Integrationstheoretische Analyse europäischer Vergemeinschaftungsprozesse der Migrationspolitik


Magisterarbeit, 2014

79 Seiten, Note: 2,0

J. S. (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

I. Einleitung
I.1 Aktueller Forschungsstand
I.2 Begriffsbestimmung
I.3 Forschungsdesign

II Klassische Theorien der europäischen Integration
II.1 Funktion und Stellenwert von Integrationstheorien
II.2 Neofunktionalismus
II.3 Liberaler Intergouvernementalismus

III Acquis communautaire der Europäischen Union
III.1 Analyse der primärrechtlichen Verträge (Teil1)
III.1.1 Die Entstehung europäischer Integration
III.1.2 Vertrag von Maastricht
III.1.3 Vertrag von Amsterdam
III.1.4 Vertrag von Nizza
III.1.5 Vertrag von Lissabon
III.2 Analyse der sekundärrechtlichen Programme (Teil II)
III.2.1 Das Tampere Programm (1999-2004)
III.2.2 Das Haager Programm (2004-2009)
III.2.3 Das Stockholmer Programm (2010-2014)

IV Europäisierung der Migrationspolitik im Kontext der Integrationstheorien
IV.1 Zwischenstaatliche Kooperation in der EG
IV.2 Intergouvernementale Kooperation seit Maastricht
IV.3 Supranationale Zusammenarbeit seit Amsterdam
IV.4 Ergebnisse aus Tampere
IV.5 Ergebnisse aus Haag
IV.6 Supranationale Institutionalisierung seit Lissabon

V Fazit

VI Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Der liberale, intergouvernementalistische Analyserahmen nach Moravcsik

Abb. 2: Säulenstruktur nach den Zielen des Amsterdamer Vertrag

Abb. 3: Schengen Europa.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

I. Einleitung

Als „The Age of Migration“ bezeichnen Stephen Castles und Mark Miller (2009) unsere Gegenwart. Migration ist kein neues, aber in seinem Umfang wachsendes Phänomen. Strukturelle Verteilungskriterien wie Krieg, Verfolgung oder wirtschaftliche Gründe bringen Menschen dazu, durch Wanderung versuchen werden ihre Lebensumstände zu verbessern. Solange die Gewinne ökonomischer, sozialer oder sicherheitspolitischer Natur die Kosten des Wanderns überwiegen, werden sie diesen Schritt wagen.

Ein Blick auf die Zahlen unterstreicht diese Aussage eindrucksvoll. Auf dem europäischen Kontinent stieg die Zahl der Migrantenpopulation in den letzten 50 Jahren von knapp 15 Millionen im Jahr 1960 bis auf gegenwärtig über 30 Millionen, was einem Anteil von etwa sechs Prozent an der europäischen Gesamtbevölkerung entspricht (vgl. Lavenex 2009, 2). Weltweit betrachtet lebten 2010 laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) 15 Prozent aller Flüchtlinge und ein Drittel aller Asylsuchenden (UNHCR 2011b, 90) auf dem Gebiet der EU.

Damit wird offensichtlich, dass die Anziehungskraft auf die EU ungebremst in einem Ausmaß stattfindet, die nationalstaatlich allein kaum zu bewerkstelligen ist.

Neben dem Vorteil empirisch eindeutiger Überprüfbarkeit wird sich die vorliegende Arbeit auf Integrationsprozesse der europäischen Migrationspolitik im Allgemeinen beschränken, verspricht „dieser Begriff nicht nur die größte Neutralität, sondern auch die größte Reichweite“ (Scholz 2012: 24). Dem Autor ist durchaus bewusst, damit keine lückenlose Darstellung seiner inhärenten Teilbereiche Asyl-, Flüchtlings-, und Einwanderungspolitik im Speziellen leisten zu können.

Mit Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 wird erstmals in der Geschichte Europas dem Wunsch seiner Mitgliedstaaten entsprochen, verbindlich auf dem Gebiet der Migrationspolitik zu kooperieren. Auch wenn es bis zum Folgevertrag, dem Vertrag von Amsterdam, dauern sollte bis sich daraus eine supranationale Verpflichtung ergeben sollte, entsteht damit eine neue Form des Regierens. Hieraus entstehen Fragen denen ich nachgehen möchte: Das Erkenntnisinteresse liegt in der Frage begründet, wie ursprünglich nationalstaatlich verwaltete Politikbereiche in das supranational Institutionengefüge transformiert werden könnten, soll heißen: Wie findet Vergemeinschaftung statt, wer sind die beschlussfähigen Akteure? Kommt die Bereitschaft aus den Staaten selbst heraus oder ist es vielmehr der Druck, der von der europäischen Ebene ausgeht?

Einwanderung berührt elementare Bereiche staatlicher Souveränität. Daher verwundert es nicht, dass der lange Weg hin zu einer Vergemeinschaftung der Migrationspolitik von kritischen Vorbehalten seitens der Nationalstaaten geprägt war. Für Petra Bendel, eine für die nachfolgende Untersuchung häufig rezipierte Politikwissenschafterin, stellt die Auseinandersetzung mit Einwanderung bis heute eines der „letzten Bastionen nationalstaatlicher Souveränität“ (Bendel 2001a: 189) dar.

Die vorliegende Untersuchung macht es sich deshalb zur Aufgabe, die ursächlichen Wirkprinzipien für die Entstehung und Entwicklung europäischer Integrationsprozesse am besonderen Beispiel der Migrationspolitik offenzulegen um sich so der Leitfrage hinzuwenden, die da lautet: Warum und weshalb sind Nationalstaaten dazu bereit , Souveränitätsrechte zu Gunsten der Europäischen Union zu übertragen - liegt doch in der Konsequenz eine vermutete Gefahr, daraus Beschränkungen ihrer Handlungsautonomie zu erleiden?

Die wissenschaftliche Begegnung mit Einwanderungsbewegungen in die Europäische Union ist bedingt durch die seit Anfang der 1990 er Jahre drastisch angestiegenen Einwanderungszahlen, Gegenstand vielzähliger wissenschaftlichen Publikation. Das Politikfeld der europäischen Migrationspolitik im Besonderen wurde hingegen noch kaum einer integrationstheoretischen Analyse unterzogen. So soll mit vorliegender Magisterarbeit der Versuch unternommen werden, eine wissenschaftliche Lücke in der europäischen Integrationsforschung zu schließen.

Kapitel I geht auf den aktuellen Forschungsstand ein, definiert und erklärt die für die nachfolgende Untersuchung wichtigen Begriffe und setzt sich im Forschungsdesign mit Fragen der Methodik auseinander. Daran anschließend folgt in Kapitel II die Diskussion zweier, in der europäischen Integrationsforschung als „Klassiker“ der Integrationstheorien bezeichnete, dem Neofunktionalismus unter dem Referenztheoretiker Ernst B. Haas einerseits und seinem Gegenspieler, dem liberalen Intergouvernementalismus nach Andrew Moravcsik andererseits.

Nachdem im zweiten Kapitel die theoretischen Grundlagen für die Operationalisierung der Hypothesen gelegt wurden, widmet sich Kapitel III der horizontalen wie vertikalen Entstehung des gemeinsamen Besitzstandes um die unterschiedlichen Phasen rechtlicher Herausbildung europäischer Migrationspolitik nachzuvollziehen. So stehen im ersten Teil, Kapitel III.1, die primärrechtlichen, die EU konstituierenden Verträge im Vordergrund, während sich der zweite Teil, Kapitel III.2, mit den sekundärrechtlichen, die Migrationspolitik betreffenden Verordnungen und Beschlüssen auseinandersetzt.

Um in der Zusammenfassung eine Bewertung des Erkenntnisinteresses vornehmen zu können, wird in Kapitel IV das acquis communautaire, einer ausführlichen Analyse der Perspektiven des Neofunktionalismus wie auch liberalen Intergouvernementalismus unterzogen. Den Ausgangspunkt dafür bildet eine einführende Beschreibung anfänglicher unverbindlicher zwischenstaatlicher Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft, die mit dem Vertrag von Maastricht in verbindlicher, intergouvernementaler Kooperation mündet und durch die Vertragswerke von Amsterdam und Lissabon, sowie die aus ihnen hervorgehenden Programme, Tampere, Haag und Stockholm schließlich gänzlich supranational institutionalisiert sein wird. Kapitel V nimmt eine theoretische Bewertung in Form eines kurzen Zwischenfazits vor, bevor abschließend in Kapitel VI eine ausführliche Zusammenfassung der dargelegten Untersuchung vorgenommen werden soll.

I.1 Aktueller Forschungsstand

Die Migrationspolitik der Europäischen Union ist ein stetig wachsender Bereich im politikwissenschaftlichen Diskurs. Die dynamischen Prozesse innerhalb des Feldes erschweren eine umfassende Darstellung aktueller Entwicklungsstände. Ein Großteil der Veröffentlichungen besteht aus prozessbezogenen Darstellungen, die Entwicklungsrichtungen innerhalb der Theorienbildung aufzeigen.

Von den für die vorliegende Untersuchung relevanten Publikationen ist insbesondere das von Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels herausgegebene Jahrbuch der europäischen Integration zu nennen, welches in jährlichen Abständen die Asyl-, Einwanderungs- und Visapolitik reflektiert. Besondere Erwähnung verdienen auf Grund ihrer häufigen Inbezugnahme die Arbeiten von Steffen Angenendt (2008a, 2008b & 2009), Sandra Lavenex (2002 & 2009) und Roderick Parkes (2010) sowie generell Werner Weidenfeld. Sie alle analysieren europäische Migrationspolitik aus einer objektiven Perspektive und beschäftigen sich vorwiegend mit der theoretischen Aufnahme in das Feld der Integrationstheorie. Ihre Analysen bilden die Grundlage dieser Ausarbeitung, auf der die methodische Verortung von Migrations- und Asylpolitik innerhalb des Wissenschaftsbereichs europäischer Vergemeinschaftungsprozesse aufbaut. Ergänzend hierzu verwende ich Petra Bendels Ansätze, die sich ebenfalls an theoretischen Entwicklungen orientieren und sich insbesondere auf Prozessdetetails, wie bspw. Verhandlungsprobleme und daraus resultierende Lösungsstrategien, beziehen und eine tiefergehende Einbettung in den gesamttheoretischen Kontext ermöglichen. Für die empirische Erschließung europäischer Migrationspolitik stehen zahlreiche, seit ihrer institutionellen Supranationalisierung im Detail kaum noch überschaubare veröffentlichten Mitteilungen von Kommission und Europäischem Rat über Richtlinien, Verordnungen und Programmen zur Verfügung.

Diskursive Entwicklungen und Paradigmenwechsel markieren wichtige Bezugspunkte für die Erschließung neuer Theoriefelder. Somit kann der integrationstheoretische Diskurs im Allgemeinen als aktueller Wegweiser in der theoretischen und methodischen Annäherung an das Feld der europäischen Migrationspolitik betrachtet werden. Als erste Integrationstheorien gelten der Föderalismus, vertreten durch Altiero Spinelli (1958) und der Funktionalismus unter dem Hauptvertreter David Mitrany (1965). Basierend auf den funktionalistischen Paradigmen prägte Ernst B.

Haas (1958 & 1968) das neofunktionalistische Theoriekonzept, welches den aktuellen Stand der funktionalistischen Theorieachse im europäischen Integrationsprozess repräsentiert. In Abgrenzung zu Haas Annahmen formulierte Stanley Hoffmann (1966) den intergouvernementalistischen Ansatz, welcher aktuell in Form des Liberalen Intergouvernementalismus unter Andrew Moravcsik (1991 & 1993) fortgeführt wird und als zweite Theorieachse betrachtet werden kann. Die funktionalistische und die intergouvernementalistische Theorieachse bewegen sich in einem komplementären Verhältnis zueinander, da beide Ansätze Integrationstheorie aus verschiedenen Perspektiven beleuchten.

Weitere aktuelle Publikationen verfolgen die Aufarbeitung bestehender Integrationstheorien, in Anbetracht dessen Wolfgang Wessels (1992) seine ‚Fusionsthese’ formulierte, mit welcher er eine Synthese verschiedener Theorieaspekte aus unterschiedlichen am Diskurs beteiligten Disziplinen anstrebt.

I.2 Begriffsbestimmung

Die voranschreitende Europäisierung eines fragmentierten Politikfelds wie das der Migrationspolitik verlangt nach einem umfangreichen Verständnis der für sie zentralen Begriffe und Bestimmungen.

Integration allgemein wird in den Sozialwissenschaften laut Schmidt als ein „Vorgang oder Ergebnis des Zusammenwachsens oder -fügens von zuvor selbständigen Größen zu einer Einheit“ (Schmidt 2004: 322) bezeichnet. Im vorliegenden Fall spricht aus thematischen Gründen eine Annäherung an Integrationsprozesse unter politikwissenschaftlicher Perspektive. Grimmelt und Jakobei verstehen darunter einen „[…] inkrementelle[n] Prozess, der sich nur durch das Einbeziehen einer Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren und Akteuren erklären lässt und der oftmals weniger linear, geschweige denn politisch planbar abläuft“ (2009: 99).

Als richtungsweisend für die nachfolgende Analyse europäischer Vergemeinschaftungsprozesse dient die Definition von Lindberg, welcher politische Integration als eine Entwicklung von Staaten hin zu einem kollektiven Entscheidungssystem begreift: „Political integration can thus be defined as the evolution over time of a collective decisionmaking system among nation“ (Lindberg 1970: 650).

Migration bezeichnet „alle Wanderungsbewegungen von Menschen, seien es Individuen oder Gruppen, die ihren Wohnsitz längerfristig oder dauerhaft wechseln“ (Barwig und Schumacher 2001: 300). Migrationspolitik ist der „gezielte Versuch von staatlicher bzw. suprastaatlicher Seite, auf die räumliche Mobilität Einfluss zu nehmen“ (ebd.: 300).

Asyl leitet sich vom griechischen Wort asylon ab, was so viel wie Freistätte bedeutet. Schmitt (2004: 50) versteht darunter einen „Ort, an dem einem Verfolgten Schutz vor dem Zugriff seiner Verfolger gewährt wird“. Völkerrechtlich ist das Politikfeld Asyl durch die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 und das New Yorker Protokoll von 1967 institutionalisiert und von 147 Staaten unterzeichnet. Als Flüchtling wird damit eine Person definiert, die „[...]aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“ (GFK: Art. 1a).

Der humane Ansatz tritt dadurch besonders hervor, dass Personen in den Mittelpunkt gestellt werden, die zwangsweise ihre Heimat verlassen mussten und daher besonderen Schutz benötigen, weshalb die GFK auch als „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ (ebd.:) bezeichnet wird. Durch das Asylrecht verpflichtet sich die GFK, und damit auch alle Unterzeichnerstaaten, zu grundlegenden menschenrechtlichen Schutzmaßnahmen. Ein konkreter Flüchtlingsschutz wird ausgeklammert. Er unterliegt damit den nationalstaatlichen Zuwanderungspolitiken (UNHCR 2011a: 4).

Obwohl thematisch miteinander verwandt, sind die Begriffe Asyl und Zuwanderung in ihren Grundaussagen zu trennen. Das Asylrecht, institutionalisiert durch die Charta der Vereinten Nationen/GFK, thematisiert grundlegende menschenrechtliche Verpflichtungen.

Zuwanderung hingegen tangiert in der Regel sicherheitspolitische und damit innenpolitische Fragen wie die Sicherung der Außengrenzen, da hierüber die Kontrolle von Ausländern erfolgt. Damit geht es um Partizipation und Integration auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene, „Kompetenzen also, über welche die Mitgliedstaaten eifersüchtig wachen“ (Bendel 2001a: 189).

Die Gewähr der inneren und äußeren Sicherheit gehört zu den Kernelementen nationaler Souveränität. Während die innerstaatliche Sicherheit nationalstaatliches Gewaltmonopol ist, muss bei der Sicherung der Außengrenzen auf zwischenstaatliche Zweckbündnisse zurückgegriffen werden (Frevel 2009: 149).1 Lavenex sieht hierin eine „Spannung zwischen staatlichem Primat der inneren Sicherheit und universellen Menschenrechten einerseits, zwischen humanitären Werten und ökonomischen Prioritäten andererseits“ (Lavenex 2009: 9). Sirorenko (2007: 1) konstatiert, dass sich die Dichotomie zwischen humanitärer Anwendung des Menschenrechts einerseits und rechtlicher, bzw. politischer Anwendung des Asylrechts andererseits erheblich verkompliziert.

I.3 Forschungsdesign

In der qualitativen Analyse des europäischen Vergemeinschaftungsprozesses im Bereich der Migrationspolitik wird in der vorliegenden Arbeit auf die Integrationstheorien des Neofunktionalismus und des liberalen Intergouvernementalismus zurückgegriffen.

Beide Ansätze unterliegen dem gleichen Erkenntnisinteresse, nämlich, unter welchen Bedingen Nationalstaaten dazu bereit sind, Souveränitätsrechte auf EU-Institutionen zu übertragen.

Ihre gemeinsame abhängige Variable (AV) leitet sich deshalb auch durch die Vergemeinschaftung nationaler Politikbereiche und der Initiierung der EU als supranationale Institution ab.

Die unabhängige Variable (UV) des liberalen Intergouvernementalismus wird durch die Vorrausetzung innerstaatlicher Präferenzkonvergenzen für die Entstehung intergouvernementale Zusammenarbeit und die Bereitschaft zur Initiierung einer supranationalen Organisation im Besonderen bestimmt. Die UV des Neofunktionalismus wird durch die Übertragung von Souveränitätsrechten als Folge von spill over Prozessen, als Resultat bereits vergemeinschafteter Politikfelder erklärt.

In der UV unterscheiden sich die beiden Theorien hingegen komplementär.

Aus der UV des Neofunktionalismus folgt die Hypothese, dass aus angrenzenden, bereits vergemeinschafteten Bereichen eine Anziehung ausgeht, auf die von politischer Seite reagiert werden muss, wollen die Staaten unter den sich veränderten Rahmenbedingungen weiterhin handlungsfähig bleiben. Je stärker der Problemdruck aus angrenzenden Bereichen ausgeprägt ist, so die neofunktionalistische Hypothese, desto wahrscheinlicher ist auch die Vergemeinschaftung in einem weiteren Politikfeld (politischer spill over).

Die Hypothese der UV des liberalen Intergouvernementalismus besagt, dass die Bereitschaft zur (supranationalen) Kooperation eine Interessenskonvergenz der Nationstaaten voraussetzt. Nur bei ähnlicher Problemwahrnehmung und Besserstellung ihrer individuellen Interessen besteht Aussicht, Souveränitätseinschränkungen ihrer Handlungsautonomie zu akzeptieren.

II Klassische Theorien der europäischen Integration

II.1 Funktion und Stellenwert von Integrationstheorien

Das folgende Kapitel möchte kurz auf grundlegende Ziele und Funktionsweisen von Theorien im Allgemeinen eingehen, bevor im Anschluss die konträren Theoriekonzeptionen von Neofunktionalismus und liberalen Intergouvernementalismus Gegenstand ausführlicher Diskussion sein werden.

Beate Kohler-Koch begreift Theorien als „Leitfaden, um die vorgefundene Komplexität zu reduzieren, zu ordnen und wesentliche Zusammenhänge zu entschlüsseln“ (2004: 27). Um einen komplexen Untersuchungsgegenstand, wie im vorliegenden Fall die Migrationspolitik, näher zu bestimmen, braucht es „Sätze von Aussagen, die in einem logischen Zusammenhang stehen und die beanspruchen, der Wirklichkeit in überprüfbarer oder nachvollziehbarer Weise strukturell zu entsprechen“ (Haftendorn 1977: 298).

Die vier wichtigsten Aufgaben einer (sozialwissenschaftlichen)Theorie sind bestimmt durch ihre Selektions-, Ordnungs-, Erklärungs-, und Operationalisierungsfunktion (ebd.: 27) deduktiver Erkenntnisgewinnung. Im Ergebnis entsteht so ein wissenschaftlicher Werkzeugkasten der Orientierung sowie Analysemöglichkeiten für das dichte Gebiet der Empirik, um am Ende „[…] allgemeinere Aussagen über den Gegenstand der Untersuchung zu machen, von konkreten Details zu abstrahieren und die übergeordneten Aspekte herauszuarbeiten“ (Wolf 1999: 13).

Bei der Analyse von Integrationsprozessen bedienen sich Neofunktionalismus wie auch liberaler Intergouvernementalismus unterschiedlicher Theoriemodelle um den europäischen Integrationsprozess der Einwanderungspolitik abzubilden. Dabei erheben sie nicht den Anspruch an die Wissenschaft entweder wahr oder falsch zu sein. Vielmehr versuchen beide durch ihre empirisch-analytische Herangehensweise ein Instrumentarium zu schaffen, welches die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem fragmentierten Politikfeld, wie dem der Migration, ermöglicht. Als sozialwissenschaftliche Theoriekonzeption können sie sich dabei nicht gänzlich normativen Dimensionen entziehen. Die spezifische Auswahl der Fakten konstruiert eine Vorstellung der Welt, deren Erkenntnisinteresse sie bestimmt.

Ohne das Erschaffen von Konturen die jeweils einer bestimmten Ordnung unterworfen sind, kann keine wissenschaftliche Auseinandersetzung stattfinden. „Die Qualität von Theorien misst sich demnach nach der [stets relativen] Brauchbarkeit der Theorie, und diese wiederum, also ihre Brauchbarkeit, hängt von den Funktionen ab, die Theorien erfüllen können sollen“ (Weltz/Engel 1997: 132).

Die einsetzenden Integrationsfortschritte Mitte der 1980er Jahre führten zu einer Renaissance der Integrationstheorien in der Politikwissenschaft. Im Gegensatz zu früheren Diskussionen, in denen die europäische Integration oft als „Projekt zur Überwindung des Nationalstaates“ gesehen wurde (Kohler-Koch 2004: 74), treten mit liberalem Intergouvernementalismus und Neofunktionalismus zwei gegensätzliche empirisch-analytischen Analysemodelle in den Mittelpunkt der Integrationsdebatte. Beiden gemein ist eine rationale und analytische Sachlogik. Grundsätzlich unterscheiden sich beide Theoriemodelle weniger in der Wahl ihrer Analyseebene, als vielmehr in der Bestimmung der am Vergemeinschaftungsprozess beteiligten, relevanten Akteure.

Ein akteurszentrierter, eher prozessorientierter Ansatz in Form des Neofunktionalismus unter dem Referenztheoretiker Ernst B. Haas sieht hier hauptsächlich gesellschaftliche, transnationale Eliten am Werk, wohingegen der staatliche, eher statische Ansatz in Form des liberalen Intergouvernementalismus unter Moravcsik eindeutig nationalstaatliche Regierungen für die Entstehung und Entwicklung supranationaler Strukturen verantwortlich sieht (Welz/Engel 1997: 134f.).

Ihr Erkenntnisinteresse stimmt mit der in der Einleitung dargelegten Fragestellung dahingehend überein, dass sie versuchen, Antworten darauf zu finden, warum und weshalb Nationalstaaten bereit sind, Souveränitätsrechte in bestimmten Politikbereichen auf eine supranationale Institution wie die der EU zu übertragen und damit den Verlust an nationaler Handlungskompetenz in Kauf nehmen. Damit stehen die treibenden, bzw. ursächlichen Kräfte des Integrationsprozesses im Vordergrund der integrationstheoretischen Analyse.

Der neofunktionalistische, gesellschaftsorientierte Ansatz unter dem Referenztheoretiker Ernst. B. Haas soll dazu neben der staatszentrierten Variante des liberalen Intergouvernementalismus unter dem Referenztheoretiker Andrew Moravcsiks diskutiert werden. Beide bestimmen unterschiedliche Faktoren für das Zustandekommen von Integration. Für Moravcsik gehen die entscheidenden Impulse zu einer Vergemeinschaftung der Migrationspolitik primär von den Mitgliedstaaten aus, für Haas hingegen von den EU Institutionen.

II.2 Neofunktionalismus

Der Ursprung politikwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Integrationsprozessen liegt im funktionalen Ansatz von David Mitrany verortet, weshalb es wichtig ist, zuerst dessen zentrale Theorieannahmen zu skizzieren, bevor ich mich eingehend mit der Theoriekonzeption des Neofunktionalismus unter dem Referenztheoretiker Ernst B. Haas beschäftigen werde, da seine zentralen Prämissen nicht ohne Darlegung der funktionalen Theoriekonzeptionen auskommen.

Funktionalismus

Vor dem Hintergrund der Wirren der 1930er Jahren beschäftigte sich Mitrany mit der Frage, wie trotz konkurrierender nationalstaatlicher Partikularinteressen ein dauerhaftes, auf friedliche Koexistenz ausgerichtetes Staatensystem zu realisieren sei (Kohler-Koch u.a.2004: 53). Dem funktionalistischen Theorieverständnis nach tut er das auf eine Weise, in der die „[…] ‚politische‘ Bearbeitung von Sachfragen im Rahmen territorial abgegrenzter Einheiten zugunsten aufgabenbezogener [funktionaler] transnationaler Kooperationen in den Hintergrund“ (Conzelmann 2006: 148) gedrängt wird.

Der funktionalen Handlungslogik liegt dabei das Verständnis einer rational agierenden gesellschaftlichen Elite zu Grunde, deren nutzenmaximierendes, utilitaristisches Optimierungskalkül dem eines homo oeconomicus entspricht. Die Zusammenarbeit erfolgt primär in ökonomischen, nicht politisch relevanten Bereichen, was die Voraussetzung für die Kooperation untereinander erleichtert.

Durch die Besetzung technischer Experten und das Ausklammern politischer Fragen werden etwaige unüberbrückbare ideologische Differenzen zwischen den Akteuren in den Hintergrund gerückt. In der Konsequenz ermöglicht dies eine versachlichte, pragmatische und technokratisch konstruktive Zusammenarbeit in nicht kontroversen Sachbereichen (Weidenfeld ²2011: 48). Der Vorteil in Bezug auf staatliche Akteure wie Regierungsvertreter liegt in der pragmatischeren Ausrichtung begründet. „Utilitaristische Wohlfahrtsabwägungen […]“ (Corcaci/Knodt 2012: 21) der gesellschaftlichen Eliten führten zu einer Konzentration auf entpolitisierte Sachbereiche und waren auf technologische Kooperationen beschränkt. Im Gegensatz zu politischen und damit prinzipiell eher opportunistischen und von nationalen Resonanzen geprägten Überzeugungen, stehen im Funktionalismus „[...] Strukturen und Funktionen im Mittelpunkt und nicht normative Zielvorgaben, Macht und Interessen einzelner Akteure“ (Corcaci/Knodt 2012: 21).

Fokus der funktionalistischen Analyse ist die apolitische, transnationale Zusammenarbeit in einem spezifischen Sektor. Wer sind die an ihm beteiligten Akteure? „[...] Eliten im Sinne von Mitgliedern der Administration sowie Techniker, die sich mit der Materie des Sektors befassen und zusammen ein administrativ-technisches transnationales Netzwerk bilden“ (ebd.: 24). Damit wird klar, dass Integration nicht wie im liberalen Intergouvernementalismus über die Interessen der Nationalstaaten bestimmt wird, sondern durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit technischer Experten in zunächst unpolitischen Bereichen.

„Die institutionelle Form dieser Zusammenarbeit habe sich dabei an den konkreten Funktionserfordernissen des jeweiligen Sachbereichs und letztlich an der Befriedung der Bedürfnisse der Bevölkerung zu orientieren - und eben nicht an politischen Entwürfen der jeweiligen Staatsmänner“ (Kohler-Koch 2004: 53).

Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass wirtschaftliche Bereiche nicht getrennt voneinander existieren können, sondern sachlogisch miteinander verknüpft sind. Eine strukturell fortschreitende Eigendynamik entsteht und nachfolgende Vergemeinschaftungsprozesse werden automatisch vorangetrieben. Dieses Überschwappen in angrenzende Bereiche bildet den Motor der Integration und wird später unter dem Begriff des spill over Kernelement neofunktionaistischer Integrationslogik. Auf die Nichtexistenz eines institutionellen Überbaus folgt in der logischen Konsequenz die Initiierung einer formalen Behörde, welche die Umsetzung und Überwachung der festgelegten Zusammenarbeit gewährleistet und überwacht. David Mitrany bringt dies 1933 mit der Formel form follows function auf den Punkt und macht deutlich, dass sich politische Strukturen erst und wenn überhaupt im und durch den Prozess der Integration nach und nach herausbilden (Corcaci/Knodt 2012: 23 und Weidenfeld 2011: 48).

Christian Welz und Christian Engel fassen den Funktionalismus unter den drei Grundannahmen „[…] der Abgrenzung einzelner funktioneller Sektoren, der Trennbarkeit von technischen und politischen Problemen sowie dem unbegrenzten Fortschreiten des einmal in Gang gesetzten Prozesses internationaler Kooperation“ (1997: 139) zusammen.

Mit Gründung der EGKS und dem Abschluss der Römischen Verträge entsprach die funktionale Konzentration auf eine rein auf technische Zusammenarbeit beschränkte Kooperation nicht mehr der empirischen Realität. In Anlehnung dessen modifizierte der Politikwissenschaftler Ernst B. Haas die theoretischen funktionalen Grundannahmen und schuf den bis heute viel rezipierten Neofunktionalismus.

Neofunktionalismus

Der Neofunktionalismus, hier diskutiert unter Rückgriff auf den Politikwissenschaftler Ernst B. Haas, gilt als „Urvater empirisch-analytischer Theorien europäischer Integration“ (Wolf 2012: 55). Die Erklärung für Vergemeinschaftungsprozesse ist in funktionalen Zwängen und inhaltlichen Verknüpfungen bereits integrierter Politkbereiche zu finden. Während sich der Funktionalismus noch an einer normativen Ordnung mit Hinblick auf ein friedenssicherndes System bedient, liegt das neofunktionale Erkenntnisinteresse in der Analyse regionaler Integrationsprozesse als Solchen. Die friedenserzielende Ausrichtung wird damit nicht aufgegeben, doch um die pragmatische Anwendung eines empirisch-analytischen Analysemodells erweitert. Damit entspricht diese Herangehensweise den Kriterien für eine sozialwissenschaftliche Theoriebildung. Die Neofunktionalismustheorie wird damit zum „[...] zentralen Referenzpunkt der integrationstheoretischen Debatte“ (Wolf 2012: 55). In Anlehnung an den einsetzenden europäischen Integrationsprozess in den 1950er Jahren veröffentlicht Haas 1958 sein zentrales Werk The Uniting of Europe und wird damit zum „Papst der Integrationstheorie“ (Welz/Engel 1997: 141). Sein zentrales Erkenntnisinteresse liegt in der Untersuchung von Makrophänomenen, wie der „[…] Einhegung und Überlagerung von Nationalstaaten mittels regionaler und internationaler Institutionen“ (ebd.: 56). Dabei steht, wie bereits im Funktionalismus angeklungen, die Überlegung im Mittelpunkt, warum und weshalb Nationalstaaten einem Souveränitätstransfer auf supranationale Institutionen wie die der Europäischen Union zustimmen, obwohl sie damit die Gefahr eingehen an zentralen Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten zu verlieren. Während Mitrany politische noch von technischen Prozessen trennt und somit ausschließlich sachlogische Verknüpfungen fokussiert, erweitert Haas das Zentrum seiner Analyse „[…] auf eine regionale politische Integration, die schließlich auf ein neues politisches System mit autonomer institutioneller Struktur hinausläuft“ (Weltz/Engel 1997:142). In der Idealvorstellung setzt die Zusammenarbeit ein Bewusstsein frei für gemeinsame Problemlösung und Entscheidungsfindung wodurch ein Lernprozess in Gang gesetzt wird, der unweigerlich in weitere Kooperationen mündet.

Sein Erkenntnisinteresse ist weiterhin friedenswissenschaftlich. Die Modifikation funktionaler Triebkräfte um eine politische Dimension erlaubt die empirische Überprüfung der Theoriekonzeption, wodurch der Neofunktionalismus deutlich an analytischer Schärfe hinzugewinnt (Conzelmann 2006: 151f.).

Integration beginnt für Haas in der Vergemeinschaftung regionaler Sachbereiche. Durch die funktionale und sachlogische Verknüpfung entsteht ein struktureller Zwang der die Vergemeinschaftung auf angrenzende Bereiche ausweitet. Dieses grundlegende auf funktionale Zwänge zurückzuführende Überschwappen betitelt Haas als spill over und gilt als Herzstück der Integrationstheorie . Der neofunktionalen Logik entsprechend entwickelt sich daraus eine Eigendynamik, die ohne gezielte Steuerung von außen auskommt und sich automatisch auf angrenzende Bereiche ausbreitet. Damit ist der prozesshafte Charakter der Integration angesprochen, eine klare Zielvorstellung gibt es nicht. Die Richtung kristallisiert sich aus der Stärke des dynamischen Prozesses heraus. „The end result of a process of political integration is a new political community superimposed over the pre-existing ones” (Haas 1958: 16). Durch den Austausch nationaler und politischer Eliten bildet sich sukzessiv eine „Pro- Integrationselite“ heraus und damit ein Loyalitätstransfer hin zu supranationalen Institutionen. Die dadurch in Gang gesetzten Interdependenzbeziehungen fungieren als Motor zukünftiger Integrationsprozesse. Der Motor versinnbildlicht den Prozess der Integration als etwas, dass, einmal gestartet automatisch funktional weiterläuft. Die zu Anfang technokratische und ökonomische Verflechtung überträgt sich auf angrenzende Bereiche, ohne dass dies von den Akteuren bewusst gesteuert wird. Die erste Form eines funktionalen spill over ist damit entstanden (Weidenfeld 2011: 49f.).

Der politische spill over, welcher nicht mehr auf rein ökonomische Sachzwänge beschränkt bleibt, entsteht durch die Nutzen-Kosten Abwägungen der am politischen Entscheidungsprozess beteiligten Akteure. Die Akteure sind Eliten im Sinne gesellschaftsrelevanter Gruppen und politischer Parteien die am politischen Entscheidungsprozess teilhaben. Ihr Streben ist von einem utilitaristischen Nutzen-Kosten Denken geprägt, das die Vermehrung von Sicherheit und Wohlstand als eine Interessensausrichtung bestimmt. Die Verwirklichung dessen sehen sie durch supranationale Entscheidungssysteme als die lukrativere Alternative im Gegensatz zum Nationalstaat. Aus der transnationalen Vernetzung entsteht ein Prozess, den politische Entscheidungsträger nicht mehr ignorieren können (Corcaci/Knodt 2012: 25f. und Conzelmann 2006: 154 f.).

Haas definiert dies als:

„[…] the process whereby political actors in several distinct national settings are persuaded to shift their loyalties, expectations, and political activities toward a new center, whose institutions possess or demand jurisdiction over the pre-existing national states. The end result of a process of political integration is a new political community, superimposed over the pre-existing ones“(1968: 16).

Die Umorientierung der gesellschaftlichen Akteure weg von einer nationalstaatlichen, hin zu einer supranationalen Ebene ist der „Transfer von Souveränität und Loyalität“ (Kohler-Koch 2004: 76). und wird von Haas (1961: 368) als upgrading the common interest bezeichnet. Damit wird der Wert der supranationalen Instanz aufgewertet, was im Umkehrschluss von nationalen Regierungen nicht ignoriert werden kann. Diese Ausweitung beschreibt Conzelmann wie folgt:

„Die supranationale Ebene der Entscheidungsfindung dient als neuer Referenzpunkt für Loyalitäten und Erwartungen und gibt - in Form supranationaler Organe - selbst Impulse für den Integrationsprozess. Dabei ist der Ablauf dieser Prozesse insgesamt weniger ergebnisoffen gedacht. Unter dem Einfluss funktionaler Sachzwänge, klarer politischer und ökonomischer Nutzenerwartungen sowie pro-aktiver supranationaler Bürokratien ist absehbar, dass auftretende politische Konflikte in der Regel durch ein ‚upgrading of the common interests´ gelöst werden, also eine weitere Ausdehnung und Intensivierung der Kooperation“ (2006: 158).

Aus dargelegter Perspektive wird verständlich, dass für die weitere Darstellung des Neofunktionalismus die Analyse der supranationalen Institutionen unerlässlich ist, wird dem Regimecharakter in der Theoriedarstellung doch ein fundamentaler Stellenwert zugesprochen. Durch den von Seiten der Eliten übertragenen Souveränitäts- und Loyalitätstransfer auf die EU Institutionen entwickeln diese eine zunehmende Eigendynamik. Damit wirken sie förderlich auf Integrationsprozesse, da die Kontrolle der Politikprozesse hinsichtlich der Einhaltung vereinbarter Normen und Regeln nicht mehr ausschließlich bei den Nationalstaaten liegt, sondern bei den von ihnen initiierten Institutionen (Möllers 2010: 19).

Mit der Auslagerung von Politikbereichen wie der Migrationspolitik wird autonomes, nationalstaatliches Regierungshandeln zu Gunsten integrativer Vergemeinschaftung eingeschränkt. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass in einer globalisierten und interdependenten Welt ein auf unilaterales Handeln beschränktes Regieren sich negativ (für die Mitgliedsstaaten) auswirkt. Der Vorteil der neofunktionalistischen Theoriekonzeption besteht freilich darin, dass durch die relative Homogenität europäischer Gesellschaften die Bildung der unabhängigen Variablen maßgeblich beeinflusst wurde. Insgesamt ist es die „[…] pluralistische Verfasstheit [...], die gemeinsamen kulturellen und historischen Wurzeln und das relativ hohe wirtschaftliche Entwicklungsniveau, die zusammen genommen einen weitgehend unpolitischen, kaum auf seine Verteilungswirkungen befragten und von transnationalen Eliten vorangetriebenen Integrationsprozess ermöglichen“(Conzelmann 2006: 154 f.) und daher äußerst förderlich für die Operationalisierung der Hypothesen sind.

Dem Attribut der Wertfreiheit können rational-analytische Ansätze wie der Neofunktionalismus nur schwer standhalten, da sie Strukturen und Rahmenbedingungen des Internationalen Systems durchaus als gegeben voraussetzen und damit eine Vorstrukturierung ihrer Analyse vornehmen. Die Ausrichtung bestimmt ihr Erkenntnisinteresse (vgl. Steinhilber 2012: 148). Lindberg kritisiert ebenfalls an Haas‘ Theoriedarstellung „[...] the failure to achieve conceptual clarity with regard to the dependent variable(s) that is (are) the putative object(s) of analysis“ (Lindberg 1970: 650).

Zusammengefasst unter dem Vorwurf des Holismus kommt die rationalanalytische Methode in Erklärungsnot, da institutionelles Entstehen auf Funktionsnotwendigkeiten zurückgeführt wird. Dies verträgt sich nicht mit der sozialwissenschaftlichen Methode in der unter Anleitung eines methodologischen Individualismus soziale Phänomene auf individuelle, bzw. kollektive Akteure zurückgeführt werden.

Da funktionale Verselbstständigungsprozesse Integrationshemmnisse nicht erklären können, führte der stagnierende Integrationsprozess Mitte der 1960er Jahre, die sogenannte Politik des leeren Stuhls , zu einer generellen Abwertung als führende Integrationstheorie in den Sozialwissenschaften. Die intergouvernemantalistische Kritik setzt genau hier an, indem sie dem Neofunktionalismus vorwirft, das staatliche Souveränitätsstreben einzelner Staaten zu unterschätzen, wie es empirisch durch Charles de Gaulle geschehen ist (Wolf 2012: 64f).

„Neofunctionalism directs us to pose less fruitful questions about European integration than was once the case. […] Beyond incremental changes on policy, it is difficult to imagine functional pressures, institutional pressures, or normative concerns upsetting the stability of the basic constitutional equilibrium in Europe today. […] Today the central debate in the EU is not about how to continue on the road to further integration, but about precisely where to stop - a debate for which neofunctionalism is ill-equipped“ (Moravcsik 2005: 351).

[...]


1 Ich verwende hier (neo)realistischen Grundannahmen über das internationale System. Diese setzen ein anarchisches Staatensystem mit permanentem Macht-, bzw. Sicherheitsstreben voraus.

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Integrationstheoretische Analyse europäischer Vergemeinschaftungsprozesse der Migrationspolitik
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Note
2,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
79
Katalognummer
V282748
ISBN (eBook)
9783656817567
ISBN (Buch)
9783656817574
Dateigröße
934 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Migrationspolitik, Integrationstheorien
Arbeit zitieren
J. S. (Autor:in), 2014, Integrationstheoretische Analyse europäischer Vergemeinschaftungsprozesse der Migrationspolitik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/282748

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