Solo-Wandern. Pädagogische Möglichkeiten des Allein-Unterwegsseins im Jugendalter


Masterarbeit, 2013

85 Seiten, Note: 12


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffliche Klärung von Bildung und Jugend und daraus resultierende pädagogische Konsequenzen
2.1 Wasist Bildung?
2.2 Lebensphase Jugend
2.3 Konsequenzen für die Pädagogik

3. Pädagogische Möglichkeiten des Wanderns
3.1 Zum Wanderbegriff
3.2 Jugend und Wandern - ein Einblick in die Wanderforschung
3.3 Bedeutung der Bewegung des Gehens
3.3.1 Bewegung und Bildung
3.3.2 Das Gehen
3.4 Abenteuerlich: der Aufbruch ins Fremde
3.5 Zeit und Langsamkeit im Wandern
3.6 Naturerfahrungen beim Wandern
3.7 Schlussfolgerungen: pädagogische Möglichkeiten des Wandems
3.7.1 Bildungsmöglichkeiten
3.7.2 Wandern im Lebensweltbezug Jugendlicher?
3.7.3 Hinweise zur pädagogischen Praxis und kritische Überlegungen

4. Pädagogische Möglichkeiten des Solos
4.1 Das Solo als Methode in der Erlebnispädagogik
4.2 Zur Begrifflichkeit des Wortes „Solo“
4.3 Bedeutung von Einsamkeit
4.4 Bedeutung des Allein-Seins für das Jugendalter
4.5 Schlussfolgerungen: pädagogische Möglichkeiten des Solos
4.5.1 Bildungsmöglichkeiten
4.5.2 Solo im Lebensweltbezug Jugendlicher?
4.5.3 Hinweise zur pädagogischen Praxis und kritische Überlegungen

5. Zusammenführung: pädagogische Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Solo-Wanderns und Ausblick für weitere Überlegungen
5.1 Bildungsmöglichkeiten des Solo-Wandems
5.2 Solo-Wandem im Lebensweltbezug Jugendlicher?
5.3 Hinweise zur pädagogischen Praxis und kritische Überlegungen
5.4 Weiterführende Diskussionsanregungen

6. Schluss: Zusammenfassung und Fazit

7. Literatur
7.1 Literaturverzeichnis
7.2 Weiterführende Literatur

8. Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Dankesworte

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die mich tatkräftig und emotional bei der vorlie­genden Arbeit unterstützt haben.

Ganz herzlichen Dank an Dr. Mike Pott-Klindworth, der mir geholfen hat, dieses Thema zu finden und meine Arbeit überhaupt starten zu können.

Dank auch an Susanne Walofsky und Felix Brehm, die in stundenlanger Fleißarbeit meine Arbeit Korrektur gelesen, Bandwurmsätze entschachtelt und in jeden Absatz ein „Warum“ geschrieben haben.

Aber auch die emotionale Unterstützung meines Umfeldes soll nicht vergessen sein: Herz­lichen Dank erneut an Felix Brehm, der sich viel Geschimpfe und verzweifelte Worte von mir anhören musste und mir trotz allem mit praktischen Tipps weitergeholfen und mich durch Mittags-, Paddel- oder Kletterpausen neu motiviert hat. Dank auch an meine Mitbe­wohnerinnen vom Tww5, die mich in der heißen Schreibphase nach den langen Tagen in der Bibliothek mit leckerem Abendessen und entspannten Gartengesprächsrunden wieder aufmunterten und Kraft gaben, die mir hundert Wege in Bibliotheken ersparten und mir Dinge hinterhertrugen, die ich im stumpfen Arbeitstrott vergessen hatte. Eine große Ent­schuldigung geht jedoch an meinen Hund Mogli, der sich ebenfalls durch die langweiligen und heißen Stunden in der Bibliothek kämpfen musste.

1. Einleitung

Bei vielen Menschen ist die Meinung vorherrschend, dass Wandern ein langweiliger Natur­sport sei, der zwar mit zunehmendem Alter interessant werde, aber keinesfalls für Jugend­liche relevant sei. Es fehle das Abenteuerpotential. Rainer Brämer (2007) belegt dies in seiner „Jugendstudie Wandern ’07“ und stellt fest, dass der biografische Tiefpunkt der Wanderlust gerade in der Pubertät zu finden ist. Trotzdem taucht das Wandern in der (er­lebnis-) pädagogischen Praxis und Literatur immer wieder als sinnvolles Medium in der Arbeit mit Kindern und auch Jugendlichen auf. Es scheint einen allgemeinen Konsens über dessen positive Wirkung auf Bildung zu geben. So betont Rainer Brämer (2007) trotz ju­gendlicher Wanderabneigung die Bildungswirkung des Wandems, da eine geistige, emoti­onale und körperliche Auseinandersetzung mit der Natur ermöglicht werde (vgl. Brämer 2007, S.2). Auch die pädagogische Fachzeitschrift erleben & lernen vom ZIEL Verlag widmete 2005 das Doppelheft 3&4 der Wanderthematik mit Artikeln über das Wandern mit Kindern und Jugendlichen. Stefan Fuhrmann nimmt die Wirkung des Wandems in sei­ner Diplomarbeit 2009 „Wandern in der Pädagogik. Zur Konzeptualisierung eines Medi­ums zur Stärkung basaler Fähigkeiten von Jugendlichen “ ebenfalls unter die Lupe und untersucht besonders die Förderung von Reflexionsfähigkeit durch das Wandern. Literatur wie diese, die sich konkret auf die Wirkung des Wandems unter Rücksichtnahme der Be­sonderheiten der Phase Jugend- und frühes Erwachsenenalter konzentriert, scheint jedoch die Ausnahme zu sein. Zudem werden in der Literatur zwar einzelne Aspekte, die Auswir­kungen auf Bildung haben können, angesprochen aber kaum miteinander in Zusammen­hang gebracht, wodurch Wissenslücken bleiben. Insgesamt wirken bisherige Untersuchun­gen zum Thema noch unvollständig. Durch die Verknüpfung verschiedener Aspekte wird in der vorliegenden Arbeit versucht, einige Lücken zu schließen oder zumindest zu ver­kleinern.

In der pädagogischen Literatur wird das Wandern oft als Methode betrachtet, die, wenn überhaupt, gerade bei Jugendlichen eher in der Gruppe, mit Peers oder Familie und natür­lich unter Aufsicht von PädagogNnnen[1], stattfindet. So räumen beispielsweise Brämer (1998), Fuhrmann (2009) oder Kanz (2013) dem gemeinsamen Wandern eine große Bedeu­tung für das soziale Lernen ein. Allein zu sein scheint dagegen gesellschaftlich negativ konnotiert (vgl. Maxted 2005, S.127). Jugendliche, die sich zurückziehen, werden eher als problematisch gesehen. Dabei verbringen Jugendliche, wie Larson (1997) feststellt, einen Großteil ihrer wachen Zeit allein und suchen Alleinzeiten sogar bewusst auf. Dies lässt vermuten, dass das Allein-Sein und die dabei stattfindende Auseinandersetzung des Indivi­duums mit der Welt Bildungspotentiale bietet, die für die Entwicklung von Jugendlichen von Bedeutung sind. Bestätigt wird diese Vermutung durch einen Blick in die erlebnispä­dagogische Literatur zum Thema Solo. Grundlagenwerke wie beispielsweise Heckmair (2013),,Erleben und Lernen. Einführung in die Erlebnispädagogik“ oder Bimthaler (2010) ,,Praxisbuch Erlebnispädagogik“ thematisieren die pädagogische Umsetzung von Solozei­ten, da ihre positive Wirkung offensichtlich scheint. Wo genau aber liegen diese Bildungs­möglichkeiten und was wirkt da genau wie und warum? Welche Bedeutung können Allein­zeiten für die Bildung und Entwicklung von Jugendlichen haben? Welche Vor- und Nach­teile ergeben sich im Gegensatz zu anderen pädagogischen Methoden? Diese Fragen wer­den in der Literatur noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Die Wirkung von Solozeiten scheint zwar wahrgenommen, die Frage nach den Wirkmechanismen jedoch vernachlässigt zu werden. Die Notwendigkeit, dem nachzugehen und zu versuchen diese Lücken zu schließen, ist deutlich. Die Möglichkeiten des gemeinsamen Wandems werden deshalb im weiteren Verlauf dieser Arbeit bewusst außer Acht gelassen und der Fokus stattdessen auf das Allein - Unterwegssein gerichtet.

Aus soziologischer Sicht ist die Betrachtung einer Methode, in der die Präsenz des*r Pädagogen minimiert ist, interessant. In der vorliegenden Arbeit wird eine Haltung vertre­ten, wie sie beispielsweise bei Hungerland (2008) oder Schultheis (2005) diskutiert wird. Kinder und Jugendliche werden als gesellschaftliche Akteur*innen betrachtet, deren Ent­scheidungen und Forderungen als wertvoll anerkannt und unterstützt werden müssten. Auch wenn sie gesellschaftliche Regeln noch lernen müssten, seien sie dazu in der Lage, selbst über Bildungsinhalte zu entscheiden. Die in der vorliegenden Arbeit verwendete Sicht von Bildung, die vom Individuum ausgeht und die Pädagog*innen als unterstützende Begleitung betrachtet, lässt die Frage aufkommen: Welche Bildungsmöglichkeiten kann eine Methode bieten, in der keine dauerhafte (sichtbare) Kontrolle besteht, die das Handeln von Jugendlichen lenkt und beeinflusst?[2]

Sowohl Wandern als auch das Allein-Sein werden pädagogisch verwendet, die wissen­schaftliche Auseinandersetzung mit ihnen scheintjedoch noch viele Fragen offen zu lassen. Einige davon sollen in dieser Arbeit beantwortet werden. Das eigentliche Interesse liegt jedoch in der Zusammenführung beider Themen: Die Hypothese dieser Arbeit ist, dass die Möglichkeiten, die im Wandern und im Allein-Sein stecken, sich gegenseitig positiv beein­flussen und damit intensivere Erfahrungen und bedeutsamere Bildungschancen möglich machen. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass die Kombination aus Wandern und Allein-Sein eine Auseinandersetzung mit der Welt fordert, die gerade für Jugendliche be­sonders wertvoll sein kann. Gerade in dieser Lebensphase sind Themen wie Selbstbe­stimmtheit, Identität oder gesellschaftliche Entwicklungsanforderungen bedeutsam und könnten im Solo-Wandem auf eine besondere Weise aufgegriffen und bearbeitet werden.

Das Ziel dieser Arbeit ist deswegen die Beantwortung der Frage nach den Bildungspotenti­alen des Solo-Wandems im Jugendalter sowie die Darstellung dessen Grenzen und Gefah­ren. Die Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden sollen, wären für die Pädagogik wich­tig, um die Verwendung des Wandems oder des Solos reflektiert begründen zu können. Sie könnten weiterhin genutzt werden, um in darauffolgenden Schritten eine erlebnispädagogi­sche Methode aus ihnen abzuleiten, die Jugendliche in besonderer Weise in ihrer Bildung und Entwicklung unterstützt. Zudem braucht die Gesellschaft, um sich entwickeln zu kön­nen, selbstbestimmte Menschen, die ihre Umwelt aktiv gestalten und nicht nur reproduzie­ren. Eine erlebnispädagogische Maßnahme, die Selbstbestimmtheit vermutlich in großem Ausmaß fördert, könnte auch hier positiven Einfluss haben.

Da es bereits verschiedene aktuelle Theorien und Konzepte gibt, die sich mit einzelnen Aspekten des Wandems und des Solos befassen, diese aber bisher kaum miteinander in Zusammenhang gebracht wurden, soll die Forschungsfrage durch eine Aufarbeitung und Verknüpfung dieser Theorien und Konzepte beantwortet werden. Dabei erfolgt eine Orien­tierung an Theorien, die sich im aktuellen Diskurs bewegen und vorwiegend aus dem deut­schen Sprachraum stammen.

Für die Untersuchung werden zunächst die zentralen Begriffe Bildung und Jugendphase und die aus ihnen resultierenden gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungsanfor­derungen geklärt, um daraus einen Auftrag für die Pädagogik abzuleiten. Dieser ist wichtig, um eine grundlegende und einheitliche pädagogische Auffassung zu definieren und darzu­legen, was durch Solo-Wandem überhaupt erreicht werden soll. Anschließend werden die zwei Themenbereiche Wandern und Solo getrennt voneinander untersucht und deren päda­gogische Möglichkeiten herausgearbeitet. Da bisher kaum Literatur zum Allein-Wandem vorhanden ist, soll die Trennung beider Themen für Klarheit und Struktur sorgen, um am Ende die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Wandern und Solo nachvoll­ziehen zu können. Zum Themenbereich Wandern wird daher zunächst der Wanderbegriff definiert und anhand der ,,Jugendstudie Wandern '07. Aus--Lauf-Modell? “ von Rainer Brämer (2007) die Einstellung deutscher Jugendlicher zum Wandern aufgezeigt. Anschlie­ßend werden die verschiedenen Aspekte, die beim Wandern eine Rolle spielen und deren Wert für Bildung in Bezug auf die Besonderheiten der Lebensphase Jugend untersucht. Dazu zählen das Gehen, das Unterwegssein, Zeit- und Naturerfahrungen. Um die pädago­gischen Möglichkeiten des Solos herauszuarbeiten, wird zunächst das Solo als Methode, wie es in der Erlebnispädagogik verwendet wird, beschrieben, um dann in einer Abgren­zung dazu weiter in die Tiefe zu gehen. Damit soll eine offene Bearbeitung ermöglicht werden, die möglichst viele Aspekte aufgreift, ohne sich von pädagogischen Denkweisen eingrenzen zu lassen. Es werden die verschiedenen Begriffe, die eine Beschäftigung mit dem Solo aufwirft, aufgegriffen, um dann konkret auf das Phänomen der Einsamkeit und dessen Bedeutung für Jugendliche einzugehen. Anschließend erfolgt eine Rückführung zur Pädagogik. Möglichkeiten, Diskussionspunkte und Leistungsanforderungen an die Pädago­gik sollen formuliert werden. Die verschiedenen Aspekte die beim Wandern und im Solo eine Rolle spielen, können aufgrund der begrenzten Zeit und des begrenzten Umfangs die­ser Arbeit oft nur grundlegend in ihren Hauptpunkten bearbeitet werden. Trotzdem sollen möglichst viele Aspekte aufgegriffen werden, um der Vieldimensionalität und Komplexität des Themas gerecht werden zu können.

Am Ende der Arbeit sollen schließlich beide Teile zusammengeführt werden, indem die zunächst getrennt erarbeiteten pädagogischen Möglichkeiten miteinander verknüpft und auf wechselseitige Wirkung in Bezug auf Bildung für Jugendliche untersucht werden. Am En­de soll dem*r Leser*in dieser Arbeit bewusst sein, dass die pädagogischen Möglichkeiten des Solo-Wandems unter Berücksichtigung eventuell erkannter Gefahren als bedeutend genug erachtet werden, um eine darauf aufbauende pädagogische Verwendung oder weiter­führende Untersuchungen zu rechtfertigen.

2. Begriffliche Klärung von Bildung und Jugend und daraus resultieren­de pädagogische Konsequenzen

In diesem Teil soll zunächst die theoretische Grundlage für alle weiteren Überlegungen zu Bildungschancen des Solo-Wandems gelegt werden. Es ist notwendig zu klären, was die zwei Worte „pädagogische Möglichkeiten“ meinen, und welche begriffliche Definition von Jugendalter verwendet wird um eine einheitliche Ausgangslage zu schaffen. In der vorlie­genden Arbeit wird Pädagogik in sehr engem Zusammenhang mit Bildung gesehen, da diese deren Ziel sein sollte. Es ist demnach wichtig erst einmal den Bildungsbegriff, der hier verwendet wird, zu klären. Im Anschluss wird auf die Jugendphase eingegangen um konkrete Bildungsziele und Bildungsinhalte für diese Entwicklungsphase zu erarbeiten. Aus diesen Kenntnissen ergeben sich schließlich pädagogische Konsequenzen, die für die Arbeit mit den Jugendlichen von Bedeutung sind.

2.1 Was ist Bildung?

Wolfgang Klafki (1975) greift in seinen „Studien zur Bildungstheorie und Didaktik“ die immer wieder gestellt Frage nach dem „Was“ auf, wenn es um Bildung geht. Was sollten Schülerinnen lernen? Was sei der Bildungsinhalt, der vermittelt werden solle? Auch heu­te, fast 40 Jahre später, lässt die Art und Weise, in der seine Bildungstheorie in aktueller Literatur immer wieder aufgegriffen wird, vermuten, dass seine Erkenntnisse noch immer als Möglichkeit betrachtet werden können, relevante Bildungsinhalte auszuwählen und zu begründen. Obwohl seine Theorie auch immer wieder kritisch betrachtet wird, scheinen seine grundlegenden Überlegungen zu Bildung für den aktuellen Diskurs Bedeutung zu haben.

Klafki (1975) geht davon aus, dass nur dann ein moderner Ansatz zu Bildung verwirklicht werden könne, wenn sich mit bereits vorherrschenden traditionellen Bildungstheorien aus­einandergesetzt werde. Damit entgehe man der Gefahr unbewusst alte Muster fortzusetzen und könne neue praktische Ansätze entwickeln. So hielt er die zur Zeit der Studie vorherr­schenden Theorien der materialen und formalen Bildung für unvollständig und überholt und entwickelte deshalb seinen Ansatz der kategorialen Bildung. In diesem greift er vor-[3] herrschende Ansätze auf, verknüpft und kritisiert sie und ergänzt Fehlendes, (vgl. Klafki 1975, S. 25ff.)

In der „materialen Bildungstheorie“ stehen die zu lernenden Inhalte, also das Objekt, im Mittelpunkt von Bildung. Um Bildungsinhalte zu bestimmen greift Klafki zwei weitere Theorien auf: den „bildungstheoretischen Objektivismus“ und die „Bildungstheorie des Klassischen“. Im erstgenannten Ansatz funktioniere der Mensch wie ein Behältnis, das mit objektiven Inhalten gefüllt werde. Dabei würden die Dinge nicht hinterfragt, sondern Wis­sen, so wie es ist, aufgenommen: „ Wissen im Sinne der Wissenschaft erscheint nun als der eigentliche Sinn der Bildung“ (Klafki 1975, S.28). Kritisch sieht er an dieser Theorie zum einen, dass Inhalte nicht hinterfragt, sondern einfach als gültig erklärt würden. Zum ande­ren kritisiert Klafki, dass Wissenschaft mit Fragestellungen an die Dinge herangehe, die nicht die eines Kindes oder Jugendlichen seien und deshalb kaum nachvollzogen werden könnten. Weiterhin merkt er an, dass aus der immer größer werdenden Menge von Inhalten nicht ausgewählt werde, diese aber nicht alle vermittelt werden könnten, wodurch ein Wett­lauf gegen die Zeit und somit Überforderung entstünde, (vgl. Klafki 1975, S.28ff.)

In der „Bildungstheorie des Klassischen“ werde das Problem der Auswahl gelöst, indem nicht Wissen und Inhalte als relevant gelten, sondern „das Klassische“. „Das Klassische“ seien Werte und Ideale einer Gesellschaft bzw. Kultur, die menschliche Qualitäten heraus­bilden und zu einer eigenen geistigen Existenz führen. Was aber genau klassische Bil­dungsinhalte einer Kultur seien, sei nicht klar. Zum einen seien sie abhängig vom jeweili­gen Lebenszusammenhang und zum anderen verändere sich eine Gesellschaft ständig und somit würden neue Bildungsinhalte gebraucht, (vgl. Klafki 1975, S.30ff.)

Die Theorie der „formalen Bildung“ stellt nicht das Objekt, sondern das Subjekt, den sich bildenden Menschen, in den Mittelpunkt von Bildung. Auch hier greift Klafki zwei weitere Bildungstheorien auf: die Theorien der „funktionalen“ und der „methodischen Bildung“. In der funktionalen Bildung werde das Ziel in der Entwicklung und Formung körperlicher, seelischer und geistiger Kräfte gesehen, ähnlich dem Aufbau von Muskeln. Dabei werde jedoch außer Acht gelassen, dass diese Kräfte nicht nur durch Übung entstünden, sondern durch die Inhalte selbst motiviert und entwickelt würden. Weiterhin stehen die Kräfte in so engem Zusammenhang mit den Inhalten, dass sie sich nicht ohne weiteres von einem Ge­biet auf andere übertragen lassen. Wären Kräfte jedoch durch Übung herausbildbar und nicht durch Inhalte, könnte eine Fähigkeit, einmal erlernt, in jedem Kontext angewandt werden. Die Theorie der „methodischen Bildung“ konzentriere sich darauf, wie der Mensch sich bildet und welche Methoden und Techniken er anwendet um sich etwas anzu­eignen. Allerdings könne man auch hier die Methoden nicht losgelöst von den Inhalten betrachten, schließlich bestimmten die Inhalte die Methode, (vgl. Klafki 1975, S.33-37)

Da somit keine der genannten Bildungstheorien Bildung in ihrem Wesen vollständig erfas­sen könne und auch beim Zusammenfügen der Theorien kein ganzheitliches Bild entstün­de, entwickelt Klafki (1975) die Theorie der ,,Kategorialen Bildung“. Darin betrachtet er Bildung als ein großes Ganzes. Ganzheitliche Bildung könne nur stattfinden, wenn der Kern einer Sache, der Grundgedanke, erkannt und verstanden wurde. Nur dann könne eine inhaltliche Vertiefung erfolgen. Weiterhin stellt er fest, dass Inhalte nur dann wirklich auf­genommen und verstanden werden könnten, wenn sie für den Lebensentwurf des Subjektes relevant seien. Statt also viele Informationen und viel Wissen zu geben, liege der Kern der Bildung darin, sich die Informationen selbst zu erarbeiten, sich mit ihnen auseinanderzu­setzen und mit sich selbst und der eigenen Lebenswelt in Zusammenhang zu bringen. So­mit hat Klafki beide Bildungstheorien zu einer Einheit zusammengefügt: Auf der objekti­ven Seite beinhalte Bildung das Verstehen und Erschließen von grundlegenden Inhalten und auf der subjektiven Seite gewinne der Mensch durch diese Inhalte Erkenntnisse für seine Lebenswirklichkeit, (vgl. Klafki 1975, S.38-44)

„Bildung ist Erschlossensein einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für den Menschen - das ist der objektive oder materiale Aspekt; aber das heißt zugleich: Erschlossensein dieses Menschen für diese seine Wirklichkeit - das ist der subjektive oder formale Aspekt zugleich im ,funktionalen‘ wie im ,methodischen‘ Sinne. (Klafki 1975, S.43)

Welche Inhalte für Bildung schließlich relevant sind, deutet Klafki nur an. Zusammenfas­send kann man sagen, dass all das, was auf die Lebenswirklichkeit eines jungen Menschen bezogen und grundlegende Sachverhalte repräsentiert, inhaltlich bildungsrelevant ist. (vgl. Klafki 1975, S.44f.)

2.2 Lebensphase Jugend

Was bedeutet jetzt aber Wirklichkeit und Lebensbezug eines*r Jugendlichen? Um zu erör­tern welche Bildungsinhalte und -ziele für Jugendliche wichtig sind, welche Anforderun­gen von außen und innen an Jugendliche gestellt werden und welche Kompetenzen und Fähigkeiten es zu ihrer Bewältigung braucht, folgt nun die Darlegung der in dieser Arbeit verwendeten Sicht auf die Lebensphase Jugend mit ihren Merkmalen.

Jugend wird dabei nicht wie beispielsweise bei Oerter (2002, S.258) als Übergangsphase zwischen Kindes- und Erwachsenenalter gesehen, sondern wie auch nach Hurrelmann (2005) als eigenständiger Lebensabschnitt mit seinen spezifischen Entwicklungsaufgaben betrachtet. Um 1900 sei diese Lebensphase aus kulturellen und ökonomischen Gründen heraus entstanden und der Lebensabschnitt Kindheit damit in Kindheit und Jugend geteilt. Grund hierfür sei die Notwendigkeit für längere Berufsvorbereitungszeit junger Menschen gewesen, da ihre Ausbildung immer komplexer wurde. Es wurden aber auch zunehmend gesellschaftliche Ressourcen verfügbar, die es ermöglichten Jugendlichen diesen Zeitraum zu geben, (vgl. Hurrelmann 2005, S.13-23)

Betrachtet man das Jugendalter als eigenständige Phase, entstehen zwei Entwicklungsüber­gänge: von der Kindheit zur Jugend und von der Jugend zum Erwachsenalter. Da sich die vorliegende Arbeit auf die späte Jugend konzentriert, ist besonders der zweite Übergang mit seinen Besonderheiten interessant. Hurrelmann (2005, S.26-29) betrachtet dies zu­nächst aus psychologischer Sicht, welche die Sicherung von Individualität als Auftrag be­trachtet, und nennt vier Entwicklungsaufgaben, die für ein selbstbestimmtes Leben bewäl­tigt werden müssten (vgl. Hurrelmann 2005, S.26-29):

1. Die Entwicklung der intellektuellen und sozialen Kompetenzen ist abge­schlossen und die Übernahme von selbstverantwortlichen und existenz­sichernden (beruflichen) Leistungstätigkeiten ist erfolgt.
2. Der feste Aufbau einer Partnerbeziehung zum anderen (oder im seltene­rem Fall zum gleichen) Geschlecht ist vollzogen und die Möglichkeit ei­ner Familiengründung ist gegeben
3. Im Konsum- und Freizeitsektor ist ein hoher Grad an Selbstständigkeit der eigenen Verhaltenssteuerung eingetreten
4. Das Werte- und Normsystem ist entfaltet und hat eine vorläufige Stabili­tät erreicht, sodass verantwortliches und gemeinnütziges Handeln mög­lich ist. (Hurrelmann 2005, S.28)

Würden diese Entwicklungsaufgaben bewältigt, komme es zum Aufbau und zur Festigung von Identität. Identität bedeute eine Kontinuität im Erleben des Selbst sowie ein Wiederer­kennen dieses Selbst in den eigenen Handlungen. Der Aufbau von Identität stehe dem Ge­fühl der Zerrissenheit des eigenen Selbst gegenüber, da sich gleichzeitig kritisch mit der eigenen Umwelt auseinandergesetzt und Gegebenes ständig hinterfragt werde. Jugendliche stünden immer wieder in einem Konflikt, der gelöst werden müsse, (vgl. Hurrelmann 2005, S.30f.)

Aus soziologischer Sicht bestehe die Aufgabe eines Jugendlichen darin, sich seinen Platz als Mitglied in der Gesellschaft zu sichern. Der Status als Erwachsener sei dann erreicht, wenn Selbstständigkeit in folgenden vier Bereichen erfolgt ist (vgl. Hurrelmann 2005, S.34f.):

1. Die Berufsrolle als ökonomisch selbstständig Handelnder,
2. Die Partner- und Familienrolle als verantwortlicher Familiengründer
3. Die Konsumentenrolle einschließlich der Nutzung des Mediensektors und
4. Die Rolle als politische Bürger mit eigener Wertorientierung (Hurrelmann 2005, S.35)

Das Erreichen dieser Rollen erfolge dabei nicht gleichzeitig sondern individuell unter­schiedlich. Idealerweise erlange ein*e Jugendlicher Autonomie in allen vier Bereichen und wird zum*r Erwachsenen. In der Realität sehe diesjedoch anders aus. So seien Jugend­liche oft mit 12 Jahren bereits unabhängig in der Konsument*innenrolle und bringen sich spätestens mit 18 Jahren in politische Vorgänge ein, während die Reproduktions- oder Be­rufsrolle oft erst zwischen 25 und 28 Jahren oder sogar nie eingenommen werde. Dies kön­ne zum Beispiel durch äußere Faktoren, wie Mangel an Arbeitsplätzen, oder biologischen Faktoren begründet sein. Das zeitversetzte Erreichen der Teilrollen bezeichnet Hurrelmann als „Statusinkonsistenz“, eine Spannung, die Jugendliche aushalten müssten. Gleichzeitig führe die Uneindeutigkeit des Status Jugendlicher, sowohl bei Jugendlichen, als auch bei Erwachsenen, zu Unsicherheiten und Widersprüchen, (vgl. Hurrelmann 2005, S.33-42)

Einerseits wollten Jugendliche die Entwicklungsaufgaben bewältigen und den Status ei- nes*r Erwachsenen erreichen, wie es gesellschaftlich auch von ihnen erwartet werde. An­dererseits stehe Jugendlichen ein Schonraum zur Verfügung, den sie immer länger nutzen können und der es gesellschaftlich erlaube, den Übergang zum Erwachsen-Sein hinauszu- zögem. Sie brauchten also nicht nur Fähigkeiten und Kompetenzen zur Bewältigung der Entwicklungsaufgaben in den zuvor genannten vier Entwicklungsbereichen, sondern auch zum Umgang mit sozial widersprüchlichen Erwartungen und eigenen Zielen: Soll der Übergang in die Erwachsenenwelt möglichst schnell geschehen oder kostet man die Mög­lichkeiten des Schonraums noch etwas länger aus und richtet sich nach dem eigenen Le­bensrhythmus? (vgl. Hurrelmann, S.42f.)

Laut Reinders (2001) stünden Jugendliche vor der Entscheidung zwischen Transition und Moratorium. Die Entscheidung müsse nicht für eines der beiden erfolgen, vielmehr seien unzählige Kombinationen daraus möglich. Jugendliche seien demnach aktive Gestal- ter*innen ihrer Entwicklung, die sich für einen Entwicklungsweg entscheiden müssten.

Reinders unterscheidet hierfür in vier Kombinationsmöglichkeiten zwischen Transition und Moratorium: Marginalisierung, Segregation, Assimilation und Integration, (vgl. Reinders 2001, S.916f.)

Abbildung 1: Zwischen Transition und Moratorium

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Können oder wollen Jugendliche weder eine zügige Bewältigung der Entwicklungsaufga­ben, noch das Moratorium der Jugendphase für ihre Bedürfnisse nutzen, spricht Reinders von Marginalisierung. Segregation meine ebenfalls Jugendliche, denen die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben nicht gelinge und die der Zukunft ausweichen. Jedoch wüssten sie das Moratorium zu nutzen und suchten sich Ausweichmöglichkeiten und Nischen, um darin zu verweilen. Jugendliche, die sich für den Weg der Assimilation entschieden, woll­ten möglichst schnell erwachsen werden. So fehle es jedoch an der Erarbeitung eines eige­nen Lebensentwurfes und fertige Muster würden einfach kopiert. Auch bei der Integration bestehe das Ziel in der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben, jedoch nicht um jeden Preis. Jugendliche nutzen die Chance des Moratoriums, achten auf eigene Bedürfnisse und wägen die zu bewältigenden Aufgaben mit dem zu erwartenden Nutzen ab. Die Grenzen zwischen den Kombinationen seien fließend und ein*e Jugendlicher könne auch von einer zur anderen wechseln, (vgl. Reinders 2001, S.917ff.)

Hurrelmann (2005) hebt das Konzept der Integration als besonders geeignet und zielfüh­rend für Jugendliche in unserer modernen Gesellschaft hervor. Lebensanforderungen und Situationen änderten sich immer häufiger, würden unübersichtlich oder auch widersprüch­lich, sodass Flexibilität und Kreativität mindestens genauso wichtig seien wie routiniertes Handeln. Eine Konzentration auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse könne Ordnung in das entstehende Chaos der zu erfüllenden Anforderungen bringen und die Möglichkeit bie­ten, das Leben nach eigenen Interessen zu gestalten, (vgl. Hurrelmann 2005, S.46f.) Somit sei in der heutigen Gesellschaft nicht mehr nur die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben für den Übergang ins Erwachsenalter wichtig, sondern auch die Nutzung der zur Verfü­gung stehenden Entfaltungsmöglichkeiten, (vgl. Reinders 2001, S.926)

2.3 Konsequenzen für die Pädagogik

Elementares Bildungsziel für Jugendliche im Übergang ins Erwachsenenalter ist demnach das selbstbestimmte und autonome Treffen von Entscheidungen über die eigene Entwick­lung: Welche gesellschaftlichen Anforderungen will ich als Jugendlicher wann und wie erfüllen und welche Vor- bzw. Nachteile ergeben sich daraus für mich und meine Umwelt. Dörpinghaus (2009, S.6f.) formuliert dazu passend: ,,Bildung ist als Selbstgestaltung eine Einübung in das Leben, verbunden mit dem Ziel, vielleicht Dichter seines Lebens zu wer­den, Möglichkeiten für sich zu entdecken und zu verwirklichen, um aus seinem Leben etwas zu machen, was man sich zu machen wünscht.“ (Dörpinghaus (2009, S.6)

In der Pädagogik findet sich nun oft die Frage, welche Fähigkeiten und Kompetenzen aus­gebildet werden müssten, um diese Selbstgestaltung verwirklichen zu können. Klafki (1996) bestimmt drei zusammenhängende Grundfähigkeiten zum Erreichen der Bildungs­inhalte: Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit (vgl. Klafki 1996, S.52). Wiese (2006) erkennt in seiner Diplomarbeit die scheinbare Un­endlichkeit von angestrebten Bildungszielen und Kompetenzen und versucht diese für die Erlebnispädagogik nach den Ansätzen der fünf Autoren Witte, Reiners, Treptow, Schwiersch und Heckenbücker/Just in vier Bereiche zusammenzufassen:

1. Sozialkompetenz: Fähigkeit zu Kooperation, Kommunikation und Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien, sowie Teamfähigkeit
2. Persönlichkeitsentwicklung: ,, Förderung der Selbstwahrnehmung, Reflexionsfähig­keit, die Klärung von Zielen und Bedürfnissen, Entwicklung und Stärkung von Ei­geninitiative, Spontaneität, Kreativität, Stärkung des Selbstvertrauens, des Selbst­bewusstseins und damit verbunden des Selbstwertgefühls.“ (Wiese 2006, S.37)
3. Ökologisches Bewusstsein: Wahrnehmung und Schutz von Naturräumen sowie Er­kennung ökologischer Zusammenhänge
4. Handlungskompetenz: praktische Kompetenzen zum Ausfuhren bestimmter Aktivi­täten (Wetterkunde beim Segeln, Knotenkunde beim Klettern, etc.) (vgl. Wiese 2006, S.37f.)

Es wird vor allem deutlich, dass unterschiedlichste Fähigkeiten notwendig sind, um den eigenen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden zu können.

Ein Ansatzpunkt, wie das Erlernen dieser Kompetenzen unterstützt werden kann, ist durch die Vielseitigkeit der Bereiche kaum erkennbar. Fuhrmann (2009), der in seiner Diplomar­beit ebenfalls die Zusammenfassung von Wiese verwendet, bemerkt, dass sich fast alle diese Kompetenzen gegenseitig bedingen und aufeinander aufbauen. Lediglich Reflexions­fähigkeit scheine eine grundlegende Kompetenz zum Erreichen der anderen Fähigkeit zu sein. Eigene Handlungen und Verhalten in irgendeiner Weise reflektieren zu können, sei laut Fuhrmann eine ,,basale Kompetenz erster Ordnung“ (Fuhrmann 2009, S.18) und somit grundlegend für die Entstehung und den Aufbau aller weiteren oben genannten Kompeten­zen zweiter Ordnung. Damit solle den Kompetenzen zweiter Ordnung nicht ihre Bedeutung abgestritten werden. Auch sie seien grundlegend wichtig für viele Lebensbereiche. Ohne eine irgendwie geartete Form von Reflexion, ob bewusst oder unbewusst, könnten sich die Kompetenzen jedoch nicht entwickeln, (vgl. Fuhrmann 2009, S.18f.) Demnach ist „Refle­xionsfähigkeit zugleich Lernziel und Voraussetzung für Lernprozesse. “(Fuhrmann 2009, S.19)

Auch Dörpinghaus (2009, S.7) weist den Kern von Bildung in der reflexiven Auseinander­setzung mit sich, der Welt und im Austausch mit anderen Menschen und Kulturen hin. Die genannten Kompetenzen betrachtet er jedoch nicht als Bildung, sondern lediglich als ,,das Wissen, das der Mensch über sich erwerben muss, um der permanenten Anpassung im Rahmen einer insgeheim biologistischen Metaphysik Folge leisten zu können.“ (Dörpinghaus 2009, S.7)

Die pädagogische Aufgabe bestehe nach Schmidt-Millard (1998) demnach im Aufbau und der Förderung von Reflexionsfähigkeit und im Erkennen des Bildungsinteresses des*r je-

weiligen Jugendlichen. Inhalte mit entsprechender Bildungsbedeutung müssten ausgewählt werden, wobei die sich bildende Person letztlich entscheide, welche Bedeutung diese Inhal­te für sie haben, (vgl. Schmidt-Millard 1998, S.71) Das Kind, bzw. der Jugendliche kenne laut Holzkamp (1983) seine Entwicklungs- und Leminteressen am besten und für die Päda­gogik gelte es diese herauszufinden. Fremdgesetzte Bildungsziele dagegen gingen entwe­der am Jugendlichen vorbei und behinderten sogar Selbstbestimmtheit, den Aufbau von Autonomie oder einer eigenen Identität. Sie führten eventuell zu Widerstand und Lemun- wille, da Selbstbestimmtheit nicht im Verfolgen fremder Bildungsziele entwickelt werden könne. Dabei könne es passieren, dass sich die bildende Person sogar gegen eigene Lemin­teressen wende, wenn diese mit den Bildungsanforderungen von außen übereinstimmen. Dies sei ein Weg, Selbstbestimmtheit zu bewahren. Wenn sich das Kinder bzw. Jugendli­che erwachsenen Entwicklungszielen bloß anpassten, könne keine Autonomie erreicht werden. Die Rolle und Aufgabe von Erwachsenen und insbesondere Pädagog*innen beste­he demnach darin zu unterstützen und Rat zu geben, ohne sich dabei über die Interessen der sich Bildenden hinwegzusetzen, (vgl. Holzkamp 1983, S.128-135) Jugendliche seien selbst in der Lage, über für sie relevante, Bildungsinhalte zu entscheiden, auch wenn sie gewisse gesellschaftliche Regelungen noch lernen müssten (vgl. Hungerland 2008, S.85). Pädagog*innen sollten sich bemühen, die individuell relevanten Bildungsinhalte zu erken­nen und einen Raum bereitstellen, der Jugendliche im selbst gewählten Entwicklungsweg unterstützen kann.

Wenn im weiteren Verlauf der Arbeit die pädagogischen Möglichkeiten des Solo­Wandems untersucht werden, dann geschieht dies immer vor dem Hintergrund, dass even­tuell mögliche Bildungschancen zwar vermutlich allgemein formuliert werden können, jedoch nicht universell bei allen Jugendlichen und in jeder Situation zu erwarten sind. Es handelt sich immer um theoretische Überlegungen, die lediglich Ideen bieten, um mit Ju­gendlichen zu arbeiten, aber nicht generalisiert werden sollten. Generalisierungen bergen die Gefahr an den eigentlichen Bedürfnissen und Interessen der Jugendlichen vorbeizuden­ken.

3. Pädagogische Möglichkeiten des Wanderns

Hinter dem Wandern verbirgt sich ein breites Spektrum an Aktivitäten, wie Barfußwan- dem, Kanuwandem, Schneeschuhwandem, Radwandem, Skiwandem, Urlaubstrekking (vgl. Metz 2005, S.22) oder Flussbettwanderungen, Rundwanderungen, Streckenwande­rungen, Nachtwanderungen oder Stadtwanderungen (vgl. Fuhrmann 2009, S.6). Schaut man beispielsweise in das Inhaltsverzeichnis der Studien von Rainer Brämer (1999) „Wan­dern neu entdeckt. Warum es sich lohnt, wieder mehr zu Fuß zu reisen“ wird die Vieldimensionalität des Wandems deutlich: ,, Wandern ist unbeschwertes Leben, Wandern ist „in“, Wandern ist Naturerlebnis, Wandern ist Gesundheit, Wandern ist Sport, Wandern ist Entspannung, Wandern ist Begegnung, Wandern ist Freiheit, Wandern ist Entfaltung der Sinne, Wandern ist sanft, Wandern ist Wellness, Deutschland ist ein Wandertraum“ (Brämer 1999, S.2).

Beim Wandern spielen Aspekte wie Fremde, abenteuerliches Unterwegssein, körperliche Bewegung, Zeit, Langsamkeit und Naturerfahrungen eine Rolle. Nach Klärung des Wan­derbegriffs und einem kurzen Überblick über die Einstellungen Jugendlicher zum Wandern sollen diese Aspekte aufgegriffen werden, um pädagogische Möglichkeiten des Wandems im Jugendalter herauszuarbeiten. Die Fragen, die auf den folgenden Seiten beantwortet werden sollen, lauten: Können im Wandern Inhalte vermittelt werden, die für Jugendliche relevant sind? Lässt sich Wandern demnach pädagogisch nutzen? Auf welchen Wegen för­dert es selbstbestimmte Bildung und wo stecken eventuell Schwierigkeiten?

3.1 Zum Wanderbegriff

Nach Metz (2005) findet das Wandern und insbesondere auch jugendliches Wandern sei­nen Ursprung in der Wandervogelbewegung um 1900, als junge Menschen gebildeterer Schichten selbstständig Wanderungen organisierten um vor aufgezwungenen Lebensein­stellungen, gesellschaftlichen Grenzen und Autorität zu fliehen und sich der Erwachsenen­welt kritisch gegenüberzustellen (vgl. Metz 2005, S.2; Stenzei I960, S.96f.). Gemeinsam mit dieser Jugendbewegung wurde in der Romantik das Wandern „entdeckt“. Zwar würden laut Stenzei (I960) eher imaginäre Helden auf die Reise geschickt, als dass selbst zu Fuß gegangen wurde, aber auch hier gehe es vor allem um Flucht vor Alltag und gesellschaftli­chen Verpflichtungen (vgl. Stenzei I960, S.97ff.). Auch heute noch ist das Bild vom Wan­dern oft positiv romantisch besetzt, erkennbar beispielsweise in einleitenden Worten von

Wanderliteratur: „Wandern vermittelt dagegen einen bescheideneren, aber dauerhaften Genuß, eine innere Freude, die sich nicht verbraucht und stets ein Gefühl allseitiger Be­friedigung hinterlässt.“ (Brämer 1999, S.3), oder viel Vergnügen, Glück und Erleuch­tung zu wünschen, wie man es beim Wandern in der Natur erfahren kann“ (Andrack 2011, S.10).

Eine allgemeingültige Definition, die für das Wandern verwendet werden kann, lässt sich durch seine vielen Dimensionen schwer formulieren. Vollmar (2002) weist auf einen spezi­fischen Raum und Zeitaspekt hin, da Wandern auf den Horizont ausgerichtet sei und eine längere Zeitdauer umfasse (vgl. Vollmar 2002, S.4). Aber weder Dauer, zurückgelegte Strecke noch Geschwindigkeit böten sich laut Fuhrmann (2009) für eine konkrete Definiti­on an, da diese stark von individuellen Betrachtungsweisen abhingen. Was für die eine Per­son noch ein längerer Spaziergang sei, erscheine für die nächste bereits als ausgedehnte Wanderung. Die Art der Wanderung werde durch Absichten, Motivation und körperliche Fähigkeiten des*r Wandernden, sowie die geografische Lage bestimmt, (vgl. Fuhrmann 2009, S.6f.) Aus diesem Grund soll der Begriff des Wandems für diese Arbeit nicht durch eine feste Definition eingegrenzt werden. Einzig die Bedingung des zu Fuß-Laufens wird gestellt, da das Eingehen auf zusätzlich auftretende Aspekte, beispielsweise beim Kanu­oder Skiwandem, den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde. So sollen dem Wandern nicht seine vielfältigen (Nutzungs-) Möglichkeiten genommen werden, denn genau diese stellen dessen Vorteil dar. Es ist nicht an eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Fähigkeit, einen Ort oder Equipment gebunden, sondern lässt sich beinahe in jeder Situation verwirk­lichen. So bietet es auch pädagogisch gesehen eine Vielzahl an Möglichkeiten.

Wie bei Metz (2005) soll es beim Wandern um das Unterwegssein an sich gehen, den Auf­bruch aus dem wohlvertrauten Umfeld hinein in etwas Neues und Unbekanntes. (Metz 2005, S.22) Ob dabei fünf Stunden oder fünf Wochen gewandert würde, der halbe Hausrat mit sich getragen werde oder nur ein Wanderstock, spielt keine Rolle. Wandern könne laut Stenzei (I960) dann als solches betrachtet werden, wenn für den*die Wandernden kein zuvor festgelegter Nutzen und kein festgestecktes Ziel dahinter stehe, sondern eresie um des Wandems willen wandert. Stenzei (I960) spricht von „Zwecklosigkeit des Wandems“. Zwar könne man das Ankunftsziel festlegen, aber im Grunde gehe es nicht um das An­kommen, sondern den gewählten Weg zu gehen. Das Ziel der Wanderung könne beliebig verändert werden, während die Wanderung an sich die gleiche bleibt, (vgl. Stenzei I960, S.lOlff.) Neben dem fehlenden Ziel meint Stenzei (I960) mit „Zwecklosigkeit“ den Aus­brach aus ,,der Zweckhaftigkeit des bürgerlichen Berufslebens“ (Stenzei I960, S.101). „Beim Wandern genießt man es, dieser Welt der Zweckhaftigkeit und des Müssens entron­nen zu seinu (Stenzei I960, S.102)

Die beschriebene „Zwecklosigkeit“ wird in dieser Arbeit als wichtig betrachtet, da sie Vo­raussetzung für eine offene Haltung gegenüber dem Unbekannten ist. Sie schafft die Grundlage für neue Erfahrungen und somit auch Bildung. Würde das Wandern an einen be­stimmten Zweck gebunden, handele es sich nach Stenzei (I960) eher um eine (Bildungs-) Reise. Beim Reisen gehe es nach Stenzei vor allem um die Ankunft, das Ziel. Was auf dem Weg passiere, sei nebensächlich. Die Vielfalt der Erfahrungsmöglichkeiten würde damit eingeschränkt, (vgl. Stenzei I960, S. 102) Einerseits bietet die durch Zweckfreiheit entste­hende offene Haltung eine Vielzahl von Bildungschancen. Auf der anderen Seite wird eine pädagogisch genutzte Wanderung geplant und absichtlich mit Bildungsinhalten gefüllt. Weiß der*die Wandernde um diese Ziele oder verfolgt sie gar bewusst, erhält die Wande­rung einen anderen Charakter und verliert ihre Offenheit. Bildungsmöglichkeiten können so verloren gehen. Diese Problematik muss, wenn Wandern pädagogisch genutzt werden soll, unbedingt Beachtung finden.

3.2 Jugend und Wandern - ein Einblick in die Wanderforschung

Für die Erarbeitung pädagogischer Möglichkeiten des Wandems im Jugendalter ist es not­wendig, einen Blick in die Wanderforschung zu werfen, denn sie kann einen einführenden Einblick in die Grundhaltungen Jugendlicher zum Wandern geben. Obwohl statistischen Studien vermutlich keine Aussagen über Individuen machen können und deshalb für kon­krete Situationen in der pädagogischen Arbeit nur wenig Hilfestellung geben können ist es wichtig, sich mit aktuellen Tendenzen auseinanderzusetzen. So können eigene Einstellun­gen und Ansichten gegebenenfalls überdacht und ergänzt werden. Jedes noch so enthusias­tisch geplante pädagogische Wanderprogramm ist nutzlos, wenn es an den Interessen der Jugendlichen vorbeigeht und keinen Bezug zu ihrer Lebenswelt aufbaut. Es ist also not­wendig folgende Fragen zu stellen: Was denken Jugendliche vom Wandern und welche pädagogischen Konsequenzen ergeben sich daraus? Rainer Brämer führt hierzu seit 1991 regelmäßig Studien zum Wanderverhalten von Jugendlichen durch. Seine jüngste Studie „Jugendstudie Wandern ’07, Aus-Lauf-Modell“ soll kurz beschrieben und die für diese Arbeit relevanten Aspekte aufgeführt werden:

Seit fast 30 Jahren wächst das Wanderinteresse unter Erwachsenen, was Brämer (2007) auf das „Bedürfnis nach Entlastung und Ausgleich von der hektischen Künstlichkeit unserer Hightechwelt‘ (Brämer 2007, S.l) zurückführt. Auch Kindern scheint das Wandern, insbe­sondere im familiären Umfeld Spaß zu machen. Jugendliche dagegen reagieren vorwiegend mit Abwehr, sobald das Thema angesprochen wird. Glaubt man den statistischen Zahlen (siehe Tabelle 1) scheint Wandern von ihnen weder gewollt noch gebraucht zu werden. Diese Annahme untersucht Brämer genauer, indem er in sogenannten Klumpenstichproben ganze Schulklassen der Klassenstufen 6-9, also vor und während der Pubertät, an Schulen in Nordrhein-Westfalen und Mittelhessen zu ihrer Meinung zum Thema Wandern befragte. Hier (siehe Tabelle 1) wird, verglichen mit Studien der vergangen Jahre, der Abwärtstrend der Wanderlust bei Jugendlichen deutlich. Die Zahl derer, die gerne wandern ist bis auf 14% zurückgegangen, während die Zahl derer, die Wandern ablehnen auf 49% zugenom­men hat. (vgl. Brämer 2007, S.2-7)

Tabelle 1: Jugendstudie Wandern’07

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Grund dafür scheint aber nicht im Wandern selbst, sondern anderen Einstellungen zu liegen. Zum Beispiel sind laut der Studie langsames Spazieren und Gehen beliebter als das Wandern. Auch die Lust an Aktivitäten wie Kanu- oder Radfahren nimmt insgesamt ab, was vermuten lässt, dass es hier eher um die Ablehnung eines gesellschaftlichen Phäno­mens als der Aktivität an sich geht. Es liegt die Vermutung nahe, dass die steigende Be­liebtheit von Adrenalin- und Erlebnissportarten in der Erwachsenenwelt, die aber eher ty­pisch für eine jugendliche Lebensweise ist, zu Abgrenzungsverhalten führt und somit bei den Jugendlichen immer unbeliebter wird. Dies würde den Abwärtstrend der Wanderlust im Gegensatz zum Aufwärtstrend bei den Erwachsenen in Brämers Studien erklären, (vgl. Brämer2007, S.6ff.)

Ein weiterer Widerspruch, der vermuten lässt, dass die Aversion gegen das Wandern nicht im Wandern selbst liegt, zeigt sich in Brämers (2007) Untersuchungen zur tatsächlichen Wanderhäufigkeit und Klassenwanderungen. Zum einen ist die Zahl derer, die mehrmals monatlich wandern, höher als derer, die gerne wandern. Die Tatsache, dass die Wander­dauer auffällig genau mit der Wanderdauer Erwachsener übereinstimmt, lässt vermuten, dass Jugendliche oft durch ihre Eltern zum Wandern gebracht werden. Dies würde die er­höhte Unlust schon beim Ansprechen des Themas erklären, da sich Jugendliche nach Holzkamp (1983, S.128-135), um Selbstbestimmtheit zu bewahren, gegen fremde Bil­dungsinteressen wenden könnten. Zum anderen finden Klassenwanderungen zwar in ver­schwindend geringem Maße statt, die Zahl der Schülerinnen, die diese Wanderungen gut findet ist jedoch doppelt so hoch wie die Zahl derer, bei denen Wandern beliebt ist. Die negativen Vorurteile gegenüber dem Wandern scheinen demnach stärker zu sein als tat­sächliche negative Wandererfahrungen. Demnach ließe sich die Lust am Wandern durch das Wandern, durch das Ausprobieren und Aufzeigen positiver Wirkungen, selbst erzeu­gen. Dies deutet erneut darauf hin, dass die Abneigung gegen das Wandern nicht allein in der Sache selbst zu suchen sei. Aus diesem Grund sei es wichtig, herauszufinden, woher diese Aversionen kommen, um besser auf die Wünsche der Jugendlichen eingehen zu kön­nen. (vgl. Brämer 2007, S.9f.)

Um der Ursache des Unmuts auf den Grund zu gehen, fragt Brämer (2007) nach den Stör­faktoren beim Wandern. Er stellt fest, dass Langweile mit 69% und insbesondere das rhythmische Dauergehen, das bei Erwachsenen so beliebt ist, an vorderster Stelle steht. Körperliche Belastung und Anstrengung sind ebenfalls Gründe für die ablehnende Haltung, mit weniger als einem Drittel der Schülerinnen jedoch weitaus weniger ausschlaggebend. Ein weiterer vielgenanntes Hemmnis ist mit 63% jegliche Form von Belehrungen durch Erwachsene beim Unterwegssein. Die Struktur von Schule und Pädagogik beim Wandern wird von Schülerinnen anscheinend als demotivierend empfänden. Auch das Wandern im Klassenverband stört eher als das es Lust macht. Jugendliche ziehen es vor, sich ihren Freundeskreis beim Wandern selbst auszusuchen. So geben 58% der Jugendlichen an lieber keine Erwachsenen beim Wandern dabei haben zu wollen, aber 90% wären gerne mit Freunden in der Natur unterwegs. Dies ist auch allgemeiner Trend der Jugendbewegung, da die Peer-Group Möglichkeiten für autonome Erfahrungen offen lässt. Abschließend soll das Verbot oder Nicht-Funktionieren von Mobiltelefonen auf Wanderungen genannt wer­den: Tragbare Telefone sind für Jugendliche laut der Studien ein Statussymbol und gehört unabdingbar zum Lebensstil, so dass ein Verlust als unangenehm erfahren wird. (vgl. Brämer2007, S.ll-16)

Tabelle 2: Störfaktoren beim Wandern

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Brämer 2007, S.ll)

Was würde Wandern dann aber attraktiv machen? Bei der Befragung gaben die Jugendli­chen an, dass sie bei der Planung von Wanderungen gerne miteinbezogen werden würden. Außerdem bestehe der Wunsch, dass es etwas abenteuerlicher zugehe, auch mal über schmale Pfade und querfeldein, da dies der Entdecker*innenlust der Jugendlichen entge­genkomme. Pausen sind weitere wichtige Faktoren. So wünschen sich mehr als die Hälfte der Jugendlichen entspannte Pausen, in denen die Gegend genauer erkundet werde oder eine ausgedehnte Mahlzeit stattfinden könne. Das Wandern bei Nacht, sowie die Nutzung von Technik machen das Wandern für Jugendliche zusätzlich interessanter, (vgl. Brämer 2007, S.17-20) Das Wandern mit Freunden ist jedoch ,,das Zaubermittel, mit denen man selbst Wandermuffel auf die Beine bekommt“ (Brämer 2007, S.19).

Brämer (2007) stellt anschließend die Fragen: Warum sollten Jugendliche überhaupt wan­dern? Warum sollten sich Pädagog*innen und Eltern die Mühe machen, Jugendliche zum Wandern zu bringen, wenn es doch augenscheinlich nicht in deren Interessensbereich liegt? Er beantwortet diese Frage mit der Aussage, dass sich ,,das Naturwesen Mensch nicht gänzlich ohne Kontakt mit natürlicher Landschaft, seinem arteigenem Ursprungsbiotop, vernünftig entwickeln kann und folglich der zunehmenden Naturentfremdung (und Bewe­gungsarmut) der jungen Generation gezielt entgegengewirkt werden muss“ (Brämer 2007, S.21). Allein Naturentfremdung wird für diese Arbeit jedoch nicht als ausreichende Be­gründung betrachtet. Erstens scheinen Kinder und Erwachsene laut Brämer (2007) ganz gerne zu wandern. Somit entsteht in der Jugendphase zwar eine längere Wanderpause in der Biografie des Menschen, aber wer kann sagen, ob die in dieser Zeit gemachten Naturer­fahrungen für die menschliche Entwicklung nicht völlig ausreichend sind. Zweitens lassen sich Naturerfahrungen nicht nur beim Wandern machen, sondern beispielsweise auch beim Picknicken im Park, abhängig davon, wie man Natur definiert. Liedtke (2007) beispiels­weise bezeichnet Natur als ein Gebiet, welches von Menschen wenig, möglichst wenig, oder gar nicht, verändert wurde, als ein Phänomen, ,,dass sich durch eine dynamische Ei­genmächtigkeit auszeichnet und dadurch in gewisser Weise als vom Menschen unbeein­flusst gelten kann“ (Liedke 2007, S.105). Die Baumreihe am Straßenrand kann demnach vermutlich ebenfalls als Natur empfunden werden und begründet somit nicht die Wichtig­keit von Wandern.

Außerdem widerspricht die Auffassung „einer Sache entgegenwirken zu müssen“ dem in dieser Arbeit verwendeten Grundgedanken von Bildung, die auf die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen bezogen sein muss. Wandern scheint aus verschiedenen Gründen für viele Jugendliche nicht zur eigenen Lebenswelt dazuzugehören, da ihm gegenüber sonst eine positivere Haltung zu erwarten wäre. Der pädagogische Wunsch „Jugendliche sollten doch wandern gehen wollen“ erzeugt jedoch eher Abneigung. Dennoch scheint ein Grundinte­resse der Jugendlichen am Wandern vorhanden zu sein, denn auf Brämers (2007) Frage, was das Wandern attraktiver für sie machen würde, konnten sie, wie bereits erwähnt, Ant­worten geben. Wandern unter bestimmten Bedingungen hat demnach einen Bezug zur Le­benswirklichkeit von Jugendlichen. Die Grundfrage liegt demnach in der Suche nach der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen und warum es sich aus ihrer Sicht für sie lohnen könnte, zu wandern.

3.3 Bedeutung der Bewegung des Gehens

3.3.1 Bewegung und Bildung

In den theoretischen Überlegungen zu Beginn der vorliegenden Ausarbeitung wurde bereits festgestellt, dass Bildungsinhalte nur dann zu Bildung führen könnten, wenn diese selbst­bestimmt erfolge (vgl. Schmidt-Millard, 1998, S.71). Die dieser Arbeit zugrunde liegende Theorie zu Bildung geht vom aktiven Subjekt aus, das sich sein Weltbild selbstständig er­arbeitet und seiner Umwelt offen gegenübersteht. Nach Bietz (2010) sei der Körper dabei Ausgangspunkt jeder Auseinandersetzung mit der Welt. Körperliche Bewegung sei die ursprünglichste Form sich der Welt zuzuwenden (vgl. Bietz 2010, S.2f.). Deshalb sollte nach Klafki (2005) Bewegungsbildung gefördert werden, da sie eine unverzichtbare Di­mension allgemeiner Bildung darstelle (vgl. Klafki 2005, S.24). Grupe (1976) geht eben­falls auf die Bedeutung von Bewegung ein und formuliert:

„Bewegung in weitestem Sinne ist: Vermittlung zur Welt, Zugang zu ihr, das Medium, durch das ich mich meiner Welt als Inbegriff von Situationen, Din­gen und Personen zuwende und durch das ich sie zugleich erfahre. Meine Beine sind in diesem Sinne die Möglichkeit, irgendwohin zu laufen, meine Hände die Möglichkeit, etwas zu formen, zu greifen, oft auch zu begreifen “. (Gruppe 1976, S.5f.)

Nach Grupe (1976) kann der Mensch durch Bewegung seine Umwelt und Wirklichkeit also nicht nur erfahren, er kann sie auch verändern. Gleichzeitig hat die Umwelt Einfluss auf die Bewegung des Menschen und beeinflusst ihn. Wie der Mensch sich bewegt ist oft abhängig von sozialen Normen und gesellschaftlichen Einflüssen. Welcher Sinn hinter einer be­stimmten Bewegung steckt, lässt sichjedoch nicht einfach festlegen, sondern hängt von der jeweiligen Situation ab, in der sie stattfindet. Grupe (1976) unterscheidet deshalb verschie­dene Bewegungsdimensionen, um der Bedeutung von Bewegung näher zu kommen. So nutze der Mensch Bewegung instrumenten, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Diese Bewegungen seien für den Menschen ganz selbstverständlich und selten bewusst. Bei­spielsweise werde schnelles Laufen von einem Ort zum anderen erst dann bewusst, wenn es zu Ermüdung oder zu einem Fehler in der Ausführung der Bewegung komme. Eine zweite Dimension beschreibt Bewegung als die Grundlage etwas über sich, den eigenen Körper und die Umwelt zu erfahren. Indem der Mensch sich bewege, bemerke er die Dinge um sich herum, berühre sie, sehe sie und stelle sich selbst in Verbindung mit diesen Din­gen. Drittens habe Bewegung auch eine soziale Bedeutung. Durch Bewegung habe der Mensch die Möglichkeit in sozialen Kontexten zu handeln und Beziehungen einzugehen. Durch Bewegung könne sich der Mensch anderen gegenüber artikulieren, (vgl. Grupe 1976, S.4-10)

Auch Bietz (2010) geht in seiner Arbeit auf Bewegung als Bedingung für das menschliche Dasein in der Welt ein. Durch Bewegung erkunde und verändere der Mensch seine Welt und die Welt verändert auf der anderen Seite menschliches Handeln. Der Mensch mache Erfahrungen aus dem eigenen Handeln und ziehe daraus Konsequenzen für weitere Hand­lungen. Der Mensch müsse also aktiv mit der Welt interagieren, um aus ihr und sich selbst lernen zu können. Dinge, die dagegen aus zweiter Hand erfahren werden, könnten schlech­ter zu Handlungsveränderungen führen, da die Gewissheit bezüglich ihrer Realität fehle.

Bietz (2010) erläutert weiterhin, dass Bewegung dann eine besondere Bedeutung zukom­me, wenn sie nicht alltäglich an einen bestimmten Zweck gebunden sei, sondern, wie z.B. im Sport, aus einer intrinsischen Motivation[4] heraus gewählt werde. Der Mensch bewege sich in diesem Fall um des Bewegens willen. Geschehe Bewegung nicht aus einem lebens­praktischen Zwang heraus, sondern ist der Grund die Bewegung an sich, könne der Mensch sein Handeln reflektieren und dauerhaft immer wieder überdenken und anpassen. Erfah­rungen könnten so auch auf neue Situationen angewendet, offen damit umgegangen und weiter vertieft werden. Schließlich erlangt der Mensch ein Bewusstsein über sich selbst und könne autonom und selbstbestimmt Handeln. Bewegung sei somit Grundlage von Lernen und Bildung, (vgl. Bietz 2010, S.4-11)

3.3.2 Das Gehen

Die besondere Bewegungsform beim Wandern, die nun betrachtet werden soll, ist das Ge­hen. Was bedeutet das Gehen für uns Menschen, was steckt hinter dieser Bewegung und was ist aus pädagogischer Sicht das Besondere an ihr?

Nach Giersch (1984) und Vollmar (2002) sei das Gehen zunächst eine ursprüngliche und typisch menschliche Bewegungsform. Kein anderes Lebewesen praktiziere diesen ständig aufrechten Gang. Und obwohl die Fortbewegungsform für Menschen so selbstverständlich scheine, sei sie eine komplizierte und komplexe Angelegenheit, da deren Erlernen meist einen wichtigen Meilenstein in der menschlichen Biografíe darstellt, (vgl. Giersch 1984, S.261 &Vollmar 2002, S.2) Aus einem unsicheren Stolpern und Hinfallen werde mit der Zeit ein dynamischer Bewegungsablauf, der den gesamten Körper mit einbeziehe. Es erfol­ge nicht nur ein Anspannen und Entspannen, Beugen und Strecken der Beine, auch die Arme und der gesamte Oberkörper bewegten sich im Rhythmus des Gehens, (vgl. Giersch 1984, S.264)

Nach Giersch (1984) und Vollmar (2002) sei das Gehen jedoch mehr als nur eine Bewe­gungsform. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts sei mit dem Gehen beispielsweise auch Ge­sundheit, Naturgenuss und Wohlergehen sowie eine humane und offene Haltung zur Welt verbunden worden. Das Bürgertum habe sich vom Adel abgegrenzt, indem es bewusst die Bewegung zu Fuß wählte und damit Offenheit gegenüber der Bevölkerung zeigen wollte, (vgl. Giersch 1984, S.261f. & Vollmar 2002, S.3),,Bürgerliches Selbstbewusstsein verkör- perte sich im Aufrechten und Nützlichen, das der Affektiertheit und dem Scheinen des Adels entgegengesetzt wurde.“ (Vollmar2002, S.3)

Die offene Haltung zur Welt durch den aufrechten Gang entstehe nach Vollmar (2002) zum einen durch neu entstandene Handlungsmöglichkeiten. So kann der Mensch nicht nur aktiv auf die Dinge zugehen, um sich diese anzueignen, sondern hat auch die Hände frei, um sie zu ergreifen, zu begreifen und zu verändern. Zum anderen würden sich aus dem aufrechten Gang neue Wahmehmungsmöglichkeiten ergeben. Durch die vertikale Ausrichtung ent­stünden neue Raumkonstruktionen von oben und unten, links und rechts, vorne und hinten. Gleichzeitig sei der Kopf erhöht und somit ein weit in die Feme gerichteter Blick möglich. Andere Wahmehmungsformen wie Riechen und Hören sind besonders beim Gehen mög­lich. So lasse sich im Unterschied zu anderen menschlichen Fortbewegungsarten wie Fahr­rad- oder Autofahren die Welt wirklichkeitsnaher erfahren. Gerüche und Geräusche, die sonst durch eine Glasscheibe abgeschirmt würden, könnten wahrgenommen werden. Aber auch Entfernungen, die Unterschiede zwischen Nähe und Feme, könnten durch das Gehen begriffen werden. Im Gegensatz zur schnellen Autofahrt würden die Dimensionen des Raumes, beispielsweise die Distanz zwischen Dingen und Orten, beim Gehen bewusster wahrgenommen werden. Der Raum, durch den der Mensch sich bewegt, werde anders er­fahrbar. (vgl. Vollmar 2002, S.3f.)

Aber nicht nur die äußere, sondern auch die nach innen gewandte Wahrnehmung wird be­einflusst. So schreibt Giersch (1984) vom Gehen, dass es durch seinen abwechselnden, ausgleichenden und ruhigen Ablauf das Denken in Bewegung bringe. Die rhythmische Gleichgewichtsverlagerung von einem Bein aufs andere stelle den Körper in die Mitte. Zwischen den einzelnen Schritten befinde sich der Mensch in einer Art Schwebezustand, im Gleichgewicht, wodurch es ihm gelinge ,,sich selbst allmählich zu zentrieren “ (Giersch 1984, S.265). Der eigentliche Bewegungsablauf könne dabei nicht vollständig bewusst gemacht und verstanden werden, da er zu komplex sei. Vielmehr gelte es für den Geist im Rhythmus des Körpers mitzugehen und den Körper mit seinem Gewicht oder seinen Schrit­ten über unebenen Boden zu fühlen. Aber auch der Körper stelle sich auf Gedanken des Geistes ein, verändere seine Gangart aufgrund von Stimmung oder veränderten Situationen. Somit entstehe eine Verbindung zwischen Körper und Geist. Beide bedingen einander beim Gehen. Ein flotter Gang könne die Gedanken beflügeln oder umgekehrt eine traurige Grundstimmung den Schritt verlangsamen. Anhand von Zitaten verschiedener Schriftstel­lerinnen stellt Giersch fest, dass das Gehen den Gedankenfluss fördere, Ideen eröffne und auch beim Erinnern und Lernen helfen könne. Gedankengänge könnten topografisch mit dem durchschrittenen Raum verknüpft und somit besser in das Gedächtnis eingeprägt wer­den. Gleichzeitig seien sie durch die räumliche Abgetrenntheit auch in der Erinnerung se­pariert und können dadurch wiederum mit neuen Gedanken verknüpft werden. Auch die Erfahrung von Zeit werde laut Giersch durch das Gehen beeinflusst. So würden Vergan­genheit, Gegenwart und Zukunft unterteilbar zwischen dem zurückliegenden und dem zu­künftigen Schritt sowie dem Schwebemoment in der Mitte. Die Zeit verliere etwas von ihremgleichförmigen Charakter, (vgl. Giersch 1984, S.264-272)

Der aufrechte Gang des Menschen ist folglich nicht nur eine Form der Fortbewegung, son­dern in ihm verbergen sich weitere wichtige Sinnestätigkeiten im Zusammenwirken von Körper und Geist (vgl. Giersch 1984, S.272). Die Bewegung des Gehens hat demnach Ein­fluss auf die Wahrnehmung des Menschen und seinen Zugang zur äußeren und inneren Welt und bietet auch Implikationen für Bildung und Lernen.

Leider scheint das Gehen für Jugendliche einen eher abschreckenden Charakter zu haben. Fasst man die Aussagen aus Brämers (2007) „Jugendstudie Wandern ‘07“ zusammen, ist rhythmisches und gleichmäßiges Gehen für die meisten Schülerinnen langweilig (vgl. Brämer 2007, S.ll). Wie aber sollen Gedanken angeregt und der Geist animiert werden, wenn ein Empfinden von Langeweile vorherrscht? Handelt es sich dann nicht eher um ei­nen Prozess des Abstumpfens? Scheinbar regt das Gehen alleine (zumindest bei Jugendli­chen) nicht das Denken an. Für ihre Lebenswirklichkeit scheinen andere Dinge relevant zu sein. Vielleicht fehlt es an einer besonderen inneren Haltung um das Gehen als Denkanre­gung nutzen zu können. Es ist vorstellbar, dass weitere Faktoren eine Rolle spielen und das Gehen für Jugendliche zwar eine Bedeutung für das Zusammenspiel von Körper und Geist hat, seine animierende Funktion für sie jedoch nicht zum Wirken kommt, wenn eine Ab­neigung gegen diese Bewegungsform vorhanden ist. Wird das Gehen in einen Kontext ge­bettet, der zur Lebenswirklichkeit von Jugendlichen passt und entsteht daraus eine Motiva­tion zum Gehen, stellt sich vermutlich auch die Wirkung des Gehens auf Denkprozesse ein. Das Konzept des abenteuerlichen Unterwegsseins könnte methodisch dafür genutzt wer­den, da es im Wandern das Gehen als Bewegungsform fordert. Aus diesem Grund soll es im Folgenden genauer untersucht werden.

3.4 Abenteuerlich: der Aufbruch ins Fremde

Beim Wandern wird das Zuhause vom Menschen verlassen, nur das Nötigste mitgenom­men und sich auf unbekannten Wegen in unbekannte Gegenden aufgemacht, allein des Wandems willens. Bollnow (1963) bezeichnet diesen Aufbruch als Flucht: Flucht vor Enge der Städte, Flucht vor Zivilisation und deren Beschränkungen, Flucht vor Hast und zweck- haftem Dasein (vgl. Bollnow 1963, S.116f.). Auch Stenzei (I960) sieht das Wandern als eine Flucht des Menschen vor gesellschaftlichen Zwängen, vor ,,Mächten, die den Men­schen beschränken undfestlegenu (Stenzei I960, S.99). Durch Beschränkungen, beispiels­weise des Berufs- oder Ehelebens fürchtet er in seiner Entwicklung gehemmt zu sein, fürchtet er, in ihm angelegte Möglichkeiten verkümmern lassen zu müssen, deren Verwirk­lichung ihn erst die ganze Tiefe und Fülle des Lebens erfahren lassen“ (Stenzei I960, S.99).

Der Mensch fliehe aber nicht nur, er sei auch auf der Suche. Er suche beim Wandern nach etwas Neuem und Unbekanntem, etwas, das ihm das Gewohnte nicht geben könne. Ohne genau zu wissen, was er in der Fremde und der Feme sucht, hoffe der Mensch es dort zu finden, (vgl. Stenzei I960, S.96-100) Bollnow (1963) differenziert dabei genauerzwischen den Begriffen Fremde und Feme. Für ihn ist es die Feme, nach der der Mensch Sehnsucht habe. Sie verlocke durch ihre Unerreichbarkeit mit dem Versprechen dort zu finden, was dem Menschen fehle. Die Fremde dagegen sei real erfahrbar. Es könne in sie aufgebrochen, sie aufgesucht werden. Oft geschehe dies aus einem bestimmten Motiv oder Bedürfnis her­aus in der Fremde etwas zu finden und zu lernen, das es in der gewohnten Umgebung nicht gebe. Die Fremde könnejedoch auch in etwas Vertrautes eindringen. Sie sei demnach nicht immer räumlich entfernt: Fremd sei, was anders sei. Die Fremde stehe im Gegensatz zum Eigenen und könne beunruhigend sein und Sicherheit nehmen, (vgl. Bollnow 1963, S.90- 94) Dabei werde laut Becker (2008) das Eigene schnell mit dem Guten und das Fremde mit dem Bösen in Zusammenhang gestellt, gegen das es sich zu wehren gelte. Eine Abwehrhal­tung gegen das Fremde würde aber eine Auseinandersetzung mit Neuem und damit jede Form von Bildung und Autonomieentwicklung verhindern, (vgl. Becker 2008, S.30-39) Bildung sei nach Dörpinghaus (2009) ein Prozess des „Sichfremdwerdens“, in dem das Eigene zurückgelassen und das Fremde zugelassen werden müsse. Sie geschehe zwischen dem Eigenen und dem Fremden und resultiere in einer Veränderung des Selbst, (vgl. Dörpinghaus 2009, S.8f.) „Bildung entsteht nur in der Auseinandersetzung mit Fremdem.

Mit anderen Worten: Das Sichfremdwerden ist eine Voraussetzung und Bedingung für ein Andersdenken- und Andersmachenkönnen.“ (Dörpinghaus 2009, S.9)

Becker (2005) sieht pädagogische Chancen in der Nutzbarmachung des Fremden für die Arbeit mit Jugendlichen und entwickelte das „Strukturmodell des Abenteuers“[5]. In seinem Modell erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Fremden in krisenhaften Situationen. In diesen Situationen versagten altbewährte Handlungsroutinen bei der Bewältigung von plötzlich auftretenden Ereignissen. Eine Lösung müsse schnell gefünden oder eine unauf­schiebbare Entscheidung getroffen werden. Der Ausgang der Entscheidung sei dabei un­gewiss, die Situation könne sowohl von Erfolg gekrönt sein oder auch in einem Misserfolg enden. Im Abenteuer erfolge laut Becker (2005) ein ständiger Wechsel von Krisen und Routinen. ,,Dieses Wechselspiel zwischen routinisiertem Handeln und krisenhafter Unter­brechung durch Widerstände bzw. Widersprüche, die sich im plötzlich hereinbrechenden Ereignis, in Fremdem, in Unvertrautem und Ungewissem äußern, ist die Grundsituation jeden BildungsprozessesA (Becker 2005, S.243) Der bildungsantreibende Faktor sei dem­nach die Krise. Sie verlange eine Lösung, eine Entscheidung und ein aktives Ergreifen der Situation. Damit erfordere und fördere sie Autonomie. In der Krise könnten neue Hand- lungsaltemativen gelernt und als Routinen verinnerlicht werden, bis eine neue Krise diese wieder erschüttert. Im Abenteuer reihten sich Krisen aneinander. In jeder Krise öffne sich die Zukunft und fordere eine Auseinandersetzung und Bewältigung. Wer sich in ein Aben­teuer begebe, gebe Sicherheit und Routinen des Alltags auf und konfrontiere sich mit Neu­em und Unbekanntem, immer unterstützt von einem Grundmaß an Vertrauen in sich selbst und die Welt, dass das Ganze im Zweifelsfall schon gutgehen werde, (vgl. Becker 2005, S.234ff., 242ff.)

Die Struktur des Abenteuers eigne sich laut Becker (2003; 2005) besonders für die Arbeit mit Jugendlichen. Zum einen entlaste das Abenteuer durch seine Außeralltäglichkeit von den Anforderungen des „normalen Lebens“ und biete so einen Freiraum, um sich mit Neu­em auseinandersetzen zu können. Gleichzeitig bekomme es eine spielerische Komponente, da es nicht der Lebensbewältigung diene. Trotzdem weise es die nötige Ernsthaftigkeit auf, denn es sei zwar spielerisch, nicht aber Spielerei: Es müssten reale Gefahren und Schwie­rigkeiten überwunden werden, die durchaus Existenz bedrohend sein könnten, (vgl. Becker 2003, S.134f.; Becker 2005, S.245f.) Weiterhin passe das Abenteuer gut in die Motivati­ons- und Bedürfnisstrukturen von Jugendlichen. Neugier und Erkundungsdrang seien im Vergleich zum Erwachsenenalter hoch. (vgl. Becker 2003, S. 137) Es unterstütze jugendli­ches Autonomiestreben (vgl. Becker 2005, S.235) und helfe bei der Bewältigung von Ent­wicklungsaufgaben und damit vermutlich dem Zurechtfinden zwischen Transition und Mo­ratorium. Außerdem fasziniere das Abenteuer Jugendliche durch seine Plötzlichkeit und ,,angstlustbesetzten Überraschungsmomente“ (Becker 2008, S.40). Das Abenteuer besitze den Reiz des Wagens, des Gefährlichen und des Risikos, der besonders für Jugendliche ansprechend sei. (vgl. Becker 2008, S. 40) Den Grund für den großen Wagemut und das erhöhte Risikoverhalten Jugendlicher sieht Becker (2005) in Allmacht- und Größenphanta­sien, die junge Menschen brauchten, um mit der Unsicherheit und Hilflosigkeit umgehen zu können, die im Chaos der an sie gestellten Entwicklungsaufgaben entstehe, (vgl. Becker 2005, S.234) Das Abenteuer ist demnach in Bezug auf Bildungsinteressen von Jugendli­chen von großer Bedeutung.

Um sich nach Becker (2005) in ein Abenteuer zu begeben, abenteuerlich unterwegs zu sein, müsse der Mensch von Zuhause aufbrechen. Fort vom Ort, der nichts Neues bieten kann, müssen Mühen und Anstrengungen auf sich genommen werden, um schließlich in der Fremde Neues zu lernen. Anschließend würde mit neuen Fähigkeiten, Wissen und Handlungsstrukturen als veränderter Mensch zurückgekehrt werden. Beim Wandern breche der Mensch ebenfalls auf, lasse seine routinisierte Lebensweise zurück, beschränke sich auf die wenigen Dinge, die bei sich getragen werden könnten und mache sich auf den Weg zu Unbekanntem. Was dort zu erwarten ist, sei ungewiss. Vielleicht müsse sich mit unerwarte­ten Widerständen wie Gewitter, Orientierungslosigkeit, Wassermangel oder körperlichen Strapazen auseinandergesetzt werden. Begegnungen mit neuen Menschen könnten stattfin­den und neue Landschaften und Kulturen erfahren werden. Im abenteuerlichen Unterwegs­sein entferne sich der Mensch aber nicht nur räumlich vom Alltag, sondern könne sich auch innerlich vom Selbst distanzieren, (vgl. Becker 2005, S.240f.) Durch das Zurücklassen von Gewohntem bestehe die Chance sich selbst in fremden Situationen neu wahrzunehmen, Dinge an Einem zu entdecken, die vergessen und verdrängt oder vorher nicht bewusst wa­ren (vgl. Becker 2008, S.42). So könne beispielsweise erfahren werden, wie krisenhaften Situationen gegenübergestanden werde: Sind beispielsweise eher Risikobereitschaft oder das Wählen einer sicheren Alternative vorherrschend? Oder werden Probleme allein bewäl­tigt oder Hilfe gesucht? (vgl. Becker 2003, S.137) Auch Stenzei (I960) sieht Wandern, jedoch ausschließlich im Zusammenhang des einsamen Wandems, als Weg nach innen (vgl. Stenzei I960, S.116). Auf das einsame Wandern wird in einem späteren Kapitel der vorliegenden Arbeit noch genauer eingegangen.

Ebenso wichtig wie der Aufbruch und das Abenteuer selbst seien in Beckers (2005) Modell die Rückkehr aus der Fremde und die Erinnerung an das Erlebte.

„Diese Momente verstärkt leib-sinnlicher Zuwendung zur Welt graben sich tief in die Erinnerung der Subjekte ein. [...] Im Erleben der Subjekte werden sie zu Quellen einer erfüllten, ablenkungsresistenten, vitalisierenden Zeit, die gegen die fremdbestimmten Anforderungen des Alltags abgesetzt wird und die den Ein­druck vermittelt, Bedürfnisse würden mit ihrer Verwirklichung versöhnt zusam­menfallen.“ (Becker2005, S.244)

Abenteuer würden nach der Rückkehr mit Sehnsucht erinnert, zu Hause erzählt, oder als Ernüchterung zum Alltag gesehen (vgl. Becker 2005, S. 244f.). Das Krisenhafte des Aben­teuers sei ,,offensichtlich in der Lage, die innere Welt der Erinnerungen zu aktivieren und sie damit reflektorischen Prozessen zugänglich zu machen“ (Becker 2005, S.245). Auch Fuhrmann (2009) erkennt in seinen Untersuchungen die Potentiale des Wandems für die Stärkung von Reflexionsfähigkeit, die, seiner Meinung nach, grundlegendste Fähigkeit für eine autonome Lebensweise und Identitätsbildung. Er spricht von Störungen wie unbe­kannter Umwelt, ungewohnten Aktivitäten und neuen Herausforderungen, die das bisherige System in Frage stellen und somit auf verschiedenen Ebenen zum Nachdenken anregen würden (vgl. Fuhrmann 2009, S.79-82): „Wenn Jugendliche unterwegs sind, öffnen sich Räume, in denen Situationen wahrscheinlich werden, in welchen die Wanderer [...] reflek­tieren können oder müssen.“ (Fuhrmann 2009, S.82). Es ist demzufolge anzunehmen, dass Wandern sowohl während, als auch nach dem Unterwegssein Räume, in denen Reflexionen möglich oder gar nötig werden, öffnet und damit einen Übungsraum für die von Fuhrmann (2009) formulierte basale Fähigkeit erster Ordnung bietet.

Zusätzlich ist Wandern, im Gegensatz zu vielen anderen Outdoor-Sportarten, relativ unge­fährlich ohne dabei den Aspekt des Fremden einzubüßen. Das Fremde liegt hier nicht zu­sätzlich im Aspekt des Erlemens sportartspezifischer Fähigkeiten, sondern allein im Unterwegssein. Dies kann für die pädagogische Arbeit positiv sein, da nur wenig bis kein sicherheitsrelevantes Kontrollieren durch Pädagog*innen nötig ist und die möglichen Er­fahrungen authentisch bleiben. Auf der anderen Seite fehlt dem Wandern so eventuell auch das riskante und aufregende Moment, nach welchem Jugendliche häufig suchen. Für die vorliegende Arbeit stellt sich die Frage, ob das Zu-Fuß-Unterwegssein diesen Bedürfnissen gerecht werden kann. Genauere Ausführungen dazu folgen in den anschließenden Kapiteln. In jedem Fall gilt für die pädagogische Arbeit, dass das Fremde nicht durch Sicherheitsas­pekte, erwünschte Bildungsziele und Ähnlichem nicht beschnitten werden darf, da es sonst seine Widerständigkeit und damit Herausforderung verlieren würde. Eine ausgeklügelte Wanderausrüstung beispielsweise kann das Wandern zwar erleichtern, aber es nimmt der Situation auch ihre Fremdheit. Für einen Zugang zum Fremden sei, laut Becker (2008), Verzicht manchmal wichtig um der Fremde Raum zu bieten und sie wahmehmen zu kön­nen (vgl. Becker 2008, S.43ff.). Gerade das Wandern bietet sich durch seine Beschränkt­heit auf das, was man auf dem Rücken tragen kann, dafür an.

Aber auch Überforderung wirkt sich negativ auf Bildungspotentiale aus, da es zu Panik und völliger Handlungsunfähigkeit führen kann. So könne es nach Bollnow (1963) einen ,,Zu­stand der Überfremdung geben, in dem das übernommene Fremde das eigne Leben er­stickt“ (Bollnow 1963, S.92). Laut Becker gelte es (2003) deshalb abzuwägen, ob und wie Wandern von Jugendlichen individuell herausfordernd und krisenbehaftet empfunden wer­de um sowohl Über- als auch Unterforderung zu verhindern (vgl. Becker 2003, S.139). Der Bildungsaspekt besteht damit in der Bewältigung und nicht Überwältigung von Herausfor­derungen.

Im Wandern bietet sich demnach eine Vielzahl von Möglichkeiten für Fremdheitserfahrun­gen und somit für Bildung an. Die Zukunft ist immer wieder neu geöffnet, Entscheidungen müssen getroffen, schwierige Situationen gemeistert werden. Räume für Reflexionen wer­den aufgetan, Fähigkeiten erlernt und vertieft. Neben neuen Erkenntnissen und neuem Handlungswissen entsteht eine veränderte Haltung zur Welt, die sich in einer Bereitschaft äußert, sich Neuem gegenüberstellen zu wollen. Im Folgenden soll nun genauer auf ver­schiedene Formen von Fremdheitserfahrungen eigegangen werden. Denn Fremde lässt sich laut Vollmar (2002) sowohl in veränderter Zeitwahmehmung, im fremden Raum, in frem­der Kultur, als auch durch die Art und Weise des Mit-dem Rucksack-Unterwegsseins er­fahren (vgl. Vollmar 2002, S.7).

3.5 Zeit und Langsamkeit im Wandern

Bollnow (1963) schreibt vom Wandern als eine Tätigkeit ohne Eile, bei der Zeit bleibe sich dem Schönen zu widmen und Gräser und Blumen am Wegesrand zu betrachten. Hier sei die Zeit nicht mehr unruhig und vorwärtsziehend, sondern nehme einen beruhigenden Rhythmus ein, der vom natürlichen Tagesablauf bestimmt werde, (vgl. Bollnow 1963, S.115) Becker (2008) ergänzt, dass dabei auch Umwege erwünscht seien, genauso wie Pausen zu machen und zu verweilen (vgl. Becker 2008, S.41).

Nach Rosa (2005) stehe dies jedoch im starken Gegensatz zur Zeitstruktur des Alltags in unserer heutigen Gesellschaft. Diese Struktur werde von Zeiteinheiten wie Sekunden, Stunden, Tagen, Monaten oder Terminkalendern bestimmt. Sie sei eine kostbare Ressource und werde gemessen, eingeteilt, organisiert und gespart, da sie immer knapp zu sein schei­ne. Den Grund dafür sieht Rosa (2005) in der Beschleunigung fast aller Lebensprozesse. Durch technische Fortschritte seien Transport- und Produktionszeiten exponentiell be­schleunigt und Kommunikation in Sekundenbruchteilen möglich. Auch die Art und Weise des gemeinsamen Lebens werde immer schneller. Partnerschaften wechselten rascher, der Mensch ziehe öfter um und ständig änderten sich die Dinge um ihn herum. Das Wissen, welches für den Alltag wichtig werde, müsse ständig aktualisiert werden, weil es wieder neue technische Geräte gebe, der*die beste Freund*in wieder umgezogen sei oder im Job ein neues, schnelleres Computerprogramm angewendet werden müsse.,,In allen Lebensbe­reichen laufen wir Gefahr, nicht mehr „auf dem Laufenden “ zu sein.“ (Rosa 2005, S.271) Die Zeit, in der momentanes Wissen verwendbar sei, werde immer kürzer, (vgl. Rosa 2005, S.269ff.) Charakteristisch für diese Zeitstrukturen seien kurze Episoden, schnellere (Per­spektiv-) Wechsel, Unvorhersehbarkeit und somit eine immer schneller wieder offen ste­hende Zukunft, die rasche Handlungsentscheidungen verlange (vgl. Becker 1994, S.532L). Das Tempo beschleunige sich laut Rosa (2005) ständig und der Mensch müsse versuchen, immer rascher zu agieren, um nicht den Anschluss zu verlieren. Um Zeit zu sparen könne der Mensch einerseits schneller handeln, schneller essen, schneller gehen, schneller Ener­gie sammeln. Andererseits könnten Wartezeiten abgeschafft und Pausen verkürzt oder im sogenannten Multitasking mehrere Dinge gleichzeitig getan werden, (vgl. Rosa 2005, S.272) Alles, was jedoch Zeit und Geduld bräuchte und worauf gewartet werden müsse, würde als hemmend und überflüssig empfunden (vgl. Becker 1994, S.533).

Laut Rosa (2005) gebe es in der Gesellschaft des Öfteren Bemühungen, der Beschleuni­gung zu entgehen oder entgegenzuwirken. Dies könne aus ideologischen Gründen gesche­hen, als eine Kritik an den herrschenden Bedingungen und einer Sehnsucht nach einer stabilen, vorhersehbareren und damit sichereren Welt. Meist blieben diese Bemühungen jedoch eine Ideologie, da die Gefahr wachse durch eine persönliche Verlangsamung den gesellschaftlichen Anschluss zu verpassen. Eine andere Form der intendierten

Entschleunigung bestehe in dem Versuch, durch künstliche „Entschleunigungsinseln“, bei­spielsweise durch Yoga, Wellness oder Meditation, einen Raum zum Krafttanken zu schaf­fen, um anschließend noch besser und schneller funktionieren zu können, (vgl. Rosa 2005, S.276ff.)

Im Bildungskontext ist dies jedoch ein Problem, denn Bildung lässt sich nicht beschleuni­gen, im Gegenteil,,,nur die Langsamkeit erlaubt aufmerksame Beschäftigung mit den Din­gen und Vorgängen“ (Becker 1994, S.533),,,nur wer sich genügend Zeit lässt, kann sich so vernünftig mit dem Fremden auseinandersetzen“ (Becker 1994, S.540). Für Dörpinghaus (2008) ist Zeit ein Teil von Bildung, ohne den sie nicht auskomme. Der Grund hierfür liege im Menschen selbst, da er auf die Dinge nicht einfach reagiere, sondern durch Nachdenken, Fragen und der Suche nach Antworten Verzögerungen verursache. Er richte seine Auf­merksamkeit wiederholt und reflektiert auf die Sache und mache so Schritt für Schritt aus dem Unbekannten etwas Bekanntes. Bildung sei demnach eine Bewegung der Verzöge­rung. Sie verlaufe nicht in einer linearen Zeitstruktur, ausgerichtet auf ein bestimmtes Ziel. Denn das würde bedeuten, dass das Ziel, demnach die Antwort auf entstehende Fragen, schon bekannt wäre. Bildung suchejedoch nach Antworten, die es noch nicht gebe, verlan­ge Umwege und unterbreche so die zielgerichteten, linearen Zeitstrukturen, (vgl. Dörpinghaus 2008, S. 42-45)

Auch Becker (1994) erkennt, dass, obwohl das Fremde im Abenteuer stecke, die Ausei­nandersetzung mit ihr nicht ausschließlich in der rasanten Bewältigung abenteuerlicher Situationen und ruheloser Raumeroberung erfolge, sondern ebenfalls in den langsamen und achtsamen Formen der Weltaneignung. In der widerständigen Situation selbst schrumpfe das Wahmehmungsfeld und in der knapp empfundenen Zeit werde nur noch das wahrge­nommen, was unmittelbar mit der Herausforderung Zusammenhänge. Becker (1994) veran­schaulicht dies am Beispiel einer Kajak fahrenden Person, die, wenn sie den Bach herunter­fährt, nur Augen und Ohren für die nächsten Stromschnellen habe. Würde sie sich an­schließend aber ans Flussufer setzen und damit einen Zeit- und Perspektivwechsel vorneh­men, würde sich das Wahmehmungsfeld verändern und erweitern. Statt zu Handeln schaue sie (um sich) und nehme Dinge wahr, wie Schattenspiele auf dem Wasser oder Vogelge­sang, die vorher nicht gesehen werden könnten. Die veränderte Zeitperspektive erlaube es, die Aufmerksamkeit auch auf andere Dinge zu richten, (vgl. Becker 1994, S.535f.) Wie gezeigt werden konnte bietet Wandern als abenteuerliches Unterwegssein durch sein We­sen der Langsamkeit (langsames Gehen, Möglichkeiten des Verweilens, Umwege machen) die Möglichkeit, sich diesem Perspektivwechsel auszusetzen, Landschaftserfahrungen zu­zulassen und sich auf eine neue Weise der Umwelt oder auch sich selbst zuzuwenden.

Wandern ermöglicht durch seine Struktur die unmittelbare Erfahrung eines Zeit- und Per­spektivwechsels. Wer wandert folge, so Becker (2005; 2008), zwangsläufig einem anderen Rhythmus. Lineare Zeitgeber verlören an Bedeutung und der Tagesablauf werde von den Bedürfnissen des Körpers, wie Hunger, Durst oder Müdigkeit und natürlichen Bedingun­gen wie Jahreszeiten, Wetter, Tagesanbruch oder Dämmerung bestimmt. Die Zeit folge der inneren und äußeren Natur, das lineare Muster werde von einem zyklischen abgelöst. Gleichzeitig schrumpfe der Abstand zwischen Gegenwart und Zukunft, denn Zukünftiges werde sehr überschaubar auf die nächsten Stunden und Tage beschränkt. Anders als im Alltag stehe der Mensch im Zu-Fuß-Unterwegssein nicht im Zwang der Tempobeschleuni­gung, denn Wandern fordere Handlungslogik: Man müsse beispielsweise zur rechten Zeit die richtigen Entscheidungen treffen, zur rechten Zeit aufbrechen, zur rechten Zeit das La­ger aufschlagen oder zur rechten Zeit vor dem Gewitter Schutz suchen, (vgl. Becker 2005, S.241L; Becker 2008, S.41f.) Durch die

„Zeiterfahrung von „Tempo“ und „Langsamkeit“ ergibt sich die Chance, die als naturgegeben erscheinende Selbstverständlichkeit des beschleunigten Zeit­aktes zu relativieren und gedanklich wieder liquide zu machen. Über die Ge­generfahrung der Langsamkeit kann deutlich werden, wie Zeit mit uns umgeht und wie wir mit Zeit umgehen können. Dieses Verständnis kann die Vorausset­zung für eine situationsspezifische Nutzung der Zeit schaffen, die den Individu­en nicht aus der Hand genommen wird.“ (Becker 1994, S.540)

Wandern ermöglicht demnach Erfahrungen, die relevant für einen reflektierten Umgang mit Zeit sein können. Gleichzeitig bietet es Raum um Äußeres und Inneres anders wahrzu­nehmen und sich anders darauf einlassen und damit auseinandersetzen zu können. Wandern als langsame Form des Unterwegsseins erfüllt eine vom Alltag entschleunigende Funktion und weist Parallelen zu Dörpinghaus’ (2008) Bildungsauffassung auf, denn sowohl Wan­dern als auch Bildung sind Bewegungen von Verzögerung. Diese Charaktereigenschaft lässt zu der Auffassung gelangen, dass Wandern von Grund auf eine bildende Struktur be­sitzt, die nun von den Interessen und Bedürfnissen der Wandernden mit Inhalten gefüllt werden kann.

3.6 Naturerfahrungen beim Wandern

Möchte man die pädagogischen Möglichkeiten des Wandems erarbeiten, kommt man nicht umhin sich mit dem Einfluss von Natur- und Landschaftserfahrungen zu beschäftigen. Das Thema der Bildungsmöglichkeiten von Natur wird in der Arbeitjedoch nur angerissen und in seinen wesentlichen Erkenntnissen dargestellt werden, da es bereits vielfach untersucht und bearbeitet wurde und eine detaillierte Ausarbeitung aller Facetten den Umfang dieser Arbeit übersteigen würde. So wird im Folgenden beispielsweise der Aspekt von Naturer­fahrungen für ein nachhaltiges Umweltbewusstsein im Sinne des Naturschutzes vernach­lässigt. Stattdessen konzentriert sich der folgende Abschnitt auf Bildungsmöglichkeiten durch die Natur im Sinne der zu Beginn ausgearbeiteten theoretischen Vorüberlegungen zu lebensweltbezogener Bildung von Jugendlichen.

Zunächst wird der Begriff „Natur“, von dem hier gesprochen werden soll, definiert. Bereits die Definition von Liedtke (2007, S.105) macht deutlich, dass die Auffassung von Natur subjektiv unterschiedlich ist, denn wer legt fest, was ,,in gewisser Weise als vom Menschen unbeeinflusst gelten kann“ (Liedke 2007, S.105)? Was wir unter Natur verstünden, hinge laut Gebhard (2013) von bereits gemachten Erfahrungen, kulturellen Einflüssen, Emotio­nen und vielem mehr ab. Natur sei ein Kulturbegriff, der sich nur im Zusammenhang mit der Sicht des Menschen denken lasse. Sie sei immer das Ergebnis aus der Beziehung des Menschen zu ihr. (vgl. Gebhard 2013, S.40ff.) Diese Beziehung zwischen Mensch und Natur entsteht laut Gebhard durch den Einfluss nicht-menschlicher Objekte auf unsere Per­sönlichkeit. Der Mensch setze sich nicht nur mit sich selbst und anderen Bezugspersonen auseinander, sondern interagiere auch mit seiner nicht-menschlichen Umwelt. So entstehe eine Wechselbeziehung, in der das Subjekt einerseits Eigenschaften aus der Umwelt an­nehme und andererseits die Umwelt in soziale und persönliche Bezüge des Individuums integriert sei. (vgl. Gebhard 2013, S.14ff.) Durch die Beziehungen, die der Mensch zu den ihn umgebenden Objekten aufbaue, würden diese das Selbst beeinflussen. Die äußere Natur wirke sich auf die innere Natur, die Psyche des Menschen, aus und umgekehrt. Es zeige sich im Zustand der äußeren Natur, wie es im Inneren des Menschen aussehe. Somit wür­den in Umgang und Beziehung des Menschen zur Natur, in seinem Naturverständnis, auch Selbstaspekte deutlich. Objekten aus der Natur werde eine Bedeutung beigemessen, die symbolisch für Selbstdeutungen des Menschen genutzt werden könne. Dies werde im Sprachgebrauch deutlich, wie etwa in den Redewendungen „stark wie ein Baum“ oder „sich ausgelaugt wie eine welke Blume fühlen“. Natur bestehe demnach nicht nur aus ei­nem äußeren Phänomen von Landschaft, Pflanzen und Dingen, sondern beinhalte ,,immer auch ein mit (subjektiver) Bedeutung aufgeladenes Symbolsystem“ (Gebhard 2013, S.38). Objekte aus unserer Umwelt beeinflussten durch die symbolische Bedeutung, die wir ihnen geben, das Verständnis von uns selbst. Die Natur könne zum Spiegelbild subjektiver Erfah­rungen und Gefühle werden und das eigene Selbst erfahrbar machen, (vgl. Gebhard 2013, S.38-48)

Die Besonderheit der Natur im Gegensatz zur restlichen nicht-menschlichen Umwelt ist damit aber noch nicht hinreichend herausgestellt. Laut Brämer (2003) ließen sich gerade in der Natur authentische und intensiv sinnliche Erfahrungen machen. Statt eine Wahmeh- mungssensation nach der anderen zu präsentieren, wie beispielsweise im Fernsehen, die oft nur Hör- oder Sehsinn anspreche, würden in der Natur auch andere Sinne wie das Riechen oder Tasten stimuliert. Diese Eindrücke seien oft weniger intensiv und dafür aber feiner abgestuft. Unsere Sinne würden in einer großen Breite angesprochen, (vgl. Brämer 2003, S.24f.) Gleichzeitig verlangten laut Böhme (2001) viele Naturphänomene, wie Wind, Dämmerung oder Morgengrauen, ein Spüren des Selbst in der Umgebung und schüfen so Wahmehmungserfahrungen, die immer im Zusammenhang mit einer emotionalen Betrof­fenheit des Individuums stünden, (vgl. Böhme 2001, S.59-67) Martin Seel (2001, S.20) spricht vom Gegenstand der Natur als dem ,,sinnlich wahrnehmbaren Bereich der lebens­weltlichen Wirklichkeit des Menschen“ (Seel 1996, S.29). Naturwahmehmung mache also inneres und äußeres sinnlich (wieder) erfahrbar.

Ähnlich den Wahmehmungserfahrungen in der Kunst, berühren Naturerfahrungen damit den Bereich des Ästhetischen. In der Ästhetik, oder auch der ,, Wissenschaft des Schönen“ (Seel, 1996, S.15), fänden - durch das Wahmehmen und Erfahren von Atmosphären - Emo­tionen und Gefühle ihren Ausdruck, (vgl. Gebhard 2013, S.102) Indem Menschen die Ei­genschaften von Dingen ihrer Umwelt wahmehmen und ihnen durch ihren eigenen subjek­tiven Zustand Bedeutung beimessen, entstünden Atmosphären. In ihnen stecke immer ein subjektiver Anteil, denn sie seien das Zusammenwirken von Subjekt und Objekt, das Zu­sammenfließen von Selbst- und Fremdanteilen, (vgl. Böhme 2001, S.52-56) Es wird deut­lich, wie sehr äußere und innere Natur in Naturerfahrungen Zusammenhängen. In der At­mosphäre werden Gefühle erfahrbar, die vom Subjekt ausgehend auf die Dinge übertragen werden. Durch das Zusammenspiel können sie aber weder dem Subjekt noch der Umge­bung zugeschrieben werden. Sie umgreifen ganzheitlich die aktuelle Situation. Hermann Schmitz (1969) spricht deshalb von Gefühlen als ganzheitlich in die Weite ergossene At­mosphären, in die der Mensch durch seine emotionale Betroffenheit leiblich spürbar inte­griert sei (vgl. Schmitz 1969, S.103f.; S.185f.). Durch diese emotionale Betroffenheit ge­hörten Atmosphären laut Böhme (2001) zwar zur subjektiven Wirklichkeit des Menschen, wirkten aber wie objektiv wahrnehmbare Phänomene. Innere seelische Zustände, Bezie­hungen und Gefühle ließen sich scheinbar objektiv von außen wahmehmen. (vgl. Böhme 2001, S.59) Im Landschaftserlebnis werde dies laut Stenzei (I960) besonders gut deutlich, da Landschaft nicht einfach nur Natur sei, sondern immer in einem ästhetischen Zusam­menhang stehe. So entstehe beispielsweise die heitere Atmosphäre einer Landschaft erst durch das Subjekt, könne aber gleichzeitig auch heitere (oder düstere) Gefühle im Subjekt hervorrufen. Landschaft schaffe eine Stimmung im Menschen und gleichzeitig könne sich die Stimmung des Menschen auf die Landschaft übertragen. Sie wirke wie ein Spiegel, (vgl. Stenzei I960, S.110) Die Erfahrungen der äußeren Natur sind demnach immer auch Erfahrungen der Inneren. Schaut der Mensch in die Landschaft, schaut er ein Stück in sich selbst.

Die symbolischen und ästhetischen Eigenschaften von Natur- und Landschaftserfahrungen gäben somit die Möglichkeiten für sinnstiftende Selbsterfahrungen. Damit zählen Naturer­lebnisse für Gebhard (2013, S.49; S.107) zu den essentiellen Bedürfnissen des Menschen für ein ,,gutes Leben“ (Gebhard 2013, S.107).

Der Aufenthalt in der Natur öffnet durch seine Möglichkeit für neue Erfahrungen der äuße­ren und inneren Natur einen Übungsraum für Reflexionen, die zu Beginn dieser Arbeit als grundlegendes Lemziel und Voraussetzung für alle weiteren Lernprozesse (vgl. Fuhrmann 2009, S.19) ausgearbeitet wurden. Im Zusammenhang zur Wirkung ästhetischer Land- schaftswahmehmung werden auch die von Rainer Brämer (2003) erwähnten Studien ver­ständlich, in denen Psycholog*innen herausfanden, dass das Betrachten schöner Land­schaftsformen beruhigend wirkte. So senkte sich nicht nur Blutdruck und Puls, es verstärk­ten sich außerdem beruhigende Alphawellen im Gehirn der Proband*innen. Das Anschau­en von Naturbildem sei darum weniger ermüdend als das von Stadtbildern, (vgl. Brämer 2003, S.25ff.) Im deutschen Mittelgebirge sieht Brämer (1999; 2003) Kriterien schöner Landschaft optimal durch Natumähe, wenig Künstliches, Abwechslungsreichtum durch Pfade, Felder oder Wald, klare Grenzen und weiche Konturen in geschwungenen Linien erfüllt. Sie würden unser Schönheitsempfinden befriedigen. Aber auch der Drang nach Herausforderung, nach dem Wilden, könne durch die Betrachtung schroffer Berge und ge­waltiger Meere sowie durch die Erfahrung von Erhabenheit ausgeglichen werden. Welcher

Drang vorherrsche, sei individuell unterschiedlich, wobei Herausforderung, Fremdheit und Abenteuerlichkeit eher von Jugendlichen gesucht würden, während Erwachsene öfter nach dem Schönen im Sinne von Ruhe und Erholung strebten, (vgl. Brämer 1999, S.9ff.; Brämer 2003, S.22f.) Gebhard (2013) schreibt Natur außerdem einen aus psychologischer Sicht ,,eigentümlichen, ambivalenten Doppelcharakter“ (Gebhard 2013, S.82) zu. Sie verändere sich ständig und biete gleichzeitig Kontinuität. Ein Baum beispielsweise überdauere Jahre, sehe jedoch zu verschiedenen Zeiten im Jahr anders aus. Natur ermögliche somit,,die Er­fahrung von Kontinuität und Sicherheit, und zugleich ist sie immer wieder neu.“ (Gebhard 2013, S.82) Sie erfülle den Wunsch des Menschen nach Vertrautheit, befriedige aber auch seine Neugierde und das Bedürfnis nach Neuem und Fremdem, (vgl. Gebhard 2013, S.82) Natur- und Landschaft bieten deshalb verschiedene Erfahrungsmöglichkeiten, die auch in die Lebenswirklichkeit von Jugendlichen passen und Bildungspotentiale eröffnen können.

Die Bildungsmöglichkeiten durch Naturerfahrungen bekommen zusätzlich eine besondere Bedeutung, wenn man davon ausgeht, dass sie auf den Menschen auch unabhängig von pädagogischen Intentionen Effekte haben. Somit lässt sich die Natur in der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen besonders gut nutzen, da sie authentisch ist und nicht inszeniert werden muss. Sie steht demnach der Abwehrhaltung Jugendlicher gegen die Inszenierun­gen Erwachsener entgegen, (vgl. Fuhrmann 2009, S.77)

Laut Brämer (2003) zeigten Jugendliche im Vergleich zur Gesamtbevölkerung jedoch das geringste Interesse an Natur. Sie suchten sie wesentlich seltener auf, obwohl alles was ihr zugehört von ihnen positiv bewertet werde, (vgl. Brämer 2003, S.20ff.) Brämer (2009) spricht in diesem Zusammenhang vom „Bambi-Syndrom“, einem verklärten Naturbild, welches er im Jugendreport Natur von 1997 zum ersten Mal empirisch untersucht und über das er folgende Aussage trifft (vgl. Brämer 2009, S.2):

„Den befragten Schülern stellte sich die Natur mehrheitlich als gut, schön und harmonisch, aber auch hilfsbedürftig und schützenswert dar. Man schrieb Tieren eine Seele zu, dem Menschen dagegen die Rolle eines Störenfrieds oder gar Tiermörders. Wie ein Rehkitz so erschien die gesamte Natur als schön, seelen­voll, verletzlich, man sollte beim Kontakt möglichst auf Distanz bleiben, die We­ge nicht verlassen, Ge- und Verbote achten und - besonders wichtig - die reine Natur nicht beflecken, konkret: auf Sauberkeit und Ordnung achten.“ (Brämer 2009, S.2)

Dieses durch Kinderbücher, verklärte Naturpädagogik und Medien, entstandene Naturbild verstärke zusätzlich die schleichende Entfremdung von der Natur durch das Leben in einer technisierten, zivilisierten, die Natur bezwingenden Welt. Wie sollten Jugendliche authen­tische Naturerfahrungen sammeln und eine Beziehung zur Natur aufbauen, wenn die Ein­stellung vorherrsche Grillplätze, Querfeldeingehen und Insekten anzufassen, schade der Natur. Um Natur und Landschaft ganzheitlich sinnlich wahmehmen und sinnstiftende Selbsterfahrungen ermöglichen zu können, dürfe der Mensch sich nicht durch Verbote und „verqueres“ Wissen aus ihr ausgrenzen, (vgl. Brämer 1999, S. 16ff.) „Der Mensch findet in der Natur etwas, dem er sich vorbehaltlos hingeben kann, echtes und ursprüngliches Leben offenbart sich ihm. Und das Wandern ist dann nichts anderes als das Sich-treiben-lassen vom Strome dieses Lebens der Natur." (Stenzei I960, S.107)

Der Zusammenhang von Naturerlebnissen und Wandern ist offensichtlich. „Die intensivs­ten Naturerlebnisse hat man nachweislich beim Wandern" heißt es in einem Interview mit Rainer Brämer. Um Naturerfahrungen zu machen, müsse man wandern gehen. Hier nehme der Mensch sich selbst wieder als Naturwesen wahr (vgl. Brämer 2003, S.21f.; S.25). Im Unterschied zum*r Rad- oder Autofahrer*in sei eine Person, die wandert, nicht von der Landschaft getrennt, sondern befinde sich unmittelbar in ihr und werde als Teil von ihr in sie aufgenommen (vgl. Bollnow 1963, S.113). Wer wandert, befinde sich direkt bei den Dingen, könne stehen bleiben und sie genauer betrachten. Gleichzeitig werde der durch­wanderte Raum real erfahrbar. Distanzen und Orte bekämen eine Bedeutung, (vgl. Vollmar 2002, S.3) Die Bewegung sei auf keine Richtung beschränkt, sondern überallhin möglich, sodass Wandern ganz konkrete Freiheitserfahrungen vermitteln könne (vgl. Brämer 2003, S.27). Der Raum - und damit die Welt - tue sich den Wandernden auf (vgl. Bollnow 1963, S.117).

Wandern ermöglicht authentische Naturerlebnisse, deren Bildungsmöglichkeiten nicht erst künstlich inszeniert werden müssen, sondern einen unmittelbaren Effekt haben. Natur schafft durch ihren Abstand zum von Technisierung und Zivilisation geprägten Alltag ei­nen Raum, in dem Reflexionen angeregt werden. Gleichzeitig ermöglicht die Natur durch ihre Wirkung als Spiegel der Gefühlswelt des Menschen Selbsterfahrungen, die für die Entwicklung von Reflexionsvermögen essentiell sind. Wandern macht entgegen der fort­schreitenden Naturentfremdung Natur wieder erfahrbar.

Wandern ist aus pädagogischer Sicht ein ausgesprochen gutes Medium um Jugendlichen authentische Naturerfahrungen, die für Bildung wichtig sind, zu ermöglichen. Dass sich die Wanderlust von Jugendlichen jedoch auf ihrem biografischen Tiefpunkt befindet, muss in der pädagogischen Arbeit beachtet werden. Die Aversionen gegen das Wandern soll schließlich nicht verstärkt, sondern abgebaut werden. Dafür lässt sich die Vielfalt der Natur nutzen, denn sie bietet nicht nur sinnliche Erfahrungen im Sinne von Landschaftsbetrach­tungen, sondern auch Herausforderungen und Abenteuerliches. Schroffe Berge oder ein reißender Fluss, der durchquert werden muss, passen unter Umständen besser zur Lebens­wirklichkeit und den Bedürfnissen von Jugendlichen als ein sanftes Mittelgebirge, da sie herausfordernder und damit abenteuerlicher sind. Das Wandern schafft einen Zugang zur Natur und deren Bildungsmöglichkeiten. Gleichzeitig weckt die Natur durch ihre Vielfalt an Herausforderungen das Interesse der Jugendlichen für das Wandern selbst.

3.7 Schlussfolgerungen: pädagogische Möglichkeiten des Wanderns

In den vorangegangenen Abschnitten wurde ausführlich dargelegt, dass das Wandern als zweck- und ziellose Tätigkeit, die von den Wandernden gestaltet wird, definiert werden kann. Es wurde weiterhin deutlich gemacht, dass Jugendliche das Wandern zwar eher ab­lehnen, durch das Abenteuerliche und die Natur aber ein Bezug zu ihrer Lebenswelt herge­stellt werden kann. Um die zu Beginn gestellte Frage nach den Bildungsmöglichkeiten des Wandems im Jugendalter zu beantworten, sollen im folgenden Abschnitt noch einmal die Bedeutung der Aspekte des Gehens, der Fremde und des Abenteuers, sowie Zeit- und Na­turerfahrungen aufgezeigt und möglichst konkret zusammengefasst werden. Dabei liegt der besondere Fokus darauf, inwieweit Wandern einen Bezug zur Lebenswelt Jugendlicher besitzt und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die Pädagogik ergeben.

3.7.1 Bildungsmöglichkeiten

1. Wandern kann neue Erfahrungen und eine offene Haltung zur Welt fördern

Der Mensch befindet sich beim Wandern im aufrechten Gang, wodurch nach Vollmar (2002) die Möglichkeit entstehe, aktiv auf Dinge zuzugehen und sich diese anzueignen. So werde eine offene Haltung zur Welt zugelassen, (vgl. Vollmar 2002, S.3f.) Ebenfalls för­derlich für diese weit- und erfahrungsoffene Einstellung ist das zwecklose Wesen des Wandems: Der Mensch entfliehe laut Stenzei (I960) der Zweckgebundenheit des Alltags sowie den damit verbundenen Verpflichtungen und könne Neues zulassen. Dies werde durch die im Wandern entstehende gehobene Stimmung, durch das Abfallen der alltägli­chen Sorgen und Nöte, unterstützt. Hinzu komme, dass Wandern nicht auf ein konkretes Ziel ausgerichtet sei. Es lade zu Umwegen und zum Verweilen ein. Erfahrungsmöglichkei­ten würden so nicht durch zuvor festgelegte Ziele und alltägliche Verpflichtungen einge­schränkt, sondern blieben offen, (vgl. Stenzei I960, S.lOlff.; 105) Das langsame Wesen des Wandems ermögliche nach Becker (1994) durch die veränderte Zeitperspektive eine andere, geöffnete Wahrnehmung der Welt. Die Aufmerksamkeit könne in der Langsamkeit des Wandems auf Dinge gerichtet werden, die bei einem schnellen Fortbewegen nicht ge­sehen werden könnten, (vgl. Becker 1994, S.535f.) Zudem wirke sich auch die Natur auf die Wahrnehmung aus. Sinne wie Tasten und Riechen würden in natürlicher Umgebung verstärkt angesprochen und Erfahrungen seien intensiver spürbar, (vgl. Becker 2003, S.24f.)

All dies sind Aspekte, die eine offene Haltung zur Welt fördern und eine Vielfalt an Erfah­rungen ermöglichen. Sie können damit als Bedingung für Bildung gesehen werden: Men­schen müssen Neues und Fremdes überhaupt erst zulassen, darauf zugehen können und bereit sein, es sich anzueignen. So können Erlebnisse gemacht, Reflexionen angeregt und Erfahrungen zu Bildung werden. Geöffnete Erfahrungsräume lassen eine Vielzahl an Bil­dungschancen entstehen.

2. Wandern kann das Denken anregen

Neben den neuen Erfahrungen, die der Mensch durch die zweckfreie Bewegung beim Wandern aus erster Hand machen kann, ist die Wirkung der Gehbewegung nochmals ge­sondert zu erwähnen: Durch ihren rhythmischen und ruhigen Charakter eignet sie sich, um Denk- und Reflexionsprozesse anzuregen. Körper und Geist würden sich gegenseitig be­einflussen und Zusammenwirken, (vgl. Giersch 1984, S.264f.) So werde der wandernden Person der Zugang zur inneren und äußeren Welt erleichtert, was wiederum Reflexionen anregen und damit Bildungsmöglichkeiten fördern kann.

3. Wandern kann Raum für Reflexionen schaffen

Da Reflexionsfähigkeit grundlegend für die Entwicklung aller weiteren bildungsrelevanten Fähigkeiten ist (siehe Kapitel 2.3), ist alles, was deren Aufbau und Weiterentwicklung för­dert, wichtig für Bildung. Beim Wandern konnten drei Wirkmechanismen festgestellt wer­den, die Raum geben, um Reflexionen anzuregen:

Durch Fremdheitserfahrungen: Wandern als Form des abenteuerlichen Unterwegsseins bietet durch seine Strukturähnlichkeit zum Abenteuer Bildungsmöglichkeiten. Durch den Aufbruch ins Fremde, die Bewältigung von krisenhaften Situationen und der anschließen­den Rückkehr werde das Gewohnte in Frage gestellt und die wandernde Person zum Nach­denken und Reflektieren angeregt. Krisenhafte Situationen verlangten laut Becker (2005) und Fuhrmann (2009) Entscheidungen, Lösungen und neue Handlungsaltemativen und seien damit eine treibende Kraft für Bildung. Aus der Auseinandersetzung mit Fremdem und Unbekanntem könne Neues entstehen, (vgl. Becker 2005, S.234ff.; Fuhrmann 2009, S.82)

Durch Verzögerung: Die Auseinandersetzung mit dem Fremden, die Zuwendung zur Welt und zu sich selbst brauche Zeit, so Becker (1994, S.533). Die Verzögerungen durch die langsame Fortbewegungsart des Gehens, durch Umwege oder durch Stehenbleiben­Können, öffne Räume zum Nachdenken, Fragen stellen und Antworten suchen (vgl. Dörpinghaus 2008, S.42-45). Wandern unterbricht damit lineare und zielgerichtete Zeit­strukturen des Alltags und ist, wie Bildung, eine Bewegung der Verzögerung. Wandern als langsame Form des Unterwegsseins unterstützt damit Bildungsprozesse.

Durch Naturerfahrungen: Im Wandern könnten authentische Naturerfahrungen gemacht werden. Diese würden wiederum Möglichkeiten zu sinnstiftenden Selbsterfahrungen schaf­fen und könnten damit Raum für Reflexionen öffnen. Nach Gebhard (2013) liege der Grund hierfür in der scheinbar objektiven Wahrnehmung subjektiver Erfahrungen und Ge­fühle durch die Natur. Die Natur wirke als Spiegel des Selbst. Das Subjekt übertrage seine Emotionen und Stimmungen auf die äußeren Dinge in der Natur, lasse Atmosphären ent­stehen und nehme diese gleichzeitig vermeintlich objektiv war. In den Atmosphären wür­den die eigenen Gefühle und Stimmungen schließlich sichtbar und Selbsterfahrungen seien möglich (siehe Kapitel 3.6). Diese Selbsterfahrungen sind essentiell für die Entwicklung von Reflexionsfähigkeit.

4. Über das Wandern können Inhalte vermittelt werden

Wandern kann nicht nur die Haltung zur Welt verändern, Gedankengänge anregen und Reflexionsfähigkeit aufbauen, sondern auch praktische Dinge wie Orientierung, Wetter­kunde, Naturgesetze oder die Funktion von Ausrüstungsgegenständen vermitteln. Körperli­che Grenzen, die Auseinandersetzung mit einer konkreten Entwicklungsanforderung oder oder unterschiedliche Umgangsformen mit Zeit können thematisch aufgegriffen und ein Umgang und Bewältigung mit ihnen erprobt werden.

3.7.2 Wandern im Lebensweltbezug Jugendlicher?

Wandern kann jedoch nur dann individuell relevante Bildungsmöglichkeiten schaffen, wenn es in den Lebensweltbezug von Jugendlichen passt und dabei auftretende Bildungs- hinhalte von ihnen als relevant angesehen werden. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, ist eine selbstbestimmte Aneignung von individuell relevanten Inhalten möglich. Hinsichtlich der Passung zur Lebenswirklichkeit von Jugendlichen muss das Wandern jedoch kritisch betrachtet werden, da es von Jugendlichen eher mit negativen Konnotationen besetzt ist. Durch seine Strukturähnlichkeit zum Abenteuer und seinen Bezug zur Natur könnte auch das Wandern das Bedürfnis Jugendlicher nach Herausforderungen befriedigen. Wie Brämer (2007) in seiner Studie feststellen konnte, würden Jugendliche die Natur mögen, sie als herausfordernd ansehen und sich gerne in ihr bewegen. Gleichzeitig scheinen Langsamkeit und Monotonie (im Gehen) nicht zur Lebenswelt von Jugendlichen zu passen, da sie Lan­geweile hervorrufen. Wenngleich Wandern und damit verbundene Langsamkeit von Er­wachsenen als bereichernd empfunden wird, so wirkt es für Jugendliche eher abschre­ckend. Für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen müsste das Wandern also ab­wechslungsreich und spannend sein und so herausfordernd gestaltet werden, dass Lange­weile und Monotonie nicht empfänden werden.

Wandern stimmt demnach unter bestimmten Bedingungen mit den Interessen und Bedürf­nissen Jugendlicher überein. Durch seine Vielzahl an Möglichkeiten zur Förderung von Bildung lässt sich seine Bedeutung für die pädagogische Praxis aber nicht leugnen. Folg­lich sollte Wandern als Methode zur Unterstützung für die Bildung Jugendlicher in Be­tracht gezogen werden.

3.7.3 Hinweise zur pädagogischen Praxis und kritische Überlegungen

Das Wandern bietet einige Besonderheiten, die sich positiv auf die praktische Verwendbar­keit in der pädagogischen Arbeit auswirken könnten: Wandern lässt sich relativ einfach und spontan durchführen. Es ist nicht an eine bestimmte (Jahres-) Zeit gebunden und braucht keinen besonderen Raum der vorbereitet oder zu dem erst angereist werden muss. Anders wäre dies beispielsweise bei einer Wildwasserstrecke oder einem Kletterfelsen. Hinzu kommt außerdem, dass weder besonderes Equipment noch Fähigkeiten vorhanden sein müssen. Es ist kostengünstig, schnell realisierbar als Methode, und auch für eher unsportli­che Jugendliche relativ niedrigschwellig durchführbar. Der Verzicht auf komplizierte Ma­terialen, technische Wissensaneignung oder körperliches Training ermöglicht die Fokussie- rung auf das Wesentliche: Offenheit für neue Erfahrungen und damit selbstbestimmte Bil­dung.

Weiterhin ist Wandern, je nach gewähltem Gebiet oder Zeitdauer relativ ungefährlich. Dies kann ein Vorteil sein, da die Jugendlichen weniger durch Sicherheitsvorkehrungen einge­schränkt sind und somit ein größerer kontrollfreier Handlungsraum zur Verfügung steht, der wiederum mehr Offenheit für Erfahrungen bedeutet. Nachteilig wäre es jedoch, wenn das Fehlen von Wagnis und Risiken das Gefühl von mangelnder Herausforderung auf­kommen ließe. Dies könnte durch den fehlenden Bezug zur Lebenswelt des*r Jugendlichen zu Langeweile und Ablehnung führen.

Wandern lässt sich gut an subjektive Herausforderungsbedürfnisse anpassen. Zum einen lässt die Einfachheit und relative Ungefährlichkeit des Wandems großen Spielraum für Variationen, zum anderen bietet die Natur von sich aus eine große Vielzahl an Herausfor­derungen. So können von der pädagogischen aber auch jugendlichen Seite aus Herausfor­derungen so gewählt werden, dass sie den jeweiligen Bedürfnissen entsprechen, ohne Lan­geweile auf der einen Seite oder Überforderung auf der anderen aufkommen zu lassen. So­wohl Pädagog*innen als auch Jugendliche könnten sich bewusst beispielsweise für oder gegen eine Wanderung durch schwieriges Gelände, mit viel oder wenig Ausrüstung, über mehrere Tage oder wenige Stunden, entscheiden.

Eine weitere Besonderheit, die das Wandern als Aktivität in der Natur bietet, liegt in seiner Authentizität. Die Natur bietet von sich aus Erlebnisse und Herausforderungen, die nicht erst inszeniert werden müssen. Statt eines künstlich geschaffenen pädagogischen Pro­gramms mit künstlich hergestellten Schwierigkeiten sind schroffe Berge oder reißende Flüsse, die bewältigt werden müssen, bereits vorhanden. Pädagogische Arbeit kann diese bereits bestehenden natürlichen Gegebenheiten nutzen und der Abwehrhaltung, die Jugend­lichen oft gegen derartige Inszenierungen Erwachsener haben (vgl. Holzkamp 1983, S.128- 135), entgehen. Fremdbestimmte Planungen und Inszenierungen können beim Wandern gering gehalten werden, was die Akzeptanz bei Jugendlichen erhöht und die Bildungsmög­lichkeiten des Wandems erweitert.

Geringe Inszenierungen des pädagogischen Angebotes könnten nicht nur ein Vorteil bei der Reduktion jugendlicher Abwehrhaltungen sein, sondern stellen auch eine Vorausset­zung für Bildung dar. Das Wandern erhält seinen erfahrungsöffnenden Charakter durch seine Zweck- und Ziellosigkeit. Wird es jedoch im pädagogischen Sinne zielführend für Bildung genutzt, verliert es diese Eigenschaft teilweise. Dann läge es am Grad der Selbst­bestimmtheit des Individuums sich für ein Einlassen auf die fremdgesetzten Ziele zu ent­scheiden oder nicht. Gelingt dies nicht und würde selbstbestimmte Bildung verhindert wer­den, da fremdgesteckte Ziele dahintersteckten, würden Erfahrungsmöglichkeiten einge­schränkt und in eine vorgegebene Richtung gelenkt werden. Der durch das Wandern geöff­nete Raum würde verengt und Bildungsmöglichkeiten gingen verloren. Für eine selbstbe­stimmte Bildung wäre es wichtig, die Offenheit, die das Wandern von sich aus bietet, zu nutzen und nicht durch unnötige pädagogische Inszenierungen zu verschließen. Im Idealfall würden sich Jugendliche selbst für eine Wanderung entscheiden, diese selbst organisieren und sich Herausforderungen je nach Interessen und Bedürfnissen selbst stecken. Die päda­gogische Fachkraft stünde lediglich begleitend zur Seite, um beim Aufbau bildungsrelevan­ter Kompetenzen und Fähigkeiten zu helfen, ohne aber lenkend einzugreifen. Seine*ihre Aufgabe bestünde darin, sich zu fragen, was eigentlich die relevanten Bildungsinhalte in Bezug auf den*die spezieller Jugendlicher sind und wie sich diese in die Planung einer Wanderung einbauen ließen, ohne die Offenheit der Bildungsmöglichkeiten zu gefährden. Die Antwort auf die Frage, was es nun genau heißt nicht zu lenken, wo Inszenierung be­ginnt und wo sie aufhört, kann hierjedoch nicht gegeben werden.

Zusammenfassend bietet Wandern unverkennbar Bildungspotentiale, die pädagogisch gut genutzt werden können. Es schafft eine offene Haltung zur Welt, regt den Geist an, fördert Reflexionsfähigkeit und kann Handlungskompetenzen vermitteln. Gleichzeitig ist es eine Aktivität, die einfach umzusetzen ist und durch seine Einfachheit zur Natur des Menschen passt. Sie ist relativ ungefährlich und bietet dennoch Herausforderungen, die nicht pädago­gisch inszeniert werden müssen, sondern bereits in der Sache an sich stecken.

Obwohl das Wandern überzeugende Bildungsmöglichkeiten zu haben und zudem pädago­gisch einfach umsetzbar zu sein scheint, können sich auch Schwierigkeiten ergeben: Wird es von Jugendlichen nicht intrinsisch motiviert unternommen, birgt das Wandern die Ge­fahr, am Lebensweltbezug von Jugendlichen vorbeizugehen. Gerade das Langsame und Monotone kann bei Jugendlichen zu Langeweile und damit zu einer Abwehrhaltung führen. Dies könnte zur Folge haben, dass die Bildungspotentiale des Wandems ungenutzt blieben.

4. Pädagogische Möglichkeiten des Solos

Sylke Iacone (2008) deutet in ihrem Artikel an, dass Zeiten des Allein-Seins schon seit jeher in vielen Kulturen als wertvoll erkannt würden und verweist auf Konfuzius, Jesus, Kant und Thoreau, die in Phasen des Allein-Seins besonders tiefgreifende Erfahrungen gemacht hätten. Auch Roswitha Merazzi (2010) beschreibt das Solo als eine Form der Vi­sionssuche, die aus einer ,,alten, traditionellen und geheimnisumwitterten Methode“ (Merazzi 2010, S.90) hervorgegangen sei. Im Ursprung einer weiteren Form der Visionssu­che, des „Vision Quest“, zeige sich die Verwurzelung mit indigenen Kulturen Nordameri­kas und schamanischen Riten. Oft werde hier noch an verschiedenen schamanischen Prak­tiken festgehalten, von Rasseln über Beräucherung bis hin zu Medizinräten. Dabei verweist sie auch auf die Problematik, die sich ihrer Meinung nach hinter dem Festhalten an traditi­onellen Methoden verberge: die heutige Gesellschaft hätte sich gewandelt, und mit ihr auch Übergangsrituale und Initiationsriten. Teilweise seien diese vergessen, nicht mehr vorhan­den oder hätten ihre Bedeutung verloren. Somit sei die gesellschaftliche Aktualität des Vi­sion Quest und daraus folgernd dessen gesamte pädagogische Verwendbarkeit fragwürdig. Trotzdem werde es immer wieder im erlebnispädagogischen Bereich als Methode ange­wendet, da seine Wirkungen offensichtlich seien, (vgl. Merazzi 2010, S.90f.)

4.1 Das Solo als Methode in der Erlebnispädagogik

Unabhängig von den traditionellen Wurzeln entwickelte sich das Solo. So wird Henry Da­vid Thoreau von Heckmair (2012) als früher Vordenker der Solomethode gesehen. Dieser zog am amerikanischen Unabhängigkeitstag im Jahr 1845 in seine selbst gebaute Hütte am Walden-See, um dort zweieinhalb Jahre in Einsamkeit zu verbringen. Dies sei jedoch kein romantischer Rückzug gewesen, sondern ein geplantes Selbstexperiment, in dem er gegen den „American Dream“ und die Idee der Naturbeherrschung protestierte. Sein Ziel sei ge­wesen, sich nicht durch unnötige Bedürfnisse und Luxus ablenken zu lassen, sondern das Leben in der Unmittelbarkeit der Natur wahrzunehmen und damit zu wahren Erkenntnissen zu gelangen. Er verfasste dazu sein Werk „Waiden - das Leben in den Wäldern“, (vgl. Heckmair 2012, S.23f.) In Bezug auf das Solo in der heutigen Erlebnispädagogik scheint von dieser Ideologie jedoch nicht viel zu bleiben (vgl. Heckmair 2012, S.217): „Mit dem Solo wird Thoreaus Walden-Experiment als erlebnispädagogische Reise ins Innenleben in die Gegenwart hinübergerettet und - sozusagen in Pillenform - auf kurzzeitpädagogische Maßstäbe zurechtgestutzt (Heckmair2012, S217).

Merazzi (2010) sieht den Ursprung des Solos in einem Outward-Bound-Sommerkurs 1962 in Amerika, als die Versorgung für eine gesamte Gruppe ausfiel und der Leiter die Jugend­lichen kurzerhand mit dem nötigsten Wissen, wie man sich aus der Natur ernährt, in ein dreitägiges Solo schickte. Diese Methode wurde in den Outward-Bound-Schulen schnell bekannt, oft aber mit dem Ruf eines harten Überlebenstrainings verbunden, (vgl. Merazzi 2010, S.90f.) Eine zweite Wurzel finden Merazzi (2010) und Smith (2005) in den Outward- Bound-Schulen Kurt Hahns. Dieser habe erkannt, dass echte Lemerfahrungen sowohl Pha­sen von Aktivität als auch Phasen der Ruhe und des Für-Sich-Seins benötigten, bestenfalls in Verbindung zur Natur. Deshalb schickte er die Schülerinnen täglich auf eine stille Wanderung, um mit der Natur in Kontakt treten und Reflexionsfähigkeiten aufbauen zu können, (vgl. Merazzi 2010, S.91; Smith 2005, S.4)

Auch in der heutigen Erlebnispädagogik wird der Wert des Solos als Kontrast zu den meist bewegungsintensiven Aktivitäten erkannt (vgl. Heckmair 2012, S.217). Smith (2005) be­zeichnet es als Möglichkeit für eine Wachstums- und Lemerfahrung, die Zeit für Introspek­tion und Reflektion biete. Merazzi (2010) stellt fest: der Mensch sei für eine festgelegte Zeitspanne ,,ganz auf sich allein gestellt und wird mit seinem ureigensten Wesen, eventuell auch mit seinem Schatten und seinen Abgründen konfrontiert“ (Merazzi, 2010, S.95). Si­bylle Roth (2013) schreibt in ihrem Artikel „Finnland - Land der unbegrenzten Einsam­keit“ zum Solo:

„Solo ist für mich ein Medium des Wachstums, Verständnisses und der Ein­sicht. Persönliches Wachstum und Weiterentwicklung kommen, ebenso wie Verständnis und Einsicht für die Natur mit ihren Gegebenheiten und Besonder­heiten zum Tragen. Im Solo kann man die Stille wieder erlebbar machen. Das Unterwegssein in der Gruppe lässt die Natur schnell zur bloßen Kulisse wer­den. Im Unterwegssein mit sich und der Natur kann man ganz puristisch wahr­nehmen, was einem die Natur in ihrer ganz individuellen Dimension nahe bringt.“ (Roth 2013, S.25)

In der konkreten erlebnispädagogischen Praxis kann ein Solo wenige Minuten bis mehrere Tage dauern, in denen die Solistinnen in sich gehen. Nach Heckmair (2012) handelt es sich beim Solo im Allgemeinen um eine gewisse Zeitspanne, die die Teilnehmerinnen allein, an einem selbst gewählten oder ihnen zugewiesen Ort, in der Natur verbringen. Sie haben keinen Sichtkontakt zu anderen Solistinnen oder nicht natürlichen Dingen. Die Ausrüstung und Verpflegung ist möglichst simpel: Außer Schreibutensilien dürfen keine ablenkenden Gegenstände mitgenommen werden. Dazu zählen beispielsweise Genussmit- tel, Bücher oder Uhren. Nach Heckmair sei ein Solo dann pädagogisch sinnvoll, wenn es in mehrtägige Touren integriert werde, zwischen 12 und 36 Stunden lang sei und mindestens eine Nacht überdauere, (vgl. Heckmair 2012, S.217) Oft seien Programme der unterschied­lichen Anbieter sehr strikt organisiert und strukturiert. Dazu gehörten zum Beispiel aus­führliche Vor- und Nachbereitungsphasen, Aufgaben, die die Teilnehmerinnen mit in das Solo nehmen, Aktivitäten, die sie durchführen sollten, tägliche Besuche von den Anleiterinnen oder wiederholte Beratungsgespräche, die die Reise ins Innenleben lenken sollten, (vgl. Smith 2005, S.7; Merazzi 2010, S.94)

Wie Solos schließlich durchgeführt werden, sei unter den anbietenden Organisationen un­terschiedlich. Je nach Grad der Auseinandersetzung mit dem Thema, pädagogischer Ideo­logie und Kontext werde das Solo unterschiedlich eingebettet, (vgl. Iacone 2008) Die in der Literatur immer wieder auftretenden Diskussionspunkte ranken sich vor allem um Fragen der Notwendigkeit von Vor- und Nachbereitung und um Sicherheitsaspekte. Wie sehr muss in den Prozess des Alleinseins eingegriffen werden? Welche Rolle hat die pädagogische Fachkraft im Kontext einer Methode, in der eresie eigentlich gar nicht anwesend ist?

Bevor auf diese Fragen eingegangen werden kann, soll das Solo zunächst nicht als pädago­gische Methode, sondern schlicht als bloße zeitweise, subjektiv empfundene Form des Al- lein-Seins gesehen werden, denn es ist zu vermuten, dass mit der Methode meist bestimmte Durchführungsformen, Wirkungsweisen, Erfahrungen verbunden werden. Dadurch könnte eine offene Beschäftigung mit der Thematik erschwert werden. Deswegen soll in dieser Arbeit zunächst auf den Begriff „Solo“ an sich, die Bedeutung von Einsamkeit sowie die Bedeutung von Allein-sein für Jugendliche eingegangen werden, bevor diese Erkenntnisse wieder auf das Solo in der Pädagogik bezogen werden.

4.2 Zur Begrifflichkeit des Wortes „Solo“

Fragt man den Duden nach der Bedeutung von „Solo“ stößt man auf zwei Bedeutungen: es wird erstens als „musikalische oder tänzerische Darbietung eines einzelnen Künstlers, meist zusammen mit einem [als Begleitung auftretenden] Ensemble “ (Dudenredaktion 2007, S.1558) oder zweitens als „Alleingang“ (Dudenredaktion 2007, S.1558), bzw. als „Spiel eines einzelnen Spielers gegen die übrigen Mitspieler“ (Dudenredaktion 2007, s.1558) verstanden. Eine weitere Hilfestellung bietet das Synonymwörterbuch der Duden­redaktion (2006):

„1. allein, als Solist, als Solistin.

2. a) alleinstehend, ehelos, ledig, nicht gebunden, ohne feste Bindung, ohne Frau/Partnerin, ohne Mann/Partner, single, unverheiratet; [...] b) für sich, ohne Begleitung/Gesellschaft; (emotional): mutterseelenallein “ (Dudenredaktion 2006, S.801)

Objektiv gesehen bedeutet Solo ohne eine andere Person. Durch unterschiedliche subjekti­ve Sichtweisen und situative Sinnzusammenhänge kommen der Aussage „etwas Solo zu tun“ jedoch ganz unterschiedliche Nebenbedeutungen und damit auch Charakteristiken zu. So scheint „mutterseelenallein, oder „für sich“ eher mit negativen Gefühlen verbunden, während die Bezeichnung „Alleingang“ vielmehr einen selbstbewussten, unabhängigen Eindruck vermittelt. Ohne zur allgemeinen Bedeutung des Wortes „Solo“ weiter in die Tie­fe gehen zu wollen, wird hier schon die Vielfältigkeit des Begriffs deutlich.

Auch in der Literatur des erlebnispädagogischen Bereichs taucht im Zusammenhang mit „Solo“ eine Vielfalt an Begriffen auf, die je nach Situation, subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen die unterschiedlichen Konnotationen des Solos aufzeigen. Dazu gehören bei­spielsweise „Einsamkeit“, „Allein-sein“, „Verlassenheit“, oder „Mit-sich-sein“ (vgl. Heckmair (2012, S.217f.j; Iacone (2008); Merazzi, (2010, S.91f.)) bzw. im Englischen die Begriffe Solitude, Aloneness oder Loneliness (vgl. Buchholz 1999). Manche Begriffe sind eher negativ, andere durchaus positiv konnotiert. Wie sie gewertet werden, ist abhängig von Kultur und persönlichen Erfahrungen.

Im Folgenden setzt sich die vorliegende Arbeit mit dem Begriff der Einsamkeit auseinan­der, da sie die verschiedenen Bedeutungen in sich zu tragen scheint. So sollen die Zusam­menhänge der verschiedenen Nebenbedeutungen und damit ihre Wichtigkeit für den Men­schen und die Pädagogik deutlich werden.

4.3 Bedeutung von Einsamkeit

Der Begriff der Einsamkeit werde durch kulturelle Auffassungen bereits gewertet (vgl. Haug 2000, S.59) und besonders in unserer westlichen Gesellschaft meist mit negativen Konnotationen besetzt. So stellt Thomas Macho (2000, S.27) fest, dass Einsamkeit in unse­rer Kultur oft als ein fataler Umstand, als etwas das normalerweise passiv erlitten wird, gelte. Meist stehe nur die schmerzvolle Seite im Blick. Einsamkeit hat jedoch auch andere Seiten. In der englischsprachigen Literatur unterscheiden Larson (1997) und Buchholz (1999) daher zwischen „Solitude“ bzw. „Aloneness“ und „Loneliness“. Ersteres sei ein objektiver Zustand des Allein-Seins, in dem keine Kommunikation mit Anderen möglich sei. Loneliness sei ein subjektiver, negativ empfundener Zustand, der unabhängig von tat­sächlichem Allein-Sein auftreten könne. Die bedeutungsnächste Übersetzung dazu wäre Verlassenheit, (vgl. Buchholz 1999, S.204; Larson 1997, S.80) Auch Joachim Kahl (2006, S.l) stellt fest, dass Einsamkeit nicht nur Negatives habe, sondern vielfältige Aspekte auf­weise und schreibt hierzu:

„Einsamkeit ist die empathische Form des Alleinseins. Einsamkeit ist bewusst erlebtes, gesteigert wahrgenommenes Alleinsein, das aus der strukturellen Un- terschiedenheit von „Ich“ und „Nicht-Ich“ entspringt. Einsamkeit ist die Un- terschiedenheit, Abgeschiedenheit, Abgesondertheit des einzelnen von seiner Umwelt und seinen Mitmenschen, und zwar, weil er ein einzelner ist. Einsam­keit ist nicht Vereinsamung, Verlassenheit, Verlorenheit, sondern ein existenti­eller Grundtatbestand, der a priori mit der Individualität, mit unserer Existenz als Einzelwesen gegeben ist.“ (Kahl 2006, S.l)

Kahl (2006) geht also von einer ,,existentiellen Grundeinsamkeit des Menschen“ (Kahl 2006, S.4) aus, denn alle Menschen seien Einzelwesen, die für sich alleine und mit sich alleine lebten, für sich alleine sterben und sich von jedem andere Menschen auf der Welt unterscheiden würden, (vgl. Kahl 2006, S.4) Walter Haug (2000) stellt fest, dass vor allem grundlegende biografische Erfahrungen wie Geburt und Tod aber auch alle weiteren Erfah­rungen generell einsame Erfahrungen seien, denn die Art und Weise, wie sie gemacht wür­den sei subjektabhängig und damit einmalig (vgl. Haug 2000, S.61). Einsamkeit scheint demnach ein unvermeidlicher Teil des menschlichen Lebens zu sein. Der Mensch dürfe sich jedoch nicht von Einsamkeit im Sinne eines Verlassenheitsgefühls überwältigen las­sen. Vielmehr gelte es, sie zu akzeptieren und ihren Wert zu erkennen, denn Einsamkeit könne auch sinnvoll und produktiv sein, wenn man gelernt habe mit ihr umzugehen, (vgl. Kahl 2006, S.l-4; Macho 2000, S.28)

Thomas Macho (2000) beschäftigt sich aus diesem Grund mit Einsamkeit aus der Perspek­tive einer Erfahrung, die aktiv aufgesucht wird, die schmerzhaft, aber auch lustvoll sein und die als kulturelle Technik betrieben werden kann. Seiner Meinung nach sei es in unse­rer Kultur wichtig, Einsamkeitstechniken zu lernen und zu üben, denn in einer Kultur mit einer großen Menge an Menschen werde Einsamkeit begehrt und gebraucht, denn durch sie könne der Mensch zu Selbstbestimmung und damit Freiheit gelangen. Der Mensch sei ein Wesen, das, wenn es mit sich allein ist, eigentlich zu zweit ist. Er könne Selbstgespräche führen, höre innere Stimmen, die auf ihn einredeten, die ihn überwältigen und verwirren könnten und die er ordnen und disziplinieren müsse. Einsamkeitstechniken seien in diesem Sinne Übungen zum Schutz des eigenen Ichs vor einer Überwältigung durch Ereignisse und Affekte, indem ein zweites „höheres Selbst“ zu Hilfe gerufen werde. Mit diesem Selbst meint Macho beispielsweise die Imagination eines Gesprächspartners, eines*r inneren Wächters*Wächterin, einer zuschauenden Person oder Lehrkraft. Das Erreichen einer sol­chen Disziplinierung des inneren Chaos könne als Gefühl von Freiheit und Unbelangbarkeit erlebt werden, (vgl. Macho 2000, S.29ff.; S.44)

Laut Macho (2000, S.32f.) können Einsamkeitstechniken aber nicht nur ein Besessenwerden durch innere Stimmen verhindern, sondern auch durch äußere. So lerne der Mensch sich selbst zu gehören statt fremdbestimmt zu werden. Macho schreibt hierzu:

„Die meisten Einsamkeitstechniken intendieren [...] die Abwehr von bedrohli­chen Obsessionen und externen Besitzansprüchen. Wer sich daran gewöhnen konnte, mit sich selbst zu sprechen, vermochte die Befehlsketten fremder Stim­men - gleichgültig, ob sie von Priestern, Geistern, Eltern, Lehrern oder Anfüh­rern stammten - durch Anhörung der eigenen Stimme zu neutralisieren; er pa­rierte die internalisierten Unterwerfungszwänge des alltäglichen „Gehorsams“ - einer nicht nur sozial verträglichen, sondern geradezu konstitutiven „Beses­senheit“ - durch einen Zustand alternativer „Besessenheit.“ (Macho 2000, S.32f.)

Statt von Fremden, wird man nun alternativ vom „höheren Selbst“ besessen, dem anderen Ich, das zuschaut, sieht was man tut und im Zwiegespräch mit einem steht. Macho (2000) spricht in diesem Zusammenhang von der Begegnung mit dem Selbst und der Selbstver­doppelung. Durch Einsamkeitstechniken mache sich der Mensch unabhängig von den Ein­flüssen der äußeren Welt, könne ohne Ablenkung sein zweites Ich finden und formen und sich damit selbst wahmehmen und kennenlemen. (vgl. Macho 2000, S.32-35) Zu den er­lernbaren Einsamkeitstechniken zählt Macho (2000) beispielsweise Meditation und Gebete, oft in Verbindung mit Atemtechniken, aber auch asketische Praktiken wie sexuelle Enthalt­samkeit und körperliche Entbehrungen. Eine der ältesten Techniken sieht er im realen, aber auch imaginativen Fortgehen, der Trennung von gewohnten hin zu fremden Orten, da hier ebenfalls die Wirkung von Einsamkeit auftrete. Als letzte wichtige Einsamkeitstechnik nennt er schließlich das Lesen und Schreiben, denn „Der Lesende spaltet sich auf in ein sprechendes und hörendes Selbst; der Schreibende spaltet sich auf in Autor und Adressat seiner Texte“ (Macho 2000, S.43). Somit seien Lesen und Schreiben ebenfalls Formen des Selbstgesprächs, (vgl. Macho 2000, S.35-43)

Aus Machos (2002) Perspektive ist Einsamkeit und ihre Beherrschung durch verschiedene Techniken eine Fähigkeit, die zu Selbstbestimmung und damit Freiheit und Unabhängig­keit führe. Aus diesem Grund werde Einsamkeit auch aktiv von Menschen initiiert und praktiziert, (vgl. Macho 2000, S.27) Somit bietet dieser Ansatz eine mögliche Erklärung für die in der Literatur oft als ,,Power of Solo“[6] bezeichnete und selten tiefgehend hinterfragte, Wirkung des Allein-Seins für den Menschen. Aussagen wie ,,Die Kraft, die aus der Ein­samkeit kommt, lässt sich bezeichnen mit Stichworten wie: innere Einkehr, Selbstreflektion, Meditation, verwurzelt in Schweigen und Stille“ (Kahl 2006, S.2) oder ,,solitude is [...] a time for re-creation and self-definition“ (Maxted 2005, S.122) können so begründet wer­den.

Eine andere, ebenfalls interessante Perspektive auf die Bedeutung von Einsamkeit für das Leben des Menschen bietet Walter Haug (2000). Wie zu Beginn dieses Abschnittes bereits erwähnt, geht er davon aus, dass Erfahrungen im ursprünglichen Sinne im Grunde einsam seien. Im Umkehrschluss stellt er sich folgende Frage: Wenn Erfahrungen durch ihre Sub­jektivität immer einsam seien, ,,ist Einsamkeit mehr als nur der Ort der Erfahrung, ist sie die Bedingung, ja geradezu die Garantie für Erfahrung, insbesondere für jede elementare Erfahrung?“ (Haug 2000, S.61). Anhand von historischen Beispielen aus der Literatur, in denen Kinder oder Jugendliche bewusst von ihrer Umwelt oder Gesellschaft getrennt wor­den und somit isoliert in einer Form von Einsamkeit aufwuchsen, erstellt er ein Grundmus­ter von Einsamkeit: Wachse ein Mensch isoliert auf und werde von (Teilen) der Welt fern­gehalten, könne er sich nicht wie andere Menschen an diese gewöhnen und verhärten. Werde er dem Unbekannten schließlich ausgesetzt, erfahre er die Dinge wie einen Schock, da sie nicht durch einen Schutzschild der Gewöhnung abgedämpft würden. Der Mensch sei hochsensibel für diese Dinge und nehme sie ungefiltert in ihrer vollen Wirklichkeit wahr. In den von Haug verwendeten Beispielen gelingt es dem Subjekt nicht, die Verhärtung und Gewöhnung an die Welt, wie sie die restliche Gesellschaft vollzogen hat, nachzuholen und es behält seine besondere Sensibilität. Dies führe zu einem gegenseitigen Unverständnis für die Erfahrungen des anderen und mache das Subjekt zum Außenseiter, (vgl. Haug 2000, S.67ff.)

Lässt man den Aspekt der gesellschaftlichen Ausgeschlossenheit außer Acht, wird in den Ausführungen Haugs (2000) deutlich, dass Einsamkeit in dieser Extremform beim Indivi­duum zu einer Sensibilisierung führt, die ein ungefiltertes Wahmehmen der Welt und damit unverfälschte Erfahrungen, möglich macht. Seine Frage, ob Einsamkeit als Bedingung für ursprüngliche Erfahrungen gesehen werden kann, beantwortet er damit positiv. Nun wächst ein Mensch im Normalfall nicht in Abgeschiedenheit, sondern inmitten der Gesellschaft auf. Darum stellt sich für diese Arbeit die Frage, ob sich durch Einsamkeit dennoch eine erhöhte Sensibilität für die Welt erzeugen lässt. Kann auf einen bestimmten Zeitraum ein­gegrenzte Einsamkeit die abgestumpfte Wahrnehmung und Verhärtung gegenüber der Welt in bestimmten Graden aufweichen und können sowohl die Dinge, als auch das eigene Selbst, wieder klarer und unverfälschter erfahren werden? Geht man davon aus, dass Haugs These auch für Situationen gilt, in denen das Subjekt nur kurzzeitig und nicht von Anbe­ginn seines Lebens, sondern immer wieder Phasen von Einsamkeit erlebt, dann wäre Ein­samkeit eine Möglichkeit die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren und die Dinge nicht nur ursprünglicher, sondern überhaupt wieder sinnlich wahmehmen zu können.

Damit wurden einige Gründe aufgezeigt, weshalb Einsamkeit aufgesucht und erlernt wird. Buchholz (1999) verweist darauf, dass der Mensch von Geburt an nicht nur ein Bedürfnis nach einer Verbundenheit zu anderen Menschen, sondern auch nach Einsamkeit habe. In seinen Untersuchungen stellt er die positive Erfahrung des Allein-Seins, genauso wie die Verbundenheit als Entwicklungsbedürfnis heraus, welches grundlegend für alle Phasen des persönlichen Wachstums sei. (Buchholz 1999, S.204f.) Da es in dieser Arbeit nun um die pädagogischen Möglichkeiten des Allein-Unterwegsseins im Jugendalter gehen soll, wird im Folgenden die Bedeutung von Einsamkeit für diese Entwicklungsphase genauer be­trachtet. Kahl (2006, S.5) deutet die Eigentümlichkeit von Jugendeinsamkeit bereits an und auch Maxted (2005, S.127) fordert auf, das besondere Verhältnis von Jugendlichen zu Ein­samkeit zu beachten.

4.4 Bedeutung des Allein-Seins für das Jugendalter

Larson (1997) nimmt die Tatsache, dass Jugendliche ein Viertel ihrer wachen Zeit allein verbringen, genauso viel, wie die Zeit mit Peers, zum Anlass das Phänomen Jugend und Allein-Sein genauer zu untersuchen. Er vermutet einen Anstieg der Wichtigkeit von Ein­samkeit in der Jugendphase im Gegensatz zum Kindesalter, ein erhöhtes Wohlbefinden bei Jugendlichen durch Einsamkeit sowie eine verbesserte Zuwendung und Anpassung an die Welt. Er stellt die These auf, dass Jugendliche Einsamkeit bewusst als Rückzugsmöglich­keit nutzten. Hierzu befragte er 483 europäische und amerikanische Schülerinnen der fünften bis neunten Klassenstufe und stellte fest, dass sie, obwohl Allein-Sein von den Ju­gendlichen eher als einsame und unglückliche Zeit empfunden wird, sie doch vermehrt aufgesucht wird. Denn trotz des negativen Gefühls bestünde ein positiver Zusammenhang zum allgemeinen Wohlbefinden. Larson (1997) beschreibt dies als Paradox, denn Einsam­keit scheint für Jugendliche eine „bittere Medizin“ zu sein: Während sie Einsamkeit erleb­ten, fühlten sie sich verlassen und hätten negative Gefühle. Im Anschluss trete jedoch ein allgemein verbesserter Gemütszustand ein. Jugendliche scheinen Einsamkeit bewusst für eine emotionale Regenerierung und eine bessere allgemeine Ausgeglichenheit zu nutzen. Dabei dürfe die Dauer erfahrener Einsamkeit ein gewisses Maß jedoch nicht überschreiten und müsse im Gleichgewicht zu gemeinsamen Zeiten mit anderen Personen stehen, (vgl. Larson 1997, S.80-90.)

Auch Buchholz (1999) interessiert sich für die Art und Weise, wie Heranwachsende „Al­leinzeit“ aufsuchen, entdecken und erfahren. Er vermutet, dass das Bedürfnis nach Einsam­keit und Einsamkeitsfähigkeit besonders in der Phase der Identitätsentwicklung eine große Rolle spiele und verweist ebenfalls auf das Paradox des negativen Gefühls beim Allein­Sein auf der einen Seite und dem bewussten Aufsuchen von Einsamkeit auf der anderen. Gleichzeitig seien Jugendliche besonders anfällig für negative Gefühle von Verlassenheit. Er geht deshalb davon aus, dass Jugendliche Gefühle von Verlassenheit und das Bedürfnis nach Allein-Sein voneinander abgrenzten und untersucht dies genauer. Anhand verschiede­ner Betrachtungsweisen unterschiedlicher Autorinnen gelangt er zu dem Schluss, dass negative Gefühle im Zusammenhang mit Einsamkeit immer auftauchten, wenn die Fähig­keit zum Umgang mit ihr fehle. Sie schlage dann in ein Gefühl des Verlassen-Seins um. Wisse manjedoch mit dem Allein-Sein umzugehen und es als Auszeit zu nutzen, könne es helfen, Gefühle wahrzunehmen, sie zu ordnen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es könne dazu dienen sich mit Verlusten abzufinden, Einstellungen zu überdenken und Stim­mungen zu erneuern. Ein bewusster Umgang mit Einsamkeit helfe Gefühle im Allein-Sein zu regulieren und bewahre somit nicht nur vor dem Gefühl von Verlassenheit, sondern un­terstütze auch bei dessen Überwindung. Zwar gäben Jugendliche an, während Alleinzeiten niedergeschlagener und weniger fröhlich zu sein, gleichzeitig aber auch unbefangener und konzentrierter. Einsamkeitsfähigkeit sei für sie die Fähigkeit im Zustand kreativer Reflek- tion, frei von Spannungen und Verwirrung, für sich zu sein. Sie würde bei schlechter Laune und Konzentrationsschwierigkeiten genutzt. Je besser man sie zu nutzen wisse, umso mehr würde sie aufgesucht. Jugendliche unterschieden demnach sehr genau zwischen Vereinsa- mung und Einsamkeit. Ersteres sei für sie mit negativen Gefühlen, Verlust, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit verbunden. Das Zweite gelte als etwas, das eben mal vorkomme, eine absehbare Zeitspanne andauere, weder positiv noch negativ gesehen und ab und an aufge- suchtwerde. (vgl. Buchholz 1999, S.204; 208-211)

In Buchholz ‘ (1999) Untersuchungen handelt es sich bei Alleinzeiten meist um kurze Pha­sen, wie sie im Alltag auftauchen. Maxted (2005) nimmt solche Vorüberlegungen als Aus­gangslage für eine Untersuchung zur Einstellung Jugendlicher zum Alleinsein im pädago­gischen Kontext, also zu länger andauernden, von außen inszenierten Solozeiten. Er inter­viewte Schülerinnen und Lehrerinnen, nach der Teilnahme, bzw. Anleitung eines zwei­tägigen Solos. Dabei stellte er fest, dass längere Solos von Jugendlichen zwar ertragen, aber nicht wie von Erwachsenen als persönliche Wachstumsmöglichkeit idealisiert werden. Er führt dies unter anderem auf die Tatsache zurück, dass Jugendliche Solozeiten oft mit Strafen, sogenannten „Time-Outs“, in Verbindung brächten. Unfreiwillig fänden sie sich in der Einsamkeit wieder und sähen sich mit Gefühlen von Schwäche, Unglücklichsein und Verlassenheit konfrontiert. Er kommt damit, wie Buchholz (1999), zu der Annahme, dass Jugendliche anfälliger für Gefühle von Verlassenheit seien. Zusätzlich nennt er aber auch Angst, Furcht und Langeweile als besonders in der Jugendphase auftretende Gefühle. Für ihn stellt sich damit die Frage der generellen Nutzbarkeit des Solos für Jugendliche. Er un­tersucht die Ängste und Probleme, die im Solo auftreten können und die Möglichkeiten, wie mit ihnen aus pädagogischer Sicht umgegangen werden könnte, (vgl. Maxted 2005, S.122ff.; S.27)

Maxted (2005) unterscheidet zwei Kategorien von Ängsten. Zum einen scheint die Angst um die persönliche Sicherheit relevant für Jugendliche zu sein. Schon vor dem Solo benen­nen Jugendliche Furcht vor Angriffen von Fremden als maßgeblich. Auch während der Zeit allein entstehen Ängste davor, dass alles nass werden könnte, irgendwo fremde Menschen lauem könnten, Angst vor dunklen Nächten und komischen Geräuschen. Auch die Be­fürchtung andere Solisten könnten auftauchen wurde genannt. Als zweite Kategorie fasst er Ängste des Scheitems zusammen. Schon vor dem Solo befürchten Jugendliche der Heraus­forderung des Allein-Seins nicht gewachsen zu sein, vor Langeweile nicht zu wissen, was sie als nächstes tun sollen und sich, die Gruppe oder die Anleiter*innen durch einen vorzei­tigen Abbruch zu enttäuschen, (vgl. Maxted 2005, S.129f.)

Und auch hier erkennt Maxted (2005), ähnlich wie Buchholz (1999), dass es bestimmter Fähigkeiten bedürfe, um mit Langeweile, Verlassenheitsgefühlen und Ängsten umgehen zu können. Vielen Jugendlichen fehle die Fähigkeit, Zeit allein konstruktiv und adäquat für sich zu nutzen. Der ungewohnte Mangel an Aktivität überfordere sie. Oft suchten Jugendli­che im Solo dann nach Aktivitäten, würden umherwandem, viel schlafen oder ständig ihren Unterschlupf verbessern. Die Möglichkeit nach innen zu gehen bleibe ihnen verwehrt. Die eigene Selbstentdeckung, Selbstbeobachtung und Selbstemeuerung gelinge ihnen nicht. Könnten sie jedoch mit Einsamkeit umgehen und wüssten sie zu nutzen, kämen Gefühle von Langeweile oder Verlassenheit und die damit verbundenen Ängste entweder gar nicht auf oder könnten bearbeitet werden, (vgl. Maxted 2005, S.130ff.)

Um Einsamkeit konstruktiv nutzen zu können, müsse sie freiwillig aufgesucht und angst­frei erfahren werden (Larson 1997, S.82). Beides sind Bedingungen, die nach Maxted (2005), Buchholz (1999) und Larson (1997) besonders im Jugendalter nicht immer gegeben seien. Arbeitet man pädagogisch mit Jugendlichen und Einsamkeitserfahrungen müssen diese Besonderheiten beachtet werden.

4.5 Schlussfolgerungen: pädagogische Möglichkeiten des Solos

In den vorangegangenen Abschnitten wurde dargelegt, dass mit dem Begriff des Solos als erlebnispädagogische Methode bestimmte Durchführungsformen, Wirkungsweisen und Erfahrungen verbunden werden. In Abgrenzung dazu wurde auf das Solo als Form des Al- lein-Seins eingegangen. Es wurde das Phänomen der Einsamkeit aus verschiedenen Blick­winkeln beleuchtet sowie dessen Bedeutung für Jugendliche herausgearbeitet. Folgend soll nun die Frage nach den pädagogischen Möglichkeiten des Solos für Bildung bearbeitet werden, um daraus Hinweise für die pädagogische Praxis ableiten zu können.

4.5.1 Bildungsmöglichkeiten

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Jugendliche Alleinzeiten brauchen und ihnen dafür ein Raum zur Verfügung stehen muss. Allein-Sein ist, genauso wie die Ver­bundenheit zu anderen Menschen, ein Entwicklungsbedürfnis (vgl. Buchholz 1999, S.204- 211). Es könne nach Macho (2000) den Aufbau von Selbstbestimmtheit fördern und ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit hervorrufen. Zudem lässt sich durch Aussagen von Haug (2000) vermuten, dass durch Einsamkeit die Wahrnehmung sensibilisiert und ursprünglichere Erfahrungen möglich gemacht werden.

Für Jugendliche unserer westlichen Gesellschaft wurde zu Beginn dieser Arbeit das Kon­zept der Integration, des Gleichgewichts zwischen Transition und Moratorium, von Hur­relmann (2005) als besonders geeignet und zielführend beschrieben. Wollen Jugendliche nicht nur die von der Gesellschaft gestellten Entwicklungsaufgaben bewältigen, sondern die ihnen zur Verfügung stehenden Entfaltungsmöglichkeiten nutzen, gehört dazu auch das Erlernen von Einsamkeitsfähigkeiten. Alleinzeiten können demnach als Teil des Bildungs­moratoriums gesehen werden. Sie bieten durch ihre Abgrenzung zum Alltag einen ge­schützten Raum zum Reflektieren und Erkennen eigener Bildungsziele, Wünsche und Be­dürfnisse. Sie machen den Aufbau dieser Fähigkeiten erst möglich. Soloerfahrungen kön­nen demnach für Jugendliche, genauso wie für Erwachsene, ein grundlegendes Element eines selbstverwirklichten Lebens sein.

4.5.2 Solo im Lebensweltbezug Jugendlicher?

Gerade in der Jugendphase scheint Einsamkeit Bedeutung zu bekommen, denn im Gegen­satz zur Kindheitsphase wird sie nun häufiger aufgesucht, obwohl sie im Allgemeinen nicht mit positiven Gefühlen verbunden wird (vgl. Larson 1997). Jugendliche scheinen Allein­zeiten im Alltag bewusst als Ausgleich, Abgrenzung und Übungsraum für Selbstregulation zu nutzen.

Werden Solozeiten im pädagogischen Kontext verwendet, ergeben sich jedoch Schwierig­keiten. So seien Jugendliche besonders anfällig für Gefühle von Verlassenheit, Langeweile, Angst und Furcht (vgl. Buchholz 1999). Dazu gehörten beispielsweise Angst, den Heraus­forderungen nicht gewachsen zu sein und zu scheitern oder um die persönliche Sicherheit, beispielsweise der Gefahr vor Angriffen (vgl. Maxted 2005). Diese Ängste können zum Vermeiden von Alleinzeiten führen. Da Jugendliche Einsamkeitsfähigkeiten und - techniken in dieser Entwicklungsphase erst lernen müssen, muss eine Soloerfahrung nicht in jeder Situation und für alle Jugendlichen eine entwicklungsfördemde Methode sein. Wurden noch keine Einsamkeitsfähigkeiten aufgebaut, fehlt der Bezug des Solos zur Le­benswirklichkeit des*der Jugendlichen und die bereichernden Erfahrungen eines Solos bleiben verschlossen.

Zudem sei das jugendliche Allein-Sein auch gesellschaftlich eher negativ konnotiert, wo­durch das Aufsuchen von Einsamkeit verhindert werde (vgl. Maxted 2005, S.127). Dies könnte einen Teufelskreis entstehen lassen: Je weniger Einsamkeit aufgesucht und sich in ihr ausprobiert wird, umso weniger können Einsamkeitsfähigkeiten aufgebaut werden. Feh­len diese Fähigkeiten im Umgang mit Einsamkeit wachsen die Ängste vor ihr und sie wird folglich weniger aufgesucht. Wieder würde der Bezug zur Lebenswirklichkeit der Jugend­lichen fehlen und die Möglichkeiten, die Einsamkeit für das persönliche Wachstum böte, blieben dann verwehrt.

4.5.3 Hinweise zur pädagogischen Praxis und kritische Überlegungen

Oft sind pädagogische Aktivitäten an schulische Veranstaltungen, Jugendhilfe oder ähnli­che Kontexte geknüpft und bedingt freiwillig. Dies kann ein Problem sein, denn Bildung muss freiwillig sein, um Erfahrungsräume zu öffnen. Selbst wenn die Teilnahme am Solo offen gestaltet werden würde, bliebe die Gefahr, dass sich einige Jugendliche, beispielswei­se durch den Druck der Gruppe, in die Einsamkeitserfahrung drängen lassen. Eine Nicht­Teilnahme könnte von anderen Gruppenmitgliedem als Scheitern angesehen werden.

Den Zugang zu dieser Form des Angebots offen zu gestalten stellt eine Schwierigkeit dar, da strukturelle Bedingungen Jugendliche oft zur Teilnahme an pädagogischen Interventio­nen verpflichten. Alleinzeiten für Jugendliche seien, nach Maxted (2005) gesellschaftlich und auch bei den Jugendlichen selbst eher negativ konnotiert. Sie werden in diesem Alter kaum als begehrenswert und gesund erkannt und der pädagogische Sinn eines­Soloprogramms müsste erst vermittelt werden, (vgl. Maxted 2005, S.127) Auch Buchholz (1999, S.208) erwähnt, dass das Allein-Sein gesellschaftlich negativ konnotiert sei. Dies könnte den Beginn eines Kreislaufs darstellen, den Jugendliche nur schwer überwinden können: eine abwehrende Einstellung erschwert es Jugendlichen, sich in Einsamkeit auszu­probieren. Somit können siejedoch auch keine Fähigkeiten entwickeln mit ihr umzugehen, wodurch die Angst und Abneigung gegen Einsamkeit weiter wachsen würde und die Schwelle sich ihr auszusetzen anstiege.

Es ist jedoch möglich Jugendliche im Aufbau oder der Erweiterung von Einsamkeitsfähig­keiten zu unterstützen und so Ängste zu verhindern oder abzubauen. So bekämen sie die Möglichkeit Einsamkeit für sich zu nutzen. Maxted (2005) schlägt deshalb vor, in einem pädagogischen Solo die Teilnehmerinnen und deren Einsamkeitsfähigkeiten im Vorhinein einzuschätzen. Daraufhin könnten fehlende Fähigkeiten vermittelt werden, um Verlassen­heitsgefühlen und Langeweile vorzubeugen. Zusätzlich könnten Befürchtungen und Ängste der Heranwachsenden durch ein gewisses Maß an Sicherheit, Wärme und Komfort abge­dämpft werden, (vgl. Maxted 2005, S.133Í) Jugendliche sollten demnach keinesfalls un­vorbereitet ins Solo geschickt werden.

In der Literatur werden unzählige Ideen und Vorschläge, wie Kinder und Jugendliche auf ein Solo vorbereitet werden können oder sollen, welche Sicherheitsvorkehrungen getroffen und wie die Jugendlichen begleiten werden sollen, genannt. Im Folgenden soll deshalb nur ein Überblick über grundlegende Maßnahmen, die im Solo beachtet werden sollten, gege­ben werden. So gehört im Allgemeinen eine intensive Vorbereitungsmaßnahme zum Pro­gramm, in der die Solistinnen mental auf die Einsamkeit eingestellt werden. Nach Smith (2005) könne dies beispielsweise durch ein Frontloading geschehen, in dem Ziele und In­halte eines Solos dargestellt werden. Aber auch das Lesen von Erfahrungsberichten anderer Solistinnen könne helfen, sich auf das Solo vorzubereiten, (vgl. Smith 2005, S.4ff.) Viele Ängste entstünden außerdem durch Naturentfremdung: Jugendliche brauchten Zeit, um sich der Natur wieder zuzuwenden. Dies sei beispielsweise durch kurze Naturinputs vor dem Solo oder kurze Minisolos möglich, (vgl. Maxted 2005, S.133) Aber auch Ängste vor Angriffen und Fremden könnten minimiert werden, indem zuvor über mögliche Gefahren geredet wird. Auch die Schaffung einer Basis, zu der die Jugendlichen immer wieder zu­rückkehren können, könne hilfreich sein, genauso wie regelmäßige Kontrollgänge zu den Jugendlichen, ein Nachrichtensystem oder eine durchdachte Vergabe des Soloplatzes: Ein Platz nahe der Basis könne das Sicherheitsgefühl verstärken, während ein Platz nahe ande­rer Solistinnen das Sicherheitsgefühl sowohl verstärken als auch verringern könne, (vgl. Maxted 2005, S.133; Smith 2005, S.9f.) Die Wahl des Soloplatzes sei aber auch in anderer Hinsicht von Bedeutung. So könne ein Platz am Waldrand oder am Ufer eines Sees andere Erfahrungen vermitteln und andere Ängste auslösen, als eine Stelle mitten im Wald, je nach Stimmung und Erfahrungen desi jeweiligen Solistin, (vgl. Knapp 2005, S.27) Um Langeweile zu verhindern böte sich an, vorher persönliche Zielsetzungen festzulegen (Knapp 2005, S.25) oder kreative bzw. handwerklich - technische Aufgabenstellungen mit ins Solo zu integrieren. Auch die Ausrüstung habe großen Einfluss. So sollte überlegt sein, wie viel Ausrüstung und damit Schutz den Solistinnen mitgegeben werden soll. (Heckmair 2012, S.217).

Knapp (2005) und auch Merazzi (2010) gehen außerdem auf die Rolle der Leitung im Sin­ne einer Begleitperson ein. Zum einen müsse diese eine Atmosphäre von Vertrauen, Res­pekt und Unterstützung schaffen, in der die Solistinnen sich geschützt fühlen und auf die sie im Notfall zurückgreifen könnten. Die Leitung solle daher auch während des Solos ge­danklich bei den Jugendlichen sein, um vorzeitige Rückkehrerinnen auch emotional be­gleiten zu können. Zum anderen sei die Leitung dafür da, das Verständnis für die Soloer­fahrung in der Nachbereitung zu vertiefen und weitere Reflexionen anzuregen. Hier ginge es darum, nochmal an das Geschehen zu erinnern, verstehen zu helfen, was passiert ist und eine allgemeine Relevanz daraus abzuleiten, (vgl. Knapp 2005, S.24f-27; Merazzi 2010, S.96) Um hilfreich auf die Solistinnen eingehen zu können und das Solo entsprechend zu gestalten, müsse die Leitung die Teilnehmenden bereits vor dem Solo möglichst gut ken- nenlemen (vgl. Knapp 2005, S.28).

Diese Forderung Knapps (2005) kann jedoch auch kritisch betrachtet werden. Zum einen scheint es in der Praxis kaum vorstellbar, dass Pädagoginnen ihre Teilnehmerinnen gut genug kennenlemen können, um auf deren Ängste und Befürchtungen einzugehen, insbe­sondere bei großen Gruppen. Jedei Jugendliche hat individuelle Vorerfahrungen, Einsam­keitsfähigkeiten und Motivationen, sich in ein Solo zu begeben. So kann ein zwei-stündiges Solo im Wald für die einen bereits Herausforderung genug sein, während es für andere mindestens einer Nacht bedarf. Genauso kann es aber auch Jugendliche geben, für die ein Solo gänzlich ungeeignet ist. Es stellt sich die Frage, ob Jugendliche unter diesen Umstän­den ihr Solo sogar selbst gestalten und organisieren sollten: Ist ein gewisses Maß an Refle­xionsfähigkeit und Identität bereits aufgebaut, erkennen Jugendliche ihre Ängste und könn­ten ihr Solo dementsprechend arrangieren. Damit bliebe man bei Klafkis Bildungsver­ständnis, dass Jugendlichen einräumt, ihre Lebenswirklichkeit und Bildungsbedürfnisse selbst am besten zu kennen. Der pädagogischen Leitung käme lediglich die Rolle einer unterstützenden Begleitung zu, die durch ihre Anwesenheit unterstützt und bei Fragen und Problemen weiterhilft. Dies wäre jedoch nur soweit umsetzbar, insofern die Bildung der Jugendlichen weit genug vorangeschritten ist, diese Entscheidungen selbst treffen zu kön­nen ohne von ihnen überfordert zu werden.

Es stellt sich bei angeleiteten Soli außerdem die Frage, welches Ausmaß pädagogische Be­einflussung erlaubt ist, ohne dass das Solo seine Wirkung verliert? Jede Intervention von außen ist schließlich eine Fremdbestimmung. Aber soll das Solo nicht helfen, genau diese zu überwinden? Wenn ein*e Pädagogen den Jugendlichen Aufgaben mit ins Solo gibt, könnten diese die gemachten Erfahrungen bereichern. Doch welche Aufgaben braucht das Individuum? Eventuell könnten diese Aufgaben Neues anregen und in der Bearbeitung der Erfahrungen helfen, aber vielleicht lenken sie auch vom eigentlich Wichtigen ab? Generell könnte man sagen, dass jede Intervention den Prozess, in dem sich Jugendliche vor, wäh­rend und nach einem Solo befinden, verfremdet. Auch hohe Sicherheitsregeln beeinflussen die Erfahrungen, die gemacht werden können, schränken sie ein und nehmen ihnen ihre

Ursprünglichkeit. Es gilt daher abzuwägen, wieweit von außen in den Prozess eingegriffen werden soll. Im Idealfall steht den Jugendlichen auch hier eine Person begleitend zur Seite, öffnet den Raum, ohnejedoch einzugreifen, sondern wirkt lediglich unterstützend. Schließ­lich sind Jugendliche durchaus in der Lage selbst Einsamkeitstechniken zu entwickeln und anzueignen (vgl. Larson 1997, S.86ff.), wenn ihnen der Raum dazu zur Verfügung steht. Gelingt ihnen dies, könnte von Selbstbestimmung und damit auch Bildung gesprochen werden.

Da Alleinzeiten und die daraus resultierenden Entwicklungsmöglichkeiten in unserer Ge­sellschaft von Jugendlichen nur schwer selbstständig wahrgenommen werden können, bie­tet sich das Solo als pädagogisch inszenierte Form des Allein-Seins dazu an, Jugendliche im Aufbau von Einsamkeitsfähigkeiten und damit auch in der Nutzung von Alleinzeiten zu unterstützen. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit durch die pädagogisch begründete Ver­wendung des Solos auch dessen negative Konnotationen bei Jugendlichen und in der Ge­sellschaft entgegenzuwirken und damit den Kreislauf der Einsamkeitsangst zu durchbre­chen. Das Solo kann somit einen Raum zur Verfügung stellen, den es sonst in unserer Ge­sellschaft vermutlich kaum noch gibt und der andernfalls mühsam gesucht werden müsste.

Das pädagogische Ziel kann damit nicht nur im Anbieten von vom Alltag abgetrennten Soloprogrammen liegen. Vielmehr sollten diese Programme daraufhinzielen, den Wert von Alleinzeiten bewusst zu machen. Jugendliche sollten begleitend dabei unterstützt werden, selbst Einsamkeitsfähigkeiten aufzubauen und,je nach Bedürfnis, Alleinzeiten aufzusuchen und gegebenenfalls von ihrer Umwelt einzufordem. Zusätzlich stellt sich das Solo, durch seine Struktur der Nicht-Anwesenheit des*der Pädagogen, der in unserer Gesellschaft stark ausgeprägten Pädagogisierung von Kindheit und Jugend entgegen. Es bietet Pädagog*innen die Möglichkeit sich zurückzunehmen und sich auf unbedingt notwenige Interventionen zu beschränken. Herausforderungen, Zeitpunkte von Alleinzeiten oder Sicherheitsvorkehrungen können von Jugendlichen selbst gewählt werden. Auch dies kann eine wichtige Voraussetzung für autonome Entscheidungen und damit für Selbstbestim­mung und Bildung schaffen. Demnach bietet das Solo für die Pädagogik die Möglichkeit Jugendliche auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen.[7]

5. Zusammenführung: pädagogische Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Solo-Wanderns und Ausblick für weitere Überlegungen

In den vorangegangenen Kapiteln wurde ausführlich dargelegt, worin die pädagogischen Möglichkeiten des Wandems und des Solos bestehen können, sowie mögliche Gefahren und Schwierigkeiten aufgezeigt. Diese Erkenntnisse sollen im Folgenden genutzt werden, um die zu Beginn dieser Arbeit formulierte Ausgangsfrage nach den pädagogischen Mög­lichkeiten des Solo-Wandems zu beantworten. Die Annahme, dass die Verknüpfung von Solo und Wandern Jugendliche in besonderer Weise auf ihrem Bildungsweg fördert, wird dabei diskutiert. Dafür werden zunächst die Bildungsmöglichkeiten beider Methoden ein­zeln aufgegriffen, um zu erörtern welchen Einfluss deren Zusammenführung auf diejewei- ligen Bildungsmöglichkeiten haben kann. Anschließend soll der Bezug zur Lebenswelt von Jugendlichen hergestellt werden. Abschließend werden Hinweise für die Pädagogik und weitere Diskussionsanregungen gegeben.

5.1 Bildungsmöglichkeiten des Solo-Wanderns

1. Solo - Wandern erweitert Raum für Reflexionen

Sowohl das Wandern, als auch das Alleinsein fördern, wie in den vorherigen Kapiteln auf­gezeigt, auf verschiedene Art und Weise Offenheit für Erfahrungen und damit Reflexions­fähigkeit. Im Anschluss sollen Faktoren aufgezeigt werden, deren Zusammenwirken Raum für Reflexion öffnet und damit den Aufbau von Reflexionsfähigkeit fördert:

Durch individuelle Verzögerung und veränderte/intensivere Zeitwahrnehmung: Im Kapitel 3.5 konnte bereits festgestellt werden, dass sich das Wandern positiv auf Bildung auswirkt, da es lineare und zielgerichtete Zeitstrukturen des Alltags unterbricht. So könne es, nach der Bildungsauffassung von Dörpinghaus (2008), Bildungsprozesse unterstützen. Durch das Allein-Wandem könnte diese Wirkung noch unterstützt werden, da mit dem Fehlen von Interaktionen mit anderen Personen ein weiterer Aspekt des Alltags wegfällt. Wer al­lein wandert, kann sich ganz auf sich selbst konzentrieren und sich für die Auseinanderset­zung mit sich und der Welt die individuell benötigte Zeit nehmen. Allein wandern bedeutet nicht nur eine Bewegung der Verzögerung, sondern auch die Art der Verzögerung richtet sich außerdem nach den Bedürfnissen des Individuums. Die von Grund auf bildende Struk­tur des Wandems kann somit ausschließlich von den Interessen des Individuums gefüllt und nicht durch andere Personen beeinflusst werden, die beispielsweise zur Eile antreiben.

Der Aspekt, dass Bildung immer vom Individuum ausgeht und nicht fremdgesteuert wer­den darf und kann, wird damit zusätzlich unterstützt. Zudem wird die Zeit ausschließlich im Zusammenhang mit eigenen Bedürfnissen wahrgenommen: Wie lange kann ich gehen bis die Füße schmerzen oder wann brauche ich Essen? So kann der eigene Umgang mit Zeit reflektiert werden, ohne den Umgang Anderer mit Zeit einfließen zu lassen.

Durch intensivere Naturerfahrungen: Allein-Wandem kann Naturerfahrungen intensivie­ren. Zum einen lassen Haugs (2000) Aussagen die Vermutung zu, dass Einsamkeit die menschliche Wahrnehmung sensibilisiere. Zum anderen würden durch die Natur die menschlichen Sinne in größerer Breite angesprochen (vgl. Brämer 2003, S.24f.). Beides sind Faktoren, die den Menschen seine Umwelt sensibler, intensiver und ursprünglicher wahmehmen lassen. Somit könnte beim Solo-Wandem die Wirkung von Naturerfahrungen verstärkt und der Raum für Reflexionen geöffnet werden.

Durch verstärkte Ziel- und Zwecklosigkeit: Um eine offene Haltung gegenüber der Welt zu ermöglichen, die den Raum für Reflexion eröffnet, sollte das Wandern ziel- und zwecklos sein. Im Allein-Wandem wird diese Ziel- und Zwecklosigkeit noch unterstützt, da niemand vorgibt, welcher Weg gegangen werden und wann ein Ziel erreicht sein muss. Kein*e Pädagogen treibt zur Auseinandersetzung mit von ihm*r bestimmten Dingen an. Stattdes- sen kann das Individuum selbst Ziele definieren und auch wieder verwerfen, bleibt offen für Neues und damit für Situationen, die Reflexionen fördern können.

Durch größeren Fremdheitsgrad/Abenteuerlichkeit: Wie bereits im Kapitel 3.4 festgestellt wurde, werden im Wandern als abenteuerliches Unterwegssein Fremdheitserfahrungen möglich gemacht, die sich wiederum positiv auf Bildung auswirken. In der Auseinander­setzung mit krisenhaften Situationen könnten neue Fähigkeiten, neues Wissen und alterna­tive Handlungsstrategien erprobt und somit Räume für Reflexionen eröffnet werden, so Becker (2005, S.240f.). Wandert der Mensch allein, fehlt die sicherheitsgebende Unterstüt­zung durch weitere, bekannte und gewohnte Personen. Hilfe durch Andere ist daher nicht zu erwarten und der*die Wandernde ist auf sich selbst zurückgeworfen. Erhabenheitsge­fühle könnten verstärkt werden, die Abgrenzung vom Alltag wäre ausgeprägter und Krisen und Fremdheitserfahrungen könnten vermehrt auftreten. Es wird davon ausgegangen, dass das Abenteuerliche des Wandems in Kombination mit dem Allein-Sein stärker auftritt und somit häufigere und eindringlichere Situationen auftreten, die zum Reflektieren anregen.

Durch intensivere Selbstwahrnehmung: Mit einer intensivierten Naturwahmehmung könn­ten Emotionen und Stimmungen eindrücklicher wahrgenommen werden, da die Natur laut Gebhard (2013, S.48) und Stenzei (I960, S.110) zum Spiegelbild des Selbst werde. Ohne den Einfluss einer weiteren Person könnten Stimmungen und Atmosphären unverfälschter wahrgenommen werden: Die Erfahrungen anderer würden nicht in die eigene Wahrneh­mung einfließen und das Spiegelbild verzerren. Dies sind Faktoren, die den Menschen nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur eingehender, echter und umfassender erkennen lassen können. Weiterhin fördern die beim Solo-Wandem auftretenden Fremd­heitserfahrungen eine umfassendere Selbstwahmehmung: Becker (2008, S.42) konstatiert, dass sich der Mensch in fremden Situation selbst neu wahmehmen und neu entdecken kön­ne. Das Solo-Wandem fördert somit auf verschiedenen Ebenen eine intensivere Selbst­wahmehmung, die grundlegend für Reflexionen ist.

In den vorangegangenen Abschnitten konnte gezeigt werden, auf welchen Ebenen das Zu­sammenwirken von Wandern und Solo intensivere Erfahrungen und eine intensivere Aus­einandersetzung mit Sich und der Welt möglich macht. Es wurde deutlich, dass sich Solo und Wandern auf eine Weise beeinflussen, die deren jeweilige Wirkung in Bezug auf die Entwicklung von Reflexionsfähigkeit verstärken.

2. Solo - Wandern fördert Selbstbestimmtheit

Durch das Solo-Wandem werden Räume für Reflexionen und Selbstwahmehmung eröff­net. Ein reflektiertes Wahmehmen des Selbst und der Umwelt seien laut Hurrelmann (2002) unabdingbar für den Aufbau einer Ich-Identität und damit grundlegend für Selbstbe­stimmtheit und autonome Handlungsfähigkeit (vgl. Hurrelmann 2002, S.38). Es soll an dieser Stelle betont werden, dass gerade der Faktor des Allein-seins im Wandern Selbstbe­stimmtheit intensiv erfordert und fördert. Hierzu soll nochmals auf Thomas Macho (2000, S.29-44) verwiesen werden, der Einsamkeit und den Umgang mit ihr als Grundlage für Selbstbestimmtheit betrachtet: Ein höheres, anderes Selbst, das vor Fremdbestimmung be­wahre, werde aktiv. Das enorme Bildungspotential des Solo-Wandems wird demnach deut­lich: Die durch die Einsamkeit geförderte Selbstbestimmtheit ist nicht nur Bildungsziel, sondern auch Voraussetzung für eine vom Individuum ausgehende Bildung.

3. Solo-Wandem wirkt auf persönliche Beziehungen

Obwohl der Mensch im Solo-Wandem für sich ist, ist anzunehmen, dass die Erfahrungen und Reflexionen, die möglich werden, Beziehungen zu anderen Personen und Personen­gruppen beeinflussen oder sich auf die Verortung des Individuums in der Gesellschaft aus­wirken. So lassen sich nicht nur das Selbst und die Umwelt im Solo-Wandem aus einer neuen Perspektive betrachten, sondern auch Verhältnisse zu anderen Personen. Das Allein­sein und die Außeralltäglichkeit des Wandems lassen eine Distanz entstehen, die sonst kaum möglich wäre. Die Sicht auf andere Personen und Personengruppen wird nicht durch die unmittelbare Interaktion mit ihnen, durch deren aktuelle Stimmungen und Handlungen beeinflusst. Somit können die Beziehungen des Selbst zu anderen aus der Distanz über­dacht und in neue Zusammenhänge gesetzt werden. Eventuell können persönliche Bezie­hungen gestärkt, aber auch fallen gelassen werden. Beziehungen könnten durch deren Re­flexion und die erhöhte Selbstwahmehmung (auch eigener Bedürfnisse) befriedigender gestaltet werden.

4. Solo-Wandem erwirkt soziale Anerkennung

Es ist anzunehmen, dass sich die Durchführung einer Solo-Wanderung positiv auf die ge­sellschaftliche Anerkennung Jugendlicher auswirken kann. Der*die Jugendliche fordert von Familie, Pädagog*innen und Peers beim Solo-Wandem ein hohes Maß an Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Wird ihm dieses Vertrauen entgegengebracht, kann dies das Selbstvertrauen des*der Jugendlichen enorm bestärken: Der*Die Jugendliche kann sich als selbstbestimmtes Wesen erleben, das um seine Bedürfnisse und Fähigkeiten weiß und wird von anderen entsprechend wahrgenommen. Auch nach der Solo-Wanderung könnten Ver­änderungen auf gesellschaftlicher Ebene hervorgerufen werden. So könnte eine erfolgrei­che Bewältigung der Herausforderungen des Solos Anerkennung im sozialen Umfeld schaffen. Das zuvor entgegengebrachte Vertrauen würde bestätigt und weiter aufgebaut. Die Sicht auf den*die Jugendlicher als gleichberechtigtes, emstzunehmendes Mitglied der Gesellschaft könnte somit durch eine Solo-Wanderung weiter gefördert werden und sich positiv auf Bildungsmöglichkeiten auswirken: Einer defizitorientierten Sicht (vgl. Zeiher 1996, S.20ff.) auf den*die Jugendlicher und Jugendliche im Allgemeinen würde entge­gengewirkt. Mit steigendem Vertrauen in die Autonomie Jugendlicher könnten dann auch Bildungsziele und -inhalte zunehmend von diesen selbstbestimmt werden.

Es bleibt hierbei jedoch zu bedenken, dass Allein-Sein bei Jugendlichen in der westlichen Gesellschaft eher negativ konnotiert ist. Jugendliche, die allein wandern gehen, könnten mit Vorurteilen, wie „das ist ein*e Problemjugendliche*r“, oder „mit Jugendlichen, die allein sein wollen, stimmt etwas nicht“, konfrontiert werden. Es bestünde dabei die Gefahr, dass der bereits genannte Zuwachs an sozialer Anerkennung durch das Solo-Wandem aus­bliebe. Schlimmstenfalls könnte sich gar eine negative Wirkung auf das gesellschaftliche Umfeld ergeben.

5.2 Solo-Wandern im Lebensweltbezug Jugendlicher?

Buchholz (1999) bestätigt in seinen Untersuchungen die Vermutung, dass Alleinzeiten und die Fähigkeiten, die es braucht, um mit dem Allein-Sein umgehen zu können gerade in der Jugendphase wichtig würden. Einsamkeit werde bewusst aufgesucht und sei ein Entwick­lungsbedürfnis Jugendlicher. Einsamkeit an sich hat demnach einen Bezug zur Lebenswelt Jugendlicher, solange sie freiwillig aufgesucht und die Herausforderungen selbst gesteckt werden. Auch bezüglich des Wandems konnte in der vorliegenden Arbeit der Bezug zu den Interessen Jugendlicher deutlich gemacht, aber auch Probleme aufgezeigt werden. Eine Zusammenführung des Allein-Seins und des Wandems könnte sich demnach sowohl posi­tiv als auch negativ auf die Passung zum Lebensweltbezug Jugendlicher auswirken.

Sowohl beim Wandern als auch im Solo wurde die Gefahr der Langeweile als mögliches Problem erkannt, das gerade bei Jugendlichen eine große Rolle spielt und zu Abwehrhal­tungen und Ängsten führen kann (siehe Kapitel 3.2 und 4.4). Sowohl das Allein-Sein, als auch das Wandern weisen auch Eigenschaften auf, die Langweile verhindern können: Wandern bietet als Aktivität per se eine Alternative zum Nichtstun. Seine Verbundenheit zur Natur schafft Abenteuerpotentiale, die laut Brämer (2005, S.234) zu den Bedürfnissen Jugendlicher passen. Gleichzeitig verstärkt das Allein-Sein den Herausforderungscharakter des Wandems. Die sicherheitsgebende zweite Person fehlt und der*die Jugendliche muss sich auf die eigenen Entscheidungen verlassen und mit deren Konsequenzen umgehen kön­nen. Daher ist anzunehmen, dass die Kombination von Solo und Wandern die Gefahr der Langeweile verringern kann. Bestärkt wird diese Vermutung durch eine Beobachtung Maxteds (2005), die aufzeigt, dass Jugendliche in statischen Solos ihren Platz oft verlassen, um in der Umgebung umherzustreifen (vgl. Maxted 2005, S.132).

Größere Herausforderungen können aber nicht nur Langeweile entgegenwirken, sondern auch Ängste vergrößern. Maxted (2005) erkennt die Furcht um die eigene Sicherheit und die Furcht vor dem Scheitern als besonders relevant für Jugendliche (vgl. Maxted 2005, S.129f.). Da das Solo-Wandem durch seine Dynamik des einsamen Umherziehens beson­ders wenig Sicherheit durch Pädagog*innen, andere Personen oder einen festen Aufent­haltsort gibt, könnten bereits bestehende Sicherheitsbefürchtungen und damit die Angst vor dem Scheitern noch vergrößert werden. Hier wird besonders deutlich, dass der Bezug des Solo-Wandems zur Lebenswelt Jugendlicher stark vom Individuum, seinen bereits ge­machten Erfahrungen und den daraus resultierenden Fähigkeiten abhängig ist, da sonst Überforderung eintreten kann.

Ob Solo-Wandem den Bildungsinteressen von Jugendlichen gerecht wird, kann nicht ein­deutig beantwortet werden. Es bietet zwar eine Vielfalt an Möglichkeiten, die selbstbe­stimmte Bildung entsprechend jugendlicher Bedürfnisse fördern kann, zeigt aber auch die Schwierigkeiten durch ein verstärktes Potential von Langeweile und Angst, für die Jugend­liche besonders anfällig sind. Wie stark diese Anfälligkeit ausgeprägt ist, hängt von bereits angeeigneten Einsamkeitsfähigkeiten und Erfahrungen im Wandern ab. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Solo-Wandem einen mehr oder weniger starken Bezug zur Le­benswirklichkeit des*der individuellen Jugendlichen haben und daher auch mehr oder we­niger bildungsrelevant sein kann. Eine genaue Betrachtung des Einzelfalles ist in jedem Fall notwendig.

5.3 Hinweise zur pädagogischen Praxis und kritische Überlegungen

Wie bereits auf den vorangegangenen Seiten deutlich wurde, weist das Solo-Wandem trotz seiner vielen Bildungsmöglichkeiten durchaus Schwierigkeiten für die pädagogische Praxis auf. Diese sollen im Folgenden genauer dargestellt werden. Weiterhin werden jedoch auch Aspekte des Solo-Wandems angesprochen, die sich positiv auf dessen Verwendbarkeit in der pädagogischen Praxis auswirken.

Eine Schwierigkeit des Solo-Wandems besteht in der Gefahr der Überforderung durch un­überwindbare Herausforderungen und damit der Initiierung der Angst, der Sache nicht ge­wachsen zu sein. Verlassenheitsgefühle können durch das Wandern verstärkt werden. Bei­spielsweise könnte sich ein einsamer Mensch durch die Erhabenheit der Natur oder das Umherziehen ohne festen und sicheren Bezugspunkt, noch einsamer und kleiner fühlen. Pädagog*innen müssen die Einsamkeitsfähigkeiten ihrer Teilnehmerinnen einschätzen können, um Gefühlen von Verlassenheit und Langeweile in verschiedener Weise entgegen­treten zu können. Nicht nur Einsamkeitsstrategien müssen eingeschätzt werden, um den

Jugendlichen in der Vorbereitung das richtige Maß an Schutzgefühl vermitteln zu können, sondern auch technische Fähigkeiten in Bezug auf das Wandern sowie körperliche Voraus­setzungen. Die Vorbereitung wird damit, sowohl für Jugendliche als auch für Pädagog*innen komplexer.

Eine höhere Komplexität in der Vorbereitung beinhaltet nicht nur mehr Schwierigkeiten, die bedacht werden müssen, sie bietet auch ein Mehr an Möglichkeiten, den individuellen Bedürfnissen von Jugendlichen Beachtung zu schenken. So liegt im Umherziehen selbst ein Aspekt, der die individuelle Passung des Solo-Wandems fördern kann. Anders als bei statischen Solos, bei denen die Teilnehmerinnen die gesamte Zeit an einem Ort verbrin­gen, können im Solo-Wandem Orte aufgesucht werden, die den jeweiligen Stimmungen und Bedürfnissen entsprechen. Offene Felder, geschlossene Waldstücke, weite Blicke in die Landschaft oder Betrachtungen einzelner Dinge können unterschiedliche Atmosphären entstehen lassen und unterschiedliche Stimmungen hervorrufen oder verstärken. Entsteht der Wunsch, an einem dieser Orte verweilen zu wollen, kann dem nachgegangen werden, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu müssen. Herausforderungen können im Allein-Sein so gewählt werden, dass sie den eigenen Fähigkeiten und Ängsten entsprechen. Dazu gehö­ren Entscheidungen über die Streckenlänge, ob auch nachts gewandert werden soll oder wieviel Essen benötigt wird. Dies erfordert und fördert nicht nur Selbstbestimmtheit, es hilft, die eigenen Grenzen realistisch einschätzen zu lernen. All dies kann beim Solo- Wandem im Rahmen einer Aktivität geschehen, die an sich relativ ungefährlich ist. Deisen (2002) merkt hierzu an, dass die vermeintlichen Gefahren im Allein-Sein oft größer einge­schätzt würden als in der Gemeinschaft einer Gruppe. Die vorhandenen Ressourcen für ihre Bewältigung seien jedoch ebenfalls oft größer als für möglich gehalten werde (vgl. Deisen 2002, S.72). Die Chancen auf eine erfolgreiche Bewältigung krisenhafter Situationen wür­den damit steigen, ohne dass die Herausforderungen dabei an Authentizität verlören.

Die Art und Weise der Durchführung des Solo-Wandem weist dann die beste Passung zum*r jeweiligen Jugendlichen auf, wenn es freiwillig gewünscht und selbst organisiert wird. Dadurch ist zum einen die intrinsische Motivation gegeben, die die Offenheit für Er­fahrungsmöglichkeiten erlaubt, zum anderen wird den individuell relevanten Bildungsin­halten ohne äußeren Einfluss Raum gegeben. In der pädagogischen Praxis, deren Ziel es ist, Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, ist ein gänzlich auf die Eigeninitiative von Jugendli­chen zurückgehendes Solo-Wandem jedoch schwer vorstellbar: Solo-Wandem wird so­wohl von Jugendlichen als auch von der Gesellschaft eher negativ konnotiert, was sich vermutlich in einer sehr geringen Nachfrage Jugendlicher nach solchen Angeboten nieder­schlagen könnte. Weiterhin ist fraglich, ob das soziale Umfeld Jugendlicher und sich die Jugendlichen selbst eine Solo-Wanderung überhaupt Zutrauen würden.

Häufig bestehen diese Bedenken vermutlich sogar zu recht, denn Allein-Wandern und die entsprechenden Fähigkeiten müssen gelernt werden (vgl. Deisen 2002, S.66). Neben Ein­samkeitsfähigkeiten, wie in Kapitel 4.4 aufgeführt, zählen auch Fähigkeiten dazu, die in direktem Zusammenhang mit dem Wandern stehen. Jugendliche, die zum ersten Mal in ihrem Leben wandern gehen, können beispielsweise auf keinerlei Erfahrungswerte bezüg­lich des Rucksackgewichtes, der Verpflegungsmöglichkeiten oder Wetterproblematiken zurückgreifen. Diese Erfahrungen könnten helfen, eine Wanderung für sich zu planen. Laut Deisen (2002) würden Unsicherheiten und Angst mit dem Erwerb von Kompetenzen und Erfahrungen in demjeweiligen Bereich schwinden (vgl. Deisen 2002, S.66). Solo-Wandem eröffnet Jugendlichen daher vermutlich nur dann Bildungspotentiale, wenn bereits Erfah­rungen und Fähigkeiten vorhanden sind, auf die aufgebaut und nach denen entschieden werden kann. Alternativ könnte auch ein*e Pädagogen unterstützend bei der Vermittlung von Einsamkeitsfähigkeiten zur Seite stehen. Dabei sollten Jugendliche, wie in Kapitel 2.3 bereits dargelegt, durch die pädagogische Begleitung unterstützt werden, selbst die benötig­ten Fähigkeiten aufzubauen, die für sie von Bedeutung sind. Es sollte darauf geachtet wer­den, Jugendliche durch pädagogische Inszenierungen nicht in Abwehrhaltungen zu treiben oder durch Vorgaben von außen in ihrer Selbstbestimmtheit einzuschränken.

Fasst man noch einmal alle bereits genannten Aspekte zusammen, lässt sich die Aufgabe des*r Pädagogen bei der Begleitung von Solo-Wanderungen folgendermaßen zusammen­fassen: Mit viel Einfühlungsvermögen müssen die Fähigkeiten und Interessen, aber auch die Ängste der Teilnehmerinnen eingeschätzt und das weitere Vorgehen daraus abgeleitet werden. Der*die Pädagogin muss reflektiert mit der Frage danach umgehen, inwiefern das Solo-Wandem für eine selbstbestimmte Bildung desi jeweiligen Jugendlichen förderlich wäre. Weiterhin muss eresie erörtern, ob Fähigkeiten und Kompetenzen nötig sind und aufgebaut werden müssten, um das Solo-Wandem individuell förderlich gestalten zu kön­nen. Dazu muss eine Atmosphäre von Sicherheit und Vertrauen zwischen Jugendlichemi und Pädagogin geschaffen werden (vgl. Heckmair 2012, S.218). Es gilt daher, Fremdbe­stimmung und unnötige pädagogischen Inszenierungen zu vermeiden.

Die Komplexität der pädagogischen Aufgabe ist durch die Verknüpfung des Wandems und des Allein-Seins erhöht. Dies sollte von einer Nutzung der Methode des Solo-Wandems jedoch nicht abschrecken, da die Eröffnung von Bildungsmöglichkeiten als Argument überzeugt. Einige Aspekte gestalten zudem die Umsetzung der Methode in die pädagogi­sche Praxis einfacher. Neben den relativ niedrigschwelligen technischen und körperlichen Kompetenzen, die Jugendliche aber auch Pädagog*innen mitbringen müssen, wird außer­dem das Vermeiden pädagogischer Inszenierungen begünstigt. Sowohl das Wandern, als auch das Solo zeichnen sich durch immanente Herausforderungen aus, die keiner Einmi­schung derider Pädagogen bedürfen. Dadurch bieten sie ein hohes Maß an Authentizität und einen leichten Zugang für Jugendliche, die dazu neigen, sich gegen pädagogische Ar­rangements zu wehren.

Im Verlauf der vorliegenden Arbeit konnten verschiedene Bildungsmöglichkeiten und auch Gefahren und Schwierigkeiten erarbeitet werden. Jedoch wurden auch Fragen aufgeworfen, die aufgrund des eingeschränkten Umfangs und Zeit der Arbeit nicht bearbeitet werden konnten. An dieser Stelle sollen zwei der am wichtigsten erscheinenden Unklarheiten be­nannt werden, um weiterführende Untersuchungen möglich zu machen. Eine Beantwortung der Fragen, die gestellt werden, ist unbedingt wichtig, um Solo-Wandem reflektiert be­trachten zu können:

So wurde in diesem Kapitel eine Vielzahl an Möglichkeiten, die das Solo-Wandem für Bildung bietet, aufgezeigt. Wie aber soll nach dem Solo-Wandem mit den gemachten Er­fahrungen umgegangen werden? Soll schlicht darauf vertraut werden, dass bedeutungsvolle Inhalte von den Jugendlichen erkannt und angenommen werden? Sollten gemachte Erfah­rungen hinterher womöglich gemeinsam aufgearbeitet werden oder findet Bildung von sich aus statt? Welche Aspekte sprächen für und welche gegen eine Nachbereitung und welche Reflexionsmodelle böten sich an? Merazzi (2010, S.116) verweist beispielsweise darauf, dass Jugendliche die gemeinsame Nachbereitung benötigten und sich darauf freuten. Wie soll hier also die Rolle des*der Pädagogen als Begleitung aussehen?

Eine weitere Frage bezieht sich auf den Aspekt der Angst vor dem Scheitern, der bereits mehrmals angesprochen wurde. Scheitern ist ein soziales Phänomen, das nach Junge (2004) in unserer Gesellschaft immer wichtiger und aktueller werde. In modernen Gesell­schaften würde es aber verstärkt vermieden, um handlungsfähig zu bleiben, (vgl. Junge

2004, S.10) Auch für Jugendliche scheint die Angst vor dem Scheitern eine zentrale Be­deutung zu haben. Maxted (2005) erkannte es gar als eine der Hauptängste Jugendlicher (Maxted 2005, S.130). Um das Solo-Wandem auch in der pädagogischen Arbeit nutzen zu können, wäre es für einen reflektierte Auseinandersetzung notwendig, sich auch mit dieser Thematik zuvor auseinanderzusetzen.9

5.4 Weiterführende Diskussionsanregungen

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kamen immer wieder kritische Fragen und Diskussio­nen auf, die bisher nicht aufgegriffen wurden, da sie nicht in direktem Zusammenhang zur Beantwortung der Ausgangsfragestellung stehen. Dennoch haben auch diese Aspekte für einen reflektierten Umgang mit dem Thema des Solo-Wandems Relevanz. Nur durch ihre Betrachtung lässt sich das Thema in einen ganzheitlichen Sinnzusammenhang einbetten. Aus diesem Grund sollen im Folgenden Ideen und Anregungen zu möglichen weiteren Diskussionspunkten angedeutet werden:

In der Erlebnispädagogik taucht die Diskussion um die Konstruktion von Geschlecht im­mer wieder auf. In dieser Arbeit fällt die insgesamt sehr männlich Konnotation auf. Diese wird zum einen durch die Sprache, welche recht maskulin erscheint, als auch durch das Thema selbst hervorgerufen. Begriffe wie „Abenteuerlust“ oder „Gefahr“ sind in unserer westlichen Gesellschaft eher männlich konnotiert. In der vorliegenden Arbeit wurden Ge­schlechtsunterschiede nicht explizit beachtet, was nicht bedeutet, dass ihnen keine Bedeu­tung beigemessen werden sollte. Die Gesellschaft unterscheidet zwischen Geschlechtern und es existieren Geschlechtsstereotype, die sich auf Verhalten und Erleben von Menschen auswirken. Es wäre wünschenswert, wenn es in der Planung individueller Solo-Wander­Aktivitäten ausschließlich um das Ansprechen von Persönlichkeit und Individualität ginge. Eine Vernachlässigung möglicher Geschlechtsdifferenzen würde der gesellschaftlichen Realität jedoch nicht gerecht, weil alle Menschen geschlechtliche Sozialisation durchlebt haben und somit geschlechtlich geworden sind. Die Frage ob Solo-Wandem überhaupt alle Jugendlichen ansprechen kann, wo Mädchen und Jungen doch so unterschiedlich soziali­siert sind, drängt sich auf und eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Thema wäre spannend.

Als besonders bedeutend für Bildung wurde immer wieder die Möglichkeit der Minimie­rung von Fremdbestimmung benannt. Was beinhaltet aber Fremdbestimmung? Wo beginnt und wo endet sie? Macho (2000) beispielsweise spricht von Fremdbestimmung im eigenen Kopf, von Stimmen, die beschwatzten und überredeten. Bietet das Solo-Wandem als mög­liche Einsamkeitstechnik auch Möglichkeiten, diese Stimmen zu beherrschen? Ohne das Ideal einer absolut selbstbestimmten Existenz zum Ziel machen zu wollen, wäre eine diffe­renziertere Auseinandersetzung mit dem Thema Fremdbestimmtheit spannend, denn nur dann ist es überhaupt möglich zu erkennen, ob Fremdbestimmtheit wirklich minimiert oder nur in anderer Form unbemerkt weiter fortgesetzt würde. Darauf aufbauend bietet ein re­flektierter Umgang mit diesem Thema die Möglichkeit versteckte Pädagogik zu erkennen und zu vermeiden. Auch wenn die körperliche Anwesenheit eines*r Pädagogen minimiert wird, bedeutet dies nicht, dass nicht trotzdem, bewusst oder unbewusst, fremdbestimmte Bildungsziele versteckt vermittelt werden könnten.

Eine weitere spannende Überlegung betrachtet das Solo-Wandem als Möglichkeit dem Trend zum Erlebniswahn10 in unserer westlichen Kultur entgegenzutreten und damit der Veralltäglichung des Erlebnisses entgegenzusteuem.

Abschließend soll der Aspekt der gesellschaftlichen Weiterentwicklung angesprochen wer­den. Haug (2000) macht in seinen Ausführungen unter anderem darauf aufmerksam, dass jede Art von Solo-Erfahrung, obwohl von der Gesellschaft negativ konnotiert, von dieser gebraucht werde. Als Begründung nannte er die auftretende Sensibilisierung und damit veränderte Wahrnehmung der Welt als notwendig, um gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen und die ständige Reproduktion veralteter Sichtweisen zu verhindern.

6. Schluss: Zusammenfassung und Fazit

Ziel der Arbeit war es, die verschiedenen pädagogischen Möglichkeiten des Solo­Wandems für Jugendliche, sowie die Gefahren und Schwierigkeiten, die sich daraus erge­ben, anhand verschiedener aktueller Theorien und Konzepte auszuarbeiten. Es wurde von der Annahme ausgegangen, dass eine Verknüpfung von Wandern und Solo eine Auseinan­dersetzung mit der Welt fordert, die gerade in einer Lebensphase in der Themen wie gesell­schaftliche Entwicklungsanforderungen, Identitätsfindung und Selbstbestimmtheit bedeut­sam werden, besonders wertvoll sein könnte. Zunächst wurde eine inhaltliche Klärung des Bildungsbegriffs im Jugendalter vorgenommen. Als Aufgabe in diesem Alter wurde das Erkennen und selbstbestimmte Umsetzen persönlicher Entwicklungs- und Bildungsziele bei Beachtung individueller Wünsche und Bedürfnisse definiert. Im Folgenden wurden die pädagogischen Möglichkeiten des Wandems und Solos getrennt aufgeführt. In der an­schließenden Zusammenführung konnte die Ausgangshypothese, dass die Kombination aus Wandern und Allein-Sein eine Auseinandersetzung mit der Welt fordert, die gerade in der Jugendphase besonders wertvoll sein kann, in verschiedener Hinsicht bestätigt werden. Schlussfolgernd kann deshalb davon ausgegangen werden, dass Solo-Wandem eine Viel­zahl an Bildungsmöglichkeiten bietet: es erhöht die Chancen auf Situationen, in denen Re­flexionen über sich und die Umwelt stattfinden können und fördert damit den Aufbau von Reflexionsfähigkeit. Diese wurde sowohl als grundlegende Voraussetzung als auch als Ziel von Bildung erkannt (siehe Kapitel 2.3). Zudem konnte belegt werden, dass durch Mini­mierung von Fremdbestimmung vom Individuum ausgehende Bildung gefördert wird. Ob­wohl das Solo-Wandem unbegleitet stattfindet, könnte es außerdem Beziehungen zu ande­ren Menschen stärken, da das Verhältnis zu anderen aus der Distanz neu wahrgenommen und reflektiert werden kann. Weiterhin könnte sich das Solo-Wandem positiv auf die Sicht des sozialen Umfeldes auf das Individuum auswirken, indem es Anerkennung hervorruft und Vertrauen in das Individuum stärkt. Es konnte herausgestellt werden, dass das Solo- Wandem ein Medium sein könnte, das besonders Jugendlichen diese Möglichkeiten zur Förderung selbstbestimmter Bildung eröffnet. Als Gründe wurden seine Authentizität, Ein­samkeit als Entwicklungsbedürfnis Jugendlicher und ein erhöhtes Abenteuerpotential her­ausgearbeitet.

Während der Bearbeitung des Themas wurden jedoch auch einige Schwierigkeiten sicht­bar, die durch Besonderheiten der Jugendphase den pädagogischen Möglichkeiten entge­genwirken könnten. Als besonders bedeutsam wurden von Maxted (2005, S.129f.) die Sor­ge um die eigene Sicherheit und Angst vor dem Scheitern durch Langeweile oder überfor­demde Herausforderungen erkannt. Diese Ängste könnten zu Abwehrhaltungen gegen ein Solo, aber auch zu einem Misslingen des Solos an sich führen. Dem*r Pädagogen in der Rolle einer unterstützenden Begleitung käme deshalb die Aufgabe zu, die Jugendlichen einzuschätzen, ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit zu schaffen und beim Erwerb und Aufbau eventuell fehlender Kompetenzen für die Bewältigung einer Solo-Wanderung zu helfen. Dabei sollte diejugendliche Selbstbestimmtheit nicht eingeschränkt werden.

Das Solo-Wandem wird aus diesem Grund in der vorliegenden Arbeit als ein komplexes Medium, mit vielen Möglichkeiten und Schwierigkeiten betrachtet, das weiter untersucht werden sollte. Ob sich daraus folgernd jedoch, wie zu Beginn der Arbeit erhofft, konkrete Handlungskonsequenzen oder eine Methode für die erlebnispädagogische Praxis ableiten lassen würden, ist fraglich. Diese hängen, nach der hier verwendeten Bildungsauffassung, unmittelbar von den Bedürfnissen und Interessen des*r individuellen Jugendlichen ab. Ge­neralisierte Leitlinien und konkrete Handlungsvorschläge bezüglich Solo-Wanderungen in der Arbeit mit Jugendlichen wären deshalb kaum möglich.

Trotz der begrenzten Zeit und des begrenzten Umfangs dieser Arbeit konnten die Chancen, die sich aus dem Solo-Wandem für Entwicklungs- und Bildungsprozesse in der Jugend­phase ergeben könnten, deutlich herausgestellt werden. Die erforderliche weiterführende Auseinandersetzung mit den benannten noch fehlenden Aspekten zur Wirksamkeit und zum Scheitern (siehe Kapitel 5.3) und eine Beschäftigung mit den aufgeführten erkennba­ren Gefahrenpotentialen wäre lohnenswert.

Neben der Förderung selbstbestimmter Bildung könnte das Solo-Wandem einen Raum zum Allein-Sein schaffen, der aufgrund ansteigenden Pädagogisierung und Institutionalisierung von Kindheit und Jugend[8] [9] in unserer westlichen Gesellschaft immer seltener wird. Rück­zugsgelegenheiten sind jedoch nach Buchholz (1999, S.204-211) für jugendliche Entwick­lungsbedürfnisse von elementarer Bedeutung. Der Raum, der sich so im Solo-Wandem öffnet, könnte als Teil des aktuell diskutierten Bildungsmoratoriums für Jugendliche ge­sehen werden, indem Jugendliche sich auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse konzent­rieren können. Erinnernd an die Ausführungen in Kapitel 2.2 stehen Jugendliche vor der Entscheidung zwischen Transition und Moratorium. Sie befinden sich im Spannungsfeld zwischen zielgerichteter Bewältigung gesellschaftlicher Entwicklungsanforderungen und dem Verfolgen persönlicher Bildungsziele. Solo-Wandem könnte Jugendlichen durch die Abwesenheit anderer Personen und der Minimierung von Fremdbestimmung dabei helfen, zu aktiven Gestalter*innen ihrer Entwicklung zu werden. So könnte das Moratorium ge­nutzt werden, um sich dem Konzept der Integration (vgl. Reinders 2001, S.918) anzunä- hem, welches von Hurrelmann (2005, S46f.) als besonders geeignet und zielführend in un­serer westlichen Gesellschaft hervorgehoben wurde. Auch auf gesellschaftliche Sichtwei­sen hätte das Solo-Wandem als Teil des Bildungsmoratoriums Auswirkungen. Da es eine Sicht auf Jugendliche als Akteur*innen, als emstzunehmende Mitglieder der Gesellschaft, fördern kann (siehe Kapitel 5.3), würde auch die Funktion des Moratoriums in ein neues Licht gerückt. Statt einer ausschließlich defizitären Betrachtung von Jugendlichen als un­fertige, in gewisser Hinsicht handlungsunfähige Wesen, denen für ihre Entwicklung - fremdbestimmt und passiv- ein Schonraum zur Verfügung gestellt werden muss, würden hier ressourcenorientierten Sichtweisen Platz gemacht und das Moratorium vom passiv genutzten Schonraum zum aktiven eroberten Bildungsraum verändert.

Das Bildungspotential des Solo-Wandems konnte damit in der vorliegenden Arbeit eindeu­tig herausgestellt werden. Trotz möglicher Bedenken und Schwierigkeiten ist die Vielzahl an Bildungsmöglichkeiten des Wandems, des Solos und der Kombination aus beiden nicht nur für Erwachsene, sondern insbesondere auch für Jugendliche bemerkenswert. Weiterhin offene und neu entstandene Fragen sollten in weiteren Ausarbeitungen beantwortet und als förderlich für jugendliche und gesellschaftliche Entwicklung betrachtet werden.

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Schultheis, Klaudia (2005). Entpädagogisierung der Kindheit? Pädagogische Anmerkungen zur soziologischen perspektíve aufKinder und Kindheit. In: Fomeck, Hermann J. & Retzlaff, Brigit (Hrsg.). Kontingenz - Transformation - Entgrenzung. Über Verände­rungen im pädagogischen Feld. Rostock: Ingo Koch Verlag (S.89-108)

Seel, Martin (1996). Eine Ästhetik der Natur (1. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp Ta­schenbuch Wissenschaft

Smith, Thomas E. (2005). Going Outside to go Inside: Frameworks for the Solo Experi­ence. In: Knapp, Clifford E. & Smith, Thomas E. (Hrsg.). Exploring the Power of So­lo, Silence and Solitude. Boulder, CO: Association for Experimental Education (S.4- 18)

Stenzel, Arnold (I960). Die anthropologische Funktion des Wandems und ihre pädagogi­sche Bedeutung. In: Günther, Karl-Heinz & Mohr, Konrad & Roche, Horst & Sten­zel, Arnold (Hrsg.). Erziehung und Leben. Vier Beiträge zur pädagogischen Bewe­gung des frühen 20. Jahrhunderts. Heidelberg: Quelle & Meyer (S.96-122)

Vollmar, Martin (2002). Anmerkungen zu Wander-Exkursionen. Ohne Ort. Verfügbar un­ter: http://www.uni-marburg.de/fb21/ifsm/aep/downloads/wanderexkursionen.pdf [12.04.2013]

Wiese, Daniel (2006). Wirkungsweise erlebnispädagogischer Programme am Beispiel von Praxisfeld - Erlebnispädagogische Programme e.V. . Diplomarbeit. Fachhochschule Dortmund: Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften. Verfügbar unter: http://www.erlebnis-wiese.de/downloads/diplomarbeitdanielwiese.pdf [4.4.2013]

Zeiher, Helga (1996). Von Natur aus Außenseiter oder gesellschaftlich marginalisiert? Zur Einführung. In: Büchner, Peter & Zeiher, Helga & Zinnecker, Jürgen (Hrsg.).Kinder als Außenseiter? Umbrüche in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Kindern und Kindheit. Weinheim und München: Juventa Verlag

7.2 Weiterführende Literatur

Backert, Wolfram (2004). Kulturen des Scheitems: Gesellschaftliche Bewertungsprozesse im internationalen Vergleich. In: Junge, Matthias & Lechner, Götz (Hrsg.). Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften (S.63-77)

Braun, Hans (2009). Zum Umgang mit Verantwortung im öffentlichen Diskurs. In: Die Neue Ordnung, 4 (244-248)

Heinzei, Friederike & Prengel, Annedore (2007): Zur Konzeption von Heterogenität in Wolfgang Klaikis Schlüsselproblemen. Stellungnahmen aus der Perspektive der Bil­dungstheorie von Wolfgang Klafki. In: Koch-Priewe, Barbara & Stübig, Frauke & Arnold, Karl H.(Hrsg.). Das Potential der Allgemeinen Didaktik. Weinheim und Ba­sel: Beltz(S. 168-180)

Höhne, Thomas (2013). Pädagogisierung als Entgrenzung und Machtstrategie. Einige kriti­sche Überlegungen zum erziehungswissenschaftlichen Pädagogisierungsdiskurs. In: Schäfer, Alfred & Thompson, Christiane (Hrsg.). Pädagogisierung. Wittenberger Gespräche, (1). Halle: Martin-Luther-Universität

Junge, Matthias & Lechner, Götz (2004)(Hrsg.). Scheitern. Aspekte eines sozialen Phäno­mens. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften

Kölsch, Hubert & Wagner, Franz-Josef (2004). Erlebnispädagogik in der Natur. Praxis­buch für Einsteiger. (2.Aufl.). München: ReinhardtVerlag

Kränzl-Nagl, Renate & Mierendorff, Johanna (2007). Kindheit im Wandel. Annährungen an ein komplexes Phänomen. SWS-Rundschau (47. Jg.), Heft 1,3-25

Lakemann, Ulrich (2005)(Hrsg.). Wirkungsimpulse von Erlebnispädagogik und Outdoor- Training. Empirische Ergebnisse aus Fallstudien. Augsburg: Ziel Verlag

Meyer, Meinert A. & Meyer, Hilbert (2007). Wolfgang Klafki: Eine Didaktik für das 21. Jahrhundert?. Weinheim: Beltz

Paffrath, F. Hartmut (2013). Einführung in die Erlebnispädagogik. Augsburg: ZIEL Verlag

Rheinberg, Falko (2010). Intrinsische Motivation und Flow-Erleben. In: Heckhausen, Jutta & Heckhausen, Heinz (Hrsg.). Motivation und Handeln. Berlin, Heidelberg, New York: Springer (S.365-388)

Schulze, Gerhard (2005). Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfürt, New York: Campus Verlag

Witte, Matthias D. (2002). Erlebnispädagogik. Transfer und Wirksamkeit. Möglichkeiten und Grenzen des erlebnis- und handlungsorientierten Erfahrungslernens. Lüneburg: Verlag edition erlebnispädagogik

Zinnecker, Jürgen (2001). Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule. Weinheim und München: Juventa Verlag

8. Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Zwischen Transition und Moratorium

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Jugendstudie Wandem’07

Tabelle 2: Störfaktoren beim Wandern

[...]


[1] Damit alle Menschen, die sich in- und auch außerhalb des binären Geschlechtsfeldes weiblich/männlich verorten, in die Aussagen dieser Arbeit mit einbezogen werden, wird das Genderstemchen verwendet. Der in unserer westlichen Welt vorherrschenden Vorstellung der Geschlechterpolarität soll damit entgegengewirkt werden.

[2] Auf die naheliegend erscheinende Diskussion zum gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Kinder als Akteur*innen, Pädagogisierung, Institutionalisierung, Machtverhältnissen oder zur defizit- und opferorientierten Sicht auf Kinder und Jugendliche soll jedoch nicht weiter eingegangen, sondern lediglich auf Literatur verwiesen werden: Hungerland (2008); Zeiher (1996); weiteriuhrende Literatur: Höhne (2013); Kränzl-Nagl (2007); Zinnecker (2001).

[3] Hinweis auf weiterführende Literatur: Heinzei (2007); Meyer (2007)

[4] Intrinsische Motivation: die Motive etwas zu tun liegen in der Person selbst. Ein Verhalten ist dann intrinsisch motiviert, wenn es dem inneren Willen heraus durchgeiuhrt wird, weil es interessant ist. Weiterffihrende Literatur: Rheinberg (2010)

[5] Die Definition des Abenteuers und seinem Bildungswert nach Peter Becker soll hier nur angerissen werden. Detaillierte­re Ausführungen zum Strukturmodell des Abenteuers siehe: Becker (2003); Becker (2005)

[6] Siehe: Iacone (2008); Knapp (2005)

[7] Hinweis auf Literatur zum Thema Pädagogisierung von Kindheit und Jugend: Zeiher (1996); Hungerland (2008); wei- teriuhrende Literatur: Höhne (2013); Kränzl-Nagl (2007) oder Zinnecker (2001).

[8] weiterführende Literaturhinweise zum Thema Pädagogisierung und Institutionalisierung von Kindheit und Jugend: Schäfers (2005); Baacke (1999), Popp (2010)

[9] Literaturhinweise zum aktuellen gesellschaftlichen Diskurs des Bildungsmoratoriums: Hurrelmann (2008), Reinders (2001); weiterführende Literatur: Rohlfs (2011); Büchner (1996)

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Solo-Wandern. Pädagogische Möglichkeiten des Allein-Unterwegsseins im Jugendalter
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Sportwissenschaft und Motologie)
Veranstaltung
Abenteuer- und Erlebnispädagogik
Note
12
Autor
Jahr
2013
Seiten
85
Katalognummer
V282418
ISBN (eBook)
9783656767343
ISBN (Buch)
9783656767336
Dateigröße
1093 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Bewertung der Arbeit erfolgte für den ersten Teil zum Thema Wandern mit 10 Punkten und für den zweiten Teil zum Thema Solo und die Zusammenführung beider Themen mit 15 Punkten, daraus ergab sich die Gesamtnote von 12 Punkten
Schlagworte
Wandern, Solo, Jugend, Bildung, Unterwegssein, Alleinsein, Jugendphase, Bildungsmöglichkeit, Christin Deye
Arbeit zitieren
Christin Deye (Autor:in), 2013, Solo-Wandern. Pädagogische Möglichkeiten des Allein-Unterwegsseins im Jugendalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/282418

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