Der Autor als Archivar, der Archivar als Kompilator. Am Beispiel "Echolot" von Walter Kempowski


Seminararbeit, 2014

33 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Autor als Archivar
2.1. Vom Sammeln zum Archivieren
2.2. Von Bildern zu Biographien
2.3. Vom Computer zur Monumentalcollage

3. Der Archivar als Kompilator
3.1. Vom Archivieren zum Präparieren
3.2. Vom Kompilieren zum Erzählen
3.3. Vom Echolot zum Echo

4. Conclusio

5. Bibliographie
5.1. Primärliteratur
5.2. Sekundärliteratur
5.2.1. Print
5.2.2. Internet

1. Einleitung

Mit dem Titel bzw. der Berufsbezeichnung Autor oder Schriftsteller ist gemeinhin der „Verfasser eines Werkes der Literatur, eines Textes“, ein „Urheber, Schöpfer“[1], „jemand, der [beruflich] literarische Werke verfasst“[2] etc. gemeint – so auch Walter Kempowski,

wie Karl Heinz Bittel, Lektor beim Knaus Verlag, angibt:

Kempowski galt als Romancier, dessen Romane Tadellöser & Wolff und die darauf folgenden ihn berühmt gemacht hatten und sich im übrigen glänzend verkauften. Erfolgreiche Autoren bekommen ein Etikett verpasst und werden in eine Schublade gesteckt, das erleichtert die Vermarktung. Deshalb wird es in Verlagen nicht sonderlich gern gesehen, wenn ein Schriftsteller plötzlich das Sujet oder das Genre wechselt – ein Risiko, das als schwer kalkulierbar gilt.[3]

Der Verlag war dementsprechend über das Echolot -Projekt Kempowskis weniger erfreut: „Und keine Zeile von Kempowski? Nur Zitate? Wer soll das kaufen?“[4] Dass trotz der großen Skepsis ein Vertrag mit dem Autor zustande kam, lag Bittel zufolge primär an der schon bestehenden Prominenz des „als reizbar“ geltenden Autors, den man „nicht verärgern“[5] wollte. Das Projekt lief weiter, aber der oberste Verleger habe dem Autor zu verstehen gegeben, „dass der Verlag von ihm Romane erwarte und nicht irgendwelche Lexika oder Lieferungswerke.“[6] Kempowski, „der als Kind – befragt nach seinem Berufswunsch – einmal geantwortet hatte, er wolle ‚Archiv‘ werden“[7], ließ jedoch nicht von seinem Projekt ab. Im übertragenen Sinne hat sich diese Anekdote verwirklicht: wenn Kempowski auch nicht gerade zum Archiv wurde, so hat er unter seinem Namen doch immerhin mehrere gegründet. Das Kempowski-Archiv umfasst neben dem Manuskriptarchiv das Fotoarchiv und das Archiv unveröffentlichter Biographien (Vgl. C, 38), die alle einer „Ästhetik des Entbergens“[8] folgen, die der „Sichtbarmachung des zuvor Verborgenen“[9] dient. Das Manuskriptarchiv ermöglicht Einblicke in die Entstehungsprozesse von Kempowskis Werken, das Foto- und Biographienarchiv in eine Alltagsgeschichte von unten im Sinne des New Historicism.

Die klassischen Aufgaben eines Archivs bestehen neben der Sammeltätigkeit in der Konservierung, Ordnung und Erschließung von Dokumenten.[10] Archivare sind demgemäß „Dienstleister des Speichergedächtnisses in einer Zwischenstellung: sie halten Informationen vor, die später von anderen bewertet, aufbereitet und interpretiert werden.“[11] Die Aufgaben eines Archivars nimmt Kempowski durchaus wahr, allerdings geht er im Echolot, das sich zu weiten Teilen aus den kempowskischen Alltags-Archiven[12] speist, über diese Zwischenstellung hinaus:

Kempowskis Idee war es, in einer monumentalen Collage die Zeugnisse selbst zum Sprechen zu bringen, die Stimmen zu einem gewaltigen Chor zu versammeln, den der Autor – gleichsam als Dirigent – arrangierte. Seit Jahren schon hatte Kempowski autobiographische Zeugnisse – Briefe, Tagebücher, Lebensberichte, Fotografien – gesammelt, auf Flohmärkten, in Antiquariaten und mittels Suchanzeigen in Zeitungen, und das anschwellende Material in seinem Archiv geordnet, katalogisiert, aufbereitet. Bei den Urhebern dieser Dokumente handelte es sich nahezu ausschließlich um Unbekannte, um Stimmen, die wohl für alle Zeit ungehört geblieben wären, hätte sich nicht Kempowski ihrer angenommen.[13]

In dieser Beschreibung einer „monumentalen Collage“ wird schon ein intendierter Prozess, eine Transformation sichtbar: Es bleibt nicht nur beim Archiv, dem passiven Teil des kollektiven Gedächtnisses; zusätzlich zur Speicherung wird auch dirigiert, also ausgewählt und bedeutungsvoll arrangiert, was dem Echolot einen Platz im aktiven kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft sichern sollte.[14] Bittel merkt an, dass ihm Walter Benjamins Fragment gebliebenes Passagen -Werk „von der Ambition her damit vergleichbar“[15] scheine. Der archivalische Charakter der Montage bei Benjamin wurde schon von Adorno hervorgehoben[16] und deren Merkmale – „Verzicht auf Kommentar und Interpretation“, „Schock als unvermeidliches und intendiertes Resultat der Montagetechnik“ und damit einhergehend das „Motiv des ‚Antisubjektivismus‘“[17] – finden sich auch im Echolot wieder.

Im Grunde genommen kann in Zusammenhang mit Walter Kempowskis Echolot nicht nur von zwei verschiedenen Körpern des Archivs gesprochen werden – einerseits vom Arbeitsort, der Institution Archiv, andererseits von der Methode und Theorie des Archivs –[18], sondern von dreien, wobei der dritte als Ästhetik des Archivs, „Entbergung der ehedem im Archiv eingelagerten Objekte“[19], zu bezeichnen wäre, die im Echolot durch die Kompilation Kempowskis zur Umsetzung gelangte. Beim Produkt dieser archivalischen Ästhetik, dem Echolot als einer Art gedrucktem Archiv, handelt es sich jedoch schon um ein archivologisches[20] Grenzgebiet, das womöglich besser mit der Metapher oder vielmehr Allegorie des Museums[21] umschrieben werden könnte.

Diese drei Körper bzw. Möglichkeiten des Archivs und des Archivischen, wie sie im Falle Kempowskis aufeinandertreffen, sollen im Folgenden anhand des Echolots untersucht werden, insbesondre in Bezug auf die Rolle des Autors einerseits als Archivar (Begründung der Institution, Anwendung der Methode) und andererseits als Kompilator (Ausstellung bzw. Montage des Archivmaterials).

2. Der Autor als Archivar

„Künstler als Archivare“ sind an und für sich nichts Ungewöhnliches: „Die Akkumulation unterschiedlichster Dinge ist ein Bestandteil des Ateliers, ein Reservoir, in dem sowohl Ideen wie Arbeitsmaterialien gespeichert sind.“[22] Von AutorInnen werden zumindest die eigenen Vorarbeiten bzw. Manuskripte oft gesammelt und geordnet, im umgangssprachlichen Gebrauch: archiviert. Auch das Recherchieren in Archiven ist längst keine Ausnahmeerscheinung mehr, ganz im Gegenteil: „Die empirische Arbeit in und an dieser Institution hat wissenschaftspraktisch sowie -politisch eine enorme Aufwertung erfahren. Es wird wieder für unumgänglich gehalten, das Archiv aufzusuchen.“[23] Walter Kempowski dankt im Echolot „den Archiven, die mich bei meiner Materialsuche unterstützten“[24], obwohl er Ende 1992 in seinem Tagebuch noch anmerkte: „Ich hätte große Lust, im Vorwort zum ‚Echo‘ all die Archive zu erwähnen, die mich nicht unterstützten.“ (C, 256) Dieser Gedanke verdeutlicht, dass der bloße Wille von ForscherInnen, KünstlerInnen, AutorInnen etc., Archive aufzusuchen, keineswegs immer mit deren Kooperation belohnt wird.

Walter Kempowski ist jedoch nicht nur in diesem weiter gefassten Sinne ein Autor als Archivar. Er hat selbst Archive gegründet, die weit über den Privatgebrauch und die Dokumentation seines eigenen Schaffens hinausgehen. Die Rede ist vom Foto- und Biographienarchiv, die unveröffentlichte Dokumente unbekannter Personen bergen, und aus denen sich Kempowskis wahrscheinlich bekanntestes Werk, Das Echolot, in weiten Teilen zusammensetzt. Die Etappen, welche zur Entstehung der kempowskischen Archive und in einem weiteren Schritt auch zur Entstehung des Echolots beigetragen haben, sollen im Folgenden näher erläutert werden.

2.1. Vom Sammeln zum Archivieren

Bevor etwas archiviert werden kann, muss es logischerweise erst einmal gesammelt werden. Ohne Material kein Archiv. In dem Echolot vorangestellten „Statt eines Vorworts“[25] verdeutlicht Kempowski, dass am Anfang nicht einmal gleich das Sammeln, sondern vielmehr das Wahrnehmen von etwas Sammelwürdigem steht. Die Wahrnehmung von ansonsten ungehörten Stimmen setzte bei ihm 1950 im Gefängnishof Bauzen ein. Als Einziger schien ihm, „ein eigenartiges Summen“, „ein babylonischer Chorus“[26] der Zellenkameraden nahe zu gehen, allerdings nur „für knappe zwei Minuten“[27]. Die Wahrnehmung allein ist kurzlebig, aber:

Jahre später, als ich [W. Kempowski] in Göttingen studierte, sah ich einen Haufen Fotos und Briefe auf der Straße liegen, die Menschen traten darauf: es war die letzte Hinterlassenschaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus Rußland und Briefe an seine Braut. Das gab mir einen Stich, und ich sammelte die Sachen ein.[28]

Die Briefe als Materialisation der Stimmen bzw. die Fotos, welche diesen ein Gesicht geben, sind etwas Greifbares, das vom Boden aufgehoben werden kann bzw. soll, woraus Kempowski eine Art moralischen Appell formuliert:

Wir sollten den Alten nicht den Mund zuhalten, wenn sie uns etwas erzählen wollen, und wir dürfen ihre Tagebücher nicht in den Sperrmüll geben, denn sie sind an uns gerichtet – die Erfahrungen ganzer Generationen zu vernichten, diese Verschwendung können wir uns nicht leisten. Wir müssen uns bücken und aufheben, was nicht vergessen werden darf: Es ist unsere Geschichte, die da verhandelt wird.[29]

Damit dieser Appell Gehör finden kann, ist mehr notwendig als das bloße vom Boden Aufheben und Ansammeln. Das Material muss zunächst einmal erschlossen, also gesichtet, geordnet und gespeichert, für ein breiteres Publikum dauerhaft archiviert werden. Der Unterschied zwischen einem Archivar und einem bloßen Sammler wird in der Öffentlichkeit nicht immer wahrgenommen, oft auch mit Absicht, wie es scheint, um das für die Allgemeinheit scheinbar wenig sinnvolle Tun des Archivars abzuwerten. Schon Wilhelm Dilthey fragte 1889 in seiner berühmten Rede Archive für Literatur:

Wer kennt nicht die Klage, Erhaltung und Druck solcher [d.h. unveröffentlichter] Papiere diene nur einem gelehrten Interesse; ja schließlich breche in diesen ungeheueren Papiermassen […] das neue alexandrinische Zeitalter über uns herein.[30]

Damals wurde noch für die Erhaltung bzw. Archivierung ungedruckter Manuskripte und Briefe von berühmten deutschen Schriftstellern argumentiert. Die allmähliche Entstehung von Literaturarchiven im 19. Jahrhundert hat diese Forderung, wenn auch zögerlich, erfüllt. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts sind es die Schriftstücke weitgehend unbekannter Personen, für deren Erhaltung und Nutzbarmachung Kempowski sich einsetzt. So sehr er damit den ungehörten Stimmen der Vergangenheit in demokratischer Manier Gehör verschaffen möchte, so wenig interessiert das zunächst die Stimmen der Gegenwart, die darin wiederum nur eine wissenschaftlich-literarische Elfenbeinturmspielerei zu erkennen glauben. Diese Einsicht ist Kempowski nicht fremd, wenn er in seinem Tagebuch vermerkt, dass seine Archive vermutlich niemanden interessieren: „Hier hat einer was angesammelt, um sich in seiner Einsamkeit entdeckenswert zu machen.“ (C, 76) Der Vorwurf des blinden oder jedenfalls für die Allgemeinheit zweckfreien Sammelns war ihm durchaus präsent: „Sie werden mich wieder als Sammler bezeichnen.“ (C, 136)

Nichtsdestotrotz betätigte sich der Autor und Sammler Kempowski nun auch als Archivar, lange noch bevor er die Idee zum Echolot hatte. Abgesehen davon, dass er, wie viele andere AutorInnen auch, seine eigenen Manuskripte archivierte, kam ihm am 14.3.1978, quasi als logische Weiterentwicklung seiner Sammelleidenschaft ungehörter Stimmen, der „Gedanke, ein Archiv für ungedruckte Biographien aufzumachen“ (C, 7), den er bald darauf in einem Brief an seinen Sohn, Karl Friedrich, näher ausführte:

Hier habe ich nun eine neue Idee, die ich irgendwann einmal angehen werde. Ein Archiv für ungedruckte Lebenserinnerungen. Ungezählte Leute haben ihre Biographie geschrieben, die liegen in den Schränken herum. Man müßte diese auf Büchsen gezogene Erfahrung speichern und der Gesellschaft nutzbar machen. Ich stelle mir das so vor, daß man hier auf unserm Grundstück ein Extragebäude dafür baut und dort die vielen, wahrscheinlich tausende Biographien archiviert. Man kann sie auswerten und Einzelveröffentlichungen starten. […] Mit Knaus [der Verleger Albrecht Knaus] hab ich das schon durchgesprochen. Finanziert wird die Sache von den Biographieschreibern selbst. Jeder muß 50 Mark bezahlen. Dies ist natürlich ein Hirngespinst, aber ein echter, verwendbarer Kern ist enthalten. (C, 7)

Diese erste schriftliche Niederlegung des Gedankens an ein Archiv für unveröffentlichte Biographien thematisiert sowohl die ganze Breite des Vorhabens als auch die Reihenfolge, in welcher die Umsetzung zu erfolgen hat. Am Anfang steht die Idee, seine „Suche nach geschichtlichem Rohmaterial zu verselbständigen“, die ihm bei den „zahlreichen Gesprächen und Interviews“ (C, 91), die er im Zuge der Deutschen Chronik[31] führte, kam. Als nächster Schritt wird die konkrete Institution Archiv, welche auf dem eigenen Grundstück entstehen soll, angesprochen. Der zusätzliche Raum ist notwendig, um in größerem Ausmaß archivalisch Arbeiten, also nicht nur Sammeln, sondern das Gesammelte auch ordentlich Erschließen zu können. Daran anschließend folgt der Gedanke an eine Art Ausstellung, an das Auswerten und Veröffentlichen des Materials, der sicher nicht zufällig der Geldfrage vorangestellt ist. Publikationen eines ohnehin schon bekannten Schriftstellers können sich im wortwörtlichen Sinn bezahlt machen, ein Archiv unveröffentlichter Biographien an sich wohl kaum. Selbst wenn die beiden Arbeitsweisen, das archivarische Speichern und die künstlerische Verarbeitung, bei Kempowski von Beginn an sehr nahe beieinanderliegen, sich quasi gegenseitig motivieren, so war die Tätigkeit des Autors als Archivar doch notwendig, um die Entstehung des Echolots überhaupt erst zu ermöglichen. Diese im engeren Sinn archivologischen Vorstufen sollen im Folgenden porträtiert werden.

2.2. Von Bildern zu Biographien

Die Sammlung und Aufbereitung von „Abfall-Fotos“ (C, 7), wie sie Kempowski in seinem Tagebuch selbst nennt, muss schon vor der Idee zum Biographienarchiv eingesetzt haben. Im April 1978 werden aus gesammeltem Material bereits mit einiger Routine „Bilderbögen“ (ebd.) geklebt: „Gerade das Nebeneinander von Fotos, die zeitlich oder inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, ist sehr aufregend.“ (Ebd.) Diese Aussage Kempowskis verdeutlicht, dass auch bei den Fotos die Motivation nicht im Sammeln und Speichern von profanen Dokumenten allein begründet lag, sondern durchaus schon im Hinblick auf ein späteres Verarbeiten und Veröffentlichen archiviert wurde. Die Methode der Montage, wie sie später im Echolot Anwendung finden sollte, klingt beim Aufkleben der divergenten Fotos an: es sollen Kontraste erzeugt werden.

Am 1.1.1980 vermerkt Kempowski in seinem Tagebuch die „ Gründung des Archivs für unpublizierte Autobiographien “. (C, 9) Zwei Tage darauf wird von ihm in der Zeit folgende Anzeige geschaltet:

Walter Kempowski sucht Fotos und Negative, die herumliegen und nicht mehr gebraucht werden: Schnappschuß, Porträt, Genre (bis 1950). Wer stiftet sie meinem Archiv? Ferner: unveröffentlichte Tagebücher und Autobiographien. (C, 9)

Vorerst schienen die Fotos, welche Kempowski auf diese Anzeige hin zahlreich und in der Regel kostenlos zugeschickt wurden, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Der Archivar verlässt sich jedoch nicht nur auf die in ihrer Art bzw. Qualität recht willkürlichen Zusendungen, sondern tätigt auch gezielt Ankäufe (Vgl. C, 10; 31; 40 etc.). Er vermerkt beispielsweise: „Zuviel Personenaufnahmen. Es müßten nun Städteaufnahmen dazukommen.“ (C, 29) Kempowski lässt durchblicken, „[…] daß die Fotosendungen oft mehr Spreu enthalten, als zu vermuten war. Man wird aus jeder Sendung nur einige wenige Stücke archivieren: Aufheben tun wir natürlich alles.“ (C, 11) An dieser Stelle regt sich ein erster Zweifel an der so demokratisch anmutenden Archivpraxis Kempowskis: Was heißt in diesem Zusammenhang „archivieren“, was „aufheben“? Da im kempowskischen Archiv angeblich nichts gänzlich aussortiert wird, liegt die Vermutung nahe, dass womöglich nur bestimmtes Material in Verzeichnisse aufgenommen bzw. verzettelt – Kempowski führte eine Sach- und eine Jahrgangskartei (Vgl. C, 58) – und der Rest „nur“ gesammelt wird. Die Frage nach Ausmaß und Gestaltung eines ersten Selektionsprozesses lässt sich jedoch mithilfe der Tagebücher nicht beantworten.

Obwohl Kempowskis Foto- und Biographienarchiv als eine Art Gegenarchiv zu herkömmlichen Staats- und Literaturarchiven angesehen werden kann, bleibt die Machtfrage, wie sie Foucault formuliert hat, bestehen: „Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht.“[32] Kempowski ermächtigt zwar prinzipiell die ansonsten ungehörten Stimmen schon dadurch, dass er sie des Sammelns und Speicherns für würdig befindet, muss aber im Hinblick auf eine spätere Verwendung des Materials trotzdem selektieren und damit innerhalb dieser Machtlosen eine Hierarchie etablieren oder wie er es nennt: „Sich dazu erziehen, schon in der Gegenwart das Bleibende auszumachen“ (C, 57), denn: „Später wird man sich nur die Rosinen herauspicken.“ (C, 12)

Die Motivation des Sammelns bzw. Speicherns, wie Kempowski sie beispielsweise für einen Vortrag in Amerika zum Thema „Kurzbiographie und Schnappschuß“ (C, 11) skizziert, tritt immer deutlicher hervor: „In Beziehung bringen zur ‚großen‘ Geschichte. Dadurch Zurechtrücken des Geschichtsbildes.“ (Ebd.) Das erst sehr weitläufig angelegte, sich hauptsächlich auf die Beteiligung der ZeitungsleserInnen stützende Ansammeln dient Kempowski nicht zuletzt als Schulung für ein gezielteres Sammeln und Selektieren. Das Ergebnis sind nicht nur Haufen von Material, sondern auch, dass gelernt wird, Bilder besser zu lesen: „Ich weiß nun, was ich brauche.“ (C, 22 u. vgl. C, 59) Genauer: „Bedeutung erhalten die Fotos durch ihren repräsentativen Charakter und die in der Masse der Schnappschüsse sich zufällig anfindenden demaskierenden oder geschichtliche Ereignisse erhellenden Stücke.“ (C, 92) Solche besonders repräsentativen Stücke zu erkennen und dann auch in lehrhafter Manier herzuzeigen, scheint auf lange Sicht das Ziel zu sein, denn: „Was nützt uns eigentlich das Sammeln von Fotos, wenn wir sie nicht vorzeigen?“ (C, 20) Jede/r, der/die einmal ein Fotoalbum besessen hat, kennt, zumindest im kleinen Format, sowohl diese Motivation als auch das Problem der notwendigen Selektion.

[...]


[1] Duden: Autor (Eintrag), http://www.duden.de/rechtschreibung/Autor, Zugriff am 8.2.2014.

[2] Duden: Schriftsteller (Eintrag), http://www.duden.de/rechtschreibung/Schriftsteller, Zugriff am 8.2.2014.

[3] Karl Heinz Bittel: Beschreibung eines Kampfes. Über die Entstehung von Walter Kempowskis Echolot. In: „Was das nun wieder soll?“ Von Im Block bis Letzte Grüße. Zu Werk und Leben Walter Kempowskis. Hg. v. Carla A. Damiano, Jörg Drews und Doris Plöschberger. Göttingen: Wallstein 2005, S. 137-149, hier S. 140.

[4] So paraphrasiert Bittel die wiederholten Bedenken der Verantwortlichen beim Knaus Verlag. Ebd., S. 139.

[5] Ebd.

[6] Ebd., S. 141.

[7] Ebd., S. 139. Vgl. auch Walter Kempowski: Culpa. Notizen zum „Echolot“. Mit Seitenhieben von Simone Neteler und einem Nachwort von Karl Heinz Bittel. München: Knaus 2005, S. 62. Im Folgenden werden Zitate aus Culpa als Sigle C im Fließtext angegeben.

[8] Knut Ebeling u. Stephan Günzel: Einleitung. In: Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Hg. v. Knut Ebeling u. Stephan Günzel. Berlin: Kadmos 2009 (Kaleidogramme, Bd. 30), S. 7-26, hier S. 8.

[9] Ebd.

[10] Vgl. Aleida Assmann: Archive im Wandel der Mediengeschichte. In: Archivologie, S. 165-175, hier S. 173.

[11] Ebd.

[12] Damit sind das Foto- und das Biographienarchiv gemeint, die sich beide vorrangig mit unveröffentlichtem Material beschäftigen.

[13] Karl Heinz Bittel: Beschreibung eines Kampfes, S. 138.

[14] Vgl. Aleida Assmann: Archive im Wandel der Mediengeschichte, S. 169-171.

[15] Karl Heinz Bittel: Beschreibung eines Kampfes, S. 139.

[16] Vgl. Theodor W. Adorno: Charakteristik Walter Benjamins [1950]. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. 20 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, Bd. 10/1: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, S. 238-253.

[17] Benjamin Buchloh: Warburgs Vorbild? Das Ende der Collage/Fotomontage im Nachkriegseuropa. In: Archivologie, S. 233-252, hier S. 238.

[18] Vgl. Knut Ebeling u. Stephan Günzel: Einleitung, S. 10-13.

[19] Knut Ebeling u. Stephan Günzel: Einleitung, S. 21.

[20] Der Neologismus wird hier und im Folgenden in Anlehnung an den Band „Archivologie“ von Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hg.) verwendet, die damit wiederum auf Derridas Projekt einer „allgemeinen Archivologie“ (1994) anspielen: „Stellen wir uns einmal das Projekt einer allgemeinen Archivologie vor, ein Wort, das nicht existiert, das aber eine allgemeine und interdisziplinäre Wissenschaft des Archivs bezeichnen könnte.“ Siehe: Jaques Derrida: Dem Archiv verschrieben. In: Archivologie, S. 29-60, hier S. 42.

[21] Vgl. Holger Helbig: Kompilator Kempowski. Das Echolot als Museum. In: Walter Kempowski: bürgerliche Repräsentanz – Erinnerungskultur – Gegenwartsbewältigung. Hg. v. Lutz Hagestedt. Berlin et al.: De Gruyter 2010, S. 203-220.

[22] Monika Rieger: Anarchie im Archiv. Vom Künstler als Sammler. In: Archivologie, S. 253-269, hier S. 256.

[23] Knut Ebeling u. Stephan Günzel: Einleitung, S. 12.

[24] Walter Kempowski: Danksagungen. In: Ders.: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Januar und Februar 1943. 2. Aufl. 4 Bde. München: Knaus 1993, Bd. I: 1.-17. Januar 1943, S. 6.

[25] Walter Kempowski: Statt eines Vorworts. In: Ders.: Das Echolot, Bd. I, S. 7.

[26] Ebd.

[27] Ebd.

[28] Ebd.

[29] Ebd.

[30] Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970, Bd. XV: Zur Geistesgeschichte des 19. Jhds., S. 1-16, hier S. 4.

[31] Bei der Deutschen Chronik handelt es sich um eine neunbändige Romanreihe Kempowskis, die folgende Werke umfasst: I. Aus großer Zeit (1978), II. Schöne Aussicht (1981), III. Haben Sie Hitler gesehen? (1973), IV. Tadellöser & Wolff (1971), V. Uns geht’s ja noch gold (1972), VI. Haben Sie davon gewußt? (1979), VII. Ein Kapitel für sich (1975), VIII. Schule (Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit) (1974), IX. Herzlich willkommen (1984). Der Einbezug von unveröffentlichten Dokumenten spielte auch bei diesen Romanen schon eine wichtige Rolle, sie wurden jedoch in der Regel (außer Bd. III u. VI) mit „eigenem Text“ bzw. Fiktion verbunden.

[32] Michel Foucault: Das historische Apriori und das Archiv. In: Archivologie, S. 107-112, hier S. 110.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Der Autor als Archivar, der Archivar als Kompilator. Am Beispiel "Echolot" von Walter Kempowski
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Archivtheorie
Note
1
Autor
Jahr
2014
Seiten
33
Katalognummer
V282197
ISBN (eBook)
9783656769729
ISBN (Buch)
9783656769835
Dateigröße
528 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Archivtheorie, Archiv, Archivar, Echolot, Walter Kempowski, New Historicism, Collage, Montage, Kompilator, Archivologie, Museum, Archivästhetik
Arbeit zitieren
BA MA Sandra Folie (Autor:in), 2014, Der Autor als Archivar, der Archivar als Kompilator. Am Beispiel "Echolot" von Walter Kempowski, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/282197

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