Pictures of identity. Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin-Kreuzberg explorieren ihre Identität

Eine Photovoice-Studie


Masterarbeit, 2014

156 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Abstract

1 Einleitung
1.1 Identifizierung und Identitätsstabilität
1.1.2 Selbstkonzept und Selbstkomplexität
1.2 Personale und soziale Identifizierung sowie soziale Identitätskomplexität
1.2.1 Ethnische Identifizierung
1.2.1.1 Bicultural Identity Integration
1.2.2 Identifizierung mit einer Community
1.2.3 Lokale Identifizierung und Ortsbindung
1.3 Qualitative Forschung
1.3.1 Photovoice
1.4 Zentrale Fragestellungen

2 Methode
2.1 Erhebungsinstrumente
2.1.1 Qualitative Daten: Photovoice
2.1.2 Quantitative Daten
2.1.2.1 Bicultural Identity Integration Scale
2.1.2.2 Personal Dimensions of Difference Scale 23
2.2 Stichprobenkonstruktion
2.3 Setting 24 2.3.1 Berlin-Kreuzberg
2.4 Durchführung der Studie
2.5 Auswertung

3 Ergebnisse und Befunde
3.1 Stichprobe
3.2 Evaluierung von Photovoice als Datenerhebungsmethode
3.2.1 Analyse der Einzelpräsentationen der Photos in den Fokusgruppen
3.2.2 Analyse der freien Gesprächssequenzen während der Fokusgruppendiskussionen
3.3 Personale versus soziale Identität und Gruppenbindung aus BII-Perspektive
3.4 Privater und öffentlicher lokaler Raum und Bindung an Kreuzberg
3.5 Erlebte Inhalte von Identität und Lokalität
3.5.1 Mikrosystem
3.5.2 Mesosystem
3.5.3 Makrosystem
3.6 Direkt erlebte Diversität in der Community

4 Diskussion

Literatur

Anhang

Zusammenfassung

Das Konstrukt bikulturelle Identität wurde in einer Feldstudie in Berlin-Kreuzberg an sechs Personen mit einem Mixed-Method-Design erforscht. Ziel der Studie war es, Kompatibilitätswahrnehmungen von bikulturellen Identitäten (Benet-Martínez & Haritatos, 2005) auf Abhängigkeit von sozialer und lokaler Bindung zu untersuchen sowie zentrale Aspekte der erlebten bikulturellen Identität in Kreuzberg zusammenzufassen. Qualitative Daten wurden mit Photovoice (Wang & Burris, 1997) erfasst. In dieser Studie waren zentrale Identitätsaspekte positiv und negativ erlebte, alltägliche Diversität in der Community und ein von Offenheit geprägtes Sozialklima. Dies war mit dem Erleben zahlreicher Identifizierungsmöglichkeiten, hoher sozialer und lokaler Identifizierung und dem Erlernen von Resilienz verbunden. Dekategorisierung und schwache ethnische Identifizierung war positiv mit affektiver Kompatibilität verbunden. Starke personale und nicht unbedingt ethnische Identifizierung war positiv mit kognitiver Kompatibilität verbunden, Identifizierung mit der übergeordneten Gesellschaft war hier zum Großteil nicht einflussreich. Implikationen ergeben sich u.a. für die Stadtraumplanung und Institutionen. Multikulturelle Symbole im öffentlichen Raum, Diversitätstrainings auf institutioneller Ebene und vermehrte Anerkennung der Leistungen von Ausländern durch Politik und Medien könnten für Respekt gegenüber Diversität förderlich sein.

Schlagwörter: Bikulturelle Identität, Hybridität, Identität-Kompatibilität, Mixed-Method, Ortsbindung, Photovoice

Abstract

Investigating the construct bicultural identity a mixed-method research on six people in Berlin-Kreuzberg was conducted. The aim of the study was to summarize compatibility perceptions of bicultural identities (Benet-Martínez & Haritatos, 2005) and to examine to dependence on social and local bond. Central aspects of the experienced bicultural identity in Kreuzberg should be described. Qualitative data were collected with Photovoice (Wang & Burris, 1997). In this study, central identity aspects were positively and negatively experienced, everyday diversity in the community and an open-minded social climate. This was associated with the experience of many possibilities of identification, high social and local identification and learning of resilience. Decategorization and weak ethnic identification was positively associated with affective compatibility. Strong personal and not necessarily ethnic identification was positively associated with cognitive compatibility connected to, identification with the mainstream culture was mostly not influential. The implications, inter alia, to for city planning and institutions. Multiracial symbols in public space, diversity training at the institutional level and increased recognition of the achievements of foreigners by politicians and the media could be conducive to respect for diversity.

Keywords: Bicultural identity, hybridity, identity compatibility, mixed-method, Photovoice, place attachment,

Tabellen:

1 Vergleich der BIIS-1-Ergebnisse mit Photovoice-Einzelpräsentationen

2 PDD-Ergebnisse: Bindung an ethnische Gruppen

3 PDD-Ergebnisse: Bindung an Berlin-Kreuzberg

A1 Phasen und zeitlicher Ablauf von PICTURES OF IDENTITY

B1 Aussage-Häufigkeiten von BII-Einstufungen der Photovoice-Sequenzen EP und FGD

Abbildungen:

1 Entwicklung einer integrierten bikulturellen Identität

Ehrenwörtliche Erklärung

Für die Entwicklung von Städten war Migration seit jeher konstitutiv und ohne Mobilität nicht vorstellbar. Oft sind bestimmte Stadtbezirke Anlaufpunkt für Zuwanderung und dienen der ersten Orientierung und sozialen Unterstützung durch Familienangehörige oder einer ethnischen Community. Diese Menschen wie auch Angehörige der zweiten Migrationsgeneration, gemischt-ethnische Personen oder Paare stehen vor der Herausforderung, mit mehr als einer Kultur zu leben. Die Integration beider Identitäten kann von der wahrgenommenen Kompatibilität abhängen. In den letzten Jahrzehnten wurden in der psychologischen Forschung dazu unterschiedliche Konzepte sogenannter hybrider Identitäten wie Social Identity Complexity (Roccas & Brewer, 2002) oder Bicultural Identity Integration (Benet-Martínez & Haritatos, 2005) vorgeschlagen, die zwischen verschiedenen Graden von Vermischung oder Verschmelzung von Kategorien unterscheiden. Wahrgenommene Kompatibilität wird in diesen Konzepten mit höherem psychologischem Wohlbefinden assoziiert. Identitätsstiftende Inhalte und die lokale Identifizierung wurden in diesem Zusammenhang häufig vernachlässigt. In dieser Studie beschrieben bikulturelle Personen in Berlin-Kreuzberg ihre Identität. Ein Mixed-Method-Design wurde eingesetzt, qualitative Daten wurden mit Photovoice (Wang & Burris, 1997) erhoben, einer partzipativen Methode, die bisher weniger für Datenerhebungszwecke eingesetzt wurde. Die mögliche tiefe Exploration und hohe Daten-Bandbreite waren Kriterien bei der Auswahl und wurden erreicht, indem Teilnehmenden nach einem Auftrag photographierten, dann in Fokusgruppen auswählte Photos präsentierten und diskutierten.

Die vorliegende Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Auf theoretische Perspektiven und empirische Befunde zu personaler, sozialer und ethnischer Identifizierung folgen eine Einführung in das Konzept Bicultural Identity Integration und in Aspekte der Identifizierung mit einer Community und mit Orten. Der nächste Abschnitt beginnt mit einer Vorbemerkung zu qualitativer Forschung und wird gefolgt von der Darstellung der theoretischen Entwicklung und empirischer Befunde zu Photovoice. Erhebungsverfahren, Stichprobenkonstruktion, Setting sowie Durchführung der Studie werden im Methodenteil beschrieben. Qualitative und quantitative Daten wurden kombiniert augewertet und die Ergebnisse ausführlich dargestellt und den Fragestellungen gemäß diskutiert.

1.1 Identifizierung und Identitätsstabilität

Indem ein Mensch sich selbst reflektieren kann, kann er die Existenz eines Ichs erkennen und sich von Anderen abgrenzen (Kant, 1782). Ego-involvement (Allport, 1943) kennzeichnet selbstbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen, die den sozialen Status und die Rolle in Bezug auf andere Menschen, Gruppen oder Institutionen bestimmen. Nach Freud (1921) ist Identifikation ein dynamischer, kognitiver, affektiver und konativer Prozess, bei dem Werte und Überzeugungen von Anderen als die eigenen angenommen werden und auf der Beobachtung von Ähnlichkeiten und gemeinsamen Qualitäten basiert. Die kognitive Komponente kann als Kategorisierung und die affektive Komponente als Introjektion, einem Gefühl von Einssein und persönlichem Betroffensein beschrieben werden und mit Stolz, Scham, Solidarität, Loyalität, Mitgefühl oder Zorn verbunden sein (Rosenberg, 1979). Affektive Bewertungen definieren den Selbstwert, der bei hoher Ausprägung mit günstigen psychologischen Wirkungen assoziiert sein kann (Pyszczynski & Cox, 2004; siehe auch DuBois & Flay, 2004). Ein Individuum ist bestrebt, selbstbezogene Inkonsistenz zu reduzieren und Kognitionen oder Affekte oder beides durch selbstkontrollierende und -regulierende Prozesse (zum Beispiel Bandura, 1991; Carver & Scheier, 1981; Festinger, 1957; Fiske & Taylor, 1991; Mischel, 1993; Steele, 1988; Tedeschi, 1981; Tesser, 2000) so zu verändern, dass Konsistenz entsteht. Die Selbstkonsistenztheorie postuliert, dass eine Person Unsicherheit reduziert, indem sie ein bestimmtes Selbstbild aufrechterhält, bestimmte Umweltreize präferiert und von anderen als berechenbar angesehen wird (Lecky, 1945; Swann, 1983; Swann, Griffin, Predmore, & Gaines, 1987). Fehlende kognitive Zugänglichkeit zu Inkonsistenzen oder zu emotionalen Konsequenzen (Higgins, 1989), verschiedene Identitätsadationsziele oder Werte (Wicklund & Gollwitzer, 1982) oder selbstbezogene Verhaltensabsichten (Banaji & Prentice, 1994) nehmen Einfluss auf die Stabilität des Selbstkonzepts. In Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Selbstkonzepte flexibel sind: In Studien zur Kulturabhängigkeit von Diskrepanz-Wahrnehmungen wurde gezeigt, dass Ostasiaten toleranter gegenüber inneren Widersprüchen waren (Choi & Choi, 2002) und Koreaner stärker zwischen Wertepräferenzen und Eigenschaftsbewertungen schwankten als Amerikaner (Ross, Heine, Wilson, & Sugimori, 2005). Auch die Stabilität von Identitätskonzepten im Erwachsenenalter schwankt: Selbstwertgefühl und antizipierte Bewertungen der eigenen Person nahmen unabhängig von Bildungsgrad, Geschlecht und Einkommen ab (Schafer & Keith, 1999). Mummendey und Sturm (1982) fanden bei jüngeren Erwachsenen signifikante Selbstbildänderungen über die Zeit: Verbesserung hinsichtlich Selbstständigkeit und Führungsfähigkeit sowie Verschlechterung hinsichtlich sozialpsychologischer Merkmale wie Geselligkeit, Anpassungsfähigkeit, Umgänglichkeit und Verständnis für andere. Das erwachsene Individuum strebe laut Greve (2007) nach flexibler Resistenz und rigider Adaption an die Umwelt. Psychologische Identifizierungsprozesse, verschiedene, teilsweise kontrovers diskutierte theoretische Perspektiven und empirische Befunde der Selbstkonzeptforschung werden im folgenden Abschnitt überblicksartig vorgestellt.

1.1.2 Selbstkonzept und Selbstkomplexität.

Selbstbezogene Einstellungen definieren eine relativ konstante und kohärente Einheit einer Person: ein Selbstkonzept oder -schema (Gibbons, 1990; Markus, 1977) sind Wissenstrukturen von mentalen Selbst-Repräsentationen (z.B. Anderson, 1979, 1983) und das Ergebnis von Informationsverarbeitungsprozessen (McGuire & McGuire, 1988; Kihlstrom & Cantor, 1989). Aus Repräsentationen, die sich am stärksten unterscheiden, wird eine Kategorie bzw. ein distinktes Selbstkonzept gebildet (Karniol, 2003). Selbstbezogene Kognitionen sind dabei nicht komplexer als fremdbezogene (Locke, 2002), werden jedoch schneller abgerufen (siehe Metaanalyse: Symons & Johnson, 1997). Selbstwertdienliche Rückmeldungen werden besser behalten als selbstwertbedrohliche (Green, Pinter, & Sedikides, 2005). Kognitionen laufen unbewusst, automatisch, implizit oder bewusst ab. Zum Beispiel können Gedächtnisinhalte durch Selbstachtsamkeit (Brown & Ryan, 2003; Carver 2006) bewusst gemacht werden und der Selbstregulation dienen. Menschen erkennen ihre Einstellungen und Gefühle durch die Beobachtung des eigenen Verhaltens und ziehen daraus Schlüsse für zukünftiges Verhalten (Bem, 1972; Snyder, 1974). Individuelle Handlungen formen auch das Selbstkonzept und die Art des Selbstkonzepts bestimmt, welche Handlung ausgeführt wird (Vallacher & Wegner, 1989). Durch Selbstaufmerksamkeit kann eine Diskrepanz zwischen aktuellem und idealem Selbst bewusst reduziert werden (Duval & Wicklund, 1972; Wicklund & Frey, 1993). Dabei war unter der experimentellen Bedingung gesteigerter Selbstaufmerksamkeit die Reaktion auf eine wahrgenommene Diskrepanz stärker emotional gefärbt als unter der Bedingung schwacher Selbstaufmerksamkeit (Phillips & Silvia, 2005). Metakognitionen (Bandura, 2001), Selbst-Wirksamkeits-Erwartungen (Bandura, 1977) und Motive wie Autonomie, Selbstbestimmung und soziales Eingebundensein (Deci & Ryan, 1985, 2000) oder auch Selbstverwirklichung (Rogers, 1951) bestimmen neben vielen anderen Faktoren die Mehrdimensionalität des Konstrukts. Linville (1985, 1987) prägte den Begriff Selbstkomplexität als Operationalisierung der Dimensionalität von Selbstkonzepten und schlug die Moderatoren Quantität und Überlappung der Selbstaspekte vor, wobei hohe Quantität und niedrige Überlappung mit höherer emotionaler Flexibilität verbunden war (siehe auch McConnell, 2011). Unter anderem bedingt durch das Bedürfniss nach Zugehörigkeit (Baumeister & Leary, 1995; Brewer & Gardner, 1996; Correll & Park, 2005; Twenge, Baumeister, DeWall, Ciarocco, & Bartels, 2007; siehe auch Panksepp, 2005) ist nicht nur das Individuum selbst sondern auch Interaktionspartner Quelle für selbstbezogenes Wissen (Cooley, 1902; Mead, 1934; Mussweiler & Strack, 2000). Mavor und Reynolds (2007) fanden, dass Personen ihr Verhalten eher mit ihrem Selbst identifzierten, wenn sie sich mit Anderen verglichen als wenn sie ihr Selbst isoliert mit der Frage “Wer bin ich?” reflektierten (zitiert in Haslam, Ellemers, Reicher, Reynolds & Schmitt, 2010, S. 363). Nicht nur personale Merkmale, die ein Individuum von anderen unterscheiden, sondern auch sozial geteilte Merkmale wie kontextuelle Faktoren (Turner, Hogg, Oakes, Reicher, & Wetherell, 1987; Bizumic, Reynolds, Turner, Bromhead & Subasic, 2009; Postmes & Jetten, 2006), Gruppen-Normen (Baray, Postmes, & Jetten, 2009) und die Identifizierung mit Gruppen formen das Selbstkonzept.

1.2 Personale und soziale Identifizierung sowie soziale Identitätskomplexität

Nach Tajfel (1981a, siehe auch Tajfel & Wilkes, 1963) kann sich ein Individuum im sozialen Kontext nicht nur auf sein Selbst beziehen und schlug statt des Begriffs Selbstkonzept Sense of identity vor. In Vergleichen mit anderen kategorisieren sich Menschen nach Assimilations- und Kontrastprinzipien auf den Ebenen Mensch – soziale Identität – personale Identität. Auf der sozialen Ebene definieren sie sich als einer Gruppe zugehörig oder nicht-zugehörig und identifizieren sich mit einer Eigengruppe als deindividuiertes Gruppenmitglied. Die Wahrscheinlichkeit der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten mit der Eigengruppe und Unterschieden zu Fremdgruppen ist dann erhöht (Tajfel & Turner, 1986, Turner et al., 1987, siehe auch Haslam, Reicher, & Reynolds, 2012; Suls & Wheeler, 2007). Da Kategorien sozial konstruiert sind, können sie nicht fixiert sein. Art und Stärke der Deindividuation hängt u.a. von der Verfügbarkeit von Selbstkategorien (z.B. Fiske & Taylor, 2008), Status und Gruppengröße (Mullen, Brown & Smith, 1992), Zugang zu Ressourcen bzw. Diskriminierung und Stigmatisierung (Branscombe, Schmitt, & Harvey, 1999; Jetten & Branscombe, 2009; Schmitt & Branscombe, 2002), Wahrnehmung von Mikroaggessionen (z.B. Sue et al., 2007), Gruppen-Commitment und sozialem Kontext (z.B. Ellemers, Spears, & Doosje, 2002), der Reduktion von Unsicherheit (z.B. Hornsey & Jetten, 2004) und dem Selbstkonzept (Kawakami et al., 2012) ab. Multiple soziale Identitäten können simultan für das Selbstkonzept wichtig sein. Bei zwei salienten Gruppenidentitäten kann durch Kreuzkategorisierung eine duale Identität Ähnlichkeiten beider Gruppenzugehörigkeiten akzentuieren (zum Beispiel Crisp & Hewstone, 2007) oder durch Rekategorisierung eine neue und inklusive Eigengruppe konstruiert werden (Gaertner, Dovidio, Anastasio, Bachman, & Rust, 1993; Gartner & Dovidio, 2000). Die Erfahrung sozialer Vielfalt kann zu ungewöhnlichen Kategoriekombinationen führen (Crisp & Turner, 2011). Soziale Identitäten werden komplexer, je höher das subjektive Bewusstsein über multiple, nicht überlappende Repräsentationen von Eigengruppenkategorisierungen ist. Roccas und Brewer (2002) schlugen mit dem Konzept Social Identity Complexity vier kognitive Modi vor: Intersection, Dominance, Compartmentalization und Merger. Diese Strukturen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Komplexitätsgrades, der durch die Überlappung von Kategorien definiert ist. Gruppenzugehörigkeiten werden positiver evaluiert, je höher die Überlappung ist. Im Modus Intersection werden die Personen zur Eigengruppe gezählt, die alle Identitäten teilen (im bikulturellen Fall zum Beispiel: Deutsch-Türkin). Im Dominance-Modus nur die, die die dominante Kultur teilen (entweder Deutsche oder Türken). Im Compartmentalization-Modus wird die Eigengruppe situativ definiert (Deutsche in Deutschland, Türken in der Türkei) und im Merger-Modus kontextunabhängig, Personen sind Eigengruppenmitglied, wenn sie mindestens eine Identität teilen (Deutsche, Deutsch-Türken und Türken). Der Merger-Modus ist hoch komplex, integrativ und differenziert. Die Modi Intersection und Merger implizieren die Wahrnehmung von Kompatibilität sowie von Vermischung, Verschmelzung oder Fusion von Kategorien zu einer hybriden Identität (hybrid / hyphenated identity, siehe auch Arends-Tóth & van de Vijver, 2004; Navas et al., 2005). Im Akkulturationskontext würde dem beispielsweise ein interkulturelle Identität entsprechen (Sussman, 2000). Zwei Kombinationsarten werden unterschieden: einerseits können zwei Kategorien in einer neuen dritten Kategorie verschmelzen (Hall, 1992) oder sie können einen Übergangsraum formieren, der die Entstehung anderer Kategorien, die transkulturelle Elemente in sich tragen, ermöglicht und der Wahrnehmung von Gruppengrenzen entgegenwirkt (Verkuyten, 2005; siehe auch Ang, 2003; Welsch, 1999). Das Hybriditäts-Konzept wird kritisiert, da externale gesellschaftliche Machtungleichheiten ignoriert werden würden. Amiot und de la Sablonnière (2010) schlugen auf Basis der Social Identity Complexity Theory ein vierphasiges Modell zur Entwicklung und Generalisierung einer neuen Gruppenzugehörigkeit vor: Antizipatorische Kategorisierung (Ziel, eine neue Identität anzunehmen), Kategorisierung (Differenzierung), Compartmentalisierung (bereichsspezifische Identifizierung) und Integration (kontextunabhängige Identifizierung).

Nach Brewer (1991; Optimal distinctiveness theory) bestimmt das Bedürfnis nach einer positiven personalen sowie sozialen Identität die Stärke der sozialen Identifizierung. Sie ist am stärksten wenn ein Gleichgewicht zwischen dem Bedürfnissen nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Assimilierung) und nach Einzigartigkeit (Differenzierung) vorhanden ist. Zu starke Differenzierung führt zu sozialer Isolation und zu starke Assimilierung zu Beeinträchtigung der personalen Identität. In der Theorie werden die Werteorientierungen Einzigartigkeit versus Ähnlichkeit auf individueller Ebene, Autonomie versus Interdependenz auf relationaler Ebene und Differenzierung versus Zugehörigkeit auf kollektiver Ebene unterschieden (Sedikides & Brewer, 2001). Die drei Ebenen sind nach Roccas und Brewer (2002) gleichwertige, sich wechselseitig beeinflussende Komponenten (siehe auch Coté & Levine, 2002), während Hogg (2000) der kollektiven Ebene dominierenden Einfluss zuspricht. Gaertner, Sedikides und Graetz (1999) kamen mit einer Metaanalyse zu dem Ergebnis, dass Personen signifikant stärker auf die Bedrohung des individuellen als des kollektiven Selbstkonzepts reagierten und Sedikides und Gaertner (2001) fanden, dass die eigene Individualität affektiv priorisiert und geschützt wurde. Vier Dinstinktheits-Strategien wurden vorgeschlagen: Gruppen-Dinstinktheit könne durch Identifikation mit vielen unterschiedlichen oder sehr ungewöhnlichen Gruppen sowie durch Erhöhung wahrgenommener intergruppaler Unterschiedlichkeit oder Subgruppenidentifikation gesteigert werden. Individuelle Distinktheit könne durch Rollendifferenzierung oder Identifizierung mit einer individualistischen Gruppe sowie der Wahrnehmung eigener Loyalität trotz Unangepasstheit oder Erhöhung der Normativität gegenüber anderen Eigengruppenmitgliedern gesteigert werden (Hornsey & Jetten, 2004). Adaptionsprozesse und Akkulturation an ein bestimmes Milieu implizieren nicht, dass eine Gruppenzugehörigkeit oder Selbstdefinition geändert wird (Liebkind, 2001). Ethnische Identifizierung kann je nach soziokultureller Orientierung und Verbundenheit stabiler Teil eines Selbstkonzepts sein und in verschiedenen Kontexten und lokalen Umgebungen salient werden. Kultur wird hier verstanden als flexibles, temporäres, durch Selbst- und Fremdzuschreibungen gebildetes Orientierungssystem und Ethnizität bzw. ethnische Kultur als geteilte Überzeugungen über eine gemeinsame historische Herkunft, die nicht unbedingt mit der Konstitution von Gruppen verbunden sein muss (Weber, 1972; Jenkins, 1994).

1.2.1 Ethnische Identifizierung.

Berry (1984, 1997, 2003) schlug ein Rahmenmodell vor, das sich Identifizierungsprozessen von Immigranten und den Fragen nach Beibehaltung der Herkunftsidentität und Kontakt zur aufnehmenden Kultur widmete. Er fokussierte auf gruppale Phänomene und formulierte die vier folgenden Akkulturationsorientierungen: Marginalisation durch niedrige Identifikation mit der Herkunfts- und Aufnahmekultur, Separation durch hohe Identifikation mit der Herkunfts- und niedrige mit der Aufnahmekultur, Assimilation durch niedrige Identifikation mit der Herkunfts- und hohe mit der Aufnahmekultur sowie Integration, die mit hoher Identifikation mit der Herkunfts- als auch mit der Aufnahmekultur verbunden ist. Nach Berrys Taxonomie können viele Menschen als integriert, bi- oder multikulturell bezeichnet werden (Berry, 2003; Van Oudenhoven, Ward, & Masgoret, 2006). Dies können Immigranten, Flüchtlinge, Gäste, Eingeborene, ethnische Minderheiten, gemischt-ethnische Individuen oder interethnische Familien sein (Berry, 2003; Padilla, 2006). Nach einer Umfrage vom Institut für Demoskopie Allensbach (2009) fühlten sich 69% der Zuwanderer in Deutschland integriert, 48% empfanden Zugehörigkeit zu zwei Ländern eher als Vorteil, ca. 60% fühlten sich nicht zwischen Deutschland und ihrem Herkunftsland hin- und hergerissen, 79% waren mit ihrer Arbeit zufrieden, 77% mit ihrer Wohnsituation, den deutschen Gesetzen vertrauten 80% und jeder dritte Zuwanderer fühlt sich eher als Europäer. Arends-Tóth und Van de Vijver (2008) untersuchten u.a. Migrantenfamilien in ihren privaten Raum und fanden, dass hier die Aufrechterhaltung der ethnischen Identität weniger problematisch wahrgenommen wurde. Sie betonten, dass Akkulturation zu einseitig aus Sicht der Majorität und im öffentlichen Raum gesehen werden würde. Das Private bezieht sich auf Werte, eine innere Haltung sowie das Leben zu Hause und das Öffentliche auf alles, was außerhalb des Heims passiert und nach außen hin sichtbar ist. Multikulturalität kann ein Adaptionsvorteil sein, weil Kompetenzen und soziale Unterstützungsnetzwerke aus verschiedenen Kulturen vorhanden sind. Allerdings kann der Umgang mit mehreren Kulturen auch zu Stress, Isolation, Identitätsverwirrung und einem instabilen Selbstkonzept führen (zusammenfassend siehe Shi, Sanchez, & Ho, 2010).

Seit den 1990er Jahren haben Kulturpsychologen den Fokus von Unterschieden und Dynamiken zwischen Gruppen (between) hin zu der Art und Weise, wie Individuen diverse Identitäten innerhalb ihrer Person aushandeln (within) verschoben. Aus dieser Sicht kann Akkulturation als linear-unidimensionaler oder zwei- oder mehrdimensionaler Prozess verstanden werden. In linear-unidimensionalen Modellen wird Akkulturation als Assimilationsprozess in die Aufnahmekultur verstanden, wobei ein Ausbleiben der Assimilation mit psychischen Problemen und sozialen Konflikten einhergehen kann (zum Beispiel Helms, 1990; Phinney, 1989). Identifizierungsprozesse mit Aufnahme- und Herkunftskultur werden in diesen Modellen als abhängig voneinander betrachtet im Gegensatz zu bi- bzw. mehrdirektionalen Prozessmodellen, in denen Akkulturation als nicht unbedingt konflikthaft erfahrene Dynamik zwischen zwei voneinander unabhängigen Orientierungen verstanden wird (Arends-Tóth, Van de Vijver, & Poortinga, 2006). LaFramboise, Coleman und Gerton (1993) differenzierten beispielsweise identifikatorische und behaviorale Prozesse: Neuankömmlinge können Verhaltensweisen der Aufnahmekultur praktizieren und gleichzeitig versuchen, Einstellungen und Werte beizubehalten. Die Autoren schlugen zwei Identitäts-Modi vor: alternation (behavioral, Personen wechseln kontextabhängig zwischen ihren Kulturen) und fusion (identitätbezogen, Identität als Synthese aus beiden Kulturen). Sie verwiesen darauf, dass Individuen kompetent in und identifiziert mit zwei Kulturen sein können. Ein weiteres bidimensionales Prozess-Modell ist die Zwei-Faktoren-Theorie des Bikulturalismus von Birman (1994). Diese Theorie rekurriert auf Berry, Kalin und Taylor (1977) und differenziert vier Akkulturationsstrategien, die jeweils in eine Identitäts- bzw. einstellungsbasierte und eine behaviorale Komponente unterteilt sind: Marginalisierung, Separation/Traditionalismus, Assimilation und Bikulturalismus. Bikulturalismus ist die simultane Identifizierung mit beiden Kulturen und unterteilt sich in blended (identitätbezogen, Vermischung beider Kulturen; wie fusion von LaFramboise et al., 1993), instrumental (nur behavioral) und integrated biculturalism (behavioral ohne Vermischung) sowie Identitätssuche (identity exploration; behavioral). Phinney und Devich-Navarro bestätigten 1997 in qualitativen und quantitativen Studien die beiden Typen alternation (behavioral) und blended (identitätbezogen), wobei beide mit positiven Gefühlen gegenüber der eigenen Biklturalität verbunden waren, alternierende Bikulturelle jedoch mehr Konflikte in Bezug auf ihre Identitäten wahrnahmen. In weiteren Studien konnte ebenfalls gezeigt werden, dass Identität und Verhalten konfundiert sind und nicht unbedingt übereinstimmen. Bikulturelle Identität wird folglich aus identifikatorischen und behavioralen Prozessen konstituiert. Zum Beispiel können Individuen und Gruppen auf der Verhaltensebene unabhängig von einer Identitätstransformation zwischen zwei Kulturen wechseln (Birman & Tyler, 1994; Clark, Kaufmann, & Pierce, 1976; siehe auch Roccas & Brewer, 2002), was auch Studien zum Cultural Frame Switching belegten (CFS; LaFramboise et al.,1993). In CFS-Studien konnte u.a. gezeigt werden, dass Individuen als Reaktion auf kulturelle Schlüsselreize zwischen kognitiven Stilen (Hong, Morris, Chiu, & Benet-Martínez, 2000), Persönlichkeitsaspekten (Ramirez-Esparza, Gosling, Benet-Martínez, Potter, & Pennebaker 2006), Identifikationen und Werten (Verkuyten & Pouliasi, 2002), Selbstkonstrukten (Smith, 2011) und Affekten (Perunovic, Heller, & Rafaeli, 2007) wechselten. Hong und Kolleginnen (2000) fanden, dass dieser Prozess von der individuellen Integration der bikulturellen Identitäten moderiert wurde (Bicultural Identity Integration; siehe auch Benet-Martínez, Leu, Lee, & Morris, 2002; Verkuyten & Pouliasi, 2002). Cheng, Lee und Benet-Martinez (2006) untersuchten, ob Individuen, die ihre bikulturelle Identität als kompatibel (vs. inkompatibel) wahrnahmen, auf kulturelle Primes in kulturell kongruenter (vs. inkongruenter) Weise mit kulturtypischen Attributionsstilen (internal als amerikanischer und external als chinesischer Attributionsstil) reagierten. Der zugrundeliegende psychologische Prozess wurde durch Assimiliationseffekte bei hohen BIIs und bei niedrigen BIIs durch Kontrast- und Vergleichseffekte erlebter kulturelle Konflikte verbunden mit affektiver Reaktanz (umgekehrter Primingeffekt) erklärt. Hohe BIIs dagegen verglichen nicht, nahmen die Kulturen nicht als gegensätzlich wahr und konnten leichter und flüssiger zwischen den Frames switchen.

1.2.1.1 Bicultural Identity Integration (BII).

Bikulturelle Identitäten können demnach als kompatibel (integrierbar) versus nicht kompatibel (schwierig zu integrieren) wahrgenommen werden. Das kann mit Gefühlen von Stolz, Einzigartigkeit, einem hohen Sense of community versus Identitätskonfusion, dualen Erwartungen und Wertekonflikten einhergehen (Haritatos & Benet-Martínez, 2002; Schwartz & Zamboango, 2008). Blended und alternation sind demnach keine verschiedenene bikulturellen Typen, sondern die behaviorale und identifikatorische Komponente der bikulturellen Erfahrung (siehe auch Simon, Reichert, & Grabow, 2013). Personen, die ihre bikulturelle Identität als kompatibel wahrnehmen, sehen sich als Teil einer kombinierten dritten Kultur und erleben es als einfach, beide Kulturen in ihren Alltag zu integrieren, Personen, die ihre bikulturelle Identität als inkompatibel wahrnehmen, sind für Spannungen und Konflikte zwischen den dualen Identitäten sensibel. Sie fühlen sich, als sollten sie sich für nur eine Kultur entscheiden (Benet-Martínez & Haritatos, 2005). BII setzt sich aus den distinkten Dimensionen Blendedness (Vermischbarkeit; vs. Distanz/ Compartmentalisation) und Harmonie (vs. Konflikt) zusammen. BII ist hoch, wenn Blendedness und/oder Harmonie hoch ist und BII ist niedrig, wenn Blendedness niedrig und/oder Harmonie niedrig ist. Blendedness indiziert den individuell wahrgenommenen Grad der Überlappung und Harmonie den individuell wahrgenommenen Konflikt. Blendedness ist mit kognitiven und behavioralen Aspekten wie der Organisation und Strukturierung assoziiert. Harmonie ist mit affektiven, interpersonalen und einstellungsbezogenen Aspekten der beiden Kulturen assoziiert. BII wird von Persönlichkeitsvariablen, Identifizierungsstärke und Gruppenstatus beeinflusst: je höher die ethnische Identifikation, desto höher erkennen Minoritätsmitglieder Multikulturalismus an, während Mitglieder der Majorität Multikuralismus dann weniger anerkennen (Nguyen & Benet-Martínez, 2010). Blendedness kann nach Benet-Martínez und Haritatos (2005) als Hybridität gesehen werden und im Sinne der Social Identity Complexity (Roccas & Brewer, 2002) könnte hohe Blendedness in weitere Komponenten wie Intersection oder Merger untergliedert werden. Niedrige Blendedness könnte einem Compartmentalization-Modus ensprechen und hohe Distanz könnte mit dem Bedürfnis nach optimaler Distinktheit in Verbindung stehen (Brewer, 1991). Diese theoretischen Analogien wurden bisher nicht empirisch untersucht. Huynh, Nguyen und Benet-Martínez (2011) nahmen zudem an, dass BII-Blendedness zu BII-Harmonie führen kann und schlugen ein BII-Entwicklungsmodell vor (siehe Abbildung 1). Wenn Individuen ihre dualen Identitäten als deutlich unterschiedlich wahrnehmen (beispielsweise bei hoher objektiver kultureller Distanz [Hofstedes, 1983], sehr unterschiedlichen Lebensweisen oder der Unvermischbarkeit von Normen), können sie weniger Identitätsintegration und höheren Identitätskonflikt erleben. Wenn Identitätsaspekte konfligieren, können beide Identitäten getrennt gehalten oder verschiedene Aspekte beider Identitäten in eine neue Identität integriert werden (siehe auch Amiot, de la Sablonnière, Terry, & Smith, 2007; Ward, 2008).

Abbildung 1. Entwicklung einer integrierten bikulturellen Identität

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1. Adaptiert nach Huynh et al. (2011).

Die BII-Prinzipien wurden generalisiert und auf andere duale Identitäten übertragen wie sexuelle (Fingerhut, Peplau, & Ghavami, 2005; Dillon, Worthington, & Moradi, 2011; Savin-Williams, 2011), religiöse (MacDonald, 2011; Roehlkepartain, Benson, & Scales, 2011) und berufliche (Skorikov & Vondracek, 2011) Identität. Ebenso wurden die Prinzipien auf die Integration multipler Identitäten erweitert (Benet-Martínez, 2012; Cheng & Lee, 2009; Downie, Koestner, ElGeledi, & Cree, 2004). Ebenfalls fand eine Erweiterung auf zwei verschiedenen Kategorien wie zum Beispiel buddhistische und christliche Identität (Verkuyten & Yildiz, 2007) oder sexuelle und berufliche Identität bzw. kreative Leistung (Cheng, Sanchez-Burks, & Lee, 2008) statt. Huynh und Kolleginnen (2011) fassten BII-Forschungsergebnisse wie folgt zusammen: BII war bei erwachsenen Zuwanderer und Collegestudenten in China und Hong Kong positiv korreliert mit Selbstvertrauen, Lebenszufriedenheit sowie subjektivem Glück. Negativ korreliert war BII mit Angst, Depressionsraten und Einsamkeit (Chen, Benet-Martínez, & Bond, 2008). Bei jungen Erwachsenen in Quebec war BII positiv korreliert mit interpersonalen Beziehungen, Autonomie, Selbstakzeptanz, persönlichem Wachstum, erlebter Sinnhaftigkeit und Kontrollüberzeugungen (Downie et al., 2004; Downie, Mageau, Koestner, & Liodden, 2006) und bei chinesisch-amerikanischen Studierenden mit vielfältigeren interkulturellen Freundschaftsnetzwerken (Mok, Morris, Benet-Martínez, & Karakitapoglu-Aygun, 2007). BII wurde meistens als Trait manipuliert und in einer Studie als State (Cheng & Lee, 2009). BII konnte dann erhöht werden, wenn ein eher globaler (vs. lokaler) Verarbeitungsstil induziert wurde (Mok & Morris, 2012). Bezüglich der beiden BII-Komponenten war Harmonie moderat negativ korreliert mit kulturbezogenen Problemen bei der mit Neurotizismus (Benet-Martínez & Haritatos, 2005), linguistischem Akkulturationsstress, Wahrnehmung von kulturell bedingten interpersonalen Problemen, Sprachbarrieren und mit Diskriminierungswahrnehmung. Des weiteren nahmen Personen mehr Harmonie zwischen beiden Kulturen wahr, wenn sie nur die Werte einer Kultur und nicht die Werte beider Kulturen guthießen (Nguyen, Huynh, & Benet-Martínez, 2014) und sie lebten eher in kulturell diversen Gegenden (Benet-Martínez & Haritatos, 2005). Blendedness war positiv korreliert mit wahrgenommener Ähnlichkeit zwischen der eigenen Persönlichkeit und Mitgliedern der beiden Kulturen (Miramontez, Benet-Martínez, & Nguyen, 2008), mit dem Praktizieren typischer Verhaltensweisen beider Kulturen (Nguyen et al., 2009), Anwesenheitszeit im aufnehmenden Land, interkultureller Kompetenz, schwach bis moderat mit Offenheit, dem Verfolgen einer Integrationsstrategie (vs. Separationsstrategie; Benet-Martínez & Hariatos, 2005) und Orientierung an der Mainstream-Kultur (Huynh, 2009). Hohe Distanz war positiv korreliert mit linguistischem Akkulturationsstress und dem Leben in einer kulturell isolierten Umgebung. Wird der individuelle ethnische Hintergrund in einer lokalen Community als ungewöhnlich angesehen, kann das die Salienz eigener Besonderheiten erhöht werden, was die Wahrnehmung von Gruppenunterschieden akzentuieren kann. Das Individuum ist dann bestrebt, die Identitäten getrennt zu halten, um Ähnlichkeiten mit der ethnischen Eigengruppen und Unterschiede zu Fremdgruppen zu erhalten. Blendedness sei dann niedrig und Distanz hoch (Benet-Martínez & Haritatos, 2005; Huynh, 2009).

Haslam (2001) fand, dass ein Sinn für geteilte soziale Identität (sense of shared identity) die Grundlage für Geben und Nehmen von sozialer Unterstützung war und vom Ausmaß der Identifizierung moderiert wurde (siehe auch Dunbar, 1997; Haslam, O’Brien, Jetten, Vormedal, & Penna, 2005). Eine nachbarschaftliche Community (Putnam, 2000) weist Qualitäten wie ein bestimmtes Sozialklima (zum Beispiel Moos, 1973, 2002, 2003) auf und kann mit dem Sense of community beschrieben werden.

1.2.2 Identifizierung mit einer Community. Der psychologische Sense of Community (SOC) ist die individuelle Wahrnehmung von sozialer Mitgliedschaft, Einfluss, Integration und Bedürfnisbefriedigung, emotionalem Verbundenheit (Sarason, 1974; McMillan & Chavis, 1986), Erfolg und Vermächtnis (Omoto & Snyder, 2010). Mitgliedschaft definiert sich über geographische Grenzen, gemeinsame Symbole, emotionale Sicherheit, persönliche Investitionen und Identifikation mit zum Beispiel einer ethnischen Gruppe oder einer nachbarschaftlichen Community. Hoher individueller Einfluss, Integration und Bedürfnisbefriedigung erhöhen die Bindung an die Gruppe (Thibaut & Kelly, 1959). Emotionale Verbundenheit beinhaltet beispielsweise Sinnstiftung, Zuneigung und Vertrauen. Erfolg ist eine kollektive Wirksamkeitserwartung und Vermächtnis eine zukunfts- und generationsorientierte Einstellung. SOC ist assoziiert mit Persönlichkeitseigenschaften (Lounsbury, Loveland, & Gibson, 2003), der Größe der Gruppe und mit Merkmalen wie Partizipationsmöglichkeiten und nachbarschaftlichen Beziehungen (Lounsbury & DeNeui, 1996; Long & Perkins, 2007). Starker SOC geht u.a. einher mit positiven Erwartungen an die Effektivität kollektiven Handelns (Peterson & Reid, 2003), nachbarschaftlicher Unterstützung (Farrell, Aubry, & Coulombe, 2004), Widerstandfähigkeit gegen Diskriminierung (Sonn & Fisher, 1998) und ehrenamtlichem Engagement für benachteiligte Communitymitglieder (Omoto & Snyder, 2010). Oishi und Kollegen (2007) fanden, dass Personen umso stärker um das Wohlergehen der Community bemüht sind, je länger sie in der Community lebten. Menschen, die in einer sozial diversen Community leben, verfügen über komplexe, differenzierte und inklusive multiple Eigengruppenwahrnehmungen (Schmid, Hewstone, & Al Ramiah, 2013) und Menschen mit multikulturellem Hintergrund, die in einer diversen Community leben, erleben einen höheren Grad an Integration (Berry, Phinney, Vedder, & Sam, 2006; Brewer, 2010).

Da in dieser Studie die SOC-Teilaspekte Mitgliedschaft (Gefühl der Zugehörigkeit und Identifikation mit der Community) und emotionale Verbundenheit und nicht der Sense of Community im Mittelpunkt stand, wurde keine Sense of Community-Skala (zum Beispiel Perkins, Florin, Rich, Wanderman, & Chavis, 1990) verwendet, sondern die Personal Dimensions of Difference Scale (PDD; Dunbar 1997), mit der multiple Identifikationen und Gruppenbindungen abfragt werden können. Zudem ging es um die Bindung an ein spezifisches geographisches Quartier: Berlin-Kreuzberg. Ortbindung (place attachment; Fischer, Jackson, Stueve, Gerson, & Jones, 1977) beschreibt die affektive Bindung an geographische Orte. Die individuelle Identifizierung wird mit dem Begriff Ortsidentität (place identity; Proshansky, Fabian, & Kaminoff, 1983; Dixon & Durrheim, 2004; Hague & Jenkins, 2005; Hopkins & Dixon, 2006) beschrieben. Beide Begriffe stammen aus der Umweltpsychologie.

1.2.3 Lokale Identifizierung und Ortsbindung.

Ortbindung wurde bereits durch die Kriterien erinnerte (interactional past) versus erwartete Interaktionen (interactional potential) operationalisiert (Milligan, 1998) oder auch durch ein fünfdimensionales Modell mit den Faktoren Ortsidentität, Interdependenz, Natur- und Familienbindung sowie Bindung an Freunde. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass physische und soziale Rahmenbedingungen nicht isoliert von den individuellen Emotionen und der personalen Identität betrachtet werden können (Raymond, Brown, & Weber, 2010). Andere Forscher fanden, dass Ortbindung bei Einheimischen und Zuwanderern vor der Ortsidentität entwickelt wurde, wobei die Bindung an eine Stadt stärker als die Bindung an eine Community war (Hernández, Hidalgo, Salazar-Laplace, & Hess, 2007). Ortidentität und -bindung, soziale Identifizierung und Selbstkonzept beeinflussen sich gegenseitig (Gustafson, 2001). Hopkins, Reicher und Harrison (2006) fanden, indem sie auf einer Landkarte einen Bereich mit der britischen bzw. schottischen Flagge farbig markiert hatten, dass schottische Probanden, bei denen die britische Identität salient war, weniger besorgt waren, nach England umzuziehen als wenn die schottische Identität salient war. Im organisationalen Bereich zeigten Knight und Haslam (2009), dass lokale Veränderungen die Stärke der organisationalen Identitfikation beeinflussen kann. Die Erlaubnis an die Arbeiter, ihren Arbeitsplatz selbst zu dekorieren, dass er zum Ausdruck der personalen oder sozialen Identität wurde, steigerte Motivation, Leistung und Wohlbefinden. Zick (2001) fand, dass starke Quartiersidentifizierung mit der Akkulturationsorientierung Integration und einem höheren Integrationsniveau verbunden war und mit besserer Selbstorganisation und signifikant geringerer Wahrnehmung von Diskriminierung einherging. Schon Robert Ezra Park (1969) beschrieb die Großstadt als emanzipatorischer Raum für Migrant_innen. Auch bikulturelle Identifizierung ist abhängig von örtlichen Bedingungen und kann mit visuellen Schlüsselreizen variieren (Benet-Martínez et al., 2002; Ramirez-Esparza et al., 2006).

Quantitativ können Identifizierungsprozesse mit allen expliziten und impliziten Selbstberichtsverfahren erfasst werden. Gruppen- und Ortsbindung wurde in dieser Studie mit der Personal Dimensions of Difference Scale (PDD; Dunbar 1997). Zudem war damit eine geringere Belastung der Teilnehmenden verbunden. Die Integration bikultureller Identitäten wurde mit der Bicultural Identity Integration Scale erfasst (BIIS-1; Benet-Martínez & Haritatos, 2005). Ein Mixed-Method-Design wurde aus zwei Gründen gewählt: Um erlebens- und verhaltensrelevante Aspekte von Identifizierungsprozessen zu erforschen und um Photovoice zu evaluieren.

1.3 Qualitative Forschung

Nach Flick (2011) zielen qualitative Methoden darauf ab, Wissen über Handlungsregeln und Repräsentationen von Verhalten zu rekonstruieren. Sie dienen der Exploration des Feldes und der Entdeckung neuer oder ungewöhnlicher Zusammenhänge. Die Methoden basieren auf den Prinzipien der Gegenstandsangemessenheit, Kommunikation, Offenheit, Vertrautheit und Fremdheit, Prozesshaftigkeit sowie Reflexivität und Flexibilität der Forschenden. Methodenimmanente Limitationen wie zum Beispiel die Stichprobenauswahl nach Relevanzaspekten und eingeschränkte Gütekriterien müssen beachtet werden. In der qualitativen Sozialforschung sind nach Flick (2011) vier Tendenzen zu verzeichnen: Rückkehr zum Besonderen, zum Lokalen, zum Zeitgebundenen und zum Mündlichen. Flick beschreibt den psychologischen Prozess narrativer Verfahren wie folgt: Implizites Wissens könne auf der Ebene des Erzählens durch Effekte des Gestaltschließungs-, Kondensierungs- und Detaillierungszwangs zugänglich gemacht werden. Dadurch verselbstständige sich eine Erzählung und latente Sinnstrukturen könnten aufgedeckt werden. Allgemein gelten qualitative Daten durch die Nähe zum untersuchten Gegenstand als ökologisch valide, können aber bei der Auswertung durch inadäquate Rekonstruktion von Wissensstrukturen durch Dritte eingeschränkt werden. Gütekriterien können beispielsweise durch Daten-, Forscher-, Theorien- oder Methoden-Triangulation (Campbell & Fiske, 1959; Denzin & Lincoln, 2000; Greene & McClintock, 2007) wie einem sequentiellen Mixed-Method-Design oder die kommunikative Validität durch partizipative Auswertung mit den Erforschten (Sedlmeier & Renkewitz, 2013) verbessert werden. Weiterhin kann prozeduale Reliabilität und auch die Generalisierbarkeit der Ergebnisse durch Analysemethoden wie konstanter Vergleich (z.B. Glaser & Strauss, 2012) oder sequentieller Kontrastierung (z.B. Bohnsack, 2003) sowie standardisierten Auswertungsregeln gesteigert werden. Qualitative Daten können beispielsweise nach Häufigkeiten oder abstrahierend von einer phänomenologisch-semantischen hin zu einer hermeneutisch-latenten Ebene ausgewertet werden. Die Daten dieser Studie wurden nach einer abduktiven Forschungslogik, synoptischen Fallkontrastierungs-Prinzipien (siehe Kelle & Kluge, 2010) und Prämissen einer thematischen Inhaltsanalyse (Braun & Clark, 2006) ausgewertet. Thematische Inhaltsanalysen wurden bereits verschiedenen Forschungsvorhaben angepasst und in anderen Photovoicestudien verwendet (Bukowski & Buetow, 2010; Johansen & Le, 2014; Wang & Hannes, 2014).

Photographieren erscheint als Erhebungsmethode vielversprechend, weil es beliebt und verbreitet ist, die Bedienung einfach ist und Phänomene mit einem Photo in seiner Bedeutung weniger festgelegt beschrieben werden können. Nach Susan Sontag (2003) materialisieren Menschen mit einer Photographie ein Erlebnis, so dass eine Erfahrung erinnerungsfähiger wird. Auch in wissenschaftlichen Untersuchungen werden visuelle Daten durch zunehmende Visualisierung der Umwelt wichtiger (Gauntlett & Horsley, 2004; siehe auch: Exzellenzcluster Bild – Wissen – Gestaltung der Humboldt-Universität zu Berlin, n.d.). Aus visueller Forschung resultierende Daten können mit sprachzentrierten Verfahren eher nicht gewonnen werden (Raggl & Schratz, 2004). Die Informationen auf Photos sind von individuellen Vorannahmen und Vorstellungen geprägt, die oft nicht versprachlicht werden. Moser (2005) spricht in diesem Zusammenhang auch von doppelter Kontextabhängigkeit: der Kontext, in dem das Bild präsentiert wird und der Kontext, den die Autorin erzählt. Photo elicitation (z.B. Banks, 2001) ist ein Forschungsmethode, bei der einer Person Photos vorgelegt und semistrukturierte Interviews geführt werden. Die Interpretation von Photos durch die Produzenten spielt auch bei Photovoice (Wang & Burris, 1997) eine große Rolle.

1.3.1 Photovoice.

Carolyn Wang, Mary Ann Burris und Xiang Yue Ping setzten 1996 Photographie systematisch ein, um Frauen im ländlichen China über selbstproduzierte Photos und kritischen Dialog Gemeinsamkeiten identifizieren zu lassen und ein vertieftes Verständnis von strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen zu erlangen mit dem Ziel, politisches Engagement und Einflussnahme zu fördern. Sie erreichten dadurch drei politische Veränderungen: Entwicklung von Richtlinien für die Kinderbetreuung, Erleichterung des Zugangs zu Hebammen und Schulbildung für alle Mädchen. Die Methode wurde unter dem Begriff Photovoice (VOICE: voicing our individual and collective experience) bekannt. Mit Photovoice werden drei Hauptziele verfolgt: (1) Stärken und Anliegen einer Gemeinschaft erfassen und reflektieren, (2) kritischen Dialog und das Wissen über wichtige Themen durch Gruppendiskussion fördern und (3) politischen Einfluss nehmen. Die Erforschten sollen in alle Phasen des Forschungsprojektes einbezogen werden, ein sehr hoher Grad an Partizipation ist möglich (Streng et al., 2004; Catalani & Minkler, 2010). Zuerst sollen Änderungen auf dem individuellen Level erzeugt und Wahrnehmungen transformiert werden. Dann soll auf Communityebene die Lebensqualität verbessert und schließlich soll auf institutioneller Ebene soziale Veränderung herbeigeführt werden (Wang & Burris, 1997). Die Autorinnen benannten drei theoretische Quellen für die Entwicklung der Methode: Erstens die Theorie der Bildung von kritischem Bewusstsein (Freire, 1970, 1973). Der Autor entwickelte aus den alltäglichen Lebenserfahrungen seiner Schüler Wortlisten für Alphabetisierungskurse. Über kritischen Dialog identifizierten sie gemeinsame, übergeordnete Themen. Freire betonte die Bedeutung des kollektiven Wissens bei der Aufdeckung von persönlichen und gesellschaftspolitische Problemen. Zweitens basiert Photovoice auf feministischen Ansätzen und der Anerkennung und Aufwertung der Erfahrungen von Frauen, die in der Gesellschaft sichtbarer gemacht werden sollten (Maguire, 1987). Als dritte theoretische Quelle diente Dokumentarphotographie. Beispielsweise beauftragte Roy Stryker (1967) ein Photographenteam, um die Beziehung zwischen ländlicher Armut, unsachgemäßer Bodennutzung einerseits und dem Wachstum und Verfall der Städte andererseits zu dokumentieren. Mit Photovoice dokumentieren direkt betroffene Menschen ihre Realität dagegen selbst. Sie verfügen über mehr Einblick und Know-How als Profiphotographen oder Außenstehende. Wichtige Werte sind: Sicherheit und Wohlbefinden der Teilnehmenden, eine Philosophie des Zurückgebens der Photos als Ausdruck der Wertschätzung und des Respekts, Wahrung der Privatsphäre und Wahrung der Rechte Dritter. Deswegen beinhaltet Photovoice folgende Elemente: eine schriftliche Einwilligung der Teilnehmenden und der photographierten Menschen (siehe Anhang L und M). Photovoice beinhaltet außerdem einem Workshop, in dem die Teilnehmenden eine Einführung in das Konzept, über die Verwendung und die Macht von Bildern erhalten sowie über ethische, mechanische und visuelle Aspekte des Photographierens diskutieren sollen. Auftretende Fragen könnten beispielsweise sein: Wie kann ich mich gut Menschen nähern, die ich photographieren möchte? Sollte man Photos von anderen Menschen ohne deren Wissen aufnehmen? Was möchten die Teilnehmenden nicht photographieren? Photovoice kann nach Wang und Burries (1997) flexibel spezifischen partizipativen Zielen und Gruppen angepasst werden. Ziel kann zum Beispiel eine Bedarfsanalyse, Evaluation oder Empowerment sein. Photovoice wurde in vielen Ländern mit verschiedenen Menschen und Themen durchgeführt. Darunter in den letzten Jahren die Perspektive Jugendlicher auf Multikulturalität (Johansen & Le, 2012), intergenerationale Praktiken (Alcock, Camic, Barker, Haridi, & Raven, 2011), mütterliche Praktiken von Immigrantinnen (Tsai, Chen, & Huang, 2011), obdachlose Frauen (Bukowski & Buetow, 2010), Empowerment von Latinas (Mejia et al., 2013), Teilhabe an kommunikativen Prozessen (Beh, Bruyere, & Lolosoli, 2013), Community-Academic Partnership (Stedman-Smith, McGovern, Peden-McAlpine, Kingery, & Draeger, 2012), Wahrnehmungen der baulichen und sozialen Umwelt (Nykiforuk, Vallianatos, & Nieuwendyk, 2011), Tabakrauchen und Charaktistiken der Umgebung (Tanjasiri, Lew, Kuratani, Wong, & Fu (2011), Studien mit Migrantinnen und ehemaligen Flüchtlingen (Collie, Liu, Podsiadlowski, & Kindon, 2010) und Menschen mit Behinderungen und besonderen medizinischen Bedingungen (Publikationen aus dem Gesundheitswesen siehe Catalani & Minkler, 2010). Das Grundkonzept von Wang und Burries (1997) wurde vielfach modifiziert, auch von C. C. Wang selbst. Sie führte in einer Studie zu chronischen Schmerzen älterer Menschen nur Einzelinterviews durch (Baker & Wang, 2006). In einer anderen Studie fehlte die geforderte Ausbildungskomponente (Gosselink & Mylykangas, 2007) oder soziale Veränderung wurde nicht angestrebt (Streng et al., 2004) oder das Postulat nach Partizipation wurde unzureichend erfüllt (Oliffe & Bottorff, 2007). In diesen Studien stand eher ein vertiefter Erkenntnisgewinn im Vordergrund wie beispielsweise auch in der Studie zu soziokultureller und akademischer Anpassung von international Studierenden von Wang und Hannes (2014). Zudem existieren inzwischen diverse Photovoice-Filme und Projekt-Internetseiten. Ein populäre Projekt Born Into Brothels entstand 2005, als Zana Briski das Leben von Sexarbeiterinnen und deren Kinder im Rotlichtviertel von Kalkutta photographierte und einigen Kindern Kameras gab damit sie ihre Welt dokumentieren konnten. Das Projekt war verbunden mit Emanzipationsprozessen bei den betroffenen Kindern und erhöhter Aufmerksamkeit für das Thema. Aus den Bildern und Geschichten der Kinder entstand der Film Born Into Brothels, der 2005 einen Oscar als bester Dokumentarfilm gewann. Außerdem existieren inzwischen Videovoice-Studien (beispielsweise Catalani et al., 2012). Bei dem Einsatz von Photovoice sollten auch Herausforderungen und mögliche negative Effekte beachtet werden. Soziale Probleme könnten fixiert statt geändert werden, die resultierenden Daten können sehr komplex sein, die beteiligten Community-Mitglieder können das Eindringen in ihr Leben als unerwünscht erleben, sich ausspioniert fühlen und unkooperativ reagieren oder durch persönliche Urteile der Forschenden kann das Spektrum unangemessen eingeschränkt bzw. erweiteret werden (Foster-Fishman, Nowell, Deacon, Nievar, & McCann, 2005). Daten- und Methodentriangulation durch die Auswertung zusätzlicher Datenquellen wurde vielfach angestrebt, indem zum Beispiel die Photographien zusätzlich zu den deskriptiven, partizipativen Analysen der Gruppendiskussionen von den Forschenden analysiert wurden (Bukowski & Buetow, 2010; Stedman-Smith et al., 2012) oder die Transkripte der Gruppendiskussionen (Wang & Hannes, 2014) oder auch Einzelinterviews (Bukowski & Buetow, 2010) oder Feldnotizen (Tanjasiri et al., 2011) hinzugezogen wurden. Photovoice wurde bereits als Teil eines Mixed-Method-Designs eingesetzt (zum Beispiel Barclay-Goddard, Ripat, & Mayo, 2012).

Nach diesen theoretischen Perspektiven und dem Forschungsstand sollte Photovoice vertiefte Erkenntnisse in das Erleben und die Beschreibung von Kompatibilitätswahrnehmungen von bikultureller Identität ermöglichen und führten zu den folgenden Fragestellungen.

1.4 Zentrale Fragestellungen

1. Kann Photovoice sinnvoll eingesetzt werden, um Identitätsprozesse zu erforschen?
2. Werden bikulturelle Identitäten als kompatibel oder inkompatibel wahrgenommen?
3. Stehen Aspekte von personaler oder sozialer Identifizierung bei hoher versus niedriger Gruppenbindung im Vordergrund? Hat die Anzahl der Gruppen-Identifizierungen einen Einfluss?
4. Wodurch ist die Ortidentiät bei hoher versus niedriger Ortsbindung gekennzeichnet?
5. Welche Aspekte von Identität werden von Personen mit bikultureller Identität in einer diversifizierten Community beschrieben?

2 Methode

Eine Feldstudie im Mixed-Method-Design wurde durchgeführt. Zuerst wurden qualitative und dann quantitative Daten erfasst.

2.1 Erhebungsinstrumente

Bikulturelle Identität, räumliche Bindung und demografische Variablen wurden mit folgenden Instrumenten untersucht:

2.1.1 Qualitative Daten: Photovoice.

In der ursprünglichen Konzeption (Wang & Burris, 1997) folgt der Photovoice-Prozess 13 aufeinander folgenden Phasen: (1) Identifikation eines Problems, (2) Definition von damit zusammenhängenden Themen und Zielen, (3) Rekrutierung von politischen Entscheidungsträgern, denen die Photovoice-Erkenntnisse später präsentiert werden soll, (4) Training der Photovoice-Moderatoren, um in den Gruppendiskussionen kritischen Dialog zu fördern, (5) Durchführung eines Workshops mit den Teilnehmenden, (6) Ausarbeitung eines Startthemas für die Bildaufnahme, (7) Phase des Photographierens, (8) Initiierung einer Gruppendiskussion, (9) Auswahl von Photos, Kontextualisierung und Kodifizierung, (10) Dokumentation, (11) formative Evaluation, (12) Mobilisierung von politischen Entscheidungsträgern, Spendern, Medien, Forschern und Personen, die soziale Veränderung herbeiführen können und (13) partizipative Evaluation. Während der Gruppendiskussion können durch die SWOWeD-Technik Themen identifiziert werden. Die Moderatoren regen kritischen Dialog an, indem sie folgende Fragen stellen: Was ist auf dem Photo zu sehen?, Was ist die Geschichte hinter dem Bild?, Wie wirkt sich das auf unser Leben aus?, Warum tritt dieses Problem oder diese Stärke auf? und Was können wir dagegen tun? (What do you S ee here?, W hat is really Happening?, How does this relate to O ur lives?, W hy does this problem or strength exist? und What can w e D o about it?). Ein dreistufiger Prozess bildet die Grundlage für die partizipative Analyse der Photos: (1) Auswahl der Photos, die das Anliegen und die Werte der Gemeinschaft am Besten widerspiegeln, (2) Kontextualisierung der Photos durch Beschreibungen des photographischen Inhalts, Erzählungen und Gruppendiskussion und (3) Kodifizierung der identifizierten Bedeutungszuweisungen in Fragen, Themen und Theorien. Die Kodierungen können unmittelbar definiert oder nach systematischer Sammlung von Themen und Mustern analysiert werden. Das Photovoice-Konzept (Wang & Burries, 1997) wurde für diese Studie aufgrund des Datenerhebungsschwerpunktes modifiziert. In dieser Studie entsprachen insgesamt 9 von 13 Phasen der ursprünglichen Konzeption. Phasen, die nicht realisiert wurden, basierten auf partizipativen Anforderungen oder zielten auf soziale Veränderungen ab. Im Folgenden stehen die ursprünglichen Photovoice-Phasen in Klammern. Das Thema und die Ziele wurden nicht partizipativ sondern von der Forscherin definiert (Phase 1 und 2). Phase 3 wurde nicht realisiert. Das Training der Photovoice-Moderatorin (der Forscherin) fand in Form von zwei Gesprächen mit zwei erfahrenen Personen und Literaturstudium zum Thema Fokusgruppen statt (Phase 4). Die Durchführung des Photo-Workshops und Informationssession wurde den Anforderungen gemäß zusammen mit dem Reportagefotograf Kai Wiedenhöfer durchgeführt (Phase 5, Durchführungsskript siehe Anhang J). Bei diesem Termin wurde ausführlich über das Ziel der Studie aufgeklärt und die Teilnehmenden unterschrieben eine Einverständniserklärung zur Teilnahme zu Audio-, Bild- und Textfreigaben und zur Wahrung der Anonymität der Teilnehmenden. Außerdem wurde ein Photofreigabe-Formular für Photographierte verteilt (Anhang K-M). Der Workshop wurde auf Video aufgezeichnet. Die Ausarbeitung des Startthemas war nicht-partizipativ (Phase 6). Die Photographierphase entsprach dem Photovoice-Grundkonzept (Phase 7). Die Teilnehmenden konnten während dieser Phase an drei Terminen Photos besprechen. Dazu wurden die Bilder per Beamer an die Wand projeziert und mit der Forscherin und Kai Wiedenhöfer besprochen. Neben photographischen Aspekten wurden auch offene Interviews geführt, per Audio aufgezeichnet und transkribiert (die Transkripte wurden im Rahmen dieser Studie nicht ausgewertet). Aus ökonomischen Gründen wurde von der Forscherin die Anzahl der Photos pro Person nach den Kriterien Bezug auf die Forschungsfrage, vielfältige Motive und gleiche Photo-Anzahl pro Person ausgesucht und ausgedruckt. In den Fokugruppen sollten dann jede Teilnehmende zwei Photos aussuchen, die am meisten mit ihrer Identität zu tun hatten. Die Fokusgruppen entsprachen dem Photovoice-Konzept (Phase 8 und 9), wurden per Audio aufgezeichnet (Zoom H4n Handy Recorder) und transkribiert. Mit der S-Frage (Was ist auf dem Photo zu sehen?), einer adaptierten Version der O-Frage (Wie hängt die Geschichte hinter dem Bild mit Ihrer Identität zusammen?) der SWOWeD-Technik und Verständnisfragen wurden die Fokusgruppen von der Forscherin moderiert (Transkripte und Photoauswahl siehe Anhang P). Die Teilnehmenden präsentierten abwechselnd je ein Photo um alle Personen möglichst schnell zu Wort kommen zu lassen und eventuellen Sprechängsten entgegen zu wirken. Außerdem wurde darauf abgezielt, die Gesprächsentwicklung voranzutreiben. Die Teilnehmenden sollten sich zu anderen Präsentationen direkt äußern und durch Zuhören eigene Überlegungen vertiefen. Dokumentation fand auf der Projekt-Website und bei einer Ausstellung statt (Phase 10). Aufgrund des Datenerhebungsschwerpunktes wurden die Transkripte der Gruppendiskussion nicht partizipativ analysiert. Der Photovoice-Prozess wurde über Rückfragen und direktes Feedback der Teilnehmenden formativ evaluiert (Phase 11). Phase 12 wurde nicht realisiert. Der Photovoice-Prozess wurde mündlich während der Ausstellung evaluiert (Phase 13).

Die Teilnehmenden wurden instruiert, zu folgenden Fragen zu photographieren (Anhang A): (1) Wie unterscheiden sie sich als Kreuzberger_in von den Bewohner_innen anderer Berliner Kieze? Was macht das Leben in Kreuzberg aus? Versuchen sie, ein positives und ein negatives Beispiel zu fotografieren, (2) Welcher Ort in Kreuzberg ist bedeutsam für sie? Wo fühlen sie sich am wohlsten? Wo finden sie am meisten Unterstützung?, (3) Wo befindet sich für sie eine (gefühlte) Grenze von Kreuzberg?, (4) Bitte fotografieren sie Gruppen, die ihnen besonders wichtig sind, (5) Wodurch ähneln sich die beiden Kulturen, mit denen sie leben? Wodurch unterscheiden sie sich? und (6) Welcher Ort in ihrer Wohnung bzw. in ihrer privaten Umgebung ist bedeutsam für sie? (siehe Anhang A). Die Fragen unter (1) wurden mit dem Ziel der Reflexion des lokalen Kontextes gestellt und sollten eine Warm-Up-Funktion erfüllen. Die Fragen unter (2) zielten auf die persönliche räumliche Bindung und das erlebte Wohlbefinden an einem bestimmten Ortes ab. Frage (3) zielte auf eine Begrenzung des Kontextes ab. Die Fragen unter (4) beziehen sich auf Reflexion bedeutsamer Gruppenzugehörigkeiten. Die Fragen unter (5) zielten auf die Auseinandersetzung mit beiden Kulturen ab. Frage (6) wurde mit der Intention gestellt, den privaten Raum zu reflektieren. Nach Wang und Burries (1997) folgen durch die Interpretation der Photos in den Fokusgruppen reliable und ökologisch valide Daten. Indem die formalisierten Photovoice-Forschungsschritte eingehalten und dokumentiert wurden, konnte die prozeduale Reliabilität erhöht werden. Durch Partizipation und Feedbacks wurde die kommunikative Validität erhöht.

2.1.2 Quantitative Daten.

Quantitative Daten wurden mit der Bicultural Identity Integration Scale (BIIS-1; Benet-Martínez & Haritatos, 2005, deutsche Übersetzung: Andrea Frisch, Anhang B) und der Personal Dimensions of Difference Scale (PDD; Dunbar, 1997, Anhang C) nach den Fokusgruppengesprächen erfasst.

2.1.2.1 Bicultural Identity Integration Scale.

Die BIIS-1-Skalen (Anhang B) bestehen aus den Subskalen Blendedness und Harmonie. Mit der 4-Item-Skala Blendedness wird die wahrgenommene kulturelle Überlappung vs. Distanz erfasst: (1) Ich bin einfach eine Türkin, die in Deutschland lebt (invertiert), (2) Ich halte die türkische und deutsche Kultur getrennt (invertiert), (3) Ich fühle mich türkisch-deutsch und (4) Ich fühle mich als als Teil einer kombinierten Kultur. Mit der 4-Item-Skala Harmonie wird die Wahrnehmung von kultureller Kompatibilität vs. Konflikt erfasst: (5) Ich fühle mich zwischen der türkischen und deutschen Kultur hin- und hergerissen (invertiert), (6) Ich fühle mich wie jemand, der sich zwischen zwei Kulturen bewegt (invertiert), (7) Ich fühle mich im Konflikt mit der deutschen und der türkischen Art, Dinge zu tun (invertiert) und (8) Ich fühle mich nicht zwischen der türkischen und deutschen Kultur hin- und hergerissen. Die Teilnehmenden stuften jedes Item auf einer Skala von 1 (überhaupt keine Übereinstimmung) bis 5 (starke Übereinstimmung) ein. Die Wertungen der Items (1), (2), (5), (6) und (7) wurden invertiert und über die Skalen gemittelt (minimal: 1.0 bis maximal: 5.0). Ein hoher Wert (> 3.66) indiziert jeweils hohe, ein niedriger Wert (< 2.33) niedrige Blendedness bzw. Harmonie (genaue Grenzwert-Angaben wurde in keiner BII-Studie gefunden und daher selbst berechnet [Intervalllängen für niedrig – mittel – hoch: 4 : 3 = 1.33]). Ein BII-Gesamtscore wird berechnet, er indiziert das Ausmaß der Kompatibilität (BII ist hoch) bzw. Inkompatibilität (BII ist niedrig). Die BIIS-1-Komponenten wiesen in der Studie von Benet-Martínez und Haritatos (2005) akzeptable bis gute interne Konsistenz auf (αVermischung = 0.69 und αHarmonie: = 0.74) und korrelierten nicht miteinander (.02).

2.1.2.2 Personal Dimensions of Difference Scale.

Demografische Variablen wie Alter, Geschlecht, Religion, sozioökonomischer Status, ethnische Herkunft, Migrationsgeneration und Länge des Aufenthalts sowie multiple Gruppenzugehörigkeiten, Gruppen- und Ortbindung wurden mit den PDD-Skalen (Anhang C) erfasst. Die Gruppenidentität wird über die Frage Wie stark identifizieren sie sich mit dieser Gruppe?, soziales Empowerments über Wie stark ist das Ausmaß an persönlicher Kraft und Energie, die Sie durch diese Gruppenzugehörigkeit erhalten? und wahrgenommene soziale Unterstützung über Wie hoch ist das Ausmaß an Unterstützung und Anerkennung, die Sie durch die Gesellschaft in Bezug auf diese Gruppenzugehörigkeit erhalten? auf einer Skala von 1 (gar nicht identifiziert) bis 7 (sehr stark identifiziert) bewertet. Die PDD-Skalen wiesen in einer Studie von Dunbach (1997) nach Faktorenanalysen ingesamt akzeptable bis sehr gute interne Konsistenzen auf (Gruppenidentität: .69, soziales Empowerment: .79 und soziale Unterstützung: .89). Die Retest-Reliabilitäten mit 86 Personen nach 3 Wochen waren .78, .72 und .74. Der Fragebogen wurde modifiziert: ein Item zum Familienstand und eine offene Frage zum Migrationsgrund wurde hinzugefügt sowie das Item ‘Berlin-Kreuzberg’ den Fragen zur Gruppenbindung hinzugefügt. Zwei Items wurden nicht erfasst: Rasse und sexuelle Orientierung. Nur europäische Ethnien wurden aufgelistet.

2.2 Stichprobenkonstruktion

Zielgruppe waren Menschen mit Migrationshintergrund aus Berlin-Kreuzberg. Verschiedene Akteure im Kiez wie die Wohnungsbaugenossenschaft Am Ostseeplatz eG, Quartiersmanagement, Migrationsrat, die Integrationsbeauftragte von Friedrichshain-Kreuzberg, verschiedene Familien- und Kulturzentren, Begegnungsstätten sowie Kontakt- und Beratungsstellen für Migrant_innen wurden per E-Mail, telefonisch und persönlich kontaktiert. Zusätzlich wurden in einigen dieser Kontaktstellen und im Kiez Flyer ausgelegt bzw. aufgehängt und die Internetseite www.picturesofidentity.com mit Kontaktmöglichkeiten, Informationen und Terminen online gestellt (Anhang D-H).

2.3 Setting

Zwei Fokusgruppentreffen und drei Photo-Besprechungstermine fanden in den Räumen der Wohnungsbaugenossenschaft Am Ostseeplatz eG statt. Informationssession, Photo-Workshop und Ausstellung fanden in der Galerie Zeitzone e.V. in der Adalbertstraße in Berlin-Kreuzberg statt. Die Teilnehmenden photographierten in Kreuzberg.

2.3.1 Berlin-Kreuzberg.

Kreuzberg ist ein Ortsteil im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Bis 2001 war Kreuzberg eigenständig und unterteilte sich in Kreuzberg 61 und SO 36. Bis ca. 1989 führte Kreuzberg durch seine Randlage an der Berliner Mauer ein wirtschaftliches Nischendasein. Aufgrund einer geplanten Autobahn durch den Stadtteil wurde die Bausubstanz nicht erhalten und bot preiswerten Wohnraum. SO 36 wurde seit 1960er stark durch die Zuwanderung von vor allem türkischen Gastarbeitern und deren Nachkommen geprägt. In den 1970 - 80er Jahren galt SO36 als Zentrum der Alternativbewegung und der Hausbesetzerszene. In den Bezirken Kreuzberg, Tiergarten und Wedding verhängte der Berliner Senat 1975 ein Zuzugsverbot für Ausländer, da diese Bezirke als ausländerüberlastet galten. 2010 hatten 71,6 % der Bewohnerschaft in SO36 einen Migrationshintergrund. SO 36 gilt als sozialer Brennpunkt durch hohe Arbeitlosigkeit. Fast 50% der Bewohner_innen beziehen Transferleistungen. Der Bildungsstand ist niedrig, zum Straßenbild gehören Drogenabhängige und Obdachlose. SO 36 wurde wegen seiner demographischen Besonderheiten zum Szeneviertel und ist Standort vieler Gewerbetreibender, Gastronomie und kreativen Firmen. Die Bevölkerungsstruktur verändert sich in den letzten Jahren stark durch Gentrifizierungseffekte (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, n.d.; Lang, 1996).

2.4 Durchführung der Studie

Nach der Teilnehmer-Rekrutierung und Vorbereitung des Photo-Workshops und der Fokusgruppen fand die Photovoice-Informationssession statt. Eine circa dreiwöchige Photographierphase folgte mit drei Besprechungsterminen, an denen erste Photos besprochen werden konnten. Photos wurden der Forscherin per E-Mail zu gesendet oder bei den Zwischenbesprechungen übergegeben. Jeweils drei Tage vor den Fokusgruppenterminen erhielten die Teilnehmenden per E-Mail eine Photo-Reflexion (Anhang N; die einzelnen Reflexionen wurden nicht ausgewertet). An den Fokusgruppenterminen präsentierten die Teilnehmenden je zwei bis vier Photos und die Gruppe diskutierte über die Photos. Anschließend wurden die quantitativen BIIS-1- und PDD-Daten erhoben. Nach Beendigung der Studie ca. 10 Wochen später wurden je zwei der in den Fokusgruppen präsentierten Photos pro Person in einer Ausstellung gezeigt (zeitlicher Ablauf siehe Tabelle A1, Anhang I; photographische Dokumentation der Ausstellung siehe Anhang Q).

2.5 Auswertung

Um Photovoice als Datenerhebungmethode zu evaluieren, wurden zunächst die qualitativen Aussagen der Teilnehmenden von der Forscherin nach den BII-Komponenten Blendedness und Harmonie eingestuft und mit dem quantitativen BIIS-1-Ergebnissen verglichen. In zwei Analyseschritten wurde zwischen den Aussagen der Photopräsentations-Sequenzen und sich frei entfaltenden Diskussions-Sequenzen unterschieden. So wurde der spezifische Photovoice-Output – zentrale Themen, die im Gruppengespräch gemeinsam definiert werden – differenziert betrachtet. In zwei weiteren Analyseschritten wurden aus der Kombination von qualitativen und quantitativen Daten personale versus soziale Identität, Gruppen- und Ortsbindung sowie privater und sozialer Raum analysiert. Danach wurden zentrale Identitäts-Aspekte der qualitativen Befunde aus einer sozial-ökologischen Perspektive zusammengefasst. Abschließend folgte die inhaltsanalytische Extraktion eines Themas aus der Kombination qualitativer und quantitativer Daten. Dieser Auswertungsprozess umfasste sechs iterative Phasen: (1) Nach Bedeutungen und Mustern suchen, (2) viele und inklusive Datenextrakte kodieren, um die Semantik und den Kontext zu erhalten, (3) Kodierungen in Beziehung setzen, in bedeutungsgleiche Gruppen und Dimensionen organisieren und in Themen und Subthemen strukturieren, (4) Themen und Subthemen verfeinern, indem Kohärenz und Akkuratheit der gefundenen Repräsentationen anhand der Rohdaten überprüft und ggf. modifiziert wird, (5) intern konsistente und distinkte Themen und Subthemen definieren und benennen, (6) eine Beschreibung verfassen und in den Gesamtzusammenhang der Forschungsfrage stellen (eine ausführliche Beschreibung siehe Braun & Clark, 2006). Die Fokusgruppen-Transkripte wurden mit der Software MAXQDA kodiert und der Kodiervorgang wurde im Sinne höherer Transparenz und Nachvollziehbarkeit nach den folgenden Regeln standardisiert: (1) Als Analyseeinheit sollen alle inhaltstragenden und für die Fragestellung relevanten Textstellen (Wort, Satz oder Abschnitt) der Transkripte der Fokusgruppen markiert werden, (2) zwei im Wortlaut identische Aussagen einer Person sollen nicht kodiert werden, (3) inhaltstragende Textstellen, die durch thematisch abweichende Aussagen während einer Aussagesequenz durch dieselbe Person unterbrochen sind (zum Beispiel durch Abschweifen, Aussagesprünge), werden als eine Einheit zusammengefasst und die abweichende Aussage getrennt kodiert und (4) inhaltstragende Textstellen, die sich sinngemäß wiederholten, aber in unterschiedlichen Aussagesequenzen derselben Person vorkommen, werden mehrfach kodiert.

3 Ergebnisse und Befunde

3.1 Stichprobe

Zwölf Personen aus Kreuzberg nahmen an der Informationssession und dem Photoworkshop teil, davon nahmen sieben Personen Photos auf. Da Photos unabhängig von Fokusgruppendiskussionen nicht als valide betrachtet wurden, wurde eine Person von den weiteren Analysen ausgeschlossen. Sechs verbleibende Teilnehmenden nahmen an einer von zwei je circa zweistündige Fokusgruppen teil. Die Teilnehmenden lebten seit 1, 10, 12, 28, 30 und 32 Jahren in Kreuzberg, ihr Alter betrug 33-67 Jahre, Med = 42.5. Vier Personen waren weiblich, zwei männlich und kamen aus dem europäischen Ausland. Zwei Frauen und ein Mann kamen aus der Türkei, eine Frau und ein Mann aus Polen und eine Frau aus Griechenland. Fünf Personen gehörten der ersten und eine der zweiten Migrationsgeneration an. Gründe für eigene bzw. die Migration der Eltern waren Familienzusammenführung, Studium, Beruf und Finanzen, Flucht sowie Politik und Neugierde. Zwei Teilnehmende gehörten einer Religion an (orthodoxes Christentum und Islam), davon war eine Person in einer religiösen Gruppe aktiv. Um Anonymität zu gewährleisten, wurden die Namen der Teilnehmenden mit Buchstaben kodiert: TA, TB, TC, TD waren die Teilnehmerinnen und TE und TF die Teilnehmer. Die beiden Photovoice-Sequenzen wurden mit EP für die Einzelpräsentation und FGD für die Fokusgruppendiskussionen gekennzeichnet. Um den Bedeutungszusammenhang zu erhalten, wurden Zitate ausführlich widergegeben. Nicht zitierte Auslassungen einer Aussagesequenz wurden im folgenden Text durch (…) bzw. (.…) gekennzeichnet. Aussagen, in den die Teilnehmenden Persönlichkeitsmerkmale reflektierten, wurden nicht analysiert.

3.2 Evaluierung von Photovoice als Datenerhebungsmethode

Nachdem die Forscherin die Aussagen (siehe Transkript, Anhang P) der Photo-Präsentationen nach BII-Gesamttendenz und BII-Komponenten eingestuft hatte, verglich sie diese Einschätzungen mit den Ergebnissen des BIIS-1-Skalen. Kriterium für die Einschätzung waren ungewichtete Häufigkeiten von inhaltlichen Aussagen. Die Vergleiche der BII-Einschätzungen mit den BIIS-1-Werten bildeten einen Teil der Gesamtauswertung und waren nicht zentral für die Fragestellung dieser Studie. Deswegen wurde auf ein komplexes Gewichtungssystem, welches beispielsweise Tiefe und Breite einer Aussage, Abstraktionsgrad u. ä. berücksichtigt hätte, verzichtet.

3.2.1 Analyse der Einzelpräsentationen der Photos in den Fokusgruppen.

War unklar, ob sich die Teilnehmenden ausschließlich auf ihre bikulturelle Identität bezogen, so erfolgte die Einschätzung danach, als hätten sie sich darauf bezogen. Pro Teilnehmer zusätzlich genannte Identitätsaspekte wurden aufgeführt und positivierend (+1) bzw. negativierend (-1) für die entsprechende Komponente gewertet, alle Wertungen wurden aufsummiert. Danach wurde Harmonie bzw. Blendedness wie folgt eingestuft: Ab zwei positiven Wertungen wurde eine Komponente als hoch eingestuft und entsprach einem BIIS-1-Wert von > 3.66, ein mittlerer Wertungsbereich entsprach 0-1 und dem BIIS-1-Wertungsbereich 2.34 - 3.65. Die Einstufung als niedrig entsprach allen Negativ-Wertungen und einem BIIS-1-Wert von < 2.33 (Grenzwerte-Berechnung siehe Seite 23).

TA_EP. TA brachte zuerst ein Photo ein, auf dem ein Bereich ihres WG-Zimmers mit Erinnerungs-Photos von Familie, Orten und Freunden sowie gemalten Bildern aus der Studienzeit in Deutschland und ein türkischer Teppich zu sehen waren. Den hohen emotionalen Wert eines türkischen Tisches hob sie durch ausführliche Schilderung besonders hervor und beschrieb durch diese Gesamtinszenierung in ihrem persönlichen Raum hohe Integration ethnischer (hohe Blendedness) und anderer Identitätsaspekte (hohe Blendedness). Deutlich wurde, dass sie harmonische interkulturelle Beziehungen erlebte (hohe Harmonie):

Ich wohne in einer WG mit einer Freundin zusammen, also ich bin mit ihr befreundet, seitdem ich mit ihr zusammen wohne. Kommt aus Mainz. Und das ist mein Zimmer, das ist eine Ecke in meinem Zimmer. Es zeigt meine Identität (…) Bilder von meiner Familie, von Orten, wo ich gewesen bin, Geschenke, von einem Mädchen, die ich jahrelang gebabysittet habe und der Teppich ist wirklich aus der Türkei, auch den Tisch habe ich in der Türkei gekauft und mit meinem Großvater (…) ausgesucht. Den Stuhl hab ich zum Diplom bekommen, die Bilder sind auch noch aus der Studienzeit, da sind Freunde, Familie drauf (.…) mit sowas bin ich auch aufgewachsen und deshalb wollte ich so einen Tisch auch selber wieder haben. (TA, 2014, S. 1-2)

und “Das hat sowas wie einen Altarcharakter” (TA, 2014, S. 2). Als nächstes präsentierte TA ein Photo einer Solidaritätsdemonstration gegen das brutale Vorgehen der Regierung Erdogans im Istanbuler Gezi-Park und machte damit hohe Identifikation mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und Orientierung an der Aufnahme-gesellschaft (hohe Harmonie) sowie Konflikte mit ihrer ethnischen Identität durch die Beschreibung rigider Machtpolitik in der Türkei deutlich (niedrige Harmonie):

Eigentlich hab ich überhaupt ein Demobild genommen, weil ich das Recht, auf die Straße zu gehen, erst in Deutschland kennengelernt habe seit ich älter bin. Dies war eine Solidaritäts-Demo mit den Leuten im Gezi-Park (.…) Das ist das eine, das andere ist meine politische Gesinnung: ich finde es nicht ok, wenn es jemanden gibt, der Journalisten und Intellektuellen den Mund verbietet. Da wurde so hart vorgegangen (…) Ich stelle schon oft in Frage, was ich in den Nachrichten höre, der eine schreibt es so, der andere so, das wird verklärt. Aber wenn ich ein Mensch, dem ich bedingungslos vertraue, mir das aus erster Hand beschreibt, dann möchte ich auch meiner Wut auf die Art und Weise Gehör verschaffen. (TA, 2014, S. 10)

Zusammenfassend beschrieb TA ihre bikulturelle Identität mit zwei Aussagen als harmonisch aufgrund harmonischer Beziehungen und der Identifizierung mit den Werten einer Kultur, was mit höherer erlebter BII-Harmonie verbunden war. Andererseits beschrieb sie eine konflikthafte Wahrnehmung mit ihrer ethnischen Identität (mittlere Harmonie-Komponente: 2.34 - 3.65). TA erlebte hohe Vermischbarkeit ihrer Identitäten durch zweimalige Wertung der Inzenierung ihrer Gesamtidentität (mittlere Harmonie-Komponente: 2.34 - 3.65). Diese Ergebnisse wiesen auf einen eher mittleren BII-Gesamtscore (> 3.00) hin und entsprachen zum Teil den Ergebnissen der BIIS-1-Skalen (Harmonie: 3.25; Blendedness: 4.00, BII gesamt: 3.63).

TB_EP. TB präsentierte zuerst ein Bild der Oberbaumbrücke und beschrieb damit positive Verbundenheit zu Berlin und Kreuzberg und harmonische interkulturelle berufliche Beziehungen (hohe Harmonie) sowie wahrgenommene Vermischbarkeit verschiedener Identitäten (hohe Blendedness).

Eine Rheinländerin werde ich nicht. Vielleicht eine Berlinerin, obwohl mein Arbeitskollege zu mir sagt: du bist hier nicht geboren, du bist keine Berlinerin [Anmerkung der Forscherin: ein deutscher Arbeitskollege, beide hatten eine positive Beziehung zueinander]. Also, Kreuzberg ist was ganz Besonderes, für meinen Mann auch (.…) Für mich ist die Oberbaumbrücke schön. Weil da viele Geschichten von früher sind, das interessiert mich. Und die Mauer daneben (.…) Die Brücke, mit diesen Steinen, auch mit der gelben U-Bahn, jedes Mal, wenn ich hingehe, mache ich ein Photo. Das ist was Schönes, auch für meinen Mann, was Besonderes. (TB, 2014, S. 3-4)

Mit der Präsentation dieses und des zweiten Photos definierte TB die subjektiv hohe Bedeutung von Kreuzberg näher anhand der Darstellung eines Schriftzugs am ehemaligen NKZ-Hochhaus (Neues Kreuzberger Zentrum, heute: Zentrum Kreuzberg) am Kottbusser Tor. Der Schriftzug Kreuzberg-Merkezi [Anmerkung der Forscherin: türkisch für Zentrum von Kreuzberg ] und türkische Übersetzungen an weiteren öffentlichen Gebäuden vermittelten Respekt gegenüber Diversität und harmonischen interkulturellen Beziehungen in Kreuzberg, zweiteres beschrieb sie auch in Bezug auf ihr Berufsleben (hohe Harmonie und Blendedness). Sie grenzte andere Stadtteile, speziell Weißensee davon ab durch die Beschreibung konflikthaft erfahrener interkultureller Beziehungen durch Wahrnehmung von Mikroaggressionen gegen Türken (niedrige Harmonie und Blendedness): “Auf dieser Seite steht es auf Türkisch, das fand ich interessant, auch auf den Apotheken steht das auf Türkisch. So heimisch (.…) in unserem Büro in Weißensee haben sie gesagt: man wird da so mit Blicken angemacht (.…) Türken wollen auch nicht nach Weißensee” (TB, 2014, S. 11). TB beschrieb ihre bikulturelle Identität durch je zwei positive sowie eine negative Aussage als harmonisch und vermischbar und begrenzte beides auf ihr Leben in Kreuzberg (eher mittlere Harmonie-Komponente und Blendedness-Komponente: jeweils 2.34 - 3.65). Diese Ergebnisse wiesen auf einen eher mittleren BII-Gesamtscore hin und entsprachen den BIIS-1-Ergebnissen zum Teil (Harmonie: 1.50; Blendedness: 3.50, BII gesamt: 2.50). Die Einschätzung von Harmonie wich deutlich von dem BIIS-1-Wert ab.

TC_EP. TC präsentierte der Fokusgruppe zuerst ein Photo mit der Abbildung des Logos des deutsch-griechischen Chors Polyphonia. Sie beschrieb, wie sie neben der Integration beider ethnischen Identitäten (hohe Blendedness) auch die Integration ihrer künstlerischen und beruflichen Identität (hohe Blendedness) erfolgte. TC führte harmonische Integration beider Sprachen im Chorleben an (hohe Harmonie):

Das ist unser Logo von einem deutsch-griechischen Chor, er heißt Polyphonia. Das heißt Mehrstimmigkeit – sowohl in der Musik als auch in anderen Kontexten (…) es ist ein guter Chor, ich spiele dort Klavier und bin Assistentin des Dirigenten. Erstmal weil es ein Chor ist, für mich ist Musik zentral, ist auch mein Beruf (.…) Ich unterrichte Musik, habe studiert und einen Doktor gemacht. Im Chor singen auch Deutsche, die meisten haben was mit Griechenland zu tun. Es gibt drei, vier Nicht-Griechen, die mögen einfach diese Musik. Griechische Musik hauptsächlich, Volksmusik oder moderne, um die 40 Leute, halb Deutsch, halb Griechisch. Die Probe ist auf Deutsch und wir schreiben die Texte auf Deutsch-Griechisch. Einige können kaum/kein Griechisch, sie lernen das auswendig und singen das dann. Das ist bestimmt sehr schwer. Das Bild ist einerseits Musik und andererseits dieses Deutsch-Griechische. Meine Oma war deutsch und das war für mich lange nicht verständlich in der Schule, dass die Lehrerin mich nicht versteht, wenn ich was auf Deutsch sage. (TC, 2014, S. 4-5)

TC berichtete erhöhte Distanzwahrnehmung (niedrige Blendedness) zwischen beiden Kulturen mit zunehmendem konflikthaften, teilweise als diskriminierend empfundenen Erfahrungen im zwischenmenschlichen Miteinander in Deutschland (niedrige Harmonie): “Und ich habe erst jetzt, wo ich hier lebe, ein paar Sachen von der griechischen Kultur geschätzt, die ich vorher nicht geschätzt habe. Zum Beispiel, mir fehlt das Gefühl, die Leute sind nicht so offen” (TC, 2014, S. 5) und

Das finde ich in Griechenland anders (.…) Auch die negativen Gefühle werden in Griechenland ausgedrückt und das finde ich gut. Wenn du dich hier so benimmst, ist das natürlich komisch. Aber in Griechenland ist das so. Das ist direkter, ich kann dann besser verstehen, mit wem ich es tun habe und was er denkt. (TC, 2014, S. 5)

Das zweite Photo zeigte die Aussicht auf das Meer vor einer griechischen Insel, womit TC anhand der Methaphern Wasser und Meer eine Distanzwahrnehmung zur deutschen Kultur beschrieb (niedrige Blendedness):

Es ging ja um die Identität von zwei Kulturen. Es geht um Meer und Wasser, das ist für mich sehr wichtig. Natürlich ist Meer besser als ein Fluss, aber Fluss ist besser als gar nichts. Bisschen salzig ist noch besser, eigentlich mag ich die Ostsee nicht so gern, aber gut, jetzt habe ich die Ostsee. Dass das Meer auch so weit ist, das du weg kannst, dass du aber auch zurück kannst und dass du auch geschützt bist wenn du Wasser drumherum hast, auf einer Insel. So gefühlt geschützt. Früher war das so wie Schutz, heute ist das anders, da können sie auch von oben schießen. In Griechenland ist Essen sehr wichtig auch im Sinne von: Wir setzten uns an einen Tisch und entspannen uns … so Urlaub und Entspannung … finde ich hier nicht, aber das Gefühl, ein Nachmittag am Strand … (TC, 2014, S. 13)

Zusammenfassend beschrieb TC einmal harmonische und einmal konflikthafte bikulturelle Erfahrungen in Deutschland, was die Forscherin als mittlere Harmonie-Ausprägung einstufte (2.34 - 3.65). Aufgrund ihrer grundlegenden Integrationsstrategie verbunden mit zunehmender Distanzwahrnehmung stufte die Forscherin die Blendedness-Komponente ebenfalls auf ein mittleres Niveau ein (2.34 - 3.65). TC beschrieb hier zwei positive und zwei negative Wahrnehmungen. Diese Ergebnisse wiesen auf einen mittleren BII-Gesamtscore hin und entsprachen den Ergebnissen der BIIS-1-Skalen nur in Bezug auf den Gesamtwert (Harmonie: 1.50; Blendedness: 4.50, BII gesamt: 3.00).

TD_EP. TD präsentierte der Fokusgruppe zwei Photos: das erste zeigte die in ihren Pass eingestempelte zweijährige Aufenthaltserlaubnis für Deutschland mit Arbeitserlaubnis, Verbot für selbstständige Erwerbstätigkeit und einem Zuzugsverbot zu den Bezirken Kreuzberg, Tiergarten und Wedding aus dem Jahr 1989. Auf letzteren Stempel fokussierte TD und beschrieb ihren damaligen Status als Flüchtling. Die Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit wurde von TD als hochgradig diskriminierend (niedrige Harmonie) aufgrund des politischen Ausschlusses aus der Gesetzmäßigkeit der deutschen Gesellschaft und damit verbundener Verdrängung in die Illegalität wahrgenommen und war mit hoher Distanzwahrnehmung zwischen Fremden und der aufnehmenden Gesellschaft verbunden (niedrige Blendedness):

Weil man zum Beispiel nicht in bestimmte Stadtteile zuziehen durfte, das war ab 1985/86. Das war so eine Kopfgeburt von Leuten, die keine Ahnung haben (.…) Wenn ich sowas als ‘gut gemeint’ höre, erinnert mich das an den zweiten Weltkrieg und davor. Zuzug nicht gestattet (.…) Wir haben sogar eine Drohung bekommen vom Einwohnermeldeamt (.…) Das ist im Grunde eine Anstiftung zu Illegalität (.…) Aber eine Cleverness. Ich würde sagen, das ist Kriminalisierung. (TD, 2014, S. 7)

Sie illustrierte die fortwährend fremdenfeindliche deutsche Politik durch die vermeintliche Unfähigkeit der Bürgermeisterin des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg Frau Herrmann in Bezug auf Forderungen syrischer Flüchtlinge, die ein Protestcamp auf dem Oranienplatz in Kreuzberg errichtet hatten, um für mehr Rechte und Selbstbestimmung für Flüchtlinge in Deutschland zu demonstrieren (niedrige Harmonie): “Dann: Syrer auf dem Oranienplatz in Kreuzberg. Die Bürgermeisterin Herrman hat kein Rückrat, das ist wirklich schade. In Polen sagt man, sie ist zu schmal in den Ohren, d.h., sie schafft es einfach nicht. Man braucht eine bestimmte Stärke” (TD, 2014, S. 8). Das zweite Photo zeigte ihre Tochter mit einer Freundin während einer Solidaritätsdemonstration auf dem Oranienplatz. Sie beschrieb damit einerseits die für sie hohe Bedeutung von persönlichen Beziehungen (hohe Harmonie): “Das ist sehr wichtig, die Familie, zwischenmenschliche Kontakte sind für mich eigentlich das Wichtigste. Wir sind drei Frauen zu Hause. Wir haben viel Besuch. Das ist sehr wichtig” (TD, 2014, S. 13). Sie fokussierte jedoch auf das Thema des ersten Photos, indem sie ihre Situation mit der Situation ihrer Tochter verglich. Sie beschrieb die Situation dieser zweiten Migrationsgeneration als gleichberechtigter durch höhere rechtliche und gesellschaftliche Integration und vorurteilsfreier durch das Erleben von Diversität. TD unterstrich die höhere Distanz Ausländer versus Deutsche in ihrer Generation (niedrige Blendedness):

Die sind schon so multi groß geworden. Sie wissen von vielen Vorurteilen nicht mal. Es ist so ungezwungen. Mir ist der Gedanke wichtig, das sie freier leben können … meine Generation hat ja sehr viel Zeit verloren, bis wir in das normale Leben reinrutschen konnten, so zehn Jahre und für einiges ist es dann einfach zu spät, zum Beispiel Diplomanerkennung. Das kennt man ja von vielen Ausländern. Ich wollte für meine Töchter was ermöglichen. Ich könnte mich bei allem begrenzen, damit sie etwas für sie Wichtiges machen können. Das habe ich alles im Kopf. (TD, 2014, S. 14)

TD beschrieb ihre bikulturelle Identität hauptsächlich über Einflüsse der Makroebene. TD beschreib zweimal hohe Konflikte mit harmonisierenden Einflüssen auf der Mikroebene (niedrige Harmonie-Komponente: < 2.33) und zweimal hohe Distanz (niedrige Blendedness-Komponente: < 2.33). Diese Ergebnisse wiesen auf einen niedrigen BII-Gesamtscore hin und entsprachen tendenziell den Ergebnissen der BIIS-1-Skalen und bestätigten ebenso das BIIS-1-Muster mit einem höheren Harmonie- als Blendedness-Wert (Harmonie: 1.75; Blendedness: 1.00, BII gesamt: 1.38).

TE_EP. TE präsentierte insgesamt vier Photos. Das erste zeigte die Ansicht des Gemischtwarenladen für Revolutionsbedarf in Kreuzberg 36, in dem bis in die 1990er Jahre auch Produkte für politisch Autonome und deren Sympathisanten verkauft wurden. TE machte damit Identifikation mit freiheitlich demokratischen Werten der Aufnahmegesellschaft deutlich. Die Identifikation mit den Werten nur einer Kultur wurde von der Forscherin als hohe erlebte BII-Harmonie eingestuft (hohe Harmonie). TE hob das vielfältige Miteinander in Kreuzberg 36 in positiver Weise hervorhob (hohe Harmonie). Durch die explizite Einführung “Scheinbare Gegensätze” deutete sich zudem ein hoher Grad an Blendedness (hohe Blendedness) an:

Scheinbare Gegensätze. Das ist Ende 1990 (.…) Das ist das, was mich geprägt hat. Über 20 Jahre lang. Ich habe das schnell entdeckt, ich habe damit gelebt, das ist meine Ecke, ich habe dort gelebt. Ich habe den Besitzer gekannt, sehr interessante Figur (.…) Alles, was man für eine Demo brauchte und Literatur. Und vor allem alles ziemlich durcheinander, ziemlich chaotisch. Und das ist bestimmt ein Teil meiner Identität, was mich jahrelang geprägt hat und egal, ob ich aus der Distanz jetzt alles ironisch sehe, auch selbstironisch. (TE, 2014, S. 15-16)

Auf Nachfrage der Forscherin, ob das auch Teil seiner Identität in Polen gewesen sei, (Frisch, 2014, S. 16), erwiderte er: “Nein. Das war nur eine Traum, dem ich nachgelaufen bin” (TE, 2014, S. 16). Diese Aussagen wurden als konflikthafte Wahrnehmung der dualen Kulturen gewertet (niedrige Harmonie). Das zweite ergänzte das erste Photo. TE verdeutlichte daran, dass das erlebte harmonische und diverse Miteinander in Kreuzberg 36 für ihn sehr wichtig war: “Auf dem ersten Bild kommt eher das Sentimentale und eben Chaos rüber, deswegen habe ich das erste Bild gewählt” (TE, 2014, S. 16). Die Forscherin wertete diese Aussage als hohe Harmonie-Komponente (hohe Harmonie). Zudem intensivierte er diesen Aspekt durch die Beschreibung des dritten Photos, indem er sehr harmonisch erlebte interkulturelle und personale Beziehungen auch in seiner privateren Umgebung schilderte (hohe Harmonie). TE nahm zum anderen Distanz bzgl. seiner Identitäten Autonomer versus Familienvater wahr, was er als Distanzwahrnehmung zwischen Traum versus Realität integrierte (hohe Blendedness). Weiterhin stellte er klar, dass er sowohl positive als auch negative Vielfältigkeit in Kreuzberg schätze (hohe Blendedness):

So habe ich gewohnt: bürgerlich, kleinbürgerlich. Das gehört dazu. Dieses Bild ist Alltag, die anderen sind Traum. Da musste ich auch irgendwie durch. Das Leben war doch nicht anders. Das sind die Äußerlichkeiten, die täuschen. Gut, ich gehe zur Demo usw. und gehe nach Hause und wir kochen Mittagessen und dann müssen wir vielleicht mit der Tochter Märchen lesen. Was so scheinbar zu einem kleinbürgerlichen Leben gehört (….) Ich sehe keinen Konflikt, das sah für Andere so aus, die haben das als Konflikt empfunden. Jetzt bin ich hundertprozentig sicher. Andere Leute haben sich verraten. Hätte uns damals Joschka Fischer besucht, er wäre empört über unsere Kleinbürgerlichkeit. So war es: scheinbare Kontraste, im Grunde ist es, wie es sein muss: Alltag und Träume liegen nicht weit voneinander entfernt, aber doch (.…) In unserem Haus waren fünf von sieben verschiedener Nationalität. Die Türen standen offen. Der Rest ist nur eine Fassade. (TE, 2014, S. 21)

Mit dem vierten Photo unterstrich TE auf allegorische Weise die hohe Bedeutung von gelebter positiver und negativer Diversität in Kreuzberg 36 aus interpersonaler Ebene (hohe Harmonie) sowie das Bestreben, unterschiedliche Jugendliche bzw. generell Unterschiede zu integrieren (hohe Blendedness):

(…) das ist die Kindergärtnerin (.…) Sie waren so engagiert, nicht als eine Arbeit, sie waren bei uns Zuhause, sie haben nie geschimpft, sie haben oft länger gearbeitet, mit Lust. Ich habe mich dazu entschieden, nie für Geld zu arbeiten, wenn es kommt, ist gut. Ich habe versucht, das zu machen, was ich für richtig hielt (.…) Wir haben ein Feriencamp in den Bergen mit ganz verschiedenen 100 Jugendlichen gemacht: Glatzen, Polen aus Groß- und Kleinstadt, Kinder aus Berlin-Mitte, Türken. Uns ging es um Unterschiede. Sie sollten so weit wie möglich voneinander entfernt, so unterschiedlich wie möglich sein. Auch um es uns selbst zu beweisen, dass es geht und die Barrieren nur in unseren Köpfen sind. Die Jugendlichen versuchten, sich dort durchzusetzen und wir als Pädagogen haben versucht, die Möglichkeiten zu schaffen, damit sie sich entfalten können. (TE, 2014, S. 26)

Zusammenfassend beschrieb TE das Erleben seiner dualen Identitäten durch fünf positive und eine negative Aussage als sehr harmonisch (hohe Harmonie-Komponente: > 3.66) und durch vier positive Aussagen als sehr integriert (hohe Blendedness-Komponente: > 3.66). Beide Einschätzungen bezogen sich auf sein Erleben im Bezirk Kreuzberg 36 und nicht ausschließlich auf Bikulturalität. Die Ergebnisse wiesen auf einen hohen BII-Gesamtscore hin und entsprachen den Ergebnissen der BIIS-1-Skalen (Harmonie: 4.25; Blendedness: 4.50, BII gesamt: 4.38).

TF_EP. TF präsentierte drei Photos. Das erste zeigte eine Innenansicht der Markthalle Neun in Kreuzberg. TF illustrierte daran deutlich hohe Orientierung an den Werten der Aufnahmekultur, was mit höherer erlebter BII-Harmonie assoziiert war (hohe Harmonie). Er grenzte das gleichberechtigte, demokratische, offene und vielfältige öffentlichen Leben in Kreuzberg (hohe Harmonie und Blendedness) von dem isolierten öffentlichen Leben seines Herkunftslandes und dem in Spandau ab (niedrige Harmonie und Blendedness):

(…) ich habe so eine Form des Zusammenlebens gesucht. Gleichberechtigt, demokratisch, offen (.…) Also, öffentliche Plätze, das gab es in Spandau eigentlich nicht. Es gab auf jeden Fall keine türkischen Vereine, Cafés, nur ein Obstladen und zwei türkische Cafés für die Erwachsenen, wir dürften da nicht hin, da saßen nur erwachsene Männer. Wir waren dann im Park. Als ich dann junger Erwachsener war, hat mir das irgendwie nicht gereicht und ich kam öfter mit Freunden nach Kreuzberg (.…) In Spandau war damals eher jeder unter sich, isolierter. (TF, 2014, S. 20)

Mit dem zweiten Photo unterstrich TF diese Aussagen bezogen auf seinen Arbeitsplatz. Es zeigte eine Innenansicht der Werkstatt, in der TF arbeitet. TF hob die Verwirklichung der Werte Gleichberechtigung, Demokratie, Offenheit hervor und die hohe subjektive Bedeutung der Möglichkeit zu Selbstverwirklichung, was auf die Integration verschiedener Identitätsaspekte hinwies (hohe Harmonie und Blendedness).

[...]

Ende der Leseprobe aus 156 Seiten

Details

Titel
Pictures of identity. Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin-Kreuzberg explorieren ihre Identität
Untertitel
Eine Photovoice-Studie
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1.3
Autor
Jahr
2014
Seiten
156
Katalognummer
V282474
ISBN (eBook)
9783656769460
ISBN (Buch)
9783656769453
Dateigröße
34483 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bikulturelle Identität, Hybridität, Mixed-Method, Ortsbindung, Photovoice, Identität, Kompatibilität
Arbeit zitieren
Andrea Frisch (Autor:in), 2014, Pictures of identity. Menschen mit Migrationshintergrund in Berlin-Kreuzberg explorieren ihre Identität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/282474

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