Heterotope Stadtorte bei Guillaume Apollinaire und Gottfried Benn


Examensarbeit, 2013

66 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Erkenntnisinteresse der Arbeit
1.2. Aufbau der Arbeit

2. Initiation à la poésie urbaine
2.1. L’hétérotropie
2.1.1. La définition
2.2. Le café/la brasserie
2.2.1. Leur relation personnelle
2.2.2. La brasserie dans Lundi Rue Christine
2.2.3. Le café dans Dans un Café à Nimes
2.2.4. Das Café bei Benn
2.2.4.1 Nachtcafé 3 und Nachtcafé
2.1.5. Die Café-Gedichte Benns und Apollinaires im Vergleich
2.2. L’hôtel chez Apollinaire: Hôtels
2.3.1. Apollinaire: Marizibill
2.3.2. Benn: Puff und Dirnen
2.3.3. Le motif de la prostituée chez Benn et Apollinaire

3. Benns und Apollinaires poetologische Gemeinsamkeiten
3.1. Gemeinsamkeiten
3.1.1. Die Entmimetisierung
3.1.2. Die Montage-Technik
3.1.3. Dekadente Großstadtbewohner
3.1.4. Le motif de la cité
3.2. Differenzen

4. Conclusion

5. Bibliographie
5.1. Primärliteratur
5.2. Sekundärliteratur

1. Einleitung

Die Großstadtlyrik hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht. „[…] [D]er Erfahrungsraum der Großstadt [wird] als Grundlage der modernen Kunst propagiert. Dabei werden spezifisch urbane Konstituenten der Wahrnehmung wie Bewegung, Flüchtigkeit, Geschwindigkeit und Masse bedeutsam.“[1]

In Frankreich zählte man Guillaume Apollinaire[2] (1880—1918) zu den Hauptrepräsentanten der französischen Großstadtlyrik, wobei man ihn nicht nur einer Literaturepoche zuordnen kann, wie Grimm treffend bemerkt: „Apollinaire […] lässt sich keiner Schule zuordnen, sondern ist eher eine Art Impresario der Moderne.“[3] In dieser Arbeit jedoch wird Apollinaire hauptsächlich vor dem Hintergrund des Kubismus und der Schwellensituation von der traditionellen zur modernen Lyrik gesehen, worauf im weiteren Verlauf der Arbeit eingegangen wird. Während in Frankreich Apollinaire die Großstadtlyrik bereicherte, erreichte dies in Deutschland Gottfried Benn.

Gottfried Benn (1886—1956) zählt zu den bedeutenden Lyrikern des deutschen Expressionismus. Benns Expressionismus gilt als sehr naturalistisch-medizinisch, denn man begegnet in seinen Gedichten häufig medizinischen Fachwörtern, wie beispielsweise anatomischen Bezeichnungen oder Krankheitssymptomen. Im Sektions- und Reihungsstil bildet er den körperlichen Verfall, die Krankheiten und den Tod der Menschen geradezu mimetisch ab. Benn vollführt „[eine] Sektion der Wirklichkeit in Form von ‚Wirklichkeitszertrümmerung‘ und ‚Zusammenhangdurchstoßung‘[4] […] und ihre Neukonstruktion in Form von Gedichten lässt sich vor dieser Folie als das Ergebnis von ‚Denken‘ interpretieren“.[5] Viele seiner Zeitgenossen waren schockiert über die detailreiche Darstellung von körperlichen Gebrechen und die vulgäre und obszöne Wortwahl.

Apollinaire erntete zunächst ebenso keine „Lorbeeren“, da er die starren Traditionen und Regeln der Lyrik erstmalig missachtete. So findet man in seinen Gedichten keine Interpunktion, keine Reimschemata und keine traditionelle Metrik und auch selten eine semantische Verbindung zwischen den einzelnen Strophen. Für Apollinaire schien die Interpunktion überflüssig, da er Auffassung war, dass der Rhythmus und die Zäsur des Verses die wahre Interpunktion sei.[6] Darüber hinaus ist seine Sprache sehr einfach gehalten und unterscheidet sich maßgeblich von dem poetischen Ausdruck der Lyriker früherer Epochen, wie zum Beispiel der Romantik. Demnach kritisierte man bei Benn die inhaltliche und die sprachliche Komponente und bei Apollinaire hauptsächlich die völlige Abkehr von den Lyrikkonventionen. Apollinaire hat zwei bedeutende Gedichtbände verfasst. Zum einen Alcools (1913) und zum anderen Calligrammes (1918). Benn hat deutlich mehr Gedichtbände veröffentlicht, wie beispielsweise Morgue und andere Gedichte (1912), Gehirne (1916) oder Fleisch (1917) u. v. m. Beide Autoren waren jeweils sehr prägend für ihre künstlerische Epoche.

Die Epoche des ‚Expressionismus‘ lässt sich von etwa 1910 bis 1925[7] datieren. Der Terminus ‚Expressionismus‘ leitet sich von den beiden lateinischen Morphemen ‚ ex ‘ und ‚ premere ‘ ab, die zusammengesetzt ‚ausdrücken‘ bedeuten. Ursprünglich war diese Epoche eine Stilrichtung der bildenden Kunst. Ferner wurde der Begriff ‚Expressionismus‘ von Kurt Hiller geprägt, als er 1909 zusammen mit Erwin Loewenson die erste expressionistische Literaturvereinigung Der Neue Club[8] gründete. Wie der Impressionismus, Fauvismus und Symbolismus befindet sich auch der Expressionismus in Opposition zum Naturalismus. Weiterhin bezeichnet man ihn auch als Gegentendenz zum Impressionismus. Die Naturlyrik wurde von der Großstadtlyrik ersetzt. Grundsätzlich lehnten sich Benn und seine Dichtergeneration zwar gegen die bisherige literarische Tradition des ‚Naturalismus‘ auf, aber dennoch kann man die Art seiner Dichtung als naturalistisch bezeichnen, da er die medizinischen Symptome, die in seinen Gedichten gehäuft auftauchen, sehr ausführlich beschreibt.

Die Lyrik galt im Expressionismus als repräsentativste Gattung, da „[…] sie den Gefühlsüberschwang am besten zum Ausdruck bringen [konnte]“.[9] Zudem wird in dieser neuen Lyrik die ästhetische, appelative und sachliche Ebene von der expressiven Ebene verdrängt.

Ferner wird diese literarische und bildend-künstlerische Stilrichtung oft als ‚Augenblickskunst‘[10] und ‚Ausdruckskunst‘[11] bezeichnet, bei der eine „[…] Beschränkung auf ‚das Wesentliche‘ stattfinde“.[12] Der letztere Begriff treffe laut Vietta und Kemper jedoch nicht zu: „Denn die wichtigste Intention der expressionistischen Maler war es nicht, die Welt mit inneren Gesichtern und Halluzinationen zu überziehen, sondern gerade durch den allerdings stark verfremdeten Blick die latenten und das heißt für sie ‚eigentlichen‘ Aspekte der Wirklichkeit bloßzulegen.“[13] Diese Erklärung lässt sich gleichermaßen auf den literarischen Expressionismus beziehen, da die meisten Künstler nicht nur auf eine Provokation oder Polemik der Wirklichkeit abzielten, sondern die Großstadt so darstellen wollten, wie sie sie wahrnahmen: dynamisiert, hektisch, dissoziiert u.v.m. Daraus leiten sich die typischen Merkmale der Großstadtdichtung ab, wie zum Beispiel die der Simultantechnik[14], häufig anzutreffende disparate und unzusammenhängende Bilder oder die Ichdissoziation[15] beziehungsweise das zunehmende Entfremdungsgefühl des Individuums innerhalb des urbanen Raumes. Vietta und Kemper schreiben in diesem Zusammenhang: „Das Dissoziierte, Unzusammenhängende der Bilder [innerhalb der Großstadt], die Simultaneität des Disparaten ist selbst die formale Konkretion der Orientierungslosigkeit.“[16] Es strömen derartig viele Sinneseindrücke auf den Großstadtbewohner ein, dass er Mühe hat, diese zu sortieren, sodass er sie nur als Chaos wahrnehmen kann. Simmel schreibt zur veränderten Wahrnehmung des Großstadtlebens: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“[17] Auf diese Aspekte wird weiterhin bei der Analyse der einzelnen Gedichte von Benn und auch Apollinaire Bezug genommen. Typische Themen des Expressionismus in der bildenden Kunst und in der Lyrik sind zum Beispiel: Großstadt, Ich-Verlust, Apokalypse, Krieg, Vergänglichkeit und Angst.

Apollinaire erlangte im Grunde genommen als Kunstkritiker[18] weitaus mehr Ruhm denn als Lyriker, schaffte es jedoch, die Malerei und die Dichtung enger kooperieren zu lassen. „Mit dem Eintritt Apollinaires in die Pariser Malerszene zwischen Jahrhundertwende und Ersten Weltkrieg intensiviert sich der Dialog zwischen Dichtung und Malerei.“[19] Außerdem kannte er beinahe alle zeitgenössischen Maler der Pariser Kunstszene und es entstand zwischen ihm und den Malern eine enge Zusammenarbeit.[20] Apollinaires Großstadtlyrik wird in dieser Hausarbeit primär vor dem Hintergrund des ‚analytischen Kubismus‘ betrachtet. Dies insbesondere deshalb, da Apollinaire den Kubismus der bildenden Kunst, wie zum Beispiel Picasso und Delaunay, auf seine eigene Dichtung adaptiert hat. „Undeniably Apollinaire was encouraged in his thinking by the similar fragmentation of structure he observed in Cubist painting “[…] which he also considered to stem from the simultaneous depiction of the same object from several viewpoints”.[21] Apollinaire schreibt über Picassos Kunst: «Un Picasso étudie un objet comme un chirurgien dissèque un cadavre.»[22] So trifft man in Apollinaires Gedichten auf die ‚Montage[23] -Technik‘, die sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Lyrik als Kollage bezeichnet wird. In denselben Jahren wie Alcools veröffentlichte er das Werk Les Peintres Cubistes, Méditations esthétiques (1913) , in welchem er die Merkmale des Kubismus darlegt. In diesem Werk taucht zum Beispiel das amimetische Prinzip auf. „Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts tritt in verschiedenen Ländern eine Vielzahl malerischer Strömungen auf den Plan, welche mit der Tradition des nachahmend-illusionistischen Darstellungsstils brechen und sich in neuen, nichtmimetischen Gestaltungsmethoden versuchen.“[24] Beim nicht-mimetischen Prinzip sind sich die Forscher jedoch nicht einig, ob Apollinaire sich dessen in seiner Lyrik vor der Freundschaft zu Picasso und Delaunay bedient hat oder ob die beiden Maler als Inspirationsquelle fungierten.[25] “He [Apollinaire] describes Picasso in Les Peintres Cubistes as a heroic figure who had dared to disrupt the established order of the universe and to rearrange it as he thought fit.”[26] Es kam den kubistischen Künstlern vorrangig darauf an, ein neues Kunstwerk zu schaffen, welches wenig bis keine Gemeinsamkeiten zur tradierten Kunst aufweist, „[…] which becomes the projection of his own creative personality onto the world“[27] und „die wichtigste Gemeinsamkeit dieser und einer Reihe anderer in dieser Zeit aufkommenden Kunstrichtungen besteht in der Abwendung von einer bedingungslosen Nachahmung der Erscheinungswelt und in der Konzentration auf neue darstellerische Möglichkeiten des eigenen Mediums“.[28]

[...]


[1] Henke, Florian-Alexander, Topografien des Bewusstseins, (Inaugural-Dissertation), Mainz: Philologische Fakultät der Albert-Ludwig-Universität: 2005, S. 5.

[2] ‚Apollinaire‘ war lediglich sein Pseudonym. Sein richtiger Name lautet: Wilhelm Albert Vladimir Apollinaris de Wąż-Kostrowitcky.

[3] Grimm, Jürgen (Hrsg.), Französische Literaturgeschichte, Stuttgart: 1991, S. 296.

[4] Die Termini „Wirklichkeitszertrümmerung“ und „Zusammenhangsdurchstoßung sind beide auf Benn zurückzuführen: cf: Benn, Gottfried, Epilog und lyrisches Ich (1927) GW2, S. 274, Lebensweg eines Intellektualisten (1934), GWS, S. 326.

[5] Kirchdörfer-Boßmann, ‚Eine Pranke in den Nacken der Erkenntnis‘ – Zur Beziehung von Dichtung und Naturwissenschaft im Frühwerk Gottfried Benns, St. Ingbert: 2003, S. 11.

[6] Grimm, Jürgen, Guillaume Apollinaire, München: 1993,S. 33.

[7] Die temporale Eingrenzung wurde übernommen von: Baumann, Barbara/Obermann, Brigitta, Deutsche Literatur in Epochen, 2. Auflage, Ismaning: 1985, S. 188.

[8] Cf: Habereder, Juliane, Kurt Hiller und der literarische Aktivismus, Virgina: 1981, S. 35.

[9] Baumann (1985), S. 191.

[10] Isernhagen, Hartwig: „Die Bewußtseinskrise der Moderne und die Erfahrung der Stadt als Labyrinth.“ In: Die Stadt in der Literatur. Hrsg. von Cord Mecksepeter u. Elisabeth Schraut, Göttingen: 1983, S. 93.

[11] Den Begriff findet man zum Beispiel bei Baumann/Obermann, (1985), S. 188.

[12] Baumann (1985), S. 189.

[13] Vietta, Silvio; Kemper, Hans-Georg, Expressionismus, 6. Auflage, München : 1997, S. 47.

[14] Die Simultantechnik wird auch Reihungsstil genannt. Im Metzler-Literaturlexikon heißt es: „[zu lat. Simul = zugleich], moderne literar. Technik, die versucht, die Mehrschichtigkeit eines Wirklichkeitsausschnittes, seine Dichte, Komplexität und seine Verflochtenheit in heterogenste Zusammenhänge zu verdeutlichen, das für die Dichtung an sich konstitutive zeitl. Nacheinander einer Geschehniskette zu durchbrechen; sie will (im Unterschied etwas zum natural. […] Sekundenstil] nicht einen exakten Längsschnitt, sondern den Eindruck eines zeitl.-räuml. Querschnitts hervorrufen. Mittel sind die Montage simultan ablaufender, aber disparater Wirklichkeitsausschnitte […] und die disparate, abrupte Reihung und Einblendung von Realitätssplittern wie Gesprächsfetzen […].“ Grimm (1993), S. 41, zur Simultantechnik: „[…] gleichzeitige Präsenz verschiedener Örtlichkeiten und Zeiten im Bewusstsein des lyrischen Ichs.“

[15] Vgl.: Vietta/Kemper (1997), S. 30-40.

[16] Vietta/Kemper (1997), S. 32.

[17] Simmel, Georg, „Die Großstadt und das Geistesleben“ (1912), in: Simmel, Georg, Philosophische Kultur, Frankfurt/M., 2008, S. 905.

[18] Diese Profession hat er sich autodidaktisch angeeignet. Cf: Hirschberger, Elisabeth, Dichtung und Malerei im Dialog, Tübingen: 1993, S. 56.

[19] Hirschberger (1993), S. 55.

[20] Cf: ebd.

[21] Hyde Greet, Anne (hrsg.), „Introduction“ zu Calligrammes: poems of peace and war (1913-1916), Apollinaire, Guillaume, California: 2004, S. 4

[22] Apollinaire, Guillaume, Œuvres poétiques, Marcel Adéma/Michel Decaudin (Hrsg.), Paris, 1956. Darin: «Méditations esthétiques. Les Peintres Cubistes» (1913), S. 19.

[23] Montage [aus Metzler Literaturlexikon] «[frz. } Zusammenfügen, -bauen] aus dem Bereich der Filmtechnik übernommen. Bez. Für das Zusammenfügen von Texten (Textteilen) sprachl., stilistisch, inhalt. unterschiedlicher, oft heterogener Herkunft.“:

[24] Volkova, Anastassia, ‚Kunst ist Gabe und nicht Wiedergabe.‘ Amimetische Gestaltungsprinzipien in der expressionistischen Lyrik am Beispiel August Stramms und Otto Nebels als Niederschlag europäischer Kunstströmungen im frühen 20. Jahrhundert, (Inaugural-Dissertation), Freiburg i. Br.: WS 2002/2003, S. 2.

[25] Cf.: Krenzel-Zingerle, Veronika, Apollinaire-Lektüren: Sprachrausch in den Alcools, Tübingen: 2003, S. 5.

[26] Lockerbie (1980), S. 4.

[27] Ebd.

[28] Volkova (2002/03), S. 3.

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Heterotope Stadtorte bei Guillaume Apollinaire und Gottfried Benn
Hochschule
Universität Hamburg  (Romanistik)
Note
2,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
66
Katalognummer
V282143
ISBN (eBook)
9783656769484
ISBN (Buch)
9783656769477
Dateigröße
733 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gottfried Benn, Guillaume Appollinaire, Heterotopie, Großstadtlyrik, Expressionismus
Arbeit zitieren
Nadine Richters (Autor:in), 2013, Heterotope Stadtorte bei Guillaume Apollinaire und Gottfried Benn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/282143

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