozialen Dienst liegt der Schwerpunkt des diagnostischen Geschehens klar im Bereich der erzieherischen Hilfen, aber auch bei der Bewertung von Gefährdungen und deren Auswirkungen auf das Wohl von Kindern. Diese beiden Bereiche nehmen rein quantitativ den größten Raum in der diagnostischen Arbeit ein. In den folgenden Abschnitten soll deshalb ein diagnostisches Konzept vorgestellt werden, welches speziell für diese beiden Bereiche: Feststellung des erzieherischen Bedarfs und Bewertung von mutmaßlichen Kindeswohlgefährdungen, entwickelt wurde.

3. Sozialpädagogische Diagnose - Eine Arbeitshilfe des Bayeri- schen Landesjugendamtes

3.1 Kurze Beschreibung der Arbeitshilfe

Das Diagnosekonzept des Bayerischen Landesjugendamtes (BLJA) besteht im Wesentli- chen aus Tabellen, die über die kindliche und familiäre Situation Aufschluss geben sollen. Im Zentrum stehen die beiden Fragen, ob und in welchem Ausmaß eine Kindeswohlgefährdung besteht und/oder ob ein erzieherischer Bedarf gegeben ist. In einer Zusammenfassung der wichtigsten Kategorien werden 20 Merkmale in den verschiedenen Lebensbereichen Grund- versorgung des Jungen Menschen, Familiensituation, Entwicklungssituation des jungen Menschen und Erziehungssituation kurz dargestellt (vgl. ZBFS-BLJA 2012, S. 4; siehe 6.1, S. 30)7.

Die vier genannten Lebensbereiche wurden in je fünf Unterkategorien unterteilt, die in weiteren Tabellen eine konkretere Darstellung der kindlichen und familiären Situation erlauben sollen. So sind dem Lebensbereich Grundversorgung des jungen Menschen z.B. die Unterkategorien 1. medizinische Versorgung, 2. Ern ä hrung, 3. Hygiene, 4. Aufsicht und 5. Obdach untergeordnet (ebd.). Das Konzept verfährt in den anderen Lebensbereichen analog zu diesem Beispiel (ebd.). Die beiden ersten Lebensbereiche (Grundversorgung und Familiensituation) markieren hierbei deutlich die Prüfung bei Kindeswohlgefährdung. Die beiden nachfolgenden Bereiche (Entwicklungs- und Erziehungssituation) mehr die des Erziehungshilfebedarfs. (vgl. ZBFS-BLJA 2009, S. 11 f.) Der Diagnostiker kann bereits in dieser Kurzübersicht eine erste Bewertung vornehmen in Risiko oder Ressource oder kann (noch) fehlende Informationen für eine komplette Kategorie kenntlich machen.

Im Anschluss daran werden in weiteren Tabellen (siehe 6.2, S. 31) die Risiken und Ressour- cen näher betrachtet. Es finden sich für jede Kategorie jeweils zwei Ressourcen und zwei Risiken zur Bewertung. Unter der Kategorie 1. medizinische Versorgung finden sich bspw. folgende Merkmale:

Als Risiken:

- „1.1 Verletzungen des jungen Menschen sind nicht plausibel erklärbar oder selbst zu- gefügt.
- 1.2 Ärztliche Untersuchungen und Behandlungen des jungen Menschen werden nicht oder nur sporadisch wahrgenommen“ (ZBFS-BLJA 2012, S. 6).

Als Ressourcen:

- „1.3 Dem äußeren Eindruck nach wirkt der junge Mensch gesund und unverletzt.
- 1.4 Krankenversicherungsschutz, ärztliche Diagnose und/oder Behandlung des jun- gen Menschen sind sichergestellt.“ (ebd.)

Die sozialpädagogische Fachkraft hat hier die Möglichkeit Zutreffendes zu markieren oder aber deutlich zu machen, dass Informationen fehlen, die eine Bewertung dessen nicht ermöglichen (siehe 6.2, S. 31).

Dem Diagnostiker werden mit den Sozialpädagogsichen Diagnosetabellen insgesamt 80 Merkmale zur Verfügung gestellt (4 Lebensbereiche mit jeweils 20 Merkmalen), die ihn zu einer abschließenden Bewertung im Hinblick auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung oder einen eventuellen erzieherischen Bedarf hinführen sollen. Die Art und Weise der Prüfung gewichtiger Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung entspricht hierbei „dem Beschluss des Bayerischen Landesjugendhilfeausschusses zu den Empfehlungen zur Umsetzung des Schutzauftrages nach § 8a SGB VIII“ (ZBFS-BLJA 2012, S. 5). Da diese besondere Auf- merksamkeit verdienen sind sie in den Tabellen durchweg fett hervorgehoben worden (vgl. ebd.)

Bei der abschließenden Bewertung der familiären und kindlichen Situation sollen Erläuterun- gen mit Konkretisierungen und altersspezifischen Beispielen helfen, zu einer adäquaten Be- urteilung zu gelangen. So kann hier z.B. als eine Form der Konkretisierung genannt werden, dass der junge Mensch zu Unfällen neigt (siehe 6.4, S. 34) Als altersspezifisches Bespiel könnte dann z.B. ‚ Blaue Flecken an den Knien durch Stürze ’ stehen. Die meisten altersspezi- fischen Beispiele werden in den Erläuterungstabellen (ebd.) vorgegeben. Es sind aber auch eigene Eintragungen und Ergänzungen möglich, jedoch nur im Bereich der Erläuterungen.8 „Die 80 Merkmale oberhalb müssen dagegen zuverlässig und vollständig abgearbeitet wer- den“ (ZBFS-BLJA 2009, S. 12, fett im Original). Die Erläuterungstabellen dienen einerseits als Hilfe bei der Einschätzung und Bewertung, sie gewährleisten andererseits auch eine dem Einzelfall entsprechend angepasste Dokumentation.

Ein Formular zur abschließenden Bewertung der Fachkraft fasst das Ergebnis der Bewertung und die daraus folgenden weiteren Interventionen mit Wiedervorlagen entsprechend zusammen und verweist verweist auf weitere Anschlussverfahren (siehe 6.3, S. 33).

3.2 Theoretische Rahmung

Die Arbeitshilfe zur sozialpädagogischen Diagnose spricht sich selbst ein eklektisches, pragmatisches und optimistisches Grundkonzept zu (vgl. ZBFS-BLJA 2009, S. 9). Statt strin- gent auf einer Theorie „der Genese und Behandlung devianter Phänomene im Erleben und Handeln junger Menschen und der Entstehung und Behebung riskanter oder auch pathoge- ner Erziehungs- und Entwicklungsbedingungen“ (ebd. S. 8) zu basieren, liegen der Arbeits- hilfe ein länger andauernder interdisziplinärer Fachdiskurs und die alltagspraktischen Erfah- rungswerte erprobter Fachkräfte aus der Bezirkssozialarbeit zugrunde. (vgl. ebd. S. 9) Im Rahmen von Workshops konnten Beiträge und fundiertes Fachwissen von Fachleuten der relevanten Bezugswissenschaften (Pädagogik, Psychologie, Medizin, etc.) bei der Entwick- lung der ersten Auflage (2001) miteinfließen (vgl. ebd. S. 9). „Bereits hier wurde deutlich (...), dass es die grundlegende Theorie weder der Sozialarbeit/Sozialpädagogik noch einer sozi- alpädagogischen Diagnostik gibt.“ (ebd. S. 9)

Im Bereich der Bewertung kindlicher Bedürfnisse erschien eine Bezugnahme auf die Bedürf- nispyramide des Psychologen Abraham Maslow fruchtbar. So sind die physiologischen Be- dürfnisse des Kindes nach Nahrung, Schlaf, Pflege etc. die Grundsteine der Bedürfnispyra- mide. Dies gilt umso mehr, je jünger die Kinder sind. Schutz vor Gefahren, intakte und positive soziale Bindungen, Anerkennung und Wertschätzung, Anregung zu Spiel und Leistungen folgen den körperlichen Grundbedürfnissen bis an die Spitze der Pyramide - der individuellen Selbstverwirklichung. Hierzu zählen, neben eigenständigen Lebenskonzepten die Bewältigung von Lebensängsten. (vgl. hierzu insgesamt ZBFS-BLJA 2009, S. 8)

Außerdem sehen die Autoren der Sozialpädagogischen Diagnosetabellen folgende Aspekte als besonders bedeutsam für den diagnostischen Prozess an:

- Es sollen nur beobachtbare Sachverhalte beschrieben werden (ebd. S. 9). „Hypothe- sen müssen belegt (und) fachliche Beurteilungen davon sauber getrennt und nach Möglichkeit empirisch begründet werden.“ (ZBFS-BLJA 2009, S. 9)
- St ä rken und Entwicklungspotenziale sollen mehr Beachtung finden. Defizite und Ge- fährdungen beim Kind und für dessen Wohl sind zweifelsohne konkret zu benennen. Erkenntnisse der Resilienzforschung sollen jedoch in der diagnostischen Arbeit mehr Beachtung finden. (vgl. ebd.)
- Fokussierung zukünftiger Ver ä nderungspotentiale. Die Psychosoziale Diagnostik ist als Grundstein für eine gelingende Hilfeleistung zu sehen. Sie ist nicht nur „ein Akt aufgabenbezogenen Erkenntniszugewinns“ (ebd. S. 9), sondern soll Veränderungs- potentiale aufzeigen und verändern helfen. Der diagnostische Blick ist daher weniger in die Vergangenheit und mehr in die Zukunft gerichtet. (vgl. ebd.)

3.3 Anwendung und Handhabung im Hilfeprozess

Die Sozialpädagogischen Diagnosetabellen sind ein diagnostisches Instrument zur Einschät- zung des Erziehungshilfebedarfs und zur Bewertung von Kindeswohlgefährdungen. Als sol- che sind sie auch im Kontext des gesamten Hilfeplanungsverfahrens zu verorten (vgl. ZBFS- BLJA 2009, S. 13). „Ganz am Anfang des Informations- und Beratungskontaktes muss auch die Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung stehen, zunächst unabhängig davon, wie der Kontakt zustande kam.“ (ebd., S. 14, Hervorhebung durch I.W.) Im Anschluss daran erfolgen die Abklärung der Zuständigkeit, eine erste Anamnese und Diagnostik der Lebens- umstände der Familie und des Kindes. (vgl. ebd., S. 13 ff.). Kristallisiert sich ein Hilfebedarf heraus, so soll die weitere Diagnostik mit den Diagnosetabellen erfolgen. (Abb. 2, S. 19). Hierbei sind die Diagnosetabellen grundsätzlich für jedes Kind extra auszufüllen (vgl. ebd., S. 5).

Im weiteren diagnostischen Prozess (siehe Abb. 3, S. 19), bei dem die betroffenen Familien unbedingt miteinzubeziehen sind, erfolgt eine Klärung des konkreten Hilfebedarfs, der ent- weder in ein Entscheidungsverfahren und der Feststellung des erzieherischen Bedarfs ge- mäß §§ 27 f. SGB VIII, die Feststellung keines Hilfebedarfs, eines Beratungsbedarfs oder eines Eingriffsbedarfs in die elterliche Sorge mündet. (vgl. ebd., S. 16) Im Falle eines gegebenen Hilfebedarfs werden die Daten und Informationen der Anamnese (Stammdaten, bisherige Hilfen, relevante Ereignisse in der Familiengeschichte, etc.) in ein entsprechendes und übersichtliches Formular (siehe 6.5.1, S. 55 f.) übertragen und zusam- mengefasst.

„Kommt die fallzuständige Fachkraft zu der Einschätzung, dass längerfristige Hilfe notwendig werden könnten, so obliegt es ihr, im Zusammenwirken mit anderen Fach- kräften (...) zu beraten, welches Leistungsangebot der betroffenen Familie bzw. den Leistungsberechtigten unterbreitet werden kann. Voraussetzung ist dabei (...) zu- nächst eine möglichst wert- und interpretationsfreie, gleichwohl dichte und präzise Beschreibung der Ausgangssituation, aufgrund derer die Erörterung der Notwendig- keit, Möglichkeit und Eignung von Hilfen unter Einschluss der Vorstellungen (und Be- fürchtungen) des Kindes oder Jugendlichen und seinen Angehörigen vorgenommen werden kann.“ (ZBFS-BLJA 2009, S. 17)

Die Feststellung des Hilfebedarfs erfolgt in drei Schritten (siehe 6.5.2, S. 57 ff.): 1. Abschließende Bewertung der Fachkraft zur Kindeswohlgefährdung9 (ebd., S. 57); 2. Abschließende Bewertung der Fachkraft zum erzieherischen Bedarf10 (ebd., S. 58) und dessen Feststellung unter Beteiligung der Eltern bzw. Sorgeberechtigten, dem jungen Mensch und ggf. anderen wichtigen Akteuren im Hilfeprozess (ebd., S. 58 f.); 3. Formulierung von Zielsetzungen der Hilfestellung aus der Sicht der Adressaten und Professionellen und Konkretisierung der vier wichtigsten Zielvereinbarungen (ebd., S. 59 f.).

In einem weiteren Schritt erfolgt schließlich die Auswahl der konkreten und notwendigen Art der Hilfe gemäß §§ 27 f. SGB VIII. Hierbei werden außerdem festgehalten, wie die Adressaten und weitere relevante Professionen am Hilfeprozess beteiligt wurden (siehe 6.5.3, S. 61 f.). Ebenso findet eine Zusammenfassung der Gefährdungseinschätzung unter Bezug auf die vorangegangene abschließende Bewertung statt. Das Ergebnis der Gefährdungseinschätzung und die Namen der Fachkräfte die diese gemeinsam getroffen haben werden an diesen Stellen entsprechend vermerkt. (ebd.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Ablaufschema bis zur Sozialpädagogischen Diagnose zur Feststellung des Erziehungs- hilfebedarfs (ZBFS-BLJA 2009, S. 15)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Ablaufschema bis zur Sozialpädagogischen Diagnose zur Feststellung des Erziehungs- hilfebedarfs (ZBFS-BLJA 2009, S. 16)

[...]


1 Wie z.B. bei der Verlaufsbetrachtung im Fall Kevin (2006) in Bremen oder Lea-Sophie (2007) in Schwerin.

2 Zentrum Bayern, Familie und Soziales - Bayerisches Landesjugendamt.

3 Autopoiesis (altgriechisch autos „selbst“ und poiein „schaffen, bauen“) Bezeichnung für den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems.

4 Aufgrund der besseren Lesbarkeit fand durchweg die maskuline Form Verwendung. Gemeint sind jedoch stets beide Geschlechter.

5 Das Panoptikon (von griech. p ā n, „alles“, und optik ó, „zum Sehen gehörend“) ist ein dem klassischen Utilita- rismus entstammendes Konzept, welches vor allem in Gefängnissen, Arbeitslagern aber auch Fabriken die Überwachung mehrerer Menschen durch einen oder mehrere zentrale Beobachter ermöglichen sollte.

6 Die Begriffe psychosoziale Diagnostik und sozialp ä dagogische Diagnostik werden im Folgenden synonym ver- wendet.

7 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Bezugnahme auf die Sozialpädagogischen Diagnosetabellen auf den Anhang verwiesen. Dort finden sich alle Tabellen und auch die genauen Quellenangaben.

8 Eine entsprechende elektronische Form der Sozialpädagogsichen Diagnosetabellen wurde hierfür entworfen.

9 Hierbei wird auf die bereits stattgefundene Bewertung bei Ausfühlen der Diagnosetabellen zurückgegriffen

10 Hierbei sollen die zuvor ausgefüllten Tabellen Orientierung geben.

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Diagnostik im Allgemeinen Sozialen Dienst. Die Arbeitshilfe des Bayerischen Landesjugendamtes zur Feststellung des erzieherischen Bedarfs
Hochschule
Evangelische Hochschule Darmstadt, ehem. Evangelische Fachhochschule Darmstadt
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
78
Katalognummer
V283721
ISBN (eBook)
9783656833468
ISBN (Buch)
9783656833475
Dateigröße
9332 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Systemische Diagnostik, Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe, ASD, Diagnostik im ASD, Arbeitshilfen des Bayerischen Landesjugendamtes, Diagnosetabellen
Arbeit zitieren
Ingo Hettler (Autor:in), 2013, Diagnostik im Allgemeinen Sozialen Dienst. Die Arbeitshilfe des Bayerischen Landesjugendamtes zur Feststellung des erzieherischen Bedarfs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/283721

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