Biografische Selbstreflexion mit fremduntergebrachten Kindern

Eine kritische Betrachtung


Hausarbeit, 2014

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Was ist Biografiearbeit
2.1. Biografiearbeit als Reflexionshilfe in der Sozialen Arbeit
2.2. Abgrenzung Psychotherapie und Biografiearbeit

3. Warum sollte Biografiearbeit mit fremduntergebrachten Kindern gemacht wer- den?
3.1. Spezifische Lebensthemen und Identitätsfragen
3.2. Wichtige zu beachtende Aspekte der Biografiearbeit mit Kindern

4. Besonderheiten der Biografiearbeit mit fremduntergebrachten Kindern
4.1. Die autobiografische Kompetenz von Kindern
4.2. Kommunikation mit Kindern im Rahmen von Biografiearbeit

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einer in der Sozialen Arbeit gängigen Me- thode: Der Biografiearbeit. Sie wird in unterschiedlichsten Bereichen wie der Altenhil- fe, der Behindertenhilfe oder der Migrationssozialarbeit angewendet. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Biografiearbeit mit fremduntergebrachten Kindern, die in Heimen oder bei Adoptiv- und Pflegeeltern aufwachsen. Diese verfügen zu einer Viel- zahl über eine Vergangenheit in der sich schwer belastende Lebensereignisse wider- spiegeln. Im Gegensatz zu den meisten bei ihren leiblichen Eltern aufwachsenden Kin- dern, haben fremduntergebrachte Kinder oft nicht die Möglichkeit, Informationen über ihre Vergangenheit zu erlangen. Dennoch spüren sie die Belastungen aus dieser, ohne jedoch zu wissen, welche Ursachen diese haben und ohne zu wissen, wieso sie nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können. In Folge kann es bei diesen Kindern zu Schwie- rigkeiten in der emotionalen und sozialen Entwicklung kommen. Diese Kinder geben sich häufig selbst die Schuld daran, nicht mehr bei ihren Eltern leben zu können. Sie sehen sich als minderwertig und böse an. Ohne eine Reflexion dieser Sichtweise besteht die große Gefahr der festen Übernahme dieser Denkmuster, die sich dauerhaft auf die psychische Gesundheit und das Verhalten der Kinder auswirken. Biografiearbeit im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe möchte diesen Problemen entgegentre- ten und durch eine strukturierte Aufarbeitung des Vergangenen neue Sicht- und Denk- weisen ermöglichen.

Im ersten Abschnitt der folgenden Arbeit werde ich erläutern, was Biografiear- beit als Methode der Sozialen Arbeit ist und was sie leisten soll. Ich gehe hierbei auf die generelle Fähigkeit des Menschen ein, sich zurückzuerinnern. Im Anschluss werde ich auf die wichtige Abgrenzung zur Therapie eingehen, da ich hierin einen äußerst wichti- gen Punkt sehe, den jeder, der Biografiearbeit praktiziert, im Blick haben sollte. Danach beschreibe ich, wieso gerade die Biografiearbeit mit fremduntergebrachten Kindern wichtig ist und welche Dinge im Hinblick auf deren Gestaltung beachtet werden müs- sen. Im letzten Abschnitt werde ich mich kritisch mit der Frage auseinandersetzen, in- wieweit Kinder überhaupt zu einer autobiografischen Erzählung in der Lage sind und was dies für die Methodik bedeutet. Daran anknüpfend gehe ich auf grundlegende As- pekte der Kommunikation und der Haltung ein, die ich als Erwachsener im Umgang während der biografischen Arbeit mit Kindern beachten muss, da dies meiner Ansicht nach allzu oft vernachlässigt wird. Im Fazit werde ich die Ergebnisse zusammenführen und einen Ausblick formulieren. Es wird betont, dass diese Arbeit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Hierfür reicht der vorgegebene Rahmen bei Weitem nicht aus.

2. Was ist Biografiearbeit

2.1. Biografiearbeit als Reflexionshilfe in der Sozialen Arbeit

Unsere persönliche Biografie und die Auseinandersetzung mit dieser ist für uns Norma- lität. Wir erzählen unseren Kindern, wie wir aufgewachsen sind, unseren Freunden am Stammtisch, dass doch früher alles besser war und machen unseren Eltern Vorwürfe über ihre falsche Kindererziehung. Diese Reihe ließe sich endlos fortsetzen. Die Frage danach, wer man eigentlich sei, ist eine bis tief in die Vergangenheit zurückreichende philosophische Tradition. Um die gestellte Frage zu beantworten, verfassen Menschen ihre eigene Biografie oder machen eine Therapie, um sich mit ihrer Lebensgeschichte zu beschäftigen (vgl. Gudjons et al. 2008: S. 13f.). Der Mensch hat die Fähigkeit, in seine Vergangenheit zu schauen. Angeregt durch eine alte Fernsehsendung oder alte Kinderspielzeuge, können wir uns an ein „Damals“ erinnern und mit diesem bestimmte erlebte Sequenzen verknüpfen. Aber auch ohne diese Auslöser haben wir die Möglich- keit, uns gewisse Situationen ins Gedächtnis zu rufen und uns zu fragen, aufgrund wel- cher Erfahrungen wir besonders geprägt wurden. Diese Fertigkeit wird als autobiografi- sches Gedächtnis bezeichnet.

„Dieses autobiografische Gedächtnis macht den Menschen zum Menschen, kein Tier verfügt über diese explizite Fähigkeit, über dieses Vermögen, ICH sagen zu können gt;gt;und damit eine einzige Person zu meinen, die eine besondere Lebensgeschichte, ein bewusste Gegenwart und eine erwartbare Zukunft hat… Offensichtlich dient dieses Vermögen, gt;mentale Zeitreisenlt; (Endel Tulving) vornehmen zu können, zum Zweck, Orientierungen für zukünftiges Handeln zu ermöglichen. Erlerntes und Erfahrenes kann auf diese Weise für die Gestaltung und Planung von Zukünftigem genutzt werden.“ (Markowitsch/Welzer zitiert nach ebd: S. 14)

Um eine gestandene personale Identität zu erlangen, ist es notwendig, Sinnzusammen- hänge biografischer Erlebnisse zu entwickeln (vgl. ebd.).

Im sozialarbeiterischen Kontext heißt Biografiearbeit erstens „biografische Selbstreflexion“, also das Aufarbeiten der eigenen Lebensgeschichte und zweitens das professionelle Anleiten der biografischen Arbeiten von Klienten durch geeignete Tech- niken und Methoden (vgl. Hölzle, 2009: S. 31). Durch eine vorgegebene Struktur und gezielte Anstöße soll der Klient zu einer von der Alltagskommunikation losgelösten Auseinandersetzung mit seiner eigenen Lebensgeschichte angeregt werden. Ein Großteil der Menschen setzt sich lediglich über Alltagsfloskeln mit der eigenen Biografie ausei- nander: „Damals hätten wir uns das nicht erlaubt.“ „Das gab es früher nicht.“ „Meine Eltern waren streng, aber fair.“ Dies sind nur einige Beispiele, welche einen scheinbar logischen Ursache-Wirkungszusammenhang herstellen. Biografische Selbstreflexion nimmt diese Floskeln auf und versucht diese durch Anregungen, Übungen, Spiele und Gruppenarbeit auf eine höhere Reflexionsebene zu bringen. Ziel ist es, neben den zu bearbeitenden individuellen Augenblicken auch gesellschaftliche, kulturelle und soziale Bedingungen in den Blick zu nehmen. Denn die persönliche Biografie ist auch ein Spiegelbild externer Gegebenheiten, was dem Klienten[1] im Rahmen der Biografiearbeit bewusst gemacht werden soll. Durch kritisches Nachfragen und gezieltes Nachforschen soll dem Klienten zu einem Erkenntnisgewinn verholfen werden (vgl. Gudjons, 2008: S. 16f.).

Durch die biografische Selbstreflexion soll die Identität[2] durch Geschichte er- klärbar gemacht werden. Es geht um das Verbinden von Fakten, die Herausarbeitung ihrer Bedeutung und ihren gegenseitigen Einfluss aufeinander sowie ihr Gewicht im Bezug auf die subjektive Weltsicht eines Klienten und seiner spezifischen Verhaltens- muster. Durch diese Art der Rekonstruktion werden sich wiederholende Verhaltenswei- sen und Beziehungsmuster erklär- und verstehbar. Kindern, die in Heimen unterge- bracht sind, kann so die Fantasie genommen werden, sie seien schuld am Unvermögen ihrer Eltern und hätten daher keine Möglichkeit auf eine eigene verheißungsvolle Zu- kunft. Es geht um das Erkennen eines roten Fadens, der sich durch unser Leben zieht. Alle Einzelereignisse werden plötzlich in einen sinnhaften Zusammenhang mit dem großen Einzelereignis, das eigene Leben, gebracht. Diese Einzelereignisse sind die ei- gene Geschichte und daher die eigene Identität. Durch Biografiearbeit kann erfahren werden, woher ich stamme, wer ich bin und wohin ich mich entwickeln kann. Da es heute zunehmend zu Brüchen, beispielsweise Arbeitslosigkeit, in der eigenen Biografie kommen kann, ist es von Bedeutung, reflektieren zu können, wie mit bisherigen Krisen umgegangen und wie diese eventuell gemeistert wurden (vgl. ebd.: S. 17). „Die Suche nach diesen eigenen Spuren in der Lebensgeschichte führt zur Selbstvergewisserung und unterstützt die heute ohnehin schwierige Identitätsentwicklung.“ (ebd.)

Gleichwohl besteht die Aufgabe der biografischen Selbstreflexion nicht nur in einem Verstehen der Identität sondern auch darin, auf schlechte Erfahrungen wie Ver- nachlässigung, Gewalt und Elend mit einer gewissen inneren Akzeptanz zu blicken, also eine Art „ins Reine kommen“. Dies meint jedoch nicht die das Vergessen und Bagatelli- sieren von Erlebnissen oder ein willkürliches Stochern im Schmerz des Klienten (vgl. ebd. S. 19).

„Aber das genaue Hinschauen, das Zulassen von Wut, Enttäuschung, Trauer und Hoff- nungslosigkeit erst führt zur Versöhnung, setzt neue Kräfte frei, macht Mut, weckt Po- tenziale zum persönlichen Wachstum. Ansonsten bleibt viel Lebensenergie im gt;gt;De- ckelnlt;lt; dieser Gefühle gebunden.“ (ebd.)

Erst durch das Akzeptieren der eigenen Lebensgeschichte kann ich Kräfte für neue Handlungsmuster freisetzen und diese für ein positives Selbstkonzept nutzen. Was folgt ist also die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben und damit Selbstbe- stimmung. Es geht um die Bewusstmachung im eigenen Leben nie nur Opfer, sondern auch Täter gewesen zu sein, auch wenn es viele traumatische Lebensereignisse gab. Hierdurch entsteht die Möglichkeit zu erhöhter Selbstbestimmung und der besseren Auseinandersetzung mit der Wechselseitigkeit von Ohnmacht und Freiheit. Da gerade fremduntergebrachte Kinder und Jugendliche heute keine Antworten mehr auf die eige- ne Biografie aus der Tradition erhalten, ist ein schwerer Reflexionsprozess von Nöten, der durch professionelle Pädagogen begleitet werden muss, um ihre oftmals traumati- schen Lebensereignisse in einen Sinnzusammenhang mit ihrem derzeitigen Sein zu stel- len und ihnen Gestaltungsräume zu eröffnen. Dies wird auch als Aufgabe der Biografi- sierung des Aufwachsens bezeichnet. Durch die biografische Selbstreflexion wird den professionellen Helfern die Chance eröffnet, ein tieferes Verständnis für das Kind zu entwickeln. Dies ermöglicht im Weiteren einen professionelleren Umgang mit abwei- chenden oder originellen Verhaltensweisen des Kindes (vgl. ebd.: S. 19f.).

Es ist allerdings wichtig zu betonen, dass Biografiearbeit keine Psychotherapie ersetzt. Daher soll im nächsten Punkt die Bedeutung der Abgrenzung beider beschrieben werden.

2.2. Abgrenzung Psychotherapie und Biografiearbeit

Die Frage nach einer klaren Abgrenzung zwischen Psychotherapie und Biografiearbeit ist nicht einfach zu beantworten, da es in den Bereichen, in denen es um das persönliche Wachstum eines Menschen geht, schwer ist, Grenzen zwischen mitunter gleichzeitig stattfindenden Prozessen und ihren jeweiligen Auslösern zu ziehen. Biografiearbeit kann daher sehr wohl innere Prozesse in Gang setzen, die für eine erfolgreiche Therapie von hoher Bedeutung sein können. Der umgekehrte Fall ist ebenso möglich. Zunächst soll der Blick aber auf einige wesentliche Unterschiede gelegt werden. Die Psychothe- rapie beschäftigt sich hauptsächlich mit psychischen Störungen, die negativen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung haben und beim Menschen ein Leiden verursachen (vgl. ebd.: S. 20). Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass Menschen ohne nach dem ICD-10[3] klassifizierte Störungen eine Psychotherapie vollziehen können. Gründe können zum Beispiel der Wunsch nach Selbsterfahrung sein oder der Wille, nicht mehr mit einem Problem leben zu wollen, das zwar nicht der Definition eines Störungsbildes entspricht, aber dennoch negativen Einfluss auf ihr Leben nimmt.

Ziel einer Therapie ist es, Lösungsprozesse für tiefliegende Problemlagen einzu- leiten. Bei der Biografiearbeit steht die Exploration, das Zusammentragen von Lebens- daten und deren Interpretation im Vordergrund. Therapeutische Prozesse sind daher tiefgründiger. Damit einhergeht ein auf längere Dauer angelegtes Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut und Klient. Der Therapeut strebt bewusst Prozesse an, in denen der Klient innere Konflikte und verdrängte Emotionen durchlebt. Hierdurch sollen Selbst- heilungskräfte für die Überwindung psychischer Störungen auf den Weg gebracht und neue Lösungswege erarbeitet und angegangen werden. Während der Biografiearbeit setzt der Sozialarbeiter lediglich auf die Selbsterfahrungsebene des Klienten und bedient sich keiner speziellen Methodik, die therapeutische Prozesse beabsichtigt. Um therapeu- tisch zu arbeiten, ist eine qualifizierte Fachausbildung unerlässlich. Biografiearbeit kann u.a. von Sozialarbeitern, Pädagogen und Psychologen angewandt werden. Die Anleiter müssen während der Arbeit eine hohe Sensibilität für das Einhalten der Grenzen zur Psychotherapie entwickeln und Klienten beim Erkennen eines therapeutischen Bedarfes weitervermitteln. Geschieht dies nicht, besteht die Möglichkeit einer Re- Traumatisierung[4] – bei dieser wird das erlittene traumatische Erlebnis erneut durchlebt

[...]


[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird nur die männliche Form verwendet. Es sind aber beide Gene- ra angesprochen.

[2] Unter Identität verstehen wir unsere Einmaligkeit, unsere Unverwechselbarkeit, die Kontinuität des Ich.“ (Wiemann, 2009: S. 110)

[3] „Die Abkürzung ICD steht für "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems"; die Ziffer 10 bezeichnet deren 10. Revision. Diese Klassifikation wurde von der Weltgesund- heitsorganisation erstellt und von DIMDI ins Deutsche übertragen.“ (o.A. o.J.: O.O.)

[4] Definition Trauma: „Ein vitalis Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und indi- viduellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer/ Riedesser zitiert nach Eichenberg et.al. 2008: S. 70)

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Biografische Selbstreflexion mit fremduntergebrachten Kindern
Untertitel
Eine kritische Betrachtung
Hochschule
Hochschule Emden/Leer  (Soziale Arbeit und Gesundheit)
Veranstaltung
Biografiearbeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
19
Katalognummer
V283573
ISBN (eBook)
9783656832836
ISBN (Buch)
9783656830566
Dateigröße
450 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale Arbeit;, Biografiearbeit;, Fremduntergebracht;
Arbeit zitieren
Henning Schnieder (Autor:in), 2014, Biografische Selbstreflexion mit fremduntergebrachten Kindern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/283573

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