Das Phänomen der Mehrfach- und Intensivtäter vor dem Hintergrund jugendstrafrechtlicher Reformbewegungen


Diplomarbeit, 2006

99 Seiten, Note: 2,4


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Jugendstrafrecht
2.1. Besonderheiten des Jugendstrafrechts
2.2. Die Rechtsfolgen des Jugendgerichtsgesetzes

3. Die Reformen des Jugendstrafrechts
3.1. Das Jugendgerichtsgesetz von 1923
3.2. Das Jugendgerichtsgesetz von 1953
3.3. Das 1. Jugendgerichtsgesetz- Änderungsgesetz von
3.3.1. Die Diversion
3.3.2. Der Täter- Opfer- Ausgleich
3.4. Zusammenfassung

4. Das Phänomen der Mehrfach- & Intensivtäter
4.1. Definition der Tätergruppe
4.2. Zahlen und Fakten zum „Mehrfachtäter- Phänomen
4.3. Die Qualität der Delikte der Mehrfachtätergruppe
4.4. Das Problem der Prognostizierbarkeit krimineller Karrieren
4.5. Psycho- Soziale- Merkmale aus der Retrospektive
4.6. Zusammenfassung

5. Exkurs Sanktionsforschung
5.1. Sinn und Zweck von Strafe
5.2. Erkenntnisse der Sanktionsforschung
5.3. Systembedingte Mängel

6. Theorien zur Kontinuität und Diskontinuität krimineller Karrieren.
6.1. Klassische Theorien
6.1.1. Die Theorie der differentiellen Assoziationen
6.1.2. Die Theorie der delinquenten Subkultur
6.1.3. Die Drucktheorie..
6.1.4. Die Theorie des Labeling- Approach
6.1.5. Die Kontrolltheorie
6.1.6. Die Abschreckungstheorie
6.2. Zusammenfassung..
6.3. Entwicklungsdynamische Kriminalitätstheorien
6.3.1. Die Beschämungstheorie
6.3.2. Die Allgemeine Drucktheorie..
6.4. Die altersabhängige Kontrolltheorie von Sampson & Laub
6.4.1. Soziales Kapital
6.4.2. Verlust von sozialem Kapital und Kontinuität von Delinquenz
6.4.3. Wendepunkte und Zugewinn sozialen Kapitals
6.5. Die Allgemeine Kriminalitätstheorie von Gottfredson & Hirschi
6.5.1. Der Begriff der Selbstkontrolle nach Gottfredson & Hirschi
6.5.2. Die Entstehung von Selbstkontrolle
6.6. Folgerungen aus den Theorien

7. Gegenwärtige Reformbewegungen
7.1. Verschärfung des Jugendstrafrechts
7.2. Gründe für die Verschärfung
7.3. Entwicklung der Jugendkriminalität
7.3.1. Zusammenfassung

8. Die mediale Berichterstattung

9. Der Terminus des Mehrfach- & Intensivtäters

10. Der Reformvorschlag der DVJJ

11. Die Reformdiskussion aus sozialpädagogischer Sicht

12. Das Phänomen der Mehrfach- & Intensivtäter aus sozialpädagogischer Sicht

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Die Entwicklung der Jugendkriminalität steht seit einigen Jahren verstärkt im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Auftrieb hat die öffentliche Diskussion in den letzten Jahren durch Berichte über Wiederholungstäter wie den bekannten Münchener „Mehmet“, sowie in jüngster Zeit aufgrund Meldungen über die zunehmende Brutalität und den Sittenverfall an Berliner Schulen, erfahren. Aufgrund solcher Vorfälle wird auch die öffentliche Diskussion um die Effizienz und Angemessenheit des Jugendstrafrechts neu entfacht. In der Öffentlichkeit herrscht Unverständnis über die „Vergnügungen, in deren Genuss die Verbrecher kommen“[1], wenn sie trotz mehrerer Straftaten auch noch mit (erlebnis-) pädagogischen Maßnahmen belohnt werden. Forderungen nach einer Verschärfung des Strafrechts werden laut.

Die vorliegende Arbeit thematisiert das Phänomen der so genannten Mehrfach- und Intensivtäter als besondere Erscheinungsform innerhalb der Jugendkriminalität. Diese Problematik wird in den Kontext jugendstrafrechtlicher Reformbewegungen gestellt.

Zunächst gibt der erste Teil der Arbeit einen Überblick über das Jugendstrafrecht und die einzelnen Reformen, aus denen das für die heutige Jugendstrafrechtspraxis grundlegende Jugendgerichtsgesetz hervorging. Exemplarisch werden als Ergebnisse der Reformen die Diversion und der Täter- Opfer- Ausgleich thematisiert.

Im zweiten Teil wird die Gruppe der Mehrfach- und Intensivtäter in relevanten Aspekten umschrieben, um ein ganzheitliches Bild dieses Tätertypus zu entwerfen. Dabei werden die Probleme, die sich im Umgang mit dieser Gruppe für die Jugendkriminalrechtspflege ergeben, dargestellt.

Anschließend werden verschiedene Kriminalitätstheorien vorgestellt, mit denen das Zustandekommen von Kriminalität erklärt werden kann und die somit Aufschluss über die Ursachen fortgesetzter strafrechtlicher Auffälligkeit geben.

Im vierten Teil der Arbeit werden die gegenwärtigen Forderungen nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts in ihrer zentralen Zielsetzung und Begründung wiedergegeben. Nachfolgend wird die Entwicklung der Jugendkriminalität einer kritischen Betrachtung unterzogen. Dabei wird vor allem auf die Rolle der Medien innerhalb der öffentlichen Diskussion eingegangen. Auch die Bedeutung, die dem „Typus Mehrfach- und Intensivtäter“ für die fachliche und öffentliche Debatte um einen Anstieg der Jugendkriminalität zukommt, soll vor Augen geführt werden.

Im Anschluss daran wird auf einen Reformentwurf der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ) Bezug genommen, dieser wird in wesentlichen Punkten dargestellt.

Im Schlussteil nimmt der Verfasser Stellung zu den gegenwärtigen Reformbewegungen innerhalb des Jugendstrafrechts und beurteilt diese aus sozialpädagogischer Sicht. Abschließend wird das Phänomen der Mehrfach- und Intensivtäter ebenfalls aus sozialpädagogischer Perspektive rekapituliert.

2. Das Jugendstrafrecht

Das Jugendstrafrecht trägt in seiner Ausgestaltung pädagogischen, psychologischen und kriminologischen Erkenntnissen im Bezug auf die Jugendkriminalität Rechnung. Delinquentes Verhalten Jugendlicher und Heranwachsender ist in Bezug auf Entstehung, Auftreten und Qualität der Taten in wesentlichen Punkten von der Kriminalität Erwachsener zu unterscheiden.[2]

Einerseits weist die Altersgruppe der Jugendlichen und Heranwachsenden im Gegensatz zu den Vollerwachsenen eine wesentlich stärkere Kriminalitätsbelastung auf, sie sind sowohl bei den Tatverdächtigen als auch bei den Verurteilten seit langem überrepräsentiert.[3]

„Relativiert wird diese Überrepräsentation junger Menschen unter den Tatverdächtigen wie unter den Verurteilten, wenn Art und Schwere der verübten Delikte betrachtet werden.“[4] Die Delikte Jugendlicher sind im Allgemeinen nach Art und Qualität der Tat als leichtere Kriminalität zu bezeichnen. Zudem werden Jugendliche mehrheitlich innerhalb bestimmter Deliktsgruppen auffällig. So kann von einem jugendspezifischen Deliktsspektrum gesprochen werden, welches durch Taten dominiert wird, die den Eigentums- und Vermögensdelikten, den Straßenverkehrsdelikten und als neuere Entwicklung auch verstärkt der Rauschgiftdelinquenz zuzuordnen sind. Eine deutliche Überrepräsentation junger Menschen ist bei Gewaltdelikten, wie Körperverletzung und Raub, zu verzeichnen. Der Schaden (als Indikator für die Deliktsschwere) ist bei von Jugendlichen begangenen Taten jedoch wesentlich geringer als bei gleichen, von Erwachsenen verübten Taten.[5]

Des Weiteren ist Jugendkriminalität als ubiquitär und episodenhaft zu bezeichnen. Dies bedeutet, dass Normverstoße junger Menschen weit verbreitet sind und innerhalb eines gewissen Rahmens in industriellen Gesellschaften als normale Erscheinung anzusehen sind. Als episodenhaft gilt Jugenddelinquenz, da Normübertretungen in der Entwicklung junger Menschen nicht die Ausnahme, sondern vielmehr den Normalfall darstellen.[6] Die Jugendphase ist ein sensibler Entwicklungsabschnitt, während dessen junge Menschen mit vielfältigen Anforderungen konfrontiert werden, die es mit eigenen Wünschen und Vorstellungen in Einklang zu bringen gilt. In diesem Lebensabschnitt orientieren sich Jugendliche vor allem an der Gruppe der Gleichaltrigen. Grenzen werden bewusst gesucht und übertreten, Normen werden zunächst abgelehnt, es zählt Individualismus anstelle von Konformität.[7]

Nach Auffassung von Heinz, ist es „Aufgabe der Träger jugendstrafrechtlicher Sozialkontrolle- Jugendpolizei, Jugendstaatsanwaltschaft, Jugendgericht, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe und Jugendstrafvollzug-…mit den Mitteln jugendstrafrechtlicher Hilfen und Kontrollen zur Wahrung von Konformität beizutragen.“[8]

Es besteht zweifelsohne eine Spannung zwischen der als ubiquitär existierenden und als normal anerkannten Jugendkriminalität und den öffentlichen Bemühungen, im Sinne von Konformitätswahrung, auf Verfehlungen Jugendlicher adäquat zu reagieren und diese weitestgehend zu vermeiden. Maßnahmen müssen wohl überlegt sein und die Besonderheiten des Entwicklungsabschnitts Jugendphase, sowie den Entwicklungsstand im Einzelfall berücksichtigen. Mit zunehmendem Alter und dem Eintritt in das Erwachsenenleben und daraus resultierenden Verpflichtungen, neuen Beziehungen und auch Privilegien endet meist das auffällige Verhalten. Diese „Spontanbewährung“, womit ein Abbruch des auffälligen Verhaltens unabhängig von vorheriger, formeller Reaktion der Strafverfolgungsinstanzen gemeint ist[9], hängt nach Meier mit einem „stärkeren inneren und äußeren Halt“[10], der aus der zunehmenden Einbindung in die Gesellschaft resultiert, zusammen.[11]

Welche Faktoren im Einzelnen für die Entstehung bzw. die Aufrechterhaltung, sowie den Abbruch „krimineller Karrieren“ als bedeutsam gelten, soll an späterer Stelle, unter Bezugnahme auf verschiedene Kriminalitätstheorien, dargestellt werden. Diese Kernerkenntnisse begründen ein eigenes Jugendstrafrecht, welches zwar die Tatbestände des allgemeinen Strafrechts beinhaltet, jedoch auf diese mit anderen Rechtsfolgenreagiert.

2.1. Besonderheiten des Jugendstrafrechts

Das Jugendstrafrecht ist vom Erziehungsgedanken[12] geprägt, da davon ausgegangen wird, dass ein junger Mensch, der eine Verfehlung beging, noch in besonderem Maße positiv zu beeinflussen ist.[13] Zur Realisierung des Erziehungsgedankens steht ein spezielles Rechtsfolgensystem zur Verfügung mit welchem adäquat auf kriminelles Verhalten Jugendlicher erzieherisch eingewirkt werden soll. Ziel ist hierbei nicht die Erziehung zum moralischen, guten Menschen, sondern die Verhütung weiterer Straftaten im Sinne der Legalbewährung.[14]

Das Rechtsfolgensystem des JGG ist dreigegliedert - nach ursprünglicher Intention des Gesetzgebers in Maßnahmen mit steigender Eingriffsintensität – in Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafe.[15]

2.2. Die Rechtsfolgen des Jugendgerichtsgesetzes

Erziehungsmaßregeln bestehen aus der Erteilung von Weisungen[16] (§10 JGG: „Gebote und Verbote, welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln…“) und/ oder der Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Hilfe zur Erziehung (gem. dem SGBVIII) und dienen der Erziehung des Straffälligen Jugendlichen (bei Heranwachsenden sind aufgrund der Volljährigkeit nur Weisungen zulässig). Als Vorraussetzung ihrer Anwendung müssen Erziehungsbedürftigkeit und Erziehungsfähigkeit bestehen, Erziehungsmängel müssen in der Verfehlung zum Ausdruck gekommen sein und diesen soll mit angemessenen Mitteln begegnet werden. Nicht Schuldvergeltung oder Sühne, sondern die Erziehung steht hier im Vordergrund.

Die zweite Kategorie innerhalb der Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts bilden die Zuchtmittel. Diese kommen zur Anwendung, wenn Jugendstrafe nicht erforderlich scheint, dem Jugendlichen jedoch nachdrücklich und eindringlich vor Augen geführt werden muss, dass er für sein begangenes Tatunrecht Verantwortung zu übernehmen hat. Zuchtmittel werden in Form von Verwarnungen, Auflagen und Jugendarrest angewandt und haben nicht die Rechtswirkung von Strafen (Registereinträge). Der erzieherische Aspekt der Zuchtmittel besteht darin, dass „Ehrgefühl eines im Grunde gutgearteten Jugendlichen zu wecken“[17] und ihm Verantwortlichkeit für sein Handeln zu verdeutlichen. Erscheint ein intensiveres erzieherisches Einwirken auf den Jugendlichen als notwendig, können Zuchtmittel mit Erziehungsmaßregeln kombiniert werden.

Dritte Rechtsfolge und einzige Strafe innerhalb des JGG ist die Jugendstrafe. Sie beträgt im Mindestmaß sechs Monate, um die Möglichkeit der erzieherischen Einwirkung während des Vollzugs zu gewährleisten. Im Höchstmaß wird Jugendstrafe grundsätzlich bis zu fünf Jahren verhängt, dies aufgrund der Annahme, dass positive Effekte der „Anstaltserziehung“ nur innerhalb dieses Zeitraumes zu erzielen seien und bei längerem Freiheitsentzug die negativen Effekte der Inhaftierung überwiegen. Bei Heranwachsenden und Verbrechen, die nach allgemeinem Strafrecht mit einer Höchststrafe über zehn Jahre geahndet werden, beträgt das Höchstmaß der Jugendstrafe 10 Jahre. Hier überwiegt der Sühne- Vergeltungsgedanke das Ziel der erzieherischen Einflussnahme.[18] Jugendstrafe wird dann verhängt, wenn andere Maßnahmen des JGG als nicht ausreichend erscheinen. Weitere Vorraussetzung für die Verhängung von Jugendstrafe ist zum einen die Schwere der Schuld. Diese bemisst sich aus der Schwere des Delikts und der persönlich begründeten Beziehung des Jugendlichen zur Tat, sowie dem der Tat zu Grunde liegenden Motiv. Vor allem größere Hemmungen, die zur Begehung der Tat überwunden werden mussten, weisen auf die Schwere der Schuld hin. Bei Jugendlichen ist besonders zu prüfen, in welchem Maße sie sich „frei und selbstverantwortlich gegen das Recht und für das Unrecht entschieden haben.“[19]

Als zweite zentrale Vorraussetzung besteht neben der Schwere der Schuld die Feststellung der so genannten schädlichen Neigungen. Dieser Begriff, der im Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943 eingeführt wurde, ist heftiger Kritik ausgesetzt.[20]

Unter schädichen Neigungen werden erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel verstanden, die ohne zeitintensive Gesamterziehung des Täters, die Gefahr einer Störung der Gemeinschaftsordnung durch weitere Straftaten begründen. Die Fehlentwicklung, welche für die Mängel ursächlich ist, muss nicht selbstverschuldet sein, sondern kann auf ererbte Anlagen, neuronale Dysfunktionen oder Erziehungsfehler rückführbar sein. Die Neigungen müssen in der Tat erkennbar sein und in der Regel ist der Nachweis erforderlich, dass die Persönlichkeitsmängel bereits latent im Vorfeld der Tat, sowie zum Tatzeitpunkt bestanden und weiterhin zur Zeit der richterlichen Entscheidung betehen. Gruppenzwang und falsch verstandene Solidarität/ Kameradschaft auf Seiten des Täters sprechen gegen das Vorhandensein schädlicher Neigungen.[21]

Das heutige Jugendgerichtsgesetz geht ursprünglich auf das JGG von 1923 zurück und erfuhr mehrere Reformen. Für die heutige Praxis ist das JGG von 1990 (JGG nach dem 1. JGGÄndG) grundlegend. Es folgt ein Überblick über die Reformen im Einzelnen und wesentliche, durch sie verankerte Neuerungen.

3. Die Reformen des Jugendstrafrechts

3.1. Das Jugendgerichtsgesetz von 1923

Die in diesem Abschnitt wiedergegebenen Fakten sind ausschließlich der Untersuchung Schadys zum JGG von 1923 entnommen.[22]

Vor der Verabschiedung des JGG von 1923 gab es nur vereinzelt Sondervorschriften für die strafrechtliche Behandlung Jugendlicher und junger Heranwachsender. Im Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches (RStGB von 1871) war die Strafmündigkeitsgrenze bei 12 Jahren festgelegt. Für Nicht- Erwachsene, unter 18- jährige, war die relative Strafmündigkeit (Unrechtseinsichtsfähigkeit) gesondert zu prüfen, der allgemeine Strafrahmen zu mildern und die Todesstrafe fand keine Anwendung. Von diesen Sonderregelungen abgesehen, waren Jugendliche vor Strafgerichten den Erwachsenen gleichgestellt.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde diese Praxis zunehmend in Frage gestellt. Entscheidender Auslöser der Kritik am bestehenden Gesetz waren Inhalte der Reichskriminalstatistik, die einen beständigen Zuwachs von jugendlichen Verurteilten und Mehrfachtätern (!) erkennen ließ. Besonderer Kritik waren bereits damals die in hoher Zahl gegen Jugendliche verhängten, kurzen Freiheitsstrafen ausgesetzt. Diese wurden aufgrund ihrer negativen spezialpräventiven Effekte, für eine steigende Jugendkriminalität mitverantwortlich gesehen (!). Zunächst wurde dieser Kritik durch organisatorische Reformen innerhalb der Verwaltung (Spezielle Jugendabteilungen bei Gericht 1908; Gründung von Jugendstrafanstalten 1912) begegnet.[23]

Das erste Jugendgerichtsgesetz wurde 1923 verabschiedet. In diesem wurden folgende Neuerungen festgeschrieben:

Die Strafmündigkeitsgrenze wurde auf 14 Jahre heraufgesetzt, die Möglichkeit der Anwendung von Erziehungsmaßregeln anstatt oder mit Strafen wurde eröffnet, die Anordnung der Strafaussetzung zur Bewährung bereits im Urteil ermöglicht und es erfolgte die gesetzliche Verankerung von Jugendgerichten und Jugendstrafanstalten. Auch wurde laut Schady der Verfolgungszwang durch Einführung des Opportunitätsprinzips (bezogen auf die Staatsanwaltschaft) eingeschränkt.[24] Dies ist als wegbereitende Entscheidung für die Diversionsbewegung (siehe 3.3.; 3.3.1.) anzusehen. Insgesamt ist, so räumt Schady ein, jedoch die Entwicklung der Jugendkriminalität und die Erkenntnis über die schädlichen Wirkungen von kurze Freiheitsentziehungen vielmehr als willkommener Anlass und nicht als ursächlicher Grund für die Entstehung des JGG von 1923 anzusehen. Schady weist darauf hin, dass „eher sachfremde Motive wie Kosten- und Zeitersparnis im Vordergrund standen.“[25]

Während der Zeit der Nazidiktatur wurde das JGG von 1923, 20 Jahre nach seiner Einführung, 1943 grundlegend als Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) neu gefasst. Im RJGG wurden Regelungen, wie die Dreigliederung der Rechtsfolgen, der Jugendarrest und die unbestimmte Freiheitsstrafe verankert, die teilweise bis ins heutige JGG Bestand hielten.[26]

Das RJGG von 1943 soll nicht eingehender betrachtet werden, da seine Inhalte für diese Arbeit nicht von Bedeutung sind.

3.2. Das Jugendgerichtsgesetz von 1953

Nach Beendigung des zweiten Weltkriegs und dem Sturz der Nationalsozialisten, wurde zunächst das vormals bestehende RJGG vom nationalsozialistischen Gedankengut gereinigt, bevor das für das heutige JGG grundlegende JGG von 1953 Geltung erlangte.

In diesem blieb die Dreigliederung der Sanktionen in Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und Jugendstrafe aus dem RJGG erhalten. Als Neuerungen ist die Institution einer obligatorischen Bewährungshilfe in Verantwortung von Sozialarbeitern und die, unter bestimmten Vorraussetzung mögliche, Einbeziehung der Gruppe der Heranwachsenden, in das JGG von 1953 eingegangen. Nach Meier wurde im Zuge der Neugestaltung des RJGG jedoch „die historisch angelegte Problematik des ungeklärten Verhältnisses zwischen Erziehung und Strafe“[27] nicht thematisiert.

Die Rolle der Jugendgerichtshilfe wurde wie folgt festgeschrieben: Sie hatte die Aufgabe, die erzieherischen und fürsorglichen Aspekte im Jugendstrafverfahren zur Geltung zu bringen, sowie die Persönlichkeit des Jugendlichen zu erforschen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in einem Bericht zusammenzufassen, der als Grundlage für richterliche Maßnahmeentscheidungen herangezogen wurde.[28]

Die JGH wurde somit primär als „Gerichtshilfe“ wahrgenommen. Gegenüber dieser Funktion waren die sozialarbeiterischen Hilfetätigkeiten nachrangig und wurden von einer separaten Jugendhilfe geleistet.[29]

Nach Meier wurde das Jugendstrafrecht in den 50er und 60er Jahren zu Lasten einer Orientierung am Erziehungsgedanken mehrheitlich repressiv angewandt, dies drückte sich vor allem in einer verstärkten Anwendung der Zuchtmittel gegenüber den Erziehungsmaßregeln aus.[30]

In den 1960er und 1970er- Jahren entstanden Reformbemühungen, welche auf die Abschaffung des Jugendstrafrechts zu Gunsten eines einheitlichen Jugendhilferechts zielten. Dies konnte jedoch nicht realisiert werden, Jugendstrafrecht und Jugendhilferecht blieben nebeneinander bestehen, wobei jedoch aus dem JWG (Jugendwohlfahrtsgesetz) das KJHG von 1990 (SGBVIII) hervorging. Das SGBVIII wurde als „Leistungsgesetz“ konzipiert, dessen Angebote/ Leistungen durch das Jugendstrafrecht genutzt werden können.[31]

3.3. Das 1. Jugendgerichtsgesetz- Änderungsgesetz von 1990

Die als „Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis“[32] und –speziell auf die Diversionsbewegung bezogen- als Veränderung der Praxis „von unten“[33] bezeichneten Initiativen, die den „gesetzlichen Handlungsspielraum des bestehenden JGG nutzten“[34], betrafen vorrangig drei Aspekte:

1. Die Einführung und forcierte Anwendung der Diversion, als informeller Erledigung von weniger gravierenden Straftaten bzw. Bagatelldelikten durch §§ 45 &47 JGG (siehe 3.3.1.)
2. Die Zurückdrängung stationärer Maßnahmen zu Gunsten ambulanter Reaktionen, sowie
3. „Der Aus- und Aufbau neuer integrierender bzw. sozialkonstruktiver Maßnahmen“, die als neue ambulante Maßnahmen (NaM), in Form von Täter- Opfer- Ausgleich (TOA) und weiteren sozialen Trainingskursen, bezeichnet werden[35]

Rechtlich möglich war diese „Selbstreformierung“[36], wie schon erwähnt, vor allem aufgrund des Handlungsspielraums, den das bestehende JGG bereitstellte. Eingeleitet wurde die Reform durch den jugendstrafrechtlichen Diskurs von Kriminologen und Pädagogen. Durch das 1. JGGÄndG von 1990 wurden die Ergebnisse dieser „inneren Reform gesetzlich systematisiert.“[37]

Seit diesem Änderungsgesetz kam es gewissermaßen zum Reformstau im Jugendstrafrecht. Ungeachtet eines aus Sicht der Praxis bestehenden Reformbedarfs wurde ein ursprünglich für 1992 vorgesehenes zweites Änderungsgesetz nie realisiert.[38]

In diesem sollten folgende Aspekte reformiert werden:

- „Das Verhältnis zwischen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln,
- Die Vorraussetzungen für die Verhängung der Jugendstrafe,
- Die Gefahr der Überbetreuung Jugendlicher (Erziehungsgedanke/ Verhältnismäßigkeitsgrundsatz),
- Strafaxendenken und Aufschaukelungstendenzen in der Sanktionspraxis der Jugendgerichtsbarkeit,
- Das Ermittlungs- und das Rechtsmittelverfahren, sowie eine Aufwertung des TOA.“[39]

Die Reformbemühungen konzentrierten sich nach Meier mehr auf die Sanktionspraxis im Erwachsenenstrafrecht, in welchen es zum Zeitpunkt des 1. JGGÄndG sechs Reform- sowie 33 Änderungsgesetze gegeben hatte. Im Erwachsenenstrafrecht gab es vorrangig Bestrebungen für eine intensivere Anwendung „sozialkonstruktiver Sanktionen“[40] (gemeinnützige Arbeit etc.); insgesamt sieht Meier hierin eine mögliche Annäherung von Jugend- und Erwachsenenstrafrecht.[41]

Eine Reformkommission der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ) legte 2002 einen Reformvorschlag vor, auf den, unter Berücksichtigung aktueller Diskussionen zum Jugendstrafrecht, zu einem späteren Zeitpunkt eingegangen wird.

Die Begründung und Zielsetzung der Diversion, sowie die Bevorzugung ambulanter Maßnahmen und der sozialen Trainingskurse, werden im Folgenden thematisiert.

3.3.1. Die Diversion

Der Erkenntnis über die Episodenhaftigkeit von jugendlichen Normverstößen wird im Jugendstrafrecht vor allem mit der Möglichkeit zur Diversion begegnet. Im Folgenden werden die grundlegenden Fakten zur Diversion skizziert.[42] Diversion bedeutet Um- bzw. Ableitung. Gemeint ist die informelle Verfahrenserledigung vor Beginn des formellen Sanktionsverfahrens, die tatverdächtige Person wird gewissermaßen aus dem Kriminaljustizsystem „abgeleitet“. Hierdurch sollen die negativen Auswirkungen, wie Stigmatisierung des Täters und Kriminalisierung der „normalen“/ episodenhaften und ubiquitären Jugendkriminalität, eines förmlichen Strafverfahrens vermieden bzw. begrenzt werden.[43] Bei leichten bzw. Bagatellstraftaten Jugendlicher wird lediglich die Notwendigkeit einer gewissen Normverdeutlichung gesehen.[44] Es ist anzunehmen, dass bereits die Erfahrung des „Erwischtwerdens“, einer Vorladung und die Durchführung eines polizeilichen Verhörs ausreichend abschreckende Wirkung auf den Jugendlichen ausüben. Im Gegensatz zu den USA ist die Diversion in Deutschland eine „Domäne der Staatsanwaltschaft“[45], die Entscheidung bezüglich der Diversion im Einzelfall wird durch die Staatsanwaltschaft (nicht durch die Polizei), unter Berücksichtigung der Stellungnahme der JGH, getroffen.

Neben seiner entkriminalisierenden und entstigmatisierenden Wirkung, hat das Diversionsverfahren den Vorteil, dass die staatliche Reaktion auf die Fehltat aus der Sicht des Jugendlichen wesentlich zügiger erfolgt. Hier ist eine Unmittelbarkeit der Reaktion gegeben, die lerntheoretisch von großer Bedeutung ist. Es vergehen keine Wochen und Monate zwischen Einleitung des Verfahrens durch die Polizei und Entscheidung durch den Jugendrichter. Zwischen Tat und Tatfolge besteht somit ein unmittelbarer Zusammenhang, der vormals durch „das langsame Wirken des traditionellen Justizsystems entfiel.“[46]

Der Diversionsgedanke bietet jedoch auch Ansatzpunkte für Kritik. So seien kriminologische Erkenntnisse hinsichtlich der Stigmatisierungsgefahr mit der Folge sekundärer Devianz nicht Begründung, sondern lediglich Anlass zu einer verstärkten Diversionspraxis. Andere Interessen ökonomischer Natur haben mutmaßlich stärker dazu beigetragen. Denn durch die Diversion werden Staatsanwaltschaft, Jugendgericht und JGH wesentlich entlastet, die Verfahren werden kostengünstiger, da weniger zeitaufwendig. Hinzu kommen Einsparungen aufgrund des Verzichts auf kostenintensive Folgemaßnahmen und einem Rückgang in der Anordnung stationärer Maßnahmen.[47] Zudem wird in der Literatur auf den negativen Effekt des „net – widening“[48] und andere mögliche, unerwünschte Nebenerscheinungen der Diversion hingewiesen, auf die hier nicht speziell eingegangen wird.[49]

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Diversion bei leichterer Jugendkriminalität als „notwendige, aber zugleich geringstmögliche prozessuale und materiellrechtliche Rechtsfolge“[50] Anwendung findet, um Kriminalisierung und Dramatisierung episodenhafter Jugenddelinquenz zu vermeiden. Die Verfahrenseinstellung im Zuge der Diversion erfolgt entweder nach §45 JGG vor Beteiligung eines Jugendrichters durch die Staatsanwaltschaft oder nach §47 JGG durch den Jugendrichter, wenn die Anklage bereits eingereicht wurde. Begünstigend auf eine Diversionsentscheidung wirken sich erzieherische Maßnahmen aus, die bereits durchgeführt oder eingeleitet wurden (§45 Abs.2 JGG). Das Bemühen um Wiedergutmachung von Seiten des Jugendlichen, bspw. in Form eines Täter- Opfer- Ausgleichs (TOA), um einen Ausgleich mit eventuell Geschädigten zu erreichen, „steht einer erzieherischen Maßnahme gleich“(§45 JGG, Abs.2 S. 2). Zudem besteht die Möglichkeit, dass die Staatsanwaltschaft die Erteilung von Ermahnungen, Auflagen oder Weisungen (z.B. an einem sozialen Trainingskurs i. S. d. NaM (s.o.) teilzunehmen) durch den Jugendrichter anregt (§45 Abs.3). So wird die Erfüllung der Auflagen durch den Jugendlichen Bedingung für die Verfahrenseinstellung.[51]

3.3.2. Der Täter- Opfer- Ausgleich

Der Auf- und Ausbau der neuen ambulanten Maßnahmen (NaM) wurde neben der forcierten Anwendung der Diversion als Resultat jugendstrafrechtlicher Reformbewegungen genannt. Diese ambulanten Maßnahmen hängen in der Praxis eng mit der Diversion zusammen (3.3.1.). Beispielhaft für diese NaM wird der so genannte Täter- Opfer- Ausgleich (TOA) in Zielsetzung, Durchführung und Akzeptanz durch die Betroffenen zusammenfassend dargestellt.

Als Ausgleich wird in diesem Falle die umfassende, „vollständige Konfliktbereinigung und Wiedergutmachung in einem Verfahrenszug“[52] verstanden. Der TOA dient der Wiederherstellung des rechtlichen und sozialen Friedens. Dies geschieht dadurch, dass die aufgrund einer Straftat entstandenen Probleme, Belastungen und Konflikte auf Täter- und Opferseite unter Beteiligung eines Vermittlers gelöst werden. Zentrale Aspekte sind die Aufarbeitung der Tat, die Auseinandersetzung mit den Folgen, die Vereinbarungen von Wiedergutmachungsleistungen und somit die Betonung der Opferbelange.[53]

Das Strafverfahren kann nach Middelhof nur bedingt eine friedensstiftende Funktion erfüllen da Opferbelange zu kurz kommen; zudem ist es den jugendlichen Tätern meist nicht möglich die unterschiedlichen Sanktionsformen nachzuvollziehen, wodurch kein innerer Zusammenhang zwischen eigenem Handeln und verhängter Rechtsfolge erzeugt wird. Beim TOA hat der Täter die Möglichkeit, die Folgen seiner Tat persönlich im Gespräch mit dem Geschädigten zu erfahren und sich der negativen Folgen seines Handelns bewusst zu werden. Er muss sich aktiv mit seinem Verhalten auseinandersetzen. Die begangene Normverletzung wird ihm lebensnah verdeutlicht. Es besteht für ihn die Möglichkeit eine strafende (und möglicherweise als abstrakt empfundene) Reaktion auf sein Fehlverhalten zu vermeiden bzw. abzumildern. Im Prozess des TOA wird der Täter mit dem Taterleben seines Opfers konfrontiert und muss sich in dessen Sichtweise und emotionales Erleben hineinversetzen. Diese aktive Auseinandersetzung mit den Folgen des eigenen Handelns, durch welches das soziale Lernen ermöglicht und unterstützt wird, ist als Kernziel des TOA zu bezeichnen. Daneben hat der TOA eine entkriminalisierende/ entstigmatisierende Funktion und kann zur Vermeidung zivilrechtlicher Streitigkeiten beitragen. Zudem wird den Erwartungen der Opfer durch den TOA besser Rechnung getragen, als durch ein formelles Verfahren, in dem sie lediglich einen Zeugenstatus innehaben.[54]

Der TOA ist angebracht, wenn eine natürliche Person geschädigt wurde und ein Geständnis des Täters vorliegt. Zudem setzt der TOA die Freiwilligkeit beider Parteien voraus. Der TOA ist sowohl für Erst- wie auch mehrfach auffällige Wiederholungstäter durchzuführen und soll nicht aufgrund von Vorverurteilungen oder Deliktschwere ausgeschlossen werden. „Jedoch ist die Obergrenze klar dort zu ziehen, wo im Einzelfall die bloße Wiedergutmachung für das Rechtsempfinden des Opfers und der Allgemeinheit unerträglich wäre (z. B. bei Vergewaltigung und vorsätzlichen Tötungsdelikten)“[55]

Eine Konfliktregelung durch TOA bietet sich bei Delikten wie: Körperverletzung; Beleidigung; Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung; Diebstahl etc. an.

Zur Akzeptanz des TOA ist bei Middelhof folgendes vermerkt:

Bundesweit sind Täter und Opfer in 90% der geeigneten Fälle zunächst zu einem Ausgleich bereit, in 80% dieser Fälle kommt es schließlich zu einer von beiden Seiten akzeptierten Regelung, welche auch durchgeführt wird. Als primäres Erfolgskriterium wird die Zufriedenheit der Beteiligten im Bezug auf die erarbeitete Lösung angesehen. Die Verfahrenseinstellung bzw. Sanktionsmilderung durch die Justiz wird vielmehr als sekundäres Erfolgskriterium angesehen.[56]

3.4. Zusammenfassung

Das heutige Jugendgerichtsgesetz ist in seiner jetzigen Form als relativ junges Gesetz zu bezeichnen. Es ging aus dem allgemeinen Starfrecht hervor, in welchem bis zu diesem Zeitpunkt die speziellen Entwicklungsphasen die junge Menschen durchlaufen und daraus resultierende Besonderheiten im Umgang mit Jugendkriminalität keine Beachtung fanden.

So stellt die Entwicklung des ersten Jugendgerichtsgesetzes von vereinzelten jugendspezifischen Vorschriften des einstigen RStGB hin zu einem eigenen „Jugendstrafgesetz” sicherlich einen bedeutenden Schritt dar. Die neueren Entwicklungen im Bereich des Jugenstrafrechts sind hingegen eher als ernüchternd zu betrachten. Trotz einem von der Praxis eingeforderten Reformbedarf, werden keine politischen Anstrengungen zu einer das 1. JGGÄndG fortführenden Reform unternommen. Im Gegenteil werden, anstatt eine weitere, intensivere Ausrichtung des JGG an pädagogischen und kriminologischen Erkenntnissen voranzutreiben, immer öfter Rufe nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts aus Öffentlichkeit und Politik laut.

Interessant sind gewisse Parallelen, die im Bezug auf die reformauslösenden Momente damals und den Forderungen nach einer Verschärfung des JGG heute, zu erkennen sind. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts führten die Erkenntnisse über die negativen Folgen von (kurzen) Freiheitsstrafen und die steigende Zahl von Mehrfachauffälligen im Bereich der Jugenddelinquenz dazu, dass die damalige Praxis im Umgang mit dem Phänomen der Jugendkriminalität hinterfragt und reformiert wurde.

Nicht zuletzt sind die bisher erfolgten Reformen nach gesammelten Erkenntnissen kritisch zu betrachten, da sie ökonomische Vorteile mitsich brachten und daher wohlmöglich aufgrund der Einsparpotentiale (Diversion), die sie eröffneten, innerhalb der Politik auf „fruchtbaren Boden fielen”. Auf die aktuelle Reformdiskussion wird im Schlussteil dieser Arbeit unter Berücksichtigung theoretischer Überlegungen und aktueller Befunde aus dem Bereich der Sanktionsforschung eingegangen.

Trotz allem haben die bisherigen Reformen des Jugendstrafrechts dazu geführt, dass im Jugendstrafrecht Instrumentarien zur Verfügung stehen, die es erlauben, auf delinquentes Verhalten Jugendlicher und Heranwachsender adäquat zu reagieren.

Wie verhält es sich nun jedoch mit der Art von Jugendkriminalität, die über die „normale”, also episodenhafte und ubiquitäre Jugendkriminalität hinausgeht?

Die kriminologische Debatte unterscheidet bezüglich der Erscheinungsform von Jugendkriminalität zwischen zwei Idealtypen: der episodenhaften Kriminalität steht die, sich über eine längere Zeit erstreckende, kriminelle Karriere gegenüber.[57]

Eine bestimmte Tätergruppe wird wiederholt, unbeeindruckt von staatlichen Interventionen strafrechtlich auffällig.

Diese Gruppe der Mehrfach- und Intensivtäter, die mit Begriffen wie life „course persistent offenders”, „chronic offenders“ und „chronische Lebenslauftäter“[58] bezeichnet wird, stellt die Jugendstrafrechtspflege vor eine Herausforderung. Um die Probleme im Umgang mit dieser Tätergruppe zu verdeutlichen, wird diese in relevanten Aspekten (Definition; Zahlen; Psycho-soziale Merkmale) beschrieben.

4. Das Phänomen der Mehrfach- & Intensivtäter

4.1. Definition der Tätergruppe

Kennzeichnend für diesen Tätertyp ist die Tatsache, dass eine „kleiner harter Kern” von Tätern, oftmals mit schwereren Delikten, über einen längeren Zeitraum auffällt.[59] Dieser harte Kern ist für einen Großteil der registrierten Verbrechen verantwortlich, man geht generalisierend davon aus, dass 10% der polizeilich ermittelten Tatverdächtigen für 50% der registrierten Straftaten verantwortlich sind. Laut Steffen ist diese Annahme aufgrund kriminologischer Erkenntnisse als zutreffend zu bezeichnen.[60]

Doch schon auf der Suche einer generellen Definition für diesen Tätertypus wird die Problematik dieser Erscheinung offensichtlich. Eine einheitliche Definition ist in der Literatur nicht zu finden.

Selbst in polizeilichen Statistiken, von denen das Phänomen nach rein kriminalistischen Gesichtspunkten wie Anzahl, Schwere und Art der Taten, sowie Deliktsfolge definiert wird und die somit einen leichteren Zugang und weniger Eingrenzungsprobleme als die Jugendhilfe haben (für letztere steht der erzieherische Bedarf als Hauptindikator und Arbeitsgrundlage im Vordergrund), ist keine einheitliche Definition zu finden. Es existiert ein „breites Spektrum” an Definitionen. Manche Länderpolizeien (z.B. die Polizei in Bayern) verzichten ganz auf eine nähere Bestimmung. Dies bringt es mit sich, dass keine bundeseinheitlichen, fundierten Aussagen (in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamtes (BKA) sind keine Angaben zu diesem Phänomen recherchierbar) und ebenso keine länderübergreifenden Vergleiche möglich sind.[61]

Von Steffen wird auf die verschiedenen Auffassungen hingewiesen, demnach können mit dem Begriff des Mehrfach- Intensivtäters Menschen bezeichnet sein, die:

- „wegen der Quantität und Dichte ihrer Straftaten auffallen, also etwa sehr viele Delikte innerhalb kurzer Zeiträume begehen, oder solche, die
- wegen der Qualität ihrer Straftaten hervorstechen, also besonders schwerwiegende und/ oder besonders brutale Delikte verüben, und schließlich solche, die
- als „Karrieretäter“ früh in eine dauerhafte, sich zur Begehung von schwereren Delikten hin entwickelnde kriminelle Karriere einsteigen.“[62]

„Mit anderen Worten, wer von „Mehrfach- und Intensivtätern“ spricht, muss sich darüber im klaren sein, dass er mit einem äußerst vagen Begriff arbeitet, der auch durch den Verweis auf eine Handvoll bundesweit bekannter, scheinbar klarer Fälle nicht an Eindeutigkeit gewinnt.“[63]

Diese Unklarheiten bezüglich der definitorischen Bestimmung des Problems sind angesichts seiner Eigenheit als „Dauerthema der Kriminologie“[64] wenig verständlich. Auch von Holthusen und Lüders wird die Bedeutung der „Mehrfach-Intensivtäter- Problematik“ betont. Sie erkennen in diesem Thema, aufgrund der öffentlichen und fachlichen Debatten einen „Angelpunkt der Fachdiskussion auch in der Kinder- und Jugendhilfe“.[65] Aufgrund dieses Phänomens werden in der Jugendhilfe „etablierte Selbstverständlichkeiten“[66] hinterfragt und Streitfragen wie die geschlossene Unterbringung und das Verhältnis von Hilfe und Kontrolle, Erziehung und Strafe erhalten neue Brisanz. Des Weiteren gerät die Jugendhilfe aufgrund ihres Präventionsauftrags unter steigenden Legitimationsdruck.

Zunächst wird nun auf der Grundlage verschiedener Erhebungen ein Bild vom zahlenmäßigen Ausmaß der Erscheinung vorgestellt.

4.2. Zahlen und Fakten zum „Mehrfachtäter- Phänomen“

In der von Trenczek durchgeführten Jugendgerichtshilfe (JGH) - Umfrage, in welche von den bundesweit mit JGH- Aufgaben befassten Personen 529 Fragebögen in die Auswertung einflossen, ergab sich folgendes Bild:

Nach Regionen differenziert waren in den Regionen Nord 16,2%, in den Regionen Mitte wie Süd 12,5%, in Ost 15,9% und in Berlin 16,4% der „JGH- Zielgruppe“ mehrfach auffällig. Mehrfach auffällig bedeutet nach hier vorliegender Auffassung, mehr als fünf Mal bei der JGH auffällig geworden. Die geringen Unterschiede lassen auf eine bundesweit relativ einheitliche Ausprägung schließen.[67]

Steffen nennt unter Berufung auf 2001 in Bayern ermittelte Tatverdächtige (TV) folgende Zahlen nach Tatalter und –zahl differenziert:

[...]


[1] Walter, M. 2003, S.162

[2] Vgl. Meier et al. 2003

[3] Vgl. Heinz 2003

[4] Heinz 2003, S.36

[5] Vgl. Heinz 2003

[6] Vgl. Walter, M. 1995

[7] Vgl. Fend 2003

[8] Heinz 2003, S.29

[9] Vgl. Steffen 2003 a

[10] Meier et. al. 2003, S.49

[11] Vgl. Meier et. al. 2003

[12] Vgl. zu Grundsätzen des Jugendstrafrechts & Stellung der Jugendgerichthilfe: Brunner 1991; Meier 2003; Trenczek 2003

[13] Vgl. Middelhof et. al. 2004

[14] Vgl. Trenczek 2003, S.40

[15] Vgl. Meier et. al. 2003

[16] Vgl. ausführlich zu den Rechtsfolgen des JGG: Brunner 1991, S.116ff.

[17] Brunner 1991, S.115

[18] Vgl. ebd.

[19] ebd., S.191

[20] Vgl. Kritisch zum Begriff der schädlichen Neigungen: Deichsel 2004

[21] Vgl. Brunner 1991

[22] Vgl. Schady 2003:

[23] Vgl. Schady 2003

[24] Vgl. Schady 2003

[25] Schady 2003, S.394

[26] Vgl. ebd.

[27] Meier et. al. 2003, S.40

[28] Vgl. Trenczek 2003

[29] Vgl. ausführlich zur JGH Trenczek 2003, S.16ff.

[30] Vgl. Meier et. al.2003

[31] Vgl. ebd, S.41ff.

[32] Meier et. al. 2003, S.42

[33] Feuerhelm 2003, S.86

[34] Meier et. al. 2003, S.42

[35] Meier et. al. 2003, S.42

[36] Solte 2002, S.85

[37] Meier et. al. 2003, S.43

[38] Vgl. Meier et. al. 2003/ Ostendorf 2002

[39] Meier 2003 et. al., S.43

[40] Ebd.

[41] Vgl. Meier et. al. 2003

[42] Vgl. ausführlich zur Diversion statt vieler Lamnek 1997, S.271ff.

[43] Vgl. Lamnek 1997

[44] Vgl. Walter, M. 1995

[45] Lamnek 1997, S.300

[46] Lamnek 1997, S.279

[47] Vgl. Lamnek 1997

[48] Lamnek 1997, S.291

[49] Vgl. dazu ausführlich: Brunner 1991, S.384ff &Lamnek 1997, S.284ff.

[50] Brunner 1991, S.389

[51] Vgl. dazu ausführlich/ kritisch: Brunner 1991, S.384ff.

[52] Middelhof et. al. 2004, S.21

[53] Vgl. Middelhof et. al. 2004

[54] Vgl. Middelhof et. al. 2004

[55] Middelhof et. al. 2004, S.24

[56] Vgl. Middelhof et. al. 2004

[57] Vgl. Walter, M. 1995

[58] Stelly et. al. 2003, S.25

[59] Vgl. Steffen 2003a

[60] Vgl. Steffen 2003b

[61] Vgl. Steffen 2003b

[62] Steffen 2003a, S.12

[63] Holthusen et. al. 1999, S.78

[64] Steffen 2003b, S.152

[65] Holthusen et. al. 1999, S.78

[66] Ebd.

[67] Vgl. Trenczek 2003, S.65ff.

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen der Mehrfach- und Intensivtäter vor dem Hintergrund jugendstrafrechtlicher Reformbewegungen
Hochschule
Akademie für Gesundheits- und Sozialberufe  (Berufsakademie Heidenheim)
Note
2,4
Autor
Jahr
2006
Seiten
99
Katalognummer
V283329
ISBN (eBook)
9783656824947
ISBN (Buch)
9783656828532
Dateigröße
787 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jugendstrafrecht, Kriminalitätstheorien, Kriminalität, Intensivtäter, Mehrfachtäter, Reform des Jugendstrafrechts, Theorien abweichenden Verhaltens, Delinquenz
Arbeit zitieren
Dipl. Soz. Päd/ Gesundheits- und Krankenpfleger/ Fachkrankenpfleger Psychiatrie Matthias Thielen (Autor:in), 2006, Das Phänomen der Mehrfach- und Intensivtäter vor dem Hintergrund jugendstrafrechtlicher Reformbewegungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/283329

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