Raumgestaltung im Exilroman


Magisterarbeit, 2004

88 Seiten, Note: 2,2


Leseprobe


Inhalt:

1. Einleitung

2. Innenräume im Exilroman

3. Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen.
3.1 Der Fragmentcharakter des Romans
3.2 Zusammenhalt durch Wiederholungen
3.3 Überlagerung der Zeiten: Die Möbel in Katharinas Wohnung
3.4 Einsamkeit und Gemeinschaft
3.4.1 Neue Warte
3.4.2 Haus am Riverside Drive und seine Bewohner

4. Heinrich Mann: Die Jugend des Königs Henri Quatre.
4.1 Licht und Schatten
4.1.1 Der Louvre
4.1.2 Madame Catherine de Medicis Zimmer

5. Irmgard Keun: Nach Mitternacht.
5.1 Einsamkeit und Gemeinschaft
5.2 Die Menschen und die öffentlichen Räume
5.3 Die Menschen und ihre privaten Räume
5.3.1 Tante Adelheids Wohnung
5.3.2 Algins Wohnung
5.3.3 Heinis Hintertreppenzimmer
5.3.4 Sannas Mansarde
5.4 Das missglückte Fest

6. Hilde Spiel: Lisas Zimmer.
6.1 Die alte Welt: Lisas Zimmer
6.2 Die neue Welt: Lele und Jeff
6.3 Katastrophale Europapartys

7. Schlusswort

8. Literaturverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

1. Einleitung

Zu dem Thema der Innenraumgestaltung im Exilroman liegen zur Zeit keine Arbeiten vor. Ich habe dieses Thema gewählt, da es eine Herausforderung ist, mich selbstständig mit dem Forschungsgegenstand auseinander zusetzen und eine geeignete Herangehensweise zu finden.

Diese Untersuchung beschränkt sich auf die Exilromane Hans Sahl ‚Die Wenigen und die Vielen’, Heinrich Mann ‚Die Jugend des Königs Henri Quatre’, Irmgard Keun ‚Nach Mitternacht’ und Hilde Spiel ‚Lisas Zimmer’. Die genannten Romane sind schwer zu vergleichen, da sie inhaltlich und formal sehr verschieden sind. Das tertium comparationis ist die Exilliteratur und speziell der Exilroman. Guy Stern bezeichnet Exilliteratur als eine „selbständige Literaturbewegung“, die sich „durch einen gemeinsamen Nenner in der Sprache, Symbolik, Rhetorik, der Topoi, Bilder, manchmal sogar der Syntax und des Gesamtstils“ auszeichnet.[1]

In der Raumgestaltung tauchen immer wieder exiltypologische Gleichheiten auf, die mehr oder weniger stark in den einzelnen Romanen ausgeprägt sind.

Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wird ein geeigneter Raumbegriff definiert und danach werden die exiltypischen Topoi vorgestellt. Beides ist der Maßstab für die darauf folgende Betrachtung der vier Romane und den einzelnen Innenräumen.

Ziel ist es, anhand den Räumlichkeiten, zum einem Bezüge auf die Interpretation der Romane und die Charakteristik der handelnden Personen herzustellen. Das Zimmer spiegelt die Persönlichkeit wieder, die in ihm verweilt. Mit Gaston Bachelards Worten ist es die „Topographie unseres intimen Seins“[2]. Zum anderen werden exilspezifische Topoi und Motive herausgearbeitet, die in den Räumen chiffriert verarbeitet wurden.

Das Zimmer dient somit als ein Schlüssel zur Interpretation und weist gleichzeitig auf die Exilproblematik.

2. Innenräume im Exilroman

Den Begriff ‚Raum’ kann man als „episches Strukturelement [...], als Landschaft, als Lebensbereich und Milieu“[3] oder als „mathematische Kategorie“[4] betrachten. Der Raumbegriff dieser Untersuchung ist weder „identisch mit dem sinnlichen Wahrnehmungsraum der Psychologie, [...] noch [...] mit dem theoretischen Denkraum der Philosophie und der Mathematik“[5]. Außen vorgelassen wird der literarische Raumbegriff, den Gerhard Hoffmann beschrieben hat.[6] Er versteht ihn als „narratives Element [...] des Werks, das sowohl von den Strukturen des gelebten Raums der Empirie wie von den Gestaltungsbedingungen des literarischen Textes abhängig ist.“[7] Ebenso ist nicht der Begriff Ilse Grieningers zentraler Punkt der Betrachtung. Sie sieht den Raum als „Formteil“, der das Geschehen ansiedelt und mit der Komponente Zeit, die das Geschehen zuordnet, die „Gesamtstruktur des Werkes bestimmt“.[8]

Wesentlich ist, dass ein Roman aus zahlreichen erzählten Räumen besteht. Herman Meyer unterscheidet zwischen „faktischen ‚Lokal’ und sinnbezogenem ‚Raum’.“[9] Das Lokal ist im Roman durch faktisch-empirische Angaben, wie geografische Namen, bestimmt. „Der Raum hat geistigeren Charakter, er ist gestalthafter Ausdruck menschlichem Empfindens, und er kann auf Faktizität verzichten“.[10] Weiterhin führt Meyer den Begriff des ‚gesamten Raumes’ ein.[11] Dieser umfasst alle Orte der erzählten Welt im Roman, die zusammen das „Raumbild“ konstituieren und somit alle faktischen Lokale des Romans bilden. Darunter fällt, neben dem konkreten Ort in einem Land und der landschaftlichen Region, auch das Zimmer in einem Gebäude, in dem sich ein Teil der Handlung abspielt.

Der Raumbegriff dieser Untersuchung behandelt nur die faktische Seite. Gegenstand der Betrachtung sind die Räumlichkeiten in einem Gebäude. Das fiktionale Zimmer in einer vom Menschen geschaffene Behausung, das relativ abgeschlossen ist und Zugang zum Außenraum durch Türen und Fenster bietet. Dieser Innenraum, nach Ilse Grieninger eine „lokale Szenerie“[12], ist an einem Ort gebunden und vom Außenraum abgegrenzt. Der Außenraum ist der Raum, der den Innenraum entweder durch Wände oder angrenzende Zimmer umschließt. Im weiteren Text meint der Begriff ‚Raum’ diese inneren Räumlichkeiten im Roman.

Ein Ansatz zur Innenraumanalyse findet sich in der Raumsemantik Jurij M. Lotmanns. Nach seiner Auffassung sind Räume durch komplementäre Gegensätze charakterisiert. Der Kontrast entfaltet sich auf verschiedenen Ebenen. So ist der Raum topologisch durch Oppositionen, wie ‚innen und außen’ oder ‚hoch und tief’ gekennzeichnet, diese „werden im literarischen Text mit ursprünglich nicht-topologischen semantischen Gegensatzpaaren verbunden, die häufig wertend sind oder zumindest mit Wertungen einhergehen“[13]. Dieses Modell kann auf die Raumgestaltung der ‚Jugend des Königs Henri Quatre’ angewendet werden.

Gaston Bachelard nähert sich durch die psychoanalytische Methode einer phänomenologischen Studie den Innenräumen in der Literatur.[14] Für ihn ist der Raum, beziehungsweise das gesamte Haus, eine „Topographie unseres intimen Seins“[15], das die menschliche Seele wiederspiegelt. Von Bedeutung ist hier die Psyche des Exilschriftstellers.[16] Die Erfahrung der Exilsituation, die „sich auf gleiche Weise, wenn auch in abgestuftem Ausmaß niederschlug“[17], findet bewusst oder unbewusst in Form von wiederkehrenden Topoi und Motiven Eingang in den Roman. Die Exiltopoi sind in der Raumgestaltung gestaltgebend. „Man ‚liest ein Zimmer’, denn Zimmer [...] sind Diagramme der Psychologie, welche die Schriftsteller und Dichter in der Analyse der Innerlichkeit leiten.“[18]

„Typologische Konstanten, die literarische Vergleichbarkeit und dadurch präzisere Erfassung der Emigrantenarbeit ermöglichen“[19], und die in der Form von gleichartigen Merkmalen, Motiven und Topoi auftreten, kehren in den hier untersuchten Exilromanen in individueller Ausprägung immer wieder und spielen insbesondere bei die Innenraumanalyse und deren Deutung eine wichtige Rolle.

Guy Stern kommt zu dem Ergebnis, dass das Trauma Exil mit den Symptomen der Identifikationskrisen, Angst und Bedrohung, Krankheit und Unglück auch literarisch verarbeitet wurde. Dies äußert sich unter anderen in der „Bevorzugung gewisser Metaphern, Topoi, Symbole, Sprachformen und fiktionaler Situationen“.[20]

Das Erlebnis Exil „zwang den verschiedenen Autoren [...] identische, spontane Reaktionen auf, die bewußt oder unbewußt in ihren Werken einen Niederschlag fanden.“[21] Die Gestaltung der Räume im Exilroman lässt Schlüsse auf die Interpretation des Romans zu und spiegelt immer das Zeitgeschehen wieder.

Werner Vordtriede weist in seiner Typologie der Exilliteratur auf einzelne, in allen Gattungen hinweg wiederkehrende Symbole, Motive und Topoi hin, durch die ebenfalls die Raumgestaltung im Roman bestimmt wird.[22] Diese sind „Konstanten [...], die über die spezifische Situation Geltung haben können.“[23]

Das Gegensatzpaar Heimat und Fremde ist nach Vordtriede das zentrale Exiltopos. Das Fremde ist negativ konnotiert. Im Exil zu sein, bedeutete täglich die Erfahrung des Unbehaustseins und des Fremdseins zu durchleben. Im Exil kennt man „nur Gegenden, über die man sich anhand von einer Landkarte orientiert, keine Orte, da der einzige wirkliche Ort nur das Ursprungsland ist.“[24] Es ist der Verlust der Heimat, die Schutz, Vertrautheit und Geborgenheit bot. Das Exilerlebnis ist ein „sich dort jahrelang[es] Fremdfühlen“[25]. Der Dichter ist ein Fremder an einem Nicht-Ort. „Jeder Exildichter kennt einen gleichnamigen Ort, der wohl mitten im Leben, aber von der menschlichen Bezüglichkeit entfernt ist, einem Ort, der kein Haus ist.“[26] Die Erfahrung der Fremde bedeutet Identitätsverlust, da man die Zugehörigkeit zur Sprach- Kultur- und Staatsgemeinschaft verlor.[27]

Gleichfalls ein Exiltopos ist das Heimweh.[28] Eng verknüpft mit der Sehnsucht nach der Heimat ist die Krankheit, die aus dem Heimweh entstehen kann. So bezeichnet Hilde Spiel ihre Emigration als Krankheit.[29] Diese kann sich bis zum Topos des Todes, in eine „totenartige Erstarrung im Exil“[30], steigern.

Die Sprachlosigkeit ist ein weiterer Topos. Eine Grunderfahrung aller im Exil lebenden Schriftsteller ist das in der hermetischen Situation des Exils entstehende Arbeitsproblem des Schriftstellers.[31] Die „gemeinsame Sprache als Einheitsmoment“[32], für den Autor primäres Ausdrucksmaterial, ist ihm in der Fremde abhanden gekommen. Nach Vordtriede kann der Exilierte die Fremde nicht beschreiben, sondern nur metaphorisch verdeutlichen. Deutlich wird dies besonders in Irmgard Keuns ‚Nach Mitternacht’.

„Der aus Deutschland Verbannte nimmt sein Leiden an Deutschland mit und muß es mit seinem Heimwehleiden verbinden.“[33] Er leidet an Deutschland und als Deutscher an dem „unentrinnbaren Unbehagen an sich selbst“[34]. Hierbei sind das Heimweh und das Leiden am Vaterland eng miteinander verbundene Topoi.

Der Verbannte hat die Möglichkeit zum ‚wir’ verloren. Es gibt keine dauerhafte Gemeinschaft der Exilierten. „Jeder Verbannte ist vom anderen durch einen Wüstenstreifen getrennt. So zerfällt jede politische Verbanntengemeinschaft sofort, es entsteht die unerträglich werdende ‚schlechte Gesellschaft’“[35], die Hans Sahl in ‚Die Wenigen und die Vielen’ thematisiert. Die Entfernung von der Heimat schafft unter den Exilanten eine Zugehörigkeit, die jedoch nur befristet zu ertragen ist.[36]

Ein weiterer Topos ist der Hass. Der Exildichter antwortet als Opfer des Hasses mit Hass: als „Gehaßter wird er zum Hasser“.[37]

Guy Stern lehnt sich in seiner Untersuchung zum Fortleben des Exilromans in den 60er Jahren[38] an Vordtriedes Typologie an und fügt „den Topos der Grenzüberschreitung und den der schlaflos durchwachten Nacht“[39] hinzu. Beide werden im Exilroman betont, sind aber für die Fabel nebensächlich.

Auf Vordtriedes und Sterns exilspezifische Motive und Topoi, die durch weitere ergänzt werden, wird im Laufe der Untersuchung am jeweiligen Roman zurückgegriffen werden.

3. Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen.

Kurz nach der Ankunft in den USA begann Hans Sahl den Roman ‚Die Wenigen und die Vielen’ zu schreiben.[40] Die Fertigstellung verzögerte sich, „da Sahl langsam schrieb und in dieser Zeit hauptsächlich mit der Beschaffung des täglichen Brotes beschäftigt war.“[41] Das Manuskript hatte „vierzehn Jahre in der Schublade gelegen“[42] bevor es, nach zahlreichen Ablehnungen von Verlagen, 1959 publiziert wurde.

Aus der Perspektive des Exilanten Georg Kobbe werden die New Yorker Gegenwart und seine Vergangenheit in Europa erzählt. ‚Die Wenigen und die Vielen’ thematisiert das Emigrantendasein, besonders die Intellektuellenproblematik wird im gesteigerten Maße kritisch reflektiert.[43] Typologisch ist ‚Die Wenigen und die Vielen’ ein Zeitroman nach dem Typus Großstadtroman der Weimarer Republik.[44]

Sigrid Kellenter bezeichnet den Roman als „ein anschauliches, wenn auch dichterisch übertragenes Bild“[45] der Erlebnisse Sahls aus der Zeit der Flucht von Deutschland nach New York. Der Roman trägt autobiografische Züge[46], ist aber keine Autobiografie.[47] Er ist vielmehr eine „Vereinigung von Faktischem und Fiktiven“[48]. Nach Michael Winkler ist diese Grenzverwischung zwischen den Gattungen Roman und Autobiographie ein exilliterarisch typisches Phänomen.[49] Bernhard Spies meint, Hans Sahl nutzte das Erzählmodell Autobiografie, da „der Eigensinn dieses Musters [seiner] Wirklichkeitsauffassung entspricht“[50].

Der Roman beschreibt keine Einzelheiten, eher ist er in einem journalistischen Stil verfasst:

„Es ist anschaulich, es wird nicht hin und her geredet, er [Hans Sahl] verkündet seine klaren Ansichten, er hält sich nicht bei Details auf, er gibt die wesentlichen Linien der Zeit, der Epoche.“[51]

Bei der Raumbeschreibung stehen einzelne Gegenstände im Vordergrund. Es wird nicht das Zimmer im Detail beschrieben. Die Möbel sind von besonderer Bedeutung und spiegeln die Charaktere der Menschen wieder, die sie benutzen.

Nach Sigrid Kellenter finden sich im Roman „typische Themen, Metaphern und Symbole“[52] der Exilliteratur wieder. Als Beispiel führt sie an:

„de[n] Dichter als Fremder, das Leben in dauernder Unbequemlichkeit und in umgekehrten, zwiegesichtigen Verhältnissen, das Exil als Krankheit, als Heimweh und Leiden am Vaterland, de[n] Topos der Nacht und de[n] des Todes“[53].

Einige dieser Exiltopoi und andere treten auch in der Innenraumanalyse in unterschiedlicher Gewichtung auf. Am stärksten ist der Topos der Einsamkeit in der Gemeinschaft vertreten. Daneben ist der Topos der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, hier speziell dass es keine Heimat in der Fremde gibt; sowie die Sprachlosigkeit des Künstlers und der Topos der schlaflosen Nächte thematisiert.

Übereinstimmend mit Sigrid Kellenter ist ‚Die Wenigen und die Vielen’ keine „Haßdichtung“, die nach Vordtriede eine wesentliche Exiltypologie darstellt.[54]

3.1 Der Fragmentcharakter des Romans

Georg Kobbe weist beim versuchten Schreiben seines Buches darauf hin, das „das Fragment [...] Form und Ausdruck unserer Zeit“[55] ist. Der Roman der Exilzeit kann nur fragmentarisch sein:

„Der Roman unserer Zeit hat keinen Anfang und kein Ende. Er ist ein Wurf ins Ungewisse, aus dem Nichts kommend und wieder ins Nichts mündend, ein Ausruf der Verwunderung, zwischen zwei Fragezeichen gesetzt...“[56]

Die Handlung wird „in der Gestalt von Fragmenten [präsentiert], die durch keine Folgerichtigkeit – sei es die innere einer Entwicklung, sei es die äußere der Zeit – verbunden ist.“[57]

Der Roman besitzt Episodencharakter.[58] Hans Sahl bemerkt dazu:

„Mein Buch sollte sich wie ein Fächer entfalten. Eine durchgehende Handlung musste nicht erfunden werden, die Handlung war Kobbes Schicksal innerhalb seiner Zeit, bzw. nein: die Handlung war auch die Zeit selber.“[59]

Die Handlung, die in wechselnden Perspektiven geschildert wird, wird immer wieder unterbrochen durch Briefe, Tagebucheintragungen, Notizen, Selbstgespräche, Erinnerungen und Rückblenden, die „nicht chronologisch aufeinander folgen und dem Buch einen sprunghaften, manchmal gehetzten, dem Inhalt entsprechenden, authentischen, dazu spannenden Charakter verleihen.“[60] Es entsteht der Gesamteindruck, dass „hier Teile arrangiert werden, die sich nicht von selber ineinander fügen“[61] würden.

Neben dieser bruchstückhaften Handlung werden auch die Räume nicht in ihrer vollständigen Ausstattung beschrieben, sondern einzelne Gegenstände stehen im Vordergrund. Nur ein Gegenstand schafft Individualität im Zimmer.[62] Dieser kann leitmotivartig wiederkehren, wie der Lehnstuhl.[63]

Das Leben der Figuren wird nur in kurzen Ausschnitten angedeutet. Keine Person ist mit Charakter und Leben umfassend dargestellt. Es sind jeweils Bruchstücke der Einzelschicksale.

„Man hatte längst aufgehört, sich nach Einzelheiten zu erkundigen. Der eine war über Martinique, der andere über Lissabon gekommen; sonst war alles so ziemlich dasselbe. [...] Individuelle Abweichungen verloren bei dieser Massenflucht an Interesse. [...] Man lebte, man war da – das genügte.“[64]

Viele Figuren werden in ihren Charakteren angedeutet und nicht in ihrer Entwicklung gezeigt. Es werden bis zum Ende des Romans hin neue Figuren eingeführt. Ebenfalls ist die Hauptfigur Georg Kobbe nur fragmentarisch gezeichnet. Er stellt sich selbst in bruchstückhaften Erinnerungen dar.

Zuflucht und Sicherheit sind nur von begrenzter Dauer. Kobbe passiert viele Orte, die ihm weder Schutz noch Heimat bieten können. New York als der Endpunkt des Romans, bietet ihm nicht den gesuchten Schutz und das Gefühl des Angekommenseins. Kobbe weiß, dass

„er hierbleiben und daß Exil nie aufhören würde, solange er lebte... Es war nicht mehr an irgendein Land gebunden, es war ein geistiger Zustand, eine Lebensform geworden, eine Art von passiven Widerstand gegen eine Welt die nur noch in Kräften und Gegenkräften, in Bewegungen und Gegenbewegungen dachte“[65].

Er bekennt sich zum fortdauernden Exil. Diese Überlegung teilt Hans Sahl später mit seiner Romanfigur.[66] Es ist der Topos der Fremde als lebenslanger Zustand, die „Erkenntnis endgültiger Heimatlosigkeit“[67], die sich einstellt, während der Emigrant in der Fremde die neue Heimat sucht. Darüber sinnt Kobbe am Ende des Romans:

„Und so, von fernen Dingen angesprochen, die doch nicht zu ihm dringen konnten, strebte er [...] dem Ausgang zu, getrieben von einem unmäßigem Hunger – Hunger nach etwas Essbarem, nach Wärme, nach Leben, Hunger nach neuen Gesichtern, neuen Schicksalen, neuen Leidenschaften und Entdeckungen, Hunger nach dem Lärm der großen Plätze und dem Feierklang der Dorfweiher und Lämmerweiden, nach Menschennähe und Menschenfeindschaft, nach Leiden und Tröstung und weichem Aneinanderschmiegen, Hunger danach, geliebt und verworfen zu sein, einer unter vielen und doch ganz einmalig und ganz allein...[...] Wie er so dahinschritt, sich mit Armen und Schultern einen Weg bahnend, glich er einem Schiffbrüchigen, der eine unbekannte Küste gespült worden ist und sich verwundert umsieht: Wo bin ich?“[68]

„[I]nmitten einer unaufhebbar fremden Welt [entdeckt] ein Subjekt sein unzerstörbares Ich“[69], deutet Bernhard Spies die Montage, die Sammlung und das Zusammenbringen der einzelnen Teile zum Roman, was vergleichbar mit der Selbstfindung Kobbes ist. Die “Fragmentierung der Wirklichkeit“[70] dient zur Behauptung der Identität, nicht zu deren Auflösung.

Das Exil bedeutete einen Kontinuitätsbruch des bisherigen Lebens. Die Menschen in der Emigration mussten wieder neu anfangen und oftmals mehrfach neue Lebensentwürfe fassen. So meint Katharina zu Georg, als beide vor Werbeskizzen Katharinas, die Lebensentwürfe symbolisieren, stehen:

“Geht es dir auch so, daß du immer wieder anfängst und verwirfst, [...] du nimmst eine [Skizze] heraus, eine von den vielen, es könnte auch eine andere sein, aber es ist immer gerade die schlechteste“[71].

Die „Lückenhaftigkeit des Emigrantenlebens“[72] wird in der Fragmentstruktur des Romans verdeutlicht. Die einzelnen Erzählteile „zeigen hart aneinandergesetzt die Brüche in der Kontinuität der gelebten Jahre.“[73] Das bedingt die fragmentarische Gestaltung des Romans, den Sahl im Exil geschrieben hat. Das Gewohnte zerbricht, die Menschen erleben nur noch Bruchstücke, die erst später, mit einem distanzierten Blick, zu einem neuen Ganzen werden.

3.2. Zusammenhalt durch Wiederholungen

Der fragmentarisch aufgebaute Roman wird durch die Wiederkehr ähnlicher Motive, Ereignisse und Personen zu einem geschlossenen Ganzen. In der bruchstückhaften Welt der erzählten Zeit und dem Fragmentcharakter bietet die Wiederholung einen Halt. Diese Wiederholungen verdeutlichen, dass keine Entwicklung stattfindet. Weder gibt es eine innere Entwicklung der Charaktere noch eine äußere der Handlung. Vielmehr kreisen die Figuren und die Handlungen des Romans um vergangene und gegenwärtige Ereignisse.

Die fast wortgleichen Anfangs- und Endabschnitte des Romans, bilden den Rahmen der Handlung.[74] Diese Szenen auf dem Weg zum Broadway geben den Bruchstücken aus Erinnerung, Reflexion und gegenwärtigen Ereignissen Halt.

„Die Erfahrungen des Lebens im Exil ähneln sich immer. Es ist ein Leben, das nur von einem Tag zum anderen gelebt werden kann und das für ihn [Georg Kobbe] und seine Leidensgenossen ein ewiger Kampf ist“[75].

Neben dem fast gleichartigen Ablauf der politischen Kundgebungen in Paris oder New York, oder den Tänzen Luises in Berlin und in New York, zeigt sich die Wiederholung auch in der Ausstattung der Zimmer in einzelnen Szenen. Es ist „die stete Wiederkehr des Gleichen, die Unveränderlichkeit des Menschen, die Fragwürdigkeit der Existenz und zugleich ihre Bejahung“.[76]

Georg Kobbe kommt zum zweiten Mal in das ‚Hotel aux Grands Hommes’ des Ehepaars Chose. Während einer Unterhaltung mit Jerobeam Kulp erinnert sich Kobbe an das Hotel:

„Falscher Marmor. Plüschmöbel. Samtortièren, künstliche Blumen, blinde Empire-Spiegel...Ich gehe durch das kleine Vestibül, öffne die Tür zur Küche, die neben der Treppe liegt, und sehe Madame Chose wie vor fünf Jahren am Herd stehen und mit den Töpfen hantieren.“[77]

Die Erinnerung an das Hotel und sein Zimmer ist in Tagebuchform festgehalten. Georg Kobbe bewohnt das gleiche Zimmer. Mit Detailtreue wird die Einrichtung beschrieben. Es hat sich nichts verändert in den Jahren seiner Abwesenheit.

„Es war dasselbe Zimmer, das ich damals bewohnt hatte, mit denselben giftgrünen Plüschmöbeln, dem Geruch von verschimmelten Tapeten und staubigen Samtvorhängen, dem mit einem Handtuch bedeckten Bidet in der Ecke und dem Blick auf die Kaserne der Garde Républicaine und auf die Kirchtürme von St-Sulpice. Es waren dieselben zerbrochenen und wieder zusammengeleimten Rohrstühle, dieselbe an einem Draht herabhängende Glühbirne mit dem grünen Glasschirm, derselbe Spiegelschrank mit den wurmstichigen Regalen und den mit vergilbtem Zeitungspapier ausgeschlagenen Brettern. Es war derselbe ungelüftete Geruch von Moder, alten Mauern und heißen Liebesnächten auf frisch desinfizierten Matratzen, von baufälliger Behaglichkeit und romantischer Sinnenfreude, der Hunderten von Pariser Hotelzimmern ihren altmodisch verruchten, eigentümlich verschollenen Zauber gibt“.[78]

Es ist, als ob die Zeit in dem Raum still gestanden hätte. Das Zimmer, dessen Möbel schon beim ersten Besuch Kobbes im Verfallen waren, hat sich nicht verändert. Es ist eine Atmosphäre des Niedergangs und Todes im Raum, der einen Zufluchtsort des Stillstands und der Ruhe in der bewegten Welt bietet. Im Hotel kann man die Ereignisse der Welt vergessen. Es ist nur eines von vielen Zimmern in Paris, mit solchem „eigentümlich verschollenen Zauber“[79].

Nicht nur in Kobbes Hotelzimmer, sondern im ganzen Haus scheint keine Zeit voranzuschreiten. Das Ehepaar Chose widmet sich den gleichen Dingen wie vor fünf Jahren und auch der Abend verläuft ebenso mit einem guten Essen und dem kleinen Streit zwischen Monsieur und Madame Chose. Die Wiederholung schafft den Eindruck von Zeitlosigkeit oder zumindest vom Stehenbleiben der Zeit.

Die Wiederholung in Form des Alltags findet sich in dem Ablauf eines Abends bei Familie Kobbe in Berlin.[80] Die täglichen Rituale im grünen Salon mit den barocken Möbeln sind auch eine Art Stillstand der Zeit. Mit den Wiederholungen wird keine Änderung im Ablauf zugelassen. Doch weder Eltern noch die Kinder wünschten sich Veränderung, sie waren in ihrer bürgerlichen und heilen Welt gefangen.

Ebenso wiederholen sich die politischen Versammlungen.[81] Es sind die selben „politische[n] Fehden in den ärmlichen Cafés“[82]. Georg Kobbe meint auf der Versammlung in New York:

„[U]nd es war ihm [Georg Kobbe], als hätte er dies nun zur Genüge erlebt, hier und drüben und überall, diese rauchigen Versammlungen, diesen Tumult der Meinungen und Begriffe, dieses ›Du sollst‹ und ›Du mußt‹ und ›Du darfst nicht‹, dieses Für-und-wider-Etwas, das mit den Menschenrechten begann und mit der Guillotine aufhörte.“[83]

Die gleichen Ansichten, ob in Berlin, Paris oder in der Neuen Warte in New York, stellen nur die Scheinwelt bloß, die sich die Exilanten eingerichtet haben und die für sie wichtiger ist, als das eigene Elend.

Georg Kobbe wird im Roman von den gleichen Personen begleitet. Sie treffen immer wieder aufeinander und teilen ein Stück Lebensweg. So begegnet Kobbe beispielsweise in Berlin, dann in Paris, im Lager in Frankreich und zum Schluss in New York auf Einsiedel und Hackenschmidt. Ebenso sieht er Dr. Thora und Schwarzenbach auf zahlreichen Stationen seines Lebens wieder.

Hans Sahl verwendet zur Charakterisierung einzelner Figuren das Leitmotiv als strukturierendes Element. Der Leser erkennt die Menschen an bestimmten Merkmalen wieder, so zum Beispiel Luise an ihren Hüten und verrutschten Strumpfnähten, Hackenschmidt an der ‚Internationale’, die er pfeift und Dr. Thora an dem Stummel seines kleinen Fingers.[84]

3.3 Überlagerung der Zeiten: Die Möbel in Katharinas Wohnung

Der Roman wechselt zwischen verschiedenen Zeiten: der Gegenwart in New York und den Erinnerungen an die Vergangenheit in Europa. Der Protagonist Georg Kobbe ist ein „Einzelgänger zwischen der Zeiten.“[85]

Ebenso wechseln Er-und Ich-Erzähler und „Groß- und Fernaufnahme“[86], wenn Kobbe direkt spricht oder ein Erzähler über ihn berichtet. Der Roman umfasst die Zeitspanne von Georg Kobbes Kindheit in einem bürgerlich-jüdischen Elternhaus in Berlin, mit Stationen als linker Journalist der 20er Jahre und der Flucht 1933 aus Deutschland, bis zum Jahr 1945 in New York, ohne chronologisch vorzugehen. Vielmehr springen die Erzählinstanzen zwischen den Zeiten hin und her. Ein Gegenstand oder ein bestimmtes Vorkommnis in der Gegenwart weckt in Kobbe weitschweifende Assoziationen und Erinnerungen. Hierfür kann man in Katharinas New Yorker Wohnung zum einem das Studio und zum anderen das angrenzende Wohnzimmer nehmen. Die Zimmer werden aus der Perspektive Georg Kobbes geschildert.

Das Studio ist taghell erleuchtet und „mit bunten Plakaten, fotografischen Vergrößerungen und den an die Wand gehefteten Titelblättern der ‹Vogue› und Zeichnungen aus dem ‹New Yorker›“[87] dekoriert. Der Boden ist mit „Dutzenden von Blättern bedeckt, die dasselbe Motiv in verschiedenen Ausführungen zeigten“ und dieses ist „nur angedeutet, skizzenhaft, fragmentarisch“[88].

Vergleichbar mit dem ständigen Neuanfang sind die Zeichnungen als Lebensentwürfe gemeint, die im Exil neu gefasst werden müssen. Das Leben im Exil ist fragmentarisch, unsicher und unvollendet. “Geht es dir auch so, daß du immer wieder anfängst und verwirfst, [...] du nimmst eine [Skizze] heraus, eine von den vielen, es könnte auch eine andere sein, aber es ist immer gerade die schlechteste“[89], spricht Katharina zu Georg. Die Unordnung der Entwürfe auf dem Boden symbolisiert das ungeordnete Leben mit seinen Neuanfängen im Exil. Katharinas Leben ist nur ein Fragment. Sie ist nie zufrieden, ständig im Zweifel mit sich selbst und besitzt „einen nie gestillten Drang nach Perfektion“[90]. Am Ende der Unterhaltung mit ihrem Bruder ist sie nur noch körperlich anwesend, mental jedoch im Studio, „wo die Zeichnungen lagen – auch sie [die Gedanken Katharinas] provisorisch, Fragmente einer im Raum verlorenen, noch nicht bewältigten Wirklichkeit.“[91]

Das hell erleuchtete Studio mit den Zeitschriften und den Skizzen repräsentiert die neue Welt, das Leben in New York. Das angrenzende Wohnzimmer mit den alten Möbeln aus dem Elternhaus und der dämmrigen Beleuchtung stellt die Welt des Althergebrachten, Traditionellen und Vergangenen, kurz das des Vorkriegseuropas dar. Studio und Wohnzimmer sind durch offene Türen verbunden.[92] Beide Welten sind somit nicht vollständig voneinander abgegrenzt. Die Fenster im Wohnzimmer sind geöffnet und die Gardinen werden vom Wind bewegt. Georg wie Katharina bewegen sich in beiden Zimmern. Sie gehören sowohl zur alten wie zur neuen Welt.

Im Wohnzimmer bemerkt Georg zuerst den Bücherschrank. Es sind nicht die modernen Zeitschriften, die im Studio liegen, sondern „Bücher in deutscher Sprache – Jean Paul, Kleist, Hölderlin“, die „der Vernichtung entgangen waren“[93]. Das Wohnzimmer bietet ein Stück Vergangenheit und repräsentiert die verlorene Heimat. Von Besonderheit sind die Möbel aus dem Elternhaus:

„[D]er schwere eichene Barockschrank, das braune Mahagonitischchen mit dem Dochtabschneider und den beiden silbernen Leuchtern, die holländische Barocktruhe und die Barockuhr mit dem Sternenhimmel über dem Ziffernblatt und den sich im Takt des Pendels hin und her bewegenden Himmelskörpern, Und da war auch noch der Biedermeierstuhl, in dem sein Vater zu sitzen pflegte, rechts in der Ecke, neben dem Fenster, und hier – der kleine eingebrannte Fleck, der von seiner Zigarre stammte.“[94]

Die Möbel aus dem grünen Salon der Eltern symbolisieren die kleinbürgerliche Welt mit ihren Traditionen, festgefahrenen Gewohnheiten und Ansichten. Die Stabilität und Schwere der Möbel unterstreicht das.

Als Katharina zu Georg ins Wohnzimmer kommt, setzt mit „ein[em] leise[n] Wind“[95] vom Fenster seine Erinnerung ein. Kobbe erinnert sich aufgrund der Gegenstände in der Wohnung an seine Kindheit. Er wechselt zwischen den Zeiten und befindet sich in der Vergangenheit. Im Stuhl des Vaters sitzend sieht er auf den „Boden der Kindheit zurück“[96].

„Wenn im neuen Hause die Erinnerungen der alten Wohnungen wieder aufleben, reisen wir im Lande der unbeweglichen Kindheit. [...] Wir trösten uns, indem wir Erinnerungen an Geborgenheit nachleben. Irgend etwas Geschlossenes muß die Erinnerungen hüten und ihnen dabei ihre Werte als Bilder bewahren.“[97]

Der Barockstuhl stellt die Verbindung zwischen den Zeiten her. Er erinnert Georg Kobbe an das Gefühl der Geborgenheit und des Behütetseins in der Kindheit, die noch nichts von Flucht und Exildasein ahnen lässt. Kobbe flüchtet sich in den Zustand der Erinnerung, die ein Schutzzustand ist. Der Topos der Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der Heimat und der heilen Welt der Kindheit wird hier angedeutet. Es war ein wohltuenden Alltag, der erst durch die Rituale, wie das abendliche Klavierspiel der Mutter, existierte. Diese Erinnerung vermischt sich mit Heimweh, was jedoch nicht direkt formuliert wird. Es ist weniger die Sehnsucht nach der Vergangenheit als die

„Dinge, die man vergessen will [...] aber heute fiel es mir [Georg Kobbe] wieder ein. Ich finde, es liegt ein tiefer Sinn darin. Das Fazit einer Epoche. Melodie eines sterbenden Zeitalters. Böcklins Toteninsel und Wagners Tristan. Alte Möbel und künstliche Blumen.“[98]

Georg Kobbe

„klagt die Elterngeneration an, die aus Bequemlichkeit, Sentimentalität und einem Mangel an Gefühl für das Tragische nichts zu Ende gedacht, nichts zu Ende gelebt, alle Probleme vertagt und es der neunen Generation überlassen zu haben, damit fertig zu werden.“[99]

Gleichzeitig klagt er seine Generation an, die die alte Welt ablösen wollte, mit neunen revolutionären Gedanken, „neunen Formen der Selbstdarstellung und des Zusammenlebens“[100], neuen Filmen und Büchern in einer nüchternen Sprache und einer Musik,

„die dem Menschen nicht mehr mit rauschenden Akkorden eine Harmonie vortäuschte, die ihm längst abhanden gekommen war, sondern ihre Gefühle schmucklos und beinahe mathematisch darbot...“[101].

Ein weiteres Requisit, das Erinnerungen auslöst, ist der Wein. Mit dem Glas Wein in der Hand wechselt Kobbe erneut in die Vergangenheit und sieht vor sich einen alltäglichen Abend der Familie Kobbe in Berlin.

„Er [Georg Kobbe] goß sich noch ein Glas ein. Der Wein war gut. Er erinnerte an den leichten opalgelben Mosel, den sein Vater am Abend zu trinken pflegte, wenn er in dem großen Lehnstuhl am Fenster saß und die Zeitung las...“[102].

Es ist der Alltag, den Kobbe jetzt nicht mehr hat und diese sicheren Gewohnheiten, die er sich jedoch nicht zurück wünscht.

„Kobbes Familie steht für die typisch assimilierte jüdische Familie. [...] An der Lebensweise dieser Familie wird die alles durchdringende, Juden und Deutsche einschließende Atmosphäre vor 1933, die 1933 möglich machte, charakterisiert.“[103]

Die Kleinheit der Welt des vermögenden jüdischen Bürgertums wird zu Anfang des Kapitels ‚Geschichte eines guten Menschen’ mit Requisiten gleichgesetzt. Es ist das Unvermögen der Menschen über ihre kleine Welt hinauszusehen:

„Die Welt war ein Taschentuch, das man zusammenlegen und auseinanderfalten konnte [...]. Die Welt, das war auch das Badewasser, das zum Meer wurde, wenn man so tief lag, daß die Augen gerade noch über den Wasserspiegel sahen wie zwei untergehende Sonnen. [...] Die Welt, das war der Stuhl, in dem mein Vater am Abend zu sitzen und die Zeitung zu lesen pflegte.“[104]

Der Vater, auf dem Stuhl sitzend, die täglichen Rituale ausführend, ist in seiner kleinen Welt gefangen aber bleibt ein ‚guter Mensch’, ebenso die Mutter, die eine „große Frau war“[105].

Nach dem Tod des Vaters hat Mergenthin in dem Lehnstuhl des Vaters gesessen, bevor Georg das tun konnte.[106] Er ist ein geeigneterer Repräsentant der Traditionen der Familie als der Schriftsteller Kobbe.[107] In New York hat nun Georg in dem Stuhl Platz genommen. Die Traditionen der Heimat sind zerbrochen und haben nur noch ihren Wert in der Erinnerung. „Die Möbel paßten nicht zu den Menschen und die Menschen nicht zu der Zeit, in der sie lebten.“[108] Zum Berlin der Vorkriegszeit und zu den Eltern haben sie noch gepasst, doch nicht mehr zu der Gegenwart und zu den Menschen, die auf der Flucht und im Exil leben müssen.

Georg Kobbe erinnert sich durch die Möbel im Raum an sich selbst. Sie sind Katalysator für bewusst oder unbewusst Vergessenes und sie sind mit dem Menschen verbunden. Obgleich sie nicht zu sprechen vermögen, teilen sie Einzelheiten über das Leben des jeweiligen Besitzers mit. Die Möbelstücke überdauern die Menschen. Sie begleiten ihn durch das Leben und nehmen ein Stück der Persönlichkeit auf. So fragt sich Georg: „Daß nach mir noch dieser Stuhl sein wird? Dieser Tisch? Dieser Schrank?“[109]

Die Zeiten und Orte überlagern sich, wenn Kobbe durch den Biedermeierstuhl gedanklich in die Vergangenheit Berlins und wieder zurück in die Gegenwart New Yorks versetz wird. Diese abrupte Veränderung wird auch in den Erzählstilen deutlich. Es wird vom Dialog über inneren Monolog Kobbes bis hin zu lyrischen Elementen[110] gewechselt.

Die Vergangenheit ist in Katharinas Wohnung präsent, durch die alten Möbel, den Wein oder die Gardine, die der Wind in das Zimmer hinein weht.

„Vom Fenster kam ein Wind. Die Gardine hob und senkte sich wie der Flügel eines großen weißen Vogels. [...] Die Gardine wehte weit ins Zimmer hinein.“[111]

Der Vogel als Symbol für die flüchtige Vergangenheit, die in diesem Moment in das Zimmer weht und ermöglicht, dass Georg sich den Erinnerungen hingeben kann. Die Flügel der Vergangenheit werden im Zimmer über Georg und Katharina ausgebreitet und es entwickelt sich ein Gespräch zwischen den Geschwistern über ihre gemeinsame Berliner Zeit im Elternhaus.

Das kleinbürgerliche Leben der Eltern, war nur eine äußerliche Fassade und Schein eines glücklichen Ehelebens.[112]

„Ich bin nicht mehr neugierig auf die Vergangenheit. Ich trauere ihr nicht nach. Ich bin neugierig auf die Zukunft. Ich will wissen, was aus uns wird. [...] Wo ist die Grenze zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht? Nur das Heute ist schlecht, der vertane Augenblick, das nutzlose Jetzt. Schlecht ist nur, auf dem Bett zu liegen und nicht schlafen zu können.“[113]

Diese Zeitlosigkeit, wenn Vergangenes und Gegenwärtiges nicht mehr zu unterscheiden ist, kommt hier mit dem Topos der schlaflosen Nächte zusammen.[114] Kobbe ist oft nachts ohne Schlaf. Er vertreibt sich die Zeit mit endlosen Unterhaltungen mit Jerobeam Kulp oder er wird, beim Versuch seinen Roman zu schreiben, von Erinnerungen eingeholt.[115]

An einer Stelle wird die Zeit mit der Sprache gleichgesetzt, für beides ist Kobbe Stellvertreter. Luise reflektiert über seine Sprache und über die Zeit. Kobbe ist „die Welt des Wortes“[116] in persona:

„Kobbe aber war das Wort. Er war das spähende, zielende, zuweilen tödlich treffende Wort; das gute und das grausame Wort; das Wort, das Abgründe aufreißen und wieder zuschütten konnte“[117].

Das Wort als die Waffe, um etwas zu erkämpfen oder um sich selbst zu schützen. Georg vermag mit

„seiner unerbittlichen Formuliersucht, in seinem unkeuschen Verlangen, das Unaussprechliche auszusprechen, es zu durchdringen und begreiflich zu machen, [und in seiner Sprache ist] etwas von jenem Grauen enthalten, das sie jetzt spürte, während sie schweigend in der Menge stand“[118].

Luise und Georg verkörpern den Topos der Sprachlosigkeit. Sie vermag sich nur im Tanz auszudrücken. Der Schriftsteller Georg kann sich zwar mit Worten ausdrücken, doch das genügt ihm nicht. Die einzelnen Worte reichen nicht, um jede seiner Empfindungen zu fassen.

[...]


[1] Zit. nach Durzak, Manfred: S. 18.

[2] Bachelard, Gaston: S. 26.

[3] Vgl. Hoffmann, Gerhard: S. 33.

[4] Vgl. Grieninger, Ilse: S. 48.

[5] Meyer, Herman: S. 33.

[6] Vgl. Hoffmann, Gerhard: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman. Stuttgart: Metzler 1978.

[7] Vgl. ebd. S. 2.

[8] Vgl. Grieninger, Ilse: S.14.

[9] Meyer, Herman: S. 35.

[10] Ebd. S. 35.

[11] Ebd. S. 42.

[12] Vgl. Grieninger, Ilse: S. 49.

[13] Martinez, Matias/Scheffel, Michel: S. 140.

[14] Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Fischer: Frankfurt am Main 1987.

[15] Ebd. S. 26.

[16] Zur Psyche des Lesers und den Raum im Roman meint Bachelard, dass das Zimmer nur eine Imagination des Lesers darstellt, der es überliest und sich ein Zimmer aus seinen Erinnerungen schafft. (Vgl. Bachelard, Gaston: S. 40)

[17] Stern, Guy: Prolegomena. S. 39.

[18] Bachelard, Gaston: S. 60.

[19] Durzak, Manfred: S. 18.

[20] Stern, Guy: Prolegomena. S. 45.

[21] Ebd. S. 39.

[22] Vordtriede, Werner: Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 15 (1968). S. 556 – 575.

[23] Durzak, Manfred: S. 18.

[24] Vordtriede, Werner: S. 557.

[25] Ebd. S. 558.

[26] Vordtriede, Werner: S. 560.

[27] Vgl. Briegel, Manfred/Frühwald, Wolfgang: S. 2.

[28] Vgl. Vordtriede, Werner: S. 562.

[29] Vgl. Stern, Guy: Prolegomena. S. 39.

[30] Vordtriede, Werner: S. 564.

[31] Vgl. Steinbach, Dietrich: S. 136.

[32] Durzak, Manfred: S. 11.

[33] Vordtriede, Werner: S. 564.

[34] Ebd. S. 565.

[35] Ebd. S. 567.

[36] Vgl. ebd. S. 568.

[37] Ebd. S. 572.

[38] Stern, Guy: Über das Fortleben des Exilromans in den sechziger Jahren. In: Revolte und Experiment. Die Literatur der sechziger Jahre in Ost und West. Fünftes Amherster Kolloquium zur modernen deutsche Literatur. Hg. v. Wolfgang Paulsen. Heidelberg: Lothar Stiehm 1971. S. 165 – 185.

[39] Ebd. S. 183.

[40] Vgl. Skwara, Erich Wolfgang: S. 161.

[41] Kellenter, Sigrid (1989): S. 812.

[42] Skwara, Erich Wolfgang: S. 9.

[43] Vgl. Rotermund, Erwin: S. 127.

[44] Vgl. Spies, Bernhard: S. 45f.

[45] Kellenter, Sigrid (1989): S. 805.

[46] Zu den autobiografischen Bezügen des Romans vgl. Erich Wolfgang Skwara: Hans Sahl. Leben und Werk. Lang: New York/Berne/Frankfurt a.M.1986 und Sigrid Kellenter: Hans Sahl. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2: New York. Hg. v. John M. Spalek und Joseph Strelka. Fran>

[47] Dem widerspricht Marcel Reich-Ranicki, da er meint, dass Hans Sahl keinen Roman schreiben wollte, sondern „eine höchst eigenwillige und amüsante Autobiographie.“ (Reich-Ranicki, Marcel (1977): S.20)

[48] Kellenter, Sigrid (1989): S. 816.

[49] Vgl. Winkler, Michael: S. 363.

[50] Spies, Bernhard: S. 48.

[51] Reich-Ranicki, Marcel (1993): S. 14.

[52] Kellenter, Sigrid (1982): S. 28.

[53] Ebd. S. 28.

[54] Ebd. S. 28.

[55] Sahl, Hans: S. 175.

[56] Ebd. S. 272.

[57] Spies, Bernhard: S. 47.

[58] Vgl. Skwara, Erich Wolfgang: S. 162.

[59] Zit. nach Skwara, Erich Wolfgang: S. 162f.

[60] Kellenter, Sigrid (1989): S. 816.

[61] Spies, Bernhard: S.47.

[62] Zum Beispiel das vergilbte Foto im möblierten Zimmer Jerobeam Kulps. (Vgl. Sahl, Hans: S. 143)

[63] Den Lehnstuhl des Vaters, der in New York in Katharinas Wohnung steht und in Georg Kobbes Erinnerungen immer wieder kehrt und der Lehnstuhl des alten Mannes im Haus am Riverside Drive. (Vgl. Kapitel sechs und sieben im ersten Buch und Kapitel zwei des dritten Buches)

[64] Ebd. S. 19f.

[65] Sahl, Hans: S. 285.

[66] Hans Sahl fand weder in Amerika noch im Nachkriegsdeutschland seine Heimat. Er kehrte zwar 1953 nach Deutschland zurück, jedoch ging er fünf Jahre später erneut nach New York; zum einem, um seine amerikanische Staatsbürgerschaft nicht zu verlieren, zum andern „weil er ‚ein exterritorialer Mensch’ geworden war, einen Pakt mit der Fremde geschlossen hatte und nicht ohne das Gefühl, nicht ganz zu Hause zu sein, leben konnte.“ (Kellenter, Sigrid (1989): S. 813)

[67] Briegel, Manfred/Frühwald, Wolfgang: S. 4.

[68] Sahl, Hans: S. 286.

[69] Spies, Bernhard: S. 48.

[70] Ebd. S. 48.

[71] Sahl, Hans: S. 38. Genauere Betrachtung dieser Textstelle siehe Kapitel 3.3. Die Überlagerung der Zeiten: Die Möbel in Katharinas Wohnung, S. 17.

[72] Drewitz, Ingeborg: S. 51.

[73] Ebd. S. 51.

[74] Wortgleich ist die Textstelle: „Der Mann, der Georg Kobbe hieß, ging langsam durch die Zweiundvierzigste Straße zum Broadway“ und die Frage „Wo bin ich?“. Ähnlich ist die Beschreibung, wie Kobbe durch die Menge geht. (Sahl, Hans: S. 12 und 286)

[75] Kellenter, Sigrid (1982): S. 27.

[76] Kellenter, Sigrid (1989): S. 816.

[77] Sahl, Hans: S. 157.

[78] Ebd. S. 158.

[79] Ebd. S. 158.

[80] Die genaue Betrachtung siehe Kapitel 3.3 Überlagerung der Zeiten: Die Möbel in Katharinas Wohnung, S. 17.

[81] Als Beispiele sollen hier die politische Kundgebungen in Paris im siebtem Kapitel des dritten Buches (S.166), die Treffen des Literaturvereins in Paris (S. 169f) und die Versammlung in der Neuen Warte in New York im dritten Kapitel des ersten Buches (S. 21ff) angeführt werden.

[82] Drewitz, Ingeborg: S. 51.

[83] Sahl, Hans: S. 30.

[84] Weitere Beispiele vgl. Kellenter, Sigrid (1982): S. 32.

[85] Schaber, Will: S. 6.

[86] Kellenter, Sigrid (1989): S. 816.

[87] Sahl, Hans: S. 38.

[88] Ebd. S. 38.

[89] Ebd.

[90] Sahl, Hans: S. 32.

[91] Ebd. S. 65.

[92] Katharina ruft Georg vom Studio aus zu, dass sie noch arbeiten muss. (Vgl. Sahl, Hans: S. 39)

[93] Ebd. S. 39.

[94] Ebd. S. 39.

[95] Sahl, Hans: S. 40.

[96] Ebd. S. 41.

[97] Bachelard, Gaston: S. 32.

[98] Sahl, Hans: S. 61.

[99] Kellenter, Sigrid (1982): S. 28.

[100] Ebd. S. 28f.

[101] Sahl, Hans: S. 50.

[102] Ebd. S. 42.

[103] Kellenter, Sigrid (1982): S. 28.

[104] Sahl, Hans: S. 42.

[105] Ebd. S. 60.

[106] „Ich [Georg Kobbe] ging wieder in das Wohnzimmer, und als ich mich in den großen Stuhl am Fenster setzen wollte, sah ich eine Zigarre auf der rechten Armlehne liegen. Es war Mergenthins Zigarre, die allein im Stuhl weiterrauchte.“ (Sahl, Hans: S. 59)

[107] Mergenthin wird charakterisiert als ein „konservativer Geist, erzogen in der preußischen Tradition seiner pommerschen Heimat und bereits in jungen Jahren bemüht, die Problematik der seit Generationen in Deutschland ansässigen Juden in einer kleinen Schrift darzulegen, in der er sich [...] als ein besserer Patriot erwies [...]. Er war ein guter Bürger, der seinem Kaiser treu gedient hatte, und ein überzeugter Unternehmer“. (Sahl, Hans: S. 32)

[108] Ebd. S. 41.

[109] Ebd. S. 64.

[110] Gemeint ist der lyrische Anfang des siebten Kapitels des ersten Buches. (Vgl. Sahl, Hans: S. 59)

[111] Ebd. S. 60.

[112] Als Beispiel berichtet Georg von der 25jährigen Enthaltsamkeit des Vaters in der Ehe, was die Mutter erst nach dem Tod des Mannes offenbart und sie in all den Jahren stark belastet hat. (Vgl. Sahl, Hans: S. 61)

[113] Ebd. S. 66.

[114] Vgl. Stern, Guy (1971): S. 183.

[115] Beispielhaft für die schlaflosen Nächte ist die Textstelle: „Er arbeitete meist in der Nacht und schlief am Tage, wenn er nicht an den Ozean fuhr oder in eisgekühlten Vorzimmern auf Leute wartete“. (Sahl, Hans: S. 141)

[116] Ebd. S. 277.

[117] Ebd. S. 277f.

[118] Ebd. S. 278.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Raumgestaltung im Exilroman
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Germanistik)
Note
2,2
Autor
Jahr
2004
Seiten
88
Katalognummer
V28124
ISBN (eBook)
9783638300001
Dateigröße
768 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Raumgestaltung, Exilroman
Arbeit zitieren
Doreen Czekalla (Autor:in), 2004, Raumgestaltung im Exilroman, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28124

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