Das politische Selbstverständnis von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen in Studium und Praxis. Auswirkungen auf professionelles Handeln in der sozialen Arbeit

"Weglaufen, Mitlaufen, Amoklaufen?"


Doktorarbeit / Dissertation, 2014

621 Seiten, Note: cum laude


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Sozialarbeit und Sozialpädagogik - Einblicke und Rückblicke
2. 1 Die Begriffe „Sozialarbeit“ und „Sozialpädago- gik“
2. 2 Sozialarbeit und Sozialpädagogik im histo- rischen Kontext
2. 3 Aktuelle Anforderungen und Herausforderun- gen
2. 3. 1 Bedingungen für die Sozialarbeit und die So- zialpädagogik
2. 3. 1. 1 Gesellschaftliche Bedingungen
2. 3. 1. 2 Ökonomische Bedingungen
2. 3. 1. 3 Politische Bedingungen
2. 3. 2 Praxisfelder und Institutionen - zunehmende politische Abhängigkeiten?
2. 3. 3 Ziele und Interventionen
2. 4 Sozialarbeit/ Sozialpädagogik und Politik
2. 4. 1 Die Definition von „Politik“
2. 4. 2 Möglichkeiten und Bedeutungen politischen Handelns in der Sozialarbeit und Sozialpäda- gogik
2. 4. 2. 1 Im Bereich der Wohnungslosenhilfe
2. 4. 2. 2 Im Bereich der Heimerziehung

3 Selbstverständnis, Identitätsentwicklung und Identität von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen
3. 1 Begriffsdefinition
3. 1. 1 Selbstverständnis
3. 1. 2 Identitätsentwicklung und Identität
3. 2 Sozialisation als Bedingungsfaktor
3. 2. 1 Eigene Erfahrungen und familiäre Sozialisa-
3. 2. 2 Hochschule als Sozialisationsinstanz
3. 2. 3 Berufliche Sozialisation und Berufskompe-

4 Politik, ihre Entwicklung und die Entste- hung politischer Einstellungen
4. 1 Politische Entwicklungen in Deutschland
4. 1. 1 Politik im Wandel
4. 1. 2 Politisches Interesse einst und jetzt
4. 2 Politische Wahrnehmung und politisches Lernen
4. 2. 1 Politische Bedingungen als Sozialisations-
4. 2. 2 Bereitschaft zu politischem Handeln

5 Von der Motivation zur Kompetenz: Sozial- arbeiterInnen und SozialpädagogInnen in der Ausbildung
5. 1 Entwicklungslinien und -tendenzen in der Hochschulausbildung und im Studium
5. 1. 1 Hochschulen und Hochschulpolitik im zeit- lichen Verlauf
5. 1. 2 StudentInnenproteste - und was davon übrig
5. 2 Sozialarbeit und Sozialpädagogik an Fach-hochschulen
5. 2. 1 Rückblicke
5. 2. 2 Ausbildungsziele und -inhalte
5. 2. 3 Wissenschaft, professionelles Handeln und Berufskompetenz
5. 3 Studierende der Sozialarbeit und Sozialpäd- agogik
5. 3. 1 Motivationen
5. 3. 2 Vorstellungen über das zukünftige Tätigkeits- feld
5. 3. 3 Berufliche Vorerfahrungen
5. 3. 4 Persönliche Situationen
5. 4 Studium und Politik
5. 4. 1 Politisches Interesse
5. 4. 2 Politische Aktivitäten
5. 4. 3 Politische Einstellungen vor und nach dem Studium
5. 5. Berufseinstieg
5. 5. 1 Berufliche Vorstellungen
5. 5. 2 Übernahme der Berufsrolle
5. 5. 3 Einstellungsänderungen durch die Praxis

6 Konzeption und Durchführung der Unter- suchung
6. 1 Die ausgewählte Gruppen und relevante Kriterien
6. 2 Planung, Verlauf und Auswertung der Unter- suchung
6. 2. 1 Grundannahmen und forschungsleitende Ge- danken
6. 2. 1. 1 Forschungsstand und Fragestellung der Un- tersuchung
6. 2. 1. 2 Die Gruppendiskussion als Erhebungsmetho- de
6. 2. 2 Durchführung der Untersuchung
6. 2. 3 Auswertung der Untersuchung
6. 2. 3. 1 Kurzprotokoll
6. 2. 3. 2 Transkription
6. 2. 3. 3 Die Analyse des Diskurses

7 Ergebnisse der Untersuchung
7. 1 Die ausgewählten Gruppen und ihre Kriterien
7. 1. 1 Die studentischen Gruppen
7. 1. 2 Die Gruppen der SozialarbeiterInnen
7. 2 Berufsrelevante Einstellungen
7. 2. 1 Die Motivation
7. 2. 2 Probleme der Klientel und die Ursachen jener Schwierigkeiten aus Sicht der StudentInnen und SozialarbeiterInnen
7. 2. 3 Die Funktion sozialer Arbeit aus Sicht der DiskussionsteilnehmerInnen
7. 2. 4 Aufgaben und Ziele der Sozialarbeit aus Sicht der Studierenden und der Berufstätigen
7. 2. 5 Das Verständnis der Diskussionsteilnehmer- Innen über die Aufgaben der SozialarbeiterInnen sowie über die Methoden und Inhalte von sozialer Arbeit
7. 2. 6 Das Verständnis von Professionalität und
Qualität in der sozialen Arbeit sowie die als notwendig erachteten Kompetenzen von So- zialarbeiterInnen
7. 2. 7 Das Verständnis von Erfolg in der sozialen Arbeit
7. 2. 8 Das Ansehen von sozialer Arbeit
7. 3 Erwartungen an das Studium und die Be wertung des Studiums und dessen Inhalte
7. 4 Erwartungen an die Berufstätigkeit
7. 5 Politisches Interesse und politisches Handeln
7. 5. 1 Politisches Interesse der (angehenden) So zialarbeiterInnen
7. 5. 2 Politisches Handeln der Studierenden und Berufstätigen
7. 6 Die Einschätzung politischen Bewirkens oder: Ist Politik noch möglich?
7. 6. 1 Politisches Handeln in der sozialen Arbeit
7. 6. 2 Veränderungen von Einstellungen und Ver haltensweisen durch den Eintritt in die be rufliche Praxis
7. 6. 3 Umstände, die sich auf die politische Partizi pation auswirken
7. 6. 3. 1 Gesellschaftliche Bedingungen
7. 6. 3. 2 Wirtschaftliche und politische Bedingungen
7. 7 Demokratische Partizipation und Einver- ständnis mit dem politischen System in Deutschland
7. 8 Einfluss der Fachhochschule auf das politi- sche Interesse und das politische Handeln
7. 9 Arbeitsbedingungen in den Institutionen so- zialer Arbeit und politisches Handeln
7. 9. 1 Möglichkeiten, Vorstellungen in der berufli- chen Praxis ein- und umzusetzen
7. 9. 2 Identifikation mit dem eigenen Tätigkeitsbe- reich
7. 9. 3 Kritik an der sozialen Arbeit und ihren Be- dingungen
7. 9. 4 Aktuelle Diskussionen und Herausforderun- gen in der sozialen Arbeit

8 Auswirkungen und Aussichten
8. 1 Aspekte und Perspektiven für die soziale Ar- beit
8. 1. 1 Wandel des Berufsbildes?
8. 1. 2 Schlussfolgerungen für das Studium der so zialen Arbeit und für die Fachhochschulen
8. 1. 3 Selbstverständnis und Zukunftsaussichten
8. 1. 3. 1 Bedingungen für die soziale Arbeit und der Umgang mit ihnen
8. 1. 3. 2 Gestaltungsperspektiven
8. 1. 4 Im Blickpunkt: Die AdressatInnen der sozi alen Arbeit
8. 2 Politisches Interesse und politische Ansichten
8. 2. 1 Politikverdrossenheit - ist Politik „out“?
8. 2. 2 Durchsetzungschancen

9 Resümee und Ausblick

Literatur- und Quellenverzeichnis

Anlagen

Zusammenfassung

Die soziale Arbeit als Beruf wird seit ihrem Bestehen direkt sowie in- direkt von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Be- dingungen beeinflusst und ist - mindestens zum Teil - abhängig von den entsprechenden Gegebenheiten. Insofern kann wenigstens das Vorhandensein eines gesellschaftspolitischen Interesses der (ange- henden) SozialarbeiterInnen als erforderlich angesehen und als zu- gehörig zur professionellen Kompetenz verstanden werden.

In der vorliegenden Arbeit wurde untersucht, ob die Studierenden und die Berufstätigen in der sozialen Arbeit über ein politisches Inte- resse verfügen und ob sie politisches Interesse und Handeln im All- gemeinen und besonders im Hinblick auf ihre (bevorstehende) Be- rufspraxis als wichtig und notwendig erachten. Die Frage nach einer möglicherweise vorhandenen Gesellschaftsgestaltungsabsicht im Zusammenhang mit der Motivation den Beruf zu ergreifen wurde dabei ebenso einbezogen wie die Definition des „Politischen“ von Seiten der ForschungsteilnehmerInnen. Einen weiteren Aspekt in diesem Zusammenhang stellt die Bewertung der Um- und Durchset- zungschancen politischen Handelns innerhalb und außerhalb der sozialen Arbeit dar. Die Forschungsergebnisse werden vor dem Hin- tergrund des historischen Kontextes und aktueller (politischer, wirt- schaftlicher sowie gesellschaftlicher) Entwicklungen betrachtet. Das Selbstverständnis der Studierenden und Berufstätigen sowie das ge- forderte professionelle Handeln wird des Weiteren vor der Hand- lungsbasis betrachtet - also vor der Frage, welche Rolle persönliche Erfahrungen, weitere (der sozialen Arbeit wesensfremde) berufliche Kenntnisse und sozialarbeitsrelevantes theoretisches Wissen spie- len.

Als Erhebungsmethode im Rahmen dieser empirisch qualitativen Studie wurde die Gruppendiskussion gewählt. Nach Loos und Schäf- fer (2001) ist mit der Methode u. a. die Hoffnung verbunden, kollekti- ve Phänomene erfassen zu können. Die Basis für die Auswahl der Gruppendiskussion bot die Grundannahme, nach welcher politische und auch berufliche Einstellungen nicht nur auf Basis von individuel- len (etwa biographischen) Erfahrungen entstehen, sondern als Re- sultat vielschichtiger Aneignungsprozesse betrachtet werden kön- nen.

Durchgeführt wurden sieben Diskussionsrunden. In fünf der Gruppen nahmen Studierende der sozialen Arbeit, in zwei der Gruppen SozialarbeiterInnen teil.

Die Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen erweisen sich als sehr vielfältig. Ein überwiegendes Desinteresse an politischen Vor- gängen und Handeln kann nicht festgestellt werden. Alle Teilneh- merInnen zeigen (in unterschiedlicher qualitativer und quantitativer Gewichtung) Interesse an politischen oder zumindest gesell- schaftsrelevanten Fragestellungen in Bezug auf ihren (zukünftigen) Beruf auf. Die Notlagen der Klientel und die Ursachen für bestimmte Notlagen werden im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Bedin- gungenen betrachtet und nicht nur auf individuelle Merkmale oder Abhängigkeiten bezogen. Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Meinung, wie mit den festgestellten Ursachen umzugehen ist. Auf der einen Seite bezieht sich dieses auf die Frage, ob die entsprech- enden Gegebenheiten überhaupt im Rahmen der sozialen Arbeit „bearbeitet“ werden sollen und wenn ja, auf welche Art und Weise und mit welcher Methode dieses zu geschehen hat. Hier, aber ebenso unter anderen Gesichtspunkten, ist eine Fixierung auf die Einzelfallhilfe zu beobachten. Der Wunsch sich politisch zu engagie- ren, ist vielfach vorhanden - jedoch besteht Unsicherheit darüber, wie dieses geschehen kann und welche Kompetenzen hierfür not- wendig sind. An dieser Stelle werden insbesondere die Fachhoch- schulen gefordert. Im Allgemeinen wird deutlich, dass sich die Personen, die sich eher auf theoretische Inhalte des Studiums bezie- hen und diese Inhalte auf die praktische Arbeit übertragen können, eine höhere Bereitschaft vorhanden ist, sich im genannten Sinne zu engagieren. Gleichfalls werden von diesen DiskutantInnen Realisie- rungschancen eher gesehen und als durchsetzbar bewertet. Positiv auf das politische Interesse und Handeln wirken sich zudem die ei- gene Betroffenheit von bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen, eigene Erfahrungen und Vorbilder aus.

Entgegen der Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, steht die Zufriedenheit mit der Lebenssituation in Deutschland oder die Angst vor negativen Konsequenzen auf Grund dieses Handelns. Weiterhin besteht der Eindruck, dass sich die politischen Instanzen nicht mehr am Willen der Bevölkerung orientieren, sondern an anderen Interessen, etwa an wirtschaftlichen.

Resümierend ist festzustellen, dass die theoretischen Inhalte des Studiums - insbesondere das Basiswissen - gestärkt werden müs- sen. Dieses bezieht sich auch auf die Frage, wie die Inhalte in der Praxis angewendet werden können. Des Weiteren ist eine stärkere Transparenz der Fachhochschulen notwendig - etwa in Hinblick auf Funktion und Aufgaben von sozialer Arbeit als auch in Bezug auf ihre eigene Curricula.

Schlagworte: Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Selbstverständnis, politisches Interesse

Abstract

The profession of social work, from the outset, has been subject to the direct and indirect influence of social, economic and political conditions and depends - at least partially - on the circumstances given at the time. This being the case, we can assume some degree of interest in socio-political issues to be a requirement for (ongoing) social workers and an inherent feature of their professional competence.

The present study investigated whether students and practitioners of social work display such an interest in political issues and whether they consider political interest and action in general and in regard to their (future) professional practice in particular as important and necessary. The research included both the question whether the motivation to enter this particular career might be associated with the desire to engage in shaping society and the question how the research participants define “the political”. Another aspect in this context was how the prospects of successful political action are assessed in terms of the ability to implement and enforce policies within and outside the realm of social work. The research findings are considered in the light of historical and contemporary (political, economic and social) developments. The self-conception of students and practitioners and the professional action demanded of them will furthermore be considered in the light of the foundations of agency - i.e., against the backdrop of the role of personal experience, additional professional knowledge (not related to social work) and theoretical knowledge related to social work.

In this qualitative study, group discussion was the method of choice for data collection. According to Loos und Schäffer (2001), group discussion is associated with the expectation, inter alia, of being capable to capture collective phenomena. The basic assumption underlying this choice of method is that political and professional attitudes do not simply evolve from individual (e.g., biographical) experience only, but are the result of complex processes of appropriation.

The data were collected in seven rounds of group discussions. Five groups were composed of students of social work, and two groups of social workers.

The group discussions yielded rich results. There was no evidence of any prevailing disinterest in political events and action. All participants (to varying qualitative and quantitative degrees) showed interest in political issues or at least in social issues relating to their (future) occupation. They see the hardships of their clientele and the causes thereof as linked to social conditions and not simply as a product of individual characteristics or dependencies alone. There are differences in opinion among the discussants about how to deal with these causes. This involves the question whether the respective circumstances are a subject matter to be addressed in the context of social work and, if so, how and by what means. Here, as in regard to other aspects as well, we see a strict focus on casework. Although in many cases there is a desire to become politically active, there is uncertainty about how to go about this and what skills it requires. This is where particularly the universities of applied sciences are called upon. It becomes clear that it is generally those who are more focused on theoretical content in their studies and are capable of

transferring this content to real work situations who are more inclined to become politically active. These discussants are also the ones who are more likely to see opportunities for realising political goals and to consider them as politically feasible. Other factors that have a positive impact on political interest and action is a situation of being personally affected by certain social conditions, a person’s own experiences, and the existence of role models.

Factors that dampen the willingness to become politically active are personal contentment with life in Germany or fear of adverse consequences arising from political involvement. Moreover, the discussants have the impression that the political institutions are no longer attuned to the will of the people but to other interests, for instance, economic ones.

In summary, we can note that theoretical content - particularly basic knowledge - must be strengthened in courses in social work. This also involves the issue of how theoretical content can be translated into practice. Moreover, there is a need for universities of applied sciences to increase transparency, for instance, in regard to the role and tasks of social work, but also concerning their own curricula.

Key words: social work/social pedagogy, self-conception, political interest

Für Klaus - Peter Hirsch ( )

1 Einleitung

„Die Studierenden von heute sind unpolitisch!“ Dieser Satz wurde 1997, in einer Zeit von größeren StudentInnenprotesten, an mich ge- richtet1. Eigentlich wurde er eher nebenbei ausgesprochen, dennoch provozierte der Satz mich so sehr, dass diese Arbeit als ein Resultat der Auseinandersetzung mit dem genannten Ausspruch gesehen werden kann.

Was war es denn aber genau, was mich an der Aussage so störte? „Politikverdrossenheit“ war auch schon damals kein unbekanntes Wort und warum sollte sie ausgerechnet StudentInnen verschonen? Selbst die Resolution der Studierendenschaft an der Fachhochschu- le (mit dem Fachbereich Sozialwesen), an der ich studierte, sprach in einer ihrer Zieldefinitionen indirekt von einer Politisierung der Stu- dentInnen2. Damit war sie bundesweit kein Einzelfall3. Die betreffen- den Resolutionen wurden mit großen Mehrheiten verabschiedet4 - womit der Widerspruch (zumindest erst einmal) auf der Hand lag. Doch es waren noch andere Widerstände, die die eingangs erwäh- nte Bemerkung bei mir auslöste: Zum einen war das Bild in Gefahr, welches ich mit SozialarbeiterInnen5 in Verbindung brachte6, zum anderen mein eigenes Selbstverständnis.

Seit ihrer Entstehung ist die Sozialarbeit als Antwort auf das Vorhandensein und den Umgang mit (individuellen) Notlagen zu verstehen. Wird heute nicht mehr davon ausgegangen, dass die Schwierigkeiten der Klientel ausschließlich auf eigenes Verschulden zurückzuführen sind, sondern dass die Notlagen als Resultat gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer7 Verhältnisse gesehen werden können8, so erscheint mir zumindest ein gesellschaftspolitisches Interesse der SozialarbeiterInnen unabdingbar.

Mit der Abkehr vom Bild selbstverschuldeter Lebenslagen wurden die gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Momente für die Sozialarbeit zunehmend zum Thema9. In konzeptionellen Überlegun- gen wurde ein Perspektivenwechsel deutlich. Stichworte wie „Dop- pelmandat“ und „Funktion der Sozialarbeit“ sind auch heute in Theo- rie und Praxis immer wieder aktuell und nicht mehr wegzudenken. Auch über das Selbstverständnis (angehender) SozialarbeiterInnen gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen. Sie beschäftigen sich u.

a. mit den Motiven, die zu der Berufswahl geführt haben, mit Einflüs- sen der familiären Sozialisation auf Wertvorstellungen, Einstellungen zukünftiger SozialarbeiterInnen etc.10.

Im Mittelpunkt dieser Arbeit soll die Sicht der Betroffenen - der StudentInnen und SozialarbeiterInnen - stehen; dabei werde ich mich von folgenden Fragestellungen leiten lassen:

Sehen StudentInnen und SozialarbeiterInnen politisches Bewusst sein, Interesse und Handeln, auch im Hinblick auf die Berufspraxis, als wichtig und notwendig an?

Liegt StudentInnen und BerufsanfängerInnen, in ihrer Motivation den Beruf zu ergreifen, eine Gesellschaftsgestaltungsabsicht zugrunde?

Welches Handeln definieren sie als „ politisch “ und welche Umset zungschancen von Gestaltungsabsichten sehen sie in eigener poli tischer Betätigung und in ihrer (zukünftigen) Arbeit?

Entspricht das eigene Selbstverständnis den Entwicklungslinien in der Sozialarbeit oder verläuft es konträr?

Von welcher Grundlage leiten SozialarbeiterInnen ihr eigenes Han deln ab; welche Rolle spielen persönliche Erfahrungen, theoretische Kenntnisse und frühere berufliche Erfahrungen?

Im ersten Teil meiner Dissertation werde ich auf der Grundlage histo- rischer Rückblicke Entwicklungen in der Sozialarbeit und in der Aus- bildung zur Sozialarbeit im Kontext gesellschaftspolitischer Bedin- gungen nachzeichnen. Da die Sozialarbeit - im Gegensatz zur Sozi- alpädagogik - in der universitären Ausbildung erst seit kurzem eine Rolle spielt und ich die Einheit von Sozialarbeit und Sozialpädagogik betonen möchte, werde ich mich weitestgehend auf Fachhochschulen beziehen. Die universitäre Ausbildung in der Sozialpädagogik verdient im Kontext geschichtlicher Entwicklungen zudem eine gesonderte Betrachtung11.

Der Hochschule als Sozialisationsinstanz zur Erlangung beruflicher Kompetenz wird im Rahmen dieser Arbeit ein hoher Stellenwert bei- gemessen. Ich gehe zwar davon aus, dass eigene biographische Er- fahrungen12 wertvoll sind und sich zu einem großen Teil positiv auf die Arbeit auswirken, möchte mich aber dennoch Eberhard Brandt anschließen, wenn er sagt: „[...] soziale Arbeit könne aus einer 'Na- turbegabung' geleistet werden, wird hier energisch widersprochen [...]“13.

Damit ist es notwendig, die Sozialisationsinstanzen und -einflüsse darzustellen, die zur Entwicklung professioneller14 Kompetenz der SozialarbeiterInnen beitragen. Hier ist es mir wichtig, die Instanzen selbst im Wandel der Zeit zu betrachten und die Frage zu stellen, in- wieweit sie politischen und ökonomischen Abhängigkeiten ausge- setzt sind (ebenso wie andere Institutionen in der sozialen Arbeit) und wie sich das auf die Ausbildung der Studierenden auswirkt. „Schwimmen“ beispielsweise die Lehrenden an den (Fach-) Hoch- schulen dem aktuellsten „mainstream“ unkritisch hinterher, wird es kaum möglich sein, den StudentInnen kritisches politisches Bewusst- sein nahe zubringen.

Richtet sich sozialarbeiterisches Handeln eher danach, was „ökono- misch noch möglich ist“15, besteht die Gefahr, dass die Klientel da- bei immer mehr in den Hintergrund rückt und zum Objekt der Han- delnden wird. Eine solche Anpassung an marktwirtschaftliche Krite- rien, neben den schon genannten Auswirkungen auf Institutionen und Ausbildungsstätten, könnte ein verändertes Berufsbild zur Folge haben. Beweggründen wie „anderen helfen zu wollen, für mehr Ge- rechtigkeit eintreten zu wollen, etwas bewirken zu wollen“ o. ä., die in der Vergangenheit immer wieder zu den Motiven der Sozialarbeiter- Innen zählten16, kann so womöglich nicht mehr gerecht werden. So- zialarbeiterInnen haben Gestaltungsmöglichkeiten und die Möglich- keit auf Gestaltungsprozesse Einfluss zu nehmen. Es ist die Frage, ob sie sie nutzen.

Sehen StudentInnen bzw. SozialarbeiterInnen die Chance, Entwick- lungen durch eigenes (politisches) Engagement zu beeinflussen, re- signieren sie und wenn ja - warum? Diesen Aspekt behandelt der ge- genwartsbezogene Abschnitt der Dissertation. Anhand von Student- Innengruppen und SozialarbeiterInnengruppen wird untersucht, wie sie ihre Handlungsperspektiven einschätzen. Dabei werden stets die Bedingungen für das eigene Leben, das Studium und den Beruf ein- bezogen.

Ich setze die Ergebnisse der Untersuchung rückblickend mit der Ge- schichte sozialer Arbeit in Beziehung und überprüfe diese in ihren (möglichen) Auswirkungen auf die Berufspraxis der SozialarbeiterIn- nen und auf die Ausbildung der StudentInnen der Sozialarbeit.

2 Sozialarbeit und Sozialpädagogik - Einblicke und Rückblicke

Nach einer Begriffserläuterung von Sozialarbeit und Sozialpädago- gik geht es in diesem Abschnitt darum, die geschichtliche Entwick- lung der sozialen Arbeit darzustellen. Die Frage nach der Bedeutung politischen Handelns fließt dabei in die Betrachtung ein. Die folgende Standortbestimmung setzt sich mit aktuellen Anforderungen der So- zialarbeit auseinander. Auch hier wird das Verhältnis von Sozialar- beit und Politik betrachtet und anhand zweier Beispiele aus der sozi- alen Praxis erläutert und diskutiert.

2. 1 Die Begriffe „Sozialarbeit“ und „Sozialpädagogik“

Sowohl die Bezeichnung der Sozialarbeit als auch die Bezeichnung der Sozialpädagogik hat seit ihrem „ersten Auftauchen“ bis zum heu- tigen Zeitpunkt keine einheitliche Anwendung gefunden. Dabei be- steht Unstimmigkeit in der inhaltlichen Ausgestaltung des jeweiligen Begriffs, wie auch in der Meinung darüber, ob diese synonym zu ver- wenden sind oder aber über einen unterschiedlichen Sinngehalt ver- fügen.

Die Differenzierung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik lässt sich aus den unterschiedlichen historischen Wurzeln der beiden Berufs- bezeichnungen herleiten und verstehen. Die berufliche Sozialarbeit findet ihren Ursprung insbesondere in der behördlichen Armenpflege des 19. Jahrhunderts, in der freien Liebestätigkeit, der Wohlfahrts- pflege und der Frauenbewegung17. Dabei kann die Sozialarbeit als Reaktion auf vorhandene Notlagen, wie beispielsweise das vermeh- rte Auftreten von Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, unzurei- chende Wohnverhältnisse und infolgedessen die Zunahme von Krankheiten in Zeiten der Industrialisierung verstanden werden. Die Arbeitsfelder und Institutionen, in denen eingangs Sozialarbeit ge- leistet wurde, konzentrierten sich besonders auf Einrichtungen der Wohnungs-, Gesundheits-, Familien-, Säuglings- und Gefährdeten- fürsorge etc.18

Der Begriff der Sozialpädagogik fand erstmalig Verwendung in der Mitte des 19. Jahrhunderts und zwar im Rahmen von Diskussionen innerhalb der Pädagogik19. Als Antwort auf soziale Umbildungspro- zesse, wie etwa einem „drohenden Kulturverfall“20 oder einer entwur- zelten Arbeiterschaft21, sollten ausdrücklich gesellschaftliche Ziele in die Erziehung der Individuen einfließen, die soziale Bildung sollte von nun an gleichwertig neben der individuellen Bildung stehen22. So richtete sich die Sozialpädagogik zunächst hauptsächlich an Kinder und Jugendliche in Einrichtungen wie Kindergärten und Erziehungs- heimen23.

Betrachtet man die unterschiedlichen Definitionen von Sozialarbeit und Sozialpädagogik (einschließlich ihrer Zielimplikationen, ihres An- wendungsbereiches und ihres Einsatzes in der fachlichen Diskussi- on) im zeitlichen Verlauf, lassen sich - neben den individuellen Sicht- weisen der urhebenden bzw. betrachtenden Person -, die Abhängig- keiten aus den jeweiligen gesellschaftlichen, rechtlichen und poli- tischen Kontexten erkennen24. Klaus Mollenhauer stellt mit Bezug auf die Sozialpädagogik fest, dass „die Wahl des Begriffs in einer be- stimmten geschichtlichen Situation nicht zufällig ist“25 und Eberhard Brandt weist bei der Sozialarbeit darauf hin, dass „Sozialarbeit nicht ein abstrakt gedachtes Konstrukt ist [...]“, sondern „immer nur das ist, was ihr konkret - gesellschaftlich als Aufgabe und Funktion zuge- wiesen wird“26.

Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der Definitionen, Ziele, Aufgaben, Arbeitsfelder und Institutionen lassen sich Überschneidungen erkennen, die eine analoge Verwendung der Begriffe rechtfertigen27. In der beruflichen Praxis ist eine Gleichstellung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu beobachten28.

Spreche ich im Rahmen dieser Arbeit von Sozialarbeit und Sozial- pädagogik, bezeichne ich damit die professionell geleistete Hilfe für Menschen und Gruppen, die auf Grund einer sozialen bzw. gesell- schaftlich produzierten29 oder/ und individuellen Notlage notwendig geworden ist, oder auf Grund eines als defizitär bezeichneten Zu- standes eintritt. Die Notwendigkeit sozialarbeiterischer und sozial- pädagogischer Intentionen, wie der Umfang und der Einsatz dieser ist abhängig von den jeweils gesellschaftlichen, ökonomischen, poli- tischen und rechtlichen Gegebenheiten. Die beiden Bereiche der so- zialen Arbeit bezeichne ich als Teil der staatlichen Sozialpolitik30. C. Wolfgang Müller bezeichnet sie damit auch als „eine entwickelte und kultivierte Form der Vergesellschaftung von ursprünglich privat er- brachten Sozialisationsleistungen und Absicherung gegen Produkti- onsrisiken“31.

2. 2 Sozialarbeit und Sozialpädagogik im historischen Kontext

Wie bereits beschrieben, begründet sich die Entstehung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik aus dem Vorhandensein von Notlagen. Dabei ist verallgemeinernd zu sagen, dass die Sozialarbeit ihre Wurzeln in dem möglichst „effizienten“ Umgang mit armen Menschen bzw. mit dem Phänomen von Armut findet und die Sozialpädagogik in ihren Anfängen als Versuch gelten kann, (definierte) Problemlagen mit pädagogischen Mitteln unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes zu bearbeiten oder zu beheben.

Wird in dem Zusammenhang der Entstehung der Sozialarbeit der Blick auf das Vorhandensein von Armut gelenkt, ist zu beobachten, dass in Armut lebende Personen in allen geschichtlichen Epochen anzutreffen sind. Deutliche Unterschiede zeigen sich jedoch hinsicht- lich des Phänomens der Armut, des Umgangs mit ihr und natürlich auch des Umgangs mit den Menschen, die von der Armut betroffen sind. Über lange Zeitspannen hinweg waren soziale Handlungen ge- genüber Menschen, die in Not geraten sind, von religiösen Überzeu- gungen getragen32. Schon im hohen Mittelalter waren innerhalb der Kirchen Einrichtungen und Organisationen vorhanden, die Hilfeleis- tungen für Notleidende anboten33. Die Hilfe für Bedürftige war zu die- ser Zeit bereits in einer tausendjährigen christlichen Tradition veran- kert, in der das Geben von Almosen als religiöse Pflicht bezeichnet wurde. Das Motiv für die Gebenden war dabei das eigene Seelen- heil, denn durch diese Mildtätigkeit wurde den Spendenden „himm- lischer Lohn“ versprochen. Demnach war allerdings keinesfalls da- von auszugehen, dass der Not leidenden Person eine ausreichende Versorgung zukam34. In der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung bildeten die Armen einen eigenen Stand und das Verweilen in dieser unteren Position wurde als „natürlich“ bzw. „gottgewollt“ angesehen. Somit waren Ursachen, die in die Notlage geführt hatten, nicht zu be- rücksichtigen35. Betteln wurde als legitimes Mittel angesehen, sich den notwendigen Lebensunterhalt zu beschaffen. Eine Unterschei- dung zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen, wie sie heute - modifiziert ausgedrückt - Anwendung findet, kannte man zu dieser Zeit nicht36. Allerdings sollten die Gaben nur den Menschen zukom- men, die sich in einer tatsächlichen - also sichtbaren - Notlage (wie beispielsweise Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit, Gefangenschaft) befanden. Insofern war nicht die Bedürftigkeit Ermessensgrundlage des Almosenspendens, sondern das Symptom war ausschlagge- bend37. Das mit dieser Soziallehre im Zusammenhang stehende Staats- und Gesellschaftsverständnis sah eine enge Verbindung zwi- schen Staat und Kirche vor. Der aufkommende Staat hatte - im Sin- ne der Scholastik - auch religiöse Aufgaben zu übernehmen. Er soll- te das religiöse Leben der Menschen fördern, damit sie ihre Glückse- ligkeit vor Gott erreichen konnten38.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass soziale Probleme im Mittelal- ter im Rahmen der Theologie und Philosophie behandelt wurden. Auch die ersten Universitäten, die in Europa im 12. Jahrhundert ge- gründet wurden, nahmen sich den sozialen Fragen an39. Erweitert wurden die Sichtweisen über den Umgang mit den Notleidenden um pädagogische Gesichtspunkte, als die Humanisten im Hochmittelal- ter begannen, den Erziehungsaspekt dieser Personengruppe in den Vordergrund zu stellen40. Ernst Engelke geht davon aus, dass sich ab jener Zeitspanne die Entwicklung der Sozialarbeit und Sozialpäd- agogik deutlich nachzeichnen lässt41.

Schon im 13. Jahrhundert wurden die ersten Formen der beginnen- den Industrialisierung sichtbar. Es kam zu einer allmählichen Aus- dehnung der Geldwirtschaft, die ihren vorläufigen Höhepunkt im 14.

Jahrhundert fand42. Durch die zunehmende Kapitalisierung der Märkte - einhergehend mit ihrer Veränderung -, den damit verbunde- nen Wandlungen der Infrastruktur in den Städten, der Entwicklung neuer Berufe und Erwerbschancen wurde die Ordnung, die die Epo- che bisher geprägt hatte, verschoben und geriet ins Wanken43. Auf der einen Seite gewann das Bürgertum an wirtschaftlicher Macht und damit auch zunehmend an Selbstbewusstsein und Einfluss, auf der anderen Seite konnte ab der Mitte des 14. Jahrhunderts ein Anstei- gen der in Armut lebenden Menschen beobachtet werden. Die Mittel, die bisher zur Bekämpfung der Armut eingesetzt worden waren, er- wiesen sich mehr und mehr als untauglich und die Stimmung gegen- über den armen und bettelnden Menschen veränderte sich grundle- gend44. Das Geben von Almosen wurde nun vermehrt reglementiert und ab dem Jahr 1370 zunehmend verboten45. Die Unterstützung der Notleidenden erfolgte jetzt durch städtische Almosenämter, denen neben der Verteilung der Güter nun auch polizeiliche Kontrol- len zur Überprüfung der Notstände und zur Kontrolle des Einsatzes der Mittel übertragen wurden. Für die neuen Aufgaben wurden die Ämter personell immer umfangreicher ausgestattet46. Sukzessive entstand eine neue Auffassung über die Aufgaben und Ziele der Ar- menpflege. Es galt nun, die Not der Einzelnen zu beheben, indem „entsprechend [...ihrer, die Verf.] Arbeitsfähigkeit so weit wie möglich verwertet [werden, die Verf.]“47. So wurde die Arbeitspflicht allmählich eingeführt und die Arbeitsunfähigkeit wurde zu dem Emp- fangskriterium öffentlicher Unterstützungsleistungen48. Ab dem 15. Jahrhundert wurden die Grundzüge der bürgerlichen Fürsorge, die sie in Deutschland auch weiterhin bestimmen sollten, immer deut- licher sichtbar49. Neben der zunehmenden Restriktion der traditionel- len Almosenpraxis50 wurde die „Almosenpolitik“ mit erzieherischen Maßnahmen verknüpft. In Armenschulen und Waisenhäusern sollten nunmehr insbesondere die Kinder der armen Leute zur Selbständig- keit und Arbeit umerzogen werden51. Ausgebaut und modifiziert wur- de die behördliche Armenpflege in den Städten insbesondere im 16. Jahrhundert und wirkte sich mit ihren Reformen einschneidend auf den gesellschaftlichen Umgang mit den Armen aus52. Zur Zeit des Absolutismus erhob der Staat einen umfassenden Anspruch auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung einschließlich der Regu- lierung von Wirtschaft und Armenwesen. Das Armenwesen wurde nun, neben der Zuständigkeit von Gemeinden und Kommunen, auf den Staat übertragen und zunehmend verstaatlicht53. In Verbindung mit der merkantilistischen Wirtschaftsförderung und der armenpoli- zeilichen Bekämpfung des Bettelns traten die preußischen Zucht- hausgründungen in den Vordergrund. Diese sollten neben den neu gegründeten Werks- und Arbeitshäusern zur Disziplinierung der Ar- men dienen54. Im Laufe des 17. Jahrhunderts begann damit eine staatlich legitimierte und gesetzlich verankerte Bestrafung von Land- streicherInnen und BettlerInnen55. Die weitgehende Entwicklung zur Verstaatlichung des Armenwesens hatte die auffällige Verdrängung der Kirchen aus den öffentlichen Fürsorgeeinrichtungen zur Folge. Von nun an erfolgte eine Polarisierung der nicht - staatlichen Hilfeor- ganisationen gegenüber dem staatlichen Armenwesen und die priva- te Wohltätigkeit nahm Konturen an56. Mit dem zeitgleichen Aufkom- men des Pietismus57 geriet erstmalig wieder die Menschenwürde der Bedürftigen wie etwa die der Waisenkinder und Findlinge in den Blickwinkel58. Der Pietismus reagierte auf den von seinen Anhänger- Innen beobachteten Verfall mit einer intensiveren Hinwendung zum Nächsten und mit religiöser Erziehung. Er prägte weit über das 17. Jahrhundert die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Deutschland59. Ebenso hatte der Pietismus einen hohen Einfluss auf pädagogische Erneuerungen und Veränderungen und gilt damit als eine der Wurzeln der Sozialpädagogik60. Zum Ende des 17. Jahrhun- derts setzte die geistige Strömung der Aufklärung ein und beeinfluss- te das folgende Jahrhundert tiefgreifend. Das Weltbild, welches bis- her noch weit von den Ansichten der mittelalterlichen Kirche domi- niert wurde, erfuhr mit seinen Normen, Institutionen und Machtstruk- turen zunehmend an Kritik. Die geistesgeschichtlichen Theorien der Aufklärung wurden vor allem vom Bürgertum getragen und fanden Unterstützung in den aufstrebenden Naturwissenschaften. Als hand- lungsleitend galt jetzt die „menschliche Vernunft“ und das Vertrauen auf die „unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen“61. Die hieraus erwachsene Ansicht, dass jeder Einzelne in der Lage sei, seine Verhältnisse selbständig zu regeln und es aus eigener Kraft möglich wäre, die vollkommene „irdische Glückseligkeit“ zu errei- chen, begründete ein starkes Interesse an Erziehung und Bildung der Bevölkerung62. In die Kritik an den traditionellen gesellschaft- lichen Strukturen flossen Ansprüche nach Meinungsfreiheit und Tole- ranz ein, die in einer umfassenden Gesellschaftskritik mündeten und politische Forderungen beinhalteten. Die Theorie implizierte Lehren über Volkssouveränität sowie Widerstandsrecht gegenüber unge- rechter Herrschaft, erschütterte somit die Regierungsform des Abso- lutismus und bot dem aufstrebenden Bürgertum eine geeignete und wirkungsvolle Rechtfertigungsbasis63.

Die Armenpflege als öffentliche Unterstützung war nun umfassend anerkannt und geriet ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts un- ter die Einwirkung von Denkmodellen wie sie Adam Smith, David Ri- cardo und Thomas Malthus vertraten64. Den Theorien zur Folge hieß es, dass sich die Bevölkerung „am Gesündesten“ entwickeln würde, wenn sich der Staat weitestgehend aus den „natürlichen Gesetzen“ heraushielte. Für den Umgang mit den Notleidenden war die Folge, dass sie, die nun als „arbeitsunwillig“ und „arbeitsunfähig“ galten, nach dieser Sichtweise keine Unterstützung mehr erhalten sollten. Begründung fand die Ansicht darin, dass die Armen und Notleiden- den (und mit ihnen die Armut) aussterben würden, wenn man sie „nicht durch falsch verstandene, christlich motivierte Nächstenliebe am Leben erhält und sie noch dazu ermutigt, möglichst viele Kinder zu erzeugen“65. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts kam es so- dann zu Reformen des Armenwesens, die die Arbeitsverpflichtung der - von der Armut betroffenen - Personen in den Vordergrund stell- ten und das „Prinzip der Ehrenamtlichkeit“ der ArmenpflegerInnen einführten66. Durch die fortschreitende Industrialisierung kam es zu einem Ansteigen der Wanderungsbewegungen innerhalb Deutsch- lands „der Arbeit nach“67, wodurch sich nicht nur die Anforderungen an die Versorgung der Notleidenden68 änderten, sondern auch die traditionellen Strukturen der Lebensformen. Die Großfamilie, wie in der Zeit der Feudalherrschaft üblich, konnte weitgehend nicht mehr existieren. Es entstand die bürgerliche Kleinfamilie, die allerdings - auch auf Grund der veränderten ökonomischen Abhängigkeiten -, nicht mehr in der Lage war, die zuvor geleisteten umfassenden Er- ziehungsaufgaben zu bewältigen69. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts emanzipierte sich auch die Pädagogik von der Philoso- phie und Theologie in den Universitäten und bildete sich damit als ei- genständige Wissenschaftsdisziplin heraus. Innerhalb der Pädagogik stabilisierten sich bürgerliche Konzepte von „Kindheit“, die selbige als eigenständige Lebensphase und als höchst sensiblen und le- bensgeschichtlich prägenden wie folgenreichen Zeitabschnitt ansa- hen70. Zeitgleich gewann der Begriff der Familie eine Gefühlsbeto- nung, die zu vorhergehenden Zeiten nicht üblich war71, „Kindheit“ und „Mütterlichkeit“ wurden verbunden und im Bereich der Familie als unzertrennbar angesehen72. Die bürgerliche Frauenbewegung, welche als eine Wurzel der (beruflichen) Sozialarbeit gilt, formierte sich in ihren Anfängen zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Als Basis ihrer Anschauungen und Forderungen galt das Persönlichkeitsideal der europäischen Aufklärung und die politischen Leitprinzipien der französischen Revolution73. Die Frauenbewegung stellte das „Prinzip der Mütterlichkeit“ der sich ausweitenden und immer stärker einfluss- nehmenden technischen Rationalisierung entgegen und wollte ihrem Selbstverständnis zur Folge als Gegenpol zur Industrialisierung und ihren Folgen wirken. Auch in der Pädagogik fasste dieses „Mütter- lichkeitsprinzip“ Fuß74. Nicht zuletzt aus Angst vor sozialen Unruhen, ausgelöst durch die Verarmung großer Bevölkerungsmassen, und der Angst vor einem Übergreifen der frühsozialistischen Ideen aus England und Frankreich auf Deutschland, sollten auch in der Erziehung soziale Phänomene berücksichtigt werden75.

Insgesamt kann das 19. Jahrhundert in Deutschland als eine Zeit be- trachtet werden, die neben umfassenden gesellschaftlichen und wirt- schaftlichen Veränderungen gravierende politische Reformen mit sich brachte. Der weit tragende Durchbruch des Kapitalismus brach- te neue Formen der Armut zum Vorschein und in der Folge neue Modelle ihrer Bewältigung76. Dabei setzte sich langsam die Erkennt- nis durch, dass die Armut nicht unbedingt auf individuelles Fehlver- halten oder Ähnliches zurückzuführen sei, sondern auch als ein Re- sultat gelten kann, das seine Bedingung in der Veränderung des ge- sellschaftlichen- und wirtschaftlichen Gefüges findet77. Die Frage nach den Ursachen der Armut wurde sodann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gegenstand aller politischen Debatten78. Armut als Politikum führte zu einem Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Aufgabe des Staates bezüglich des Umgangs mit ihr. Aus der zuvor vornehmlich caritativen Leistung wurde nun eine staatliche Verpflich- tung abgeleitet, die mitunter als ein Ausgangspunkt der Verberuflich- ung und Professionalisierung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik gesehen werden kann79. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der Armenfürsorge und der Mittelzuteilung an die betroffenen Perso- nen gewann zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Prinzip der Tren- nung von Außen- und Innendienst an Bedeutung. Jener Grundsatz beinhaltete das Aufsuchen der oder des Hilfebedürftigen in der eige- nen Wohnung durch den Außenmitarbeiter80, der den Bedarf der be- troffenen Person zu ermitteln und zu überprüfen hatte und in der Fol- ge das Ergebnis seiner Tätigkeit an den Innendienst mit einer Emp- fehlung weiterleitete. Auf dieser Basis entschied der Innendienst dann über den zu gewährenden oder - häufiger - nicht zu gewähren- den Anspruch81. Institutionalisiert wurde die neue Organisationsform erst im sog. „Elberfelder System“82 und nachfolgend im „Straßburger System“83. Bereits dem Elberfelder System wird im Bezug auf die Entwicklung der Wohlfahrtspflege und der beruflichen Sozialarbeit bis hin zur heutigen Gestalt eine große Bedeutung zugesprochen. Auch die Pädagogik mit dem gezielten Einwirken auf eine Verhal- tensänderung der Hilfesuchenden etwa in Bezug auf eine „effiziente Leistungsverwertung“ seitens der Betroffenen wurde diesem System immanent84. Einhergehend mit den Entwicklungen und Reformen bil- dete sich die Forderung nach einer wissenschaftlichen Untersuchung der beobachteten Phänomene und eine Fundierung der Erkenntnis- se auf wissenschaftlicher Basis heraus85. Neben der öffentlichen Ar- menpflege entstanden zum gleichen Zeitpunkt vermehrt neue Hilfe- einrichtungen und eine eigenständige private Fürsorge begann sich zu institutionalisieren86.

Vor allem die Gründung des Deutschen Reiches 1871 und die Sozi- alpolitik Otto von Bismarcks übte nachhaltigen Einfluss auf die Wohl- fahrtspflege im Speziellen und der Sozialarbeit bzw. Sozialpädagogik im Allgemeinen aus. Die Reichsgründung und die (nachfolgende) - auch durch sie begünstigte - Entwicklung (etwa dem steten Industrie- wachstum bis hin zur „deutschen Industriegesellschaft“ mit ihren neuen Ballungsräumen), hatte wiederum weitreichende soziale und kulturelle Konsequenzen87 und schuf neue Erfordernisse für den Um- gang mit den auftretenden Problemen und beinhaltete neue Anforde- rungen an die soziale Arbeit. Die Sozialreform von Bismarck, die mit ihren Versorgungs- und Versicherungsprinzipien als Reaktion auf die Angst einer stärker werdenden (organisierten) Arbeiterschaft gese- hen werden kann und etwa zeitgleich mit der Einführung des „Sozia- listengesetzes“88 einherging, verbesserte die Lage der ArbeiterInnen merklich und führte zudem zu einer gesetzlichen Besserstellung und Existenzsicherung großer Bevölkerungsgruppen89. Diejenigen Men- schen, die keine Versorgungs- oder Versicherungsansprüche besaßen und nicht aus eigenen Kräften in der Lage waren, ihre Exis- tenz zu sichern, mussten ihren Lebensbedarf weiterhin durch die Ar- menpflege abdecken lassen90. Auch wenn die Armut, wie bereits be- schrieben, nun mehr als gesellschaftliches sozialbedingtes Problem angesehen wurde91, so war das Selbstverständnis innerhalb der öf- fentlichen wie auch nicht - öffentlichen Fürsorge zwar fachlich be- stimmt aber dennoch unpolitisch92, wie bereits Jahrzehnte zuvor. Da- bei zeichnete sich die Hilfe für die Notleidenden durch die reine „Symptombehandlung“ aus; die Ursachen, die in die Notlage geführt hatten, wurden hingegen vernachlässigt93. Die individualistische Be- trachtungsweise verfolgte das Ziel der „ganzheitlichen Erfassung und Behandlung der Bedürftigkeit“ und führte letztendlich in der weiteren Entwicklung der sozialen Arbeit zu einer Verfeinerung der Untersu- chungsmethoden, wobei psychologische und psychiatrische Ge- sichtspunkte in den Vordergrund traten. Bei dem Umgang mit den Betroffenen und ihrer Hilfsbedürftigkeit trat die Erziehung derselben in den Mittelpunkt94. Die Erkenntnisse hingegen, welche in der sozia- len Arbeit in Praxis und Theorie gewonnen wurden, wirkten sich entscheidend auf die Ausgestaltung der Sozialpolitik aus95.

Große Bedeutung für die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit als Beruf und einer anfänglichen Professionalisierung innerhalb der So- zialarbeit und Sozialpädagogik hatten Bestrebungen, die um die Jahrhundertwende einsetzten und in Deutschland in enger Verbin- dung mit der Person von Alice Salomon96 standen. Salomons Tätig- keiten in der Frauenbewegung, in der sozialen Arbeit und alsdann auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den genann- ten Gebieten sowie ihr nachfolgendes Engagement in der (Sozial-) Politik, wurden eingangs durch das Interesse geleitet, jungen Frauen des gehobenen Mittelstandes aus ihrer „Nutzlosigkeit“ zu verhelfen, indem sie an soziale Hilfstätigkeiten und damit an eine sinnvolle Be- schäftigung herangeführt werden sollten97. Korrespondierend mit der aufkommenden Kritik - vor allem seitens der Frauenbewegung - an den bisherigen Hilfen98, bestand ein weiteres Interesse daran, die in der sozialen Arbeit Tätigen zu qualifizieren - verbunden mit der For- derung nach einer qualifizierten Ausbildung von Frauen überhaupt. Mitunter auf dieser Basis - der negativen Bewertung vorhergegange- ner Hilfsleistungen und der Forderung nach einer qualifizierten Be- rufsperspektive für die Frauen - wurden im Dezember des Jahres 1893 die ersten „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsar- beit“ in Berlin gegründet, die das Ziel der Verwirklichung einer kom- petenten planvollen sozialen Arbeit verfolgten99 und somit als Weg- bereiterinnen von Sozialarbeit und Sozialpädagogik als fachlich fun- dierten Beruf gelten können.

Etwa zeitgleich, um die Jahrhundertwende, formierte sich die bürger- liche Jugendbewegung. Innerhalb der Pädagogik griffen neue Kon- zepte, die in der sog. „Reformpädagogik“ mündeten. Beide Bewe- gungen - Jugendbewegung und Reformpädagogik - wirkten sich anhaltend auf die Sozialpädagogik aus100. Mit den neuen Entwicklun- gen in der Pädagogik bzw. Sozialpädagogik fasste die Abkehr der rein individuenbezogenen Erziehung und Intention Fuß und die Er- kenntnis der gesellschaftsgestaltenden Funktion mittels der Fachdis- ziplinen avancierte zum Grundsatz. So ging etwa Herman Nohl da- von aus, dass es zwei Möglichkeiten gebe, den Staat zu gestalten: auf der einen Seite die Politik und auf der anderen Seite die Pädago- gik101. 1908 schließlich gründeten die „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ in Zusammenarbeit mit dem „Pestalozzi - Frö- bel - Haus“, das schon zuvor Kindergärtnerinnen ausbildete, die So- ziale Frauenschule in Berlin. Die Stelle der Direktorin wurde an Salo- mon vergeben102. Salomon wie auch andere sahen die Sozialarbeit bzw. Sozialpädagogik als Tätigkeit an, die nicht politisch sei bzw. „unpolitisch“ sein müsse. In Bezug auf die neu geschaffene Ausbil- dung bemerkte sie: „[...] ein Prinzip, das ich immer vertreten hatte - die Politik aus der Schule rauszuhalten. Die soziale Arbeit [...] ist eine Annäherungsweise an die Probleme der Gesellschaft; Politik ist eine andere“103. Gleichwohl lehnte Salomon einen rein „individuali- sierenden Ansatz“ in der sozialen Arbeit ab104.

Dennoch darf nicht verkannt werden, dass in der sozialen Arbeit eine gesellschaftskritische Sichtweise über Problemlagen wie etwa über die Armut nicht weit verbreitet war bzw. vor allem in wissenschaft- lichen Zusammenhängen eine individuenbezogene Sichtweise domi- nierte. Beispielhaft seien hier neue psychiatrische Forschungen ge- nannt, die zu der Auffassung gelangten, dass es sich bei Stadt- oder Landstreichern überwiegend um „Geisteskranke“ handele105. Diese Ergebnisse wirkten sich beeinflussend auf die Theorie und Praxis der Armenpflege aus106.

Mit dem Ersten Weltkrieg und der Verarmung breiter Bevölkerungs- massen, wie auch großen Teilen des Mittelstandes, wurde eindring- lich sichtbar, dass die Armut nicht auf individuelles Fehlverhalten zu- rückzuführen, sondern gesellschaftlich bedingt war107. Die kriegsbe- dingten Massennotstände stellten den Staat vor neue Aufgaben - nicht zuletzt um den Kriegsverlauf nicht zu behindern - und damit die Hilfen für in Not geratende Menschen vor neue Anforderungen. Fol- gend kam es zu einer Ausdehnung der öffentlichen Leistungen für die Einzelnen, um den Sicherheitsansprüchen der Bevölkerung an- nähernd zu genügen108. In der Konsequenz führte das zu einer Ver- staatlichung der Fürsorge, aber auch zu einem Zusammenwachsen der öffentlichen und privaten Fürsorge - womit sich der Charakter der privaten Wohltätigkeit grundlegend veränderte109. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die anfänglichen Subventionsbeziehungen im Zu- sammenhang mit dem Emportreten der ersten Spitzenverbände der privaten Wohlfahrtspflege ausgebaut und planmäßig organisiert. Die Leistungen dieser Institutionen hingen nun weitestgehend von öffent- lichen Mitteln ab und konnten somit weitgehend von der öffentlichen Hand gesteuert werden110.

[...]


1 Ich studierte zu dieser Zeit an einer Fachhochschule im Grundstudium und beteiligte mich an den diversen Aktivitäten.

2 Vgl. die Resolution der Studierendenschaft der Ev. Fachhochschule Hannover vom 03. 12. 1997. Genau heißt es im letzten Absatz: „Wir brauchen eine andere Politik, eine gesamtgesellschaftliche Veränderung, die sich an den Interessen und Bedürfnissen aller Menschen orientiert. Wenn wird das erreichen wollen, müssen wir aus der Zuschauerdemokratie heraustreten. Wer soll das tun, wenn nicht wir, und wann wenn nicht jetzt [sic!]. Wir brauchen ein aktives Bündnis für soziale Demokratie“ [Hervorheb. durch die Verf.]. Nicht unerwähnt bleiben soll hier, dass ich selbst daran beteiligt war, die Resolution zu verfas- sen. Wie auch heute, distanzierte ich mich bereits damals von der Aussage, da sie m. E. in aller Konsequenz bedeutet hätte, „mich selbst zu bestreiken“.

3 Vgl. diverse Resolutionen der Fachhochschulen und Hochschulen in der Bundesrepublik, ex- emplarisch die Resolution der Fachhochschule Bochum vom 28. 11. 1997, die Resolution des Fachbereiches Informatik an der Universität Ulm vom 08. 12. 1997, die Resolution der Universi- tät Osnabrück in der erweiterten Fassung vom 12. 12. 1997, die Resolution der Universität Hannover (o. Datum), Flugblätter der Universität Hannover zur Demonstration am 04. 12. 1997, Aussagen in der Würzburger Zeitung Main Post vom 27. 11. 1997, der Frankfurter Rundschau vom 11. 08. 1998 und des „Streikkuriers“ der Universität Hamburg vom 01. 12. 1997.

4 Die Resolution der Fachhochschule Bochum wurde beispielsweise mit 90 % der, bei der Vollversammlung 1200 - 1500 anwesenden, Studierenden angenommen (vgl. die „Streik News“ der Fachhochschule Bochum vom 01. 12. 1997), andere Abstimmungsergebnisse zeichneten sich ebenso durch hohe Mehrheiten aus (vgl. auch die Presseerklärung der Studierendenschaft der Evangelischen Fachhochschule Hannover vom 01. 12. 1997 und der Aufruf zur Vollversammlung des AStA der Universität Trier vom 24. 11. 1997).

5 Im Folgenden verwende ich überwiegend die Berufsbezeichnung der Sozialarbeit, schließe je- doch die Sozialpädagogik ein. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich beide Begriffe weitgehend synonym verwenden - es sei denn, eine Trennung ist sinnvoll oder unvermeidlich. Spreche ich von „sozialer Arbeit“ beziehe ich mich ausschließlich auf die Sozialarbeit bzw. Sozialpädagogik, auch wenn dem Begriff an und für sich eine darüber hinausgehende Bedeutung innewohnt. Zum weiterführenden Begriffsverständnis vgl. Kapitel 2. 1.

6 Dieses Bild begründete sich aus Erfahrungen, die ich in meiner eigenen Jugendzeit mit SozialarbeiterInnen machten durfte. Ich erlebte sie hier als (politisch) an Gesellschaftsgestaltungsprozessen beteiligt (z. B. in der Jugendzentrumsbewegung) und für mich in einer Vorbildfunktion. Auch als Erzieherin in der Heimerziehung und damit als Kollegin von SozialarbeiterInnen stellte ich mir den Beruf der Sozialarbeiterin nicht nur wegen der theoretischen und wissenschaftlichen Fundierung als erstrebenswert vor, sondern auch wegen der vielfältigen Möglichkeiten der Einflussnahme im Rahmen von sozialer Arbeit. Mein Idealbild der Sozialarbeiterin bzw. des Sozialarbeiters ließ sich zu Beginn des Studiums so mit folgenden Charakteristika beschreiben: sozial, intelligent und vor allem politisch.

7 Hier sei insbesondere an die Schwierigkeiten von geduldeten Flüchtlingen gedacht, die durch die deutsche Asylpolitik gezielt aus gesellschaftlichen Zusammenhängen ausgegrenzt werden. Ist beispielsweise ein Aufenthalt in Sammelunterkünften - teilweise über Jahre - auf engstem Raum vorgeschrieben, so ist von der Herstellung neuer Belastungen und Notlagen auszuge- hen.

8 Vgl. dazu auch Exner 1975, S. 154

9 So zum Beispiel in den Fachbüchern „Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen“ von Walter Hollstein und Marianne Meinhold [Hrsg.] von 1973 und „Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus“ des Autorenkollektivs von 1978.

10 Wie z. B. thematisiert in den Büchern „Werte - Orientierung in der sozialen Arbeit“ von Norbert Wohlfahrt [Hrsg.] des Jahres 1997 und in der Veröffentlichung von Konrad Maier „Berufsziel Sozialarbeit/ Sozialpädagogik“ aus dem Jahre 1995.

11 Vgl. Kapitel 2. 2 Auf die spezifische Ausbildungssituation in der ehemaligen DDR - auch im Bereich der sozialen Berufe - werde ich nicht eingehen, zumal mit der Wiedervereinigung das Schul- und Ausbil- dungssystem Ostdeutschlands dem des Westens angepasst wurde. Auch die Fachhochschu- len und Hochschulen wurden mit dem 01. September 1991 in die Strukturen des westdeut- schen Bildungssystems überführt (vgl. Wagner/ Sydow 1991, S. 102).

12 Wie z. B. in der Arbeit von ehemaligen DrogenkonsumentInnen, die andere Menschen in der Drogenszene betreuen und beraten.

13 Brandt 1996, S. 198

14 Zu dem in meinem Sinne verwendeten Begriff Professionalität vgl. Kapitel 3. 2. 2 und 3. 2. 3.

15 Ich denke hier z. B. an die zeitlich begrenzte Betreuung von Menschen in Seniorenheimen.

16 Vgl. etwa Kunow 1981, S. 10 ff. und Maier 1995, S. 61 ff.

17 Vgl. Bock 1997, S. 837

18 Ebd.

19 Verwendet wurde die Bezeichnung „Socialpädagogik“ zum ersten Mal 1844 von dem Pädago- gen Karl Mager in einem sehr umfassenden Sinn, nämlich als „die Theorie der gesamten, in ei- ner gegebenen Gesellschaft vorkommenden Erziehung, einschließlich der Deskription der ge- schehenden Praxis“ (Mager 1844, zit. in: Kronen 1980, S. 61 f.). Konkretisiert und schriftlich fixiert wurde der Begriff 1850 von dem Pädagogen Adolf Diesterweg im „Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer“ ( vgl. Mollenhauer 1987, S. 7 ff. und 133).

20 Mollenhauer 1987, S. 121

21 Vgl. Hornstein 1995, S. 16

22 Vgl. Mollenhauer 1987, S. 7 und Mühlum 2001, S. 18

23 Vgl. Bock 1997, S. 837

24 Für Alice Salomon (1872 - 1948), die als eine der ersten und prägendsten Wegbereiterinnen der Sozialarbeit als Beruf gilt und darüber hinaus die Begründerin der ersten sozialen Frauen- schulen war, war die Sozialarbeit beispielsweise identisch mit der bürgerlichen Frauenbewe- gung (vgl. Sachße/ Tennstedt 1984, S. 86), sie bezeichnete die Sozialarbeit als „festumris- senen bürgerlichen Beruf [...], der bestimmte Kenntnisse, ein fachliches Können voraussetzt und die Möglichkeit des Lebensunterhaltes bietet“ (Salomon 1927, S. 4). Weitere Definitionen bezeichnen die Sozialarbeit zum Beispiel als „individuelle Hilfe für Notleidende“ (Pfaffenberger 1966, zit. in: Mühlum 2001, S. 21), „als Erziehung zur sozialen Haltung gegenüber den Mitmenschen“ (Bäuerle 1970, ebd.), „als Hilfe zum sozialen Funktionieren“ (Kamphuis 1973, ebd.), als „‘social treatment’ - Beratung und Behandlung von Einzelnen, Gruppen und Familien“ (Whittaker 1977, ebd.), „als Verhindern, Beheben und Mildern von persönlichen und gesell- schaftlichen Konflikten“ (BSH 1986, ebd., S. 22) oder als Mittel zur „Vermeidung, Aufdeckung und Bewältigung sozialer Probleme“ (DBSH 1997, ebd.). Die Sozialpädagogik verfügt über ebenso zahlreiche Definitionen, sie wird etwa bezeichnet als „alles was Erziehung aber nicht Schule und Familie ist“ (Bäumer 1929, ebd., S. 18), „als Gefährdeten- oder Verwahrlostenpäda- gogik“ (Wilhelm 1961, ebd., S. 19), „als Pädagogik der Lebenshilfe oder der Notfälle“ (Röhrs 1968, ebd.), „als Praxis und Theorie einer Erziehung“ (vgl. Mollenhauer 1974, S. 19), „als Theo- rie der Jugendhilfe“ oder aber „als Ordnung der Gesellschaft mit erzieherischen Mitteln“ (ebd. 1977, S. 134).

25 Mollenhauer 1987, S. 14

26 Brandt 1996, S. 165

27 Es ist Markus Engelmann am Beispiel der Jugendhilfe gelungen aufzuzeigen, wie durch eine weitere Trennung der beiden Disziplinen eine Stigmatisierung der Klientel weitergeführt werden könnte, die ihren Ursprung in den Entwicklungsintentionen der Sozialarbeit bzw. Sozialpädago- gik als strukturelle Hilfe findet. Demzufolge richtete sich die Sozialarbeit an Adressaten der „un- teren Schicht“ (Engelmann 1999, S. 88), die über unzureichende materielle Mittel und Bildung verfügten. Die Mittel, die im Umgang mit der Klientel eingesetzt wurden, waren dabei repressiv und stigmatisierend, um Kontrolle und Herrschaft über diese Gruppe zu sichern. Die Sozialpäd- agogik hingegen verfolgte die Intention - hier im Falle der Jugendhilfe -, der eigenen bürgerli- chen Jugend etwas zu bieten, um sie vor dem Absinken in die Jugendfürsorge zu bewahren, diesem entgegenzuwirken und gleichzeitig die Kontrolle über sie durch die Erwachsenen und ihrer Wertvorstellungen zu sichern (ebd.).

28 Vgl. Erler 2000, S. 16 Auch ich werde - auf der Grundlage der nachfolgenden Definition im Text - die Begriffe in Be- zug auf die gegenwärtige Tätigkeit synonym verwenden. Auf Grund der besseren Lesbarkeit verwende ich die unterschiedlichen Bezeichnungen „Sozialarbeit“, „Sozialpädagogik“ oder „so- ziale Arbeit“ abwechselnd im Text. In Bezug auf die Vergangenheit ist die Unterscheidung zum Teil notwendig, auf die Unterschiede wird insbesondere in Kapitel 2. 2 hingewiesen.

29 Vgl. Gildemeister 1983, S. 105

30 Was unter der Sozialpolitik zu verstehen ist, ist ebenso bis heute nicht eindeutig definiert wor- den (vgl. Bellermann 2011, S. 16 ff., Exner 1971, S. 236 und Schäfer 1997, S. 890); in Anleh- nung an Schäfer, bezeichne ich als „Kern der Sozialpolitik die Einkommensumverteilung durch soziale Sicherungssysteme“ (Schäfer 1997, S. 890). Die Ausgestaltung und Verwendung des Wortes „Sozialpolitik“ ist dabei abhängig vom gesellschaftlichen Wandel bezüglich politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher und demographischer Entwicklungen (vgl. Bäcker/ Bispinck u. a. 2000, S. 6) und „von verschiedenen ideologisch fundierten gesellschaftspolitischen Leitbil- dern geprägt“ (Exner 1971, S.236).

31 Müller 1998, S. 12

32 Vgl. Scherpner 1974, S. 51

33 Vgl. Berger 2001(a), S. 40 Das hohe Mittelalter um 1200 wird häufig als Zeitraum bezeichnet, in dem sich die Entwick- lung von sozialer Arbeit nicht nur in der Praxis sondern auch in ihren theoretischen Anfängen zurück verfolgen lässt (vgl. Engelke 1998, S. 26 f.). Da sich im Mittelalter auch die ersten, heu- te noch gültigen, Staatsformen mit ihren Institutionen herausbildeten, sowie das Emporkom- men des Bürgertums zu beobachten war, lassen sich die Wechselbeziehungen in der Entste- hung von sozialer Arbeit als Beruf und gesellschaftlichen bzw. staatlichen Entwicklungsprozes- sen ab dieser Epoche besonders gut nachzeichnen.

34 Vgl. Engelke 1998, S, 33 und Sachße/ Tennstedt 1980, S. 29

35 Vgl. Engelke 1998, S. 33 ff.

36 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 29 und Scherpner 1962, S. 97 Die Verankerung dieser religiösen Gedanken findet sich im Mittelalter in den Soziallehren des Katholizismus wieder und ist eng verbunden mit dem Namen Thomas von Aquin (um 1225 - 1274). Von Aquin als Verfechter der scholastischen Gesellschaftslehre und der darin enthal- tenden Ständeordnung verfügte über einen großen und prägenden Einfluss auf die Sozial- und Wirtschaftsordnung des Mittelalters. Die Thesen von Aquins waren in der Kirche selbst heftig umstritten, da sie den Herrschaftsinteressen zahlreicher Bischöfe und Theologen entgegen sprachen (vgl. Scherpner 1962, S. 29 und Engelke 1998, S. 39).

37 Vgl. Scherpner 1962, S. 27 ff.

38 Vg. Engelke 1998, S. 34

39 Ebd., S. 27 Etwas später wurde die Betrachtung von sozialen Problemen von der Theologie getrennt und in andere, sich aus der Philosophie neu entwickelten, Wissenschaftsdisziplinen übertragen (ebd.).

40 Vgl. Mühlum 2001, S. 21 Das geschah insbesondere im Hinblick auf wirtschaftliche Aspekte (ebd.); demzufolge sollten die in Armut lebenden Personen mit den ihnen zur Verfügung stehenden bzw. zur Verfügung gestellten Mitteln besonders wirtschaftlich umgehen. Insgesamt waren die „Hilfegedanken“ im 12. Jahrhundert sowie die Verwirklichung der „Hilfe“ von dem Interesse der „öffentlichen Ord- nung“ dominiert und wirkten sich in der Regel diskriminierend auf die Handlungsadressaten aus (vgl. Peters 1975, S. 152).

41 Vgl. Engelke 1998, S. 34

42 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 38 und Sachße/ Tennstedt 1983 (a), S. 36

43 Vgl. Scherpner 1962, S. 43

44 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 38 und Scherpner 1962, S. 45 ff.

45 Die Reglementierung der Unterstützung für arme Menschen wurde in städtischen Bet- telordnungen festgehalten. Die erste Ordnung dieser Art entstand ca. 1370 in Nürnberg und verbot das Betteln vor Kirchen. An anderen Orten war es unter bestimmten Voraussetzungen zulässig (beispielsweise zeitlich eingeschränkt und nach einer Bestätigung der Bedürftigkeit einheimischer Bettelnder). Die Zuständigkeit der Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut ne- ben Familie und Grundherrschaft von Kirchen (den Bischöfen und den Klöstern) wurde durch die Städteordnungen nicht berührt. Die Klöster waren bis ins späte Mittelalter die bedeutsamen Zentren für die Armenfürsorge (vgl. Sachße/ Tennstedt 1983 (a), S. 41 f.) und eine Almosen- vergabe von Seiten dieser Einrichtungen ist noch im 16. Jahrhundert zu beobachten (vgl. Korff 1983, S. 19). Zunehmend jedoch waren die Kirchen mit der Armenfürsorge (z. B. auf Grund des gestiegenen Bevölkerungswachstums) überfordert und die Städte gewannen hinsichtlich dieser Aufgabe zunehmend an Bedeutung (vgl. Sachße/ Tennstedt 1983 (a), S. 41).

46 Ebd., S. 44

47 Scherpner 1962, S. 170

48 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 14

49 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1983 (a), S. 34

50 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 30

51 Vgl. Berger 2001(a), S. 45 Der Entwicklungsprozess der Armenfürsorge lässt sich nach Sachße/ Tennstedt mit den Wor- ten der Kommunalisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung beschrei- ben (vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 30). Die Bürokratisierung der Armenpflege beruht vor al- lem auf der Einrichtung eines Verwaltungsapparates, der Trennung von Amt und Person, der Errichtung einer Hierarchie und die Einführung der Aktenführung (ebd., S. 33). In der Institutio- nalisierung von sozialer Arbeit kommt erstmalig das „Doppelmandat“ - die Hilfe und die Kon- trolle innerhalb der sozialen Arbeit zum Ausdruck (vgl. Sünker 2000, S. 74).

52 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1983 (a), S. 34

53 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 86 und dies. 1983, S. 100

54 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 113 ff.

55 Ebd., S. 30

56 Ebd., S. 130

57 Bei dem Pietismus handelt es sich um eine religiöse Erneuerungsbewegung innerhalb der pro- testantischen Kirchen, die sowohl nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklungen in der lutheri- schen und der reformierten Kirche als auch auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben in den kontinentaleuropäischen Ländern ausübte (vgl. Wallmann 2005, S. 21; zum Begriffs- verständnis des Pietismus und der damit zusammenhängenden Kritik vgl. ebd., S. 22 ff.). Mit dem Pietismus verbunden war das Ziel der „Erneuerung des frommen Lebens“ (Gryger 2013, S. 5), welches sich sowohl auf das individuelle als auch auf das gemeinschaftliche Leben aus- wirken sollte und auswirkte (vgl. Wallmann 2005, S. 21 und Gryger 2013, S. 5 f.). Als Begrün- der des lutherischen Pietismus gilt Jacob Spener (1635 - 1705) (vgl. Gryger 2013, S. 8 ff. und Wallmann 2005, S. 67 f.). Die „Blütezeit“ des Pietismus mit seinem Einfluss auf die (Sozial-) Pädagogik sieht Klaus Mol- lenhauer erst in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, als sich die Gemeinschaftsformen aufgrund der Industrialisierung änderten und sich der bereits erwähnte Verfall des religiösen und gesellschaftlichen Lebens deutlicher als je zuvor bemerkbar machte (vgl. Mollenhauer 1987, S. 24).

58 Vgl. Buchkremper 1982, S. 93

59 Spreche ich von „Deutschland“ benutze ich die Bezeichnung synonym zu den jeweiligen histo- rischen Epochen, es sei denn, es ist sinnvoll oder notwendig, eine sprachliche Unterscheidung zwischen „Deutschem Reich“, „Weimarer Republik“ oder „BRD“ zu verwenden.

60 Vgl. Engelmann 1999, S. 11

61 Bibliographisches Institut/ F. A. Brockhaus AG [Hrsg.] 2002, Schlagwort: „Aufklärung“ und Stahmann 2005 in: http://www.grin.com/de/e-book/43945/immanuel-kant-paedagogik-im-Sinneder-aufklaerung [30. 08. 2013]

62 Vgl. Bibliographisches Institut/ F. A. Brockhaus AG [Hrsg.] 2002, Schlagwort: „Aufklärung“. Der Ruf nach mehr Erziehung und Bildung hatte in seiner Konsequenz dabei durchaus eine ge- sellschaftsverändernde Absicht (ebd.).

63 Ebd.

64 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 227 und Müller 1998, S. 107 Adam Smith war britischer Moralwissenschaftler und lebte von 1723 - 1790, David Ricardo wur- de ebenfalls in England geboren und betätigte sich als Volkswissenschaftler, Thomas Malthus lebte von 1772 - 1823 und war britischer Nationalökonom und Sozialphilosoph (zu weitergehen- den Informationen vgl. Bibliographisches Institut/ F. A. Brockhaus AG [Hrsg.] 2002, Schlagwör- ter: „Smith, Adam“ bzw. „Ricardo, David“ und „Malthus, Thomas Robert“). Insbesondere die Theorie von Malthus hatte noch über das gesamte 19. Jahrhundert einen enormen Einfluss auf die praktische Ausgestaltung der Armenpflege und der Fürsorge und ließ sich erst zum Ende des Jahrhunderts allmählich zurückdrängen. Hans Scherpner spricht 1962 davon, dass sich die Ausläufer der Theorie „bis in die heutige Zeit beobachten [lassen, die Verf.]“ (Scherpner 1962, S. 114).

65 Müller 1988, S. 107

66 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1980, S. 125 Das „Prinzip der Ehrenamtlichkeit“ beinhaltete den Einsatz ehrenamtlicher Kräfte auf „allen Ebenen“ der Armenfürsorge und bedeutete nicht nur die inhaltliche Veränderung der Hilfeleis- tungen, sondern wies insbesondere auf den Wandel politischer und gesellschaftlicher Struku- ren hin. Wurde die Armenpflege, und damit das gesellschaftliche Phänomen der Armut, seit den Reformen des 15. und 16. Jahrhunderts unter die Obrigkeit der politischen Gewalt des Staates gestellt, so konnte mit der neuen Entwicklung das Auseinander treten von Staat und Gesellschaft nachvollzogen werden (ebd., S. 128).

67 Vgl. Müller 1988, S. 134 f.

68 Bisher galt bei der finanziellen Unterstützung das sog. „Heimatprinzip“, mit welchem die Her- kunftsgemeinde der Betroffenen für ihren Unterhalt zuständig war. Der fortschreitende Kapital- ismus aber verlangte flexible Arbeitskräfte, so dass das traditionelle Prinzip der Armenunter- stützung die Kapitalbewegung behindert bzw. ihr entgegen gewirkt hätte (ebd.).

69 Vgl. Blanke/ Sachße 1978, S. 18

70 Vgl. Sachße 1994, S. 103 f.

71 Vgl. Brunner 1956, zit. in: Blanke/ Sachße 1978, S. 18

72 Vgl. Sachße 1994, S. 103 Sachße spricht davon, dass sich das bürgerlich - pädagogische Konzept der Kindheit auf die spezifische Rolle der Frau in der Familie richtete. „Über die Bestimmung des Wesens der Frau als eines ‘Familienwesens’ ließ sich [...] die faktische Ungleichbehandlung der Frau, ihre juris- tische Entmündigung legitimieren“ (Sachße 1994, S. 104).

73 Vgl. Bibliographisches Institut/ F. A. Brockhaus AG [Hrsg.] 2002, Schlagwort: „Frauenbewe- gung“ und Karl 2011, S. 9 f. und S. 17 ff. Die Organisation der Frauenbewegung konnte in Deutschland etwa zeitgleich - bzw. in der Fol- ge - zur Zeit der Revolution um 1848 und einhergehend mit den derweilig liberalen Bestrebun- gen beobachtet werden. Der Gegenstand der bürgerlichen Frauenbewegung war die Stellung der Frau im Berufs- und Bildungswesen, ihre Stellung in der Ehe und Familie sowie im poli- tischen Leben. Entgegen des radikaleren linken Flügels der Bewegung stellte die bürgerliche Frauenbewegung die Hervorhebung des „spezifischen Wesens“ der Frau in den Vordergrund (vgl. Engelmann 1999, S. 27 und Sachße 1994, S. 101), das dem Begriff der „Mütterlichkeit“ immanent ist.

74 Vgl. Engelmann 1999, S. 14 Die „Mütterlichkeitspädagogik“ innerhalb der genannten Fachdisziplin wurde von Friedrich A. Fröbel (1782 - 1852) eingeführt und vertreten (ebd.).

75 Ebd., S. 11 und Mollenhauer 1987, S. 11

76 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1983 (b), S. 173

77 Vgl. Scherpner 1962, S. 137 f.

78 Vgl. Achinger 1979, S. 3

79 Vgl. Engelmann 1999, S. 21

80 Die kommunale Armenfürsorge wurde in ihren Anfängen ehrenamtlich ausgeübt und sukzessi- ve auf hauptamtlich Tätige übertragen und war hier ausschließlich den Männern vorbehalten. Frauen, die den Wunsch hatten, sich sozial zu engagieren, wurden auf die privaten Wohlfahrts- vereine verwiesen (zu der nicht - öffentlichen Wohltätigkeit, vgl. auch Anm. 87). Wolfgang Müller spricht davon, dass es sich bei der Tätigkeit zumindest in Preußen, um eine „Art patrioti- scher Frauenpflicht“ (Müller 1988, S. 137) gehandelt habe. Eingesetzt wurden die Frauen ins- besondere in der Krankenpflege, Altenpflege, in Erziehungsheimen oder Kinderheimen (vgl. Müller 1988, S. 137).

81 Ebd., S. 180

82 Das System wurde in der Stadt Elberfeld 1852 durch eine neue „Armenordnung“ eingeführt und baute auf den Grundsätzen der Dezentralisierung, Individualisierung und der Ehrenamtlichkeit auf (vgl. Helfer 1997, S. 257). Nach einem Rundschreiben im April 1867 war das Ziel des Sys- tems die „Förderung des wirklichen Wohlstands der Hilfebedürftigen“ (Sachße/ Tennstedt 1980, S. 215). Nach seiner Einführung wurde das Modell von mehreren Städten übernommen und teilweise modifiziert (vgl. Helfer 1997, S. 257).

83 Aufbauend auf das Elberfelder System löste das sog. „Straßburger System“ 1907 das Elberfel- der Modell ab. Besonders die Gründung des Deutschen Reiches 1871 hatte eine Vergrößerung der Städte und den massenhaften Zuzug der proletarischen Armutsbevölkerung zur Folge, so dass die traditionelle Armenfürsorge haltlos überfordert war (vgl. Sachße/ Tennstedt 1988, S. 23). Die Modifizierung des Armenwesens, welche sich in diesem neuen System manifestierte, übertrug vor allem die Entscheidung über die Zuwendung von Leistungen an Hilfesuchende und -bedürftige auf ein städtisches Armenamt und ersetzte die ehrenamtlichen Kräfte - zumin- dest bei den „schwierigen Fällen“ - durch bezahlte hauptamtlich Tätige (vgl. Müller 1988, S. 136 f.). Das neuartige System erforderte u. a. umfassende Rechtskenntnisse und Kenntnisse der neuen umfangreichen Verwaltungsstruktur, womit die Ehrenamtlichen häufig überfordert waren (vgl. Helfer 1997, S. 257 und Orthbandt 1997, S. 932).

84 Vgl. Engelmann 1999, S. 23

85 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1983 (c), S. 180

86 Vgl. Scherpner 1962, S. 177 Ein Gründungsursprung der privaten Wohlfahrtspflege kann in dem Unvermögen der Städte ge- sehen werden, zu Zeiten der enorm anwachsenden Industrialisierung mit der aufkommenden Massenarmut, den Wanderungsbewegungen, den Veränderungen der Infrastruktur etc. im Sin- ne der Betroffenen angemessen umzugehen bzw. das Leiden der Individuen abzuwenden (ebd.). Zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Preußen bereits 1680 Vereine, die dem Be- reich der privaten Wohltätigkeit zuzuordnen waren. Dabei handelte es sich um kirchliche, phil- anthropische und bürgerliche Vereine (vgl. Müller 1988, S. 137).

87 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1988, S. 15 So beinhaltete beispielsweise das Heranwachsen größerer Städte zu industriellen Ballungsräu- men erneute Binnenwanderung, in einem weitaus größeren Maße als zuvor bekannt, mit den bereits schon beschriebenen Auswirkungen auf die Infrastruktur der Städte und auf die Bevöl- kerung.

88 Das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat 1878 in Kraft und galt - unter mehrmaliger Verlängerung - letztendlich bis 1890. Die Sozialpolitik von Bismarck verfolgte zum einen das Ziel, die Lage der ArbeiterInnen zu verbessern, hatte aber auf der anderen Seite die Absicht, die Arbeiterschaft für den Staat zu gewinnen und damit ihre politischen Organisationen zu schwächen. Einhergehend mit der neuen gesetzlichen Absiche- rung der ArbeiterInnen und anderer Bevölkerungsgruppen, verbot das „Sozialistengesetz“ die Interessenvereinigungen der Arbeiterschaft und ermächtigte die Polizei mit der Auflösung der- artiger Vereine und weiterer reglementierender Maßnahmen (vgl. das „Gesetz gegen die ge- meingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vom 21. 10. 1878 in: www.documentarchiv.de/ksr/soz_ges. html [Stand: 26. 09. 2013] und Bibliographisches Institut/ F. A. Brockhaus AG [Hrsg.] 2002, Schlagwort: „Sozialistengesetz“).

89 Vgl. Orthbandt 1980, S.40

90 Vgl. Müller 1988, S. 180 Die Armenpflege wurde in der Regel nur für eine begrenzte Dauer geleistet und die Bedürftig- keit der Individuen mit strengen Maßstäben geprüft. Die Betroffenen unterlagen nach der Bewilligung der Leistungen reichlichen diskriminierenden Reglementierungen wie z. B. dem Verlust des Wahlrechtes (ebd.).

91 Unterstützt wurde diese Sichtweise weiterhin durch die Wissenschaft, die desgleichen der Re- formpolitik von Bismarck eine geeignete Legitimationsbasis bot. Zu beobachten war nun eine enge Verzahnung von Sozialwissenschaft und Sozialreform (vgl. Sachße/ Tennstedt 1988, S. 18 f.).

92 Ebd., S. 215

93 Vgl. Kramer 1995, S. 216

94 Vgl. Krug von Nidda 1955, S. 138

95 Vgl. Bartlett 1976, S. 21

96 Vgl. Müller 1988, S. 124 Alice Salomon wurde 1872 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie gebo- ren und starb 1948 in New York, wohin sie während des Nationalsozialismus emigriert war (vgl. Müller 2006, S. 56 ff.)

97 Vgl. Sachße 1994, S. 113 Eine Berufstätigkeit für Frauen „aus gutem Hause“ wurde zu jener Zeit als „nicht standesge- mäß“ angesehen, es existierten folglich keine Ausbildungsangebote und damit keine Berufsper- spektiven für Frauen (ebd., S. 112). Insofern beklagten viele Betroffene ihre bisherige Tätigkeit, die sich zum Beispiel in „ein wenig Haus- und Handarbeit, etwas Klavierspielen, einem Spazier- gang durch den Schlossgarten“ (Lange 1921, zit. in: Sachße 1994, S.112) oder im „Warten“ er- schöpfte (vgl. Sachße 1994, S. 112 f.).

98 Schon in der Vergangenheit existierten die sog. „Väterländischen Frauenvereine“, die beispiels- weise Unterstützung für hilfsbedürftige Wöchnerinnen boten, Kindergartenarbeit leisteten oder Volksküchen ins Leben riefen. Die Kritik an den bisherigen Tätigkeiten sprach von einer „spon- tanen Planlosigkeit“ und einem „gefährlichem Dilettantismus“ in diesen Institutionen (ebd., S. 109).

99 Ebd.

100 Vgl. Engelmann 1999, S. 18 Ausgangspunkt fand die bürgerliche Jugendbewegung in der Gründung des „Wandervogels“ 1896. Bei dem Wandervogel handelte es sich um einen Zusammenschluss von Jugendlichen, die fast ausschließlich Gymnasiasten der preußischen Gymnasien waren und mit ihren Freizeit- aktionen eine Alternative zum Schulalltag bilden wollten. Im Mittelpunkt dieser neuen Gruppen stand das Erlebnis der Gemeinschaft von Gleichaltrigen und Gleichgesinnten, welche einen ju- gendspezifischen Lebensstil verfolgten und das großstädtische Leben überwinden wollten. Die Entdeckung der Gruppe Gleichaltriger als Träger von Selbsterziehung übte nachhaltigen Einfluss auf die Pädagogik und Sozialpädagogik aus (vgl. Müller 1988, S. 149 ff.). Die Reformpädagogik griff die Gedanken der Jugendbewegung auf, indem sie etwa die Sichtweise „vom Kinde aus“ in ihren Konzepten verankerte (vgl. Tenorth/ Kallert 1997, S. 765).

101 Vgl. Buchkremper 1982, S. 14 Herman Nohl lebte von 1879 - 1960 und war als Pädagoge tätig. Nohl hat sich besonders da- durch verdient gemacht, dass er die Volkshochschulerziehung, Arbeitsschulerziehung, Land- schulheimerziehung u. a. in die Konzepte der Reformpädagogik einband (vgl. Tenorth/ Kallert 1997, S. 765).

102 Vgl. Müller 1988, S. 137 und Engelmann 1999, S. 32

103 Salomon 1983, S. 110 [Hervorheb. im Original] Mit dem vermehrten Engagement in der Ausbildung der Frauen verzichtete Salomon u. a. auf eine weiterlaufende politische Tätigkeit, da sie der Ansicht war „daß Menschen die sozial füh- ren und pädagogisch unter der Jugend wirken wollen, besser außerhalb des Parteikampfes ste- hen“ (Salomon 1926, zit. in: Müller 1988, S. 142). Andere, die sich mit Fragen der sozialen Ar- beit auseinandersetzten (wie beispielsweise Gertrud Bäumer [1873 - 1954] oder auch Herman Nohl), waren noch weiter in der (Parteien-) Politik tätig (vgl. Engelmann 1999, S. 20 und Buch- kremer 1982, S. 14 ff.). Wie auch heute fiel damals auf, dass es keine einheitliche Definitionen des „politischen Wirkens“ in der sozialen Arbeit gab.

104 Vgl. Willemsen/ Müller 1981, S. 132

105 So etwa bei Bonhoeffer 1900 und Willmanns 1902, zit. in: Baron 1995, S. 49

106 Vgl. Baron 1995, S. 49

107 Vgl. Sachße/ Tennstedt 1988, S. 65

108 Ebd.

109 Vgl. Sachße 1994, S. 204

110 Vgl. Achinger 1979, S. 120 Bei den Spitzenverbänden handelte es sich um den 1849 gebildeten „Centralausschuß für In- nere Mission der deutschen evangelischen Kirche“ (nach dem Zusammenschluss mit dem „Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V.“ 1957 im „Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V.“ vereinigt), dem 1859 gegründete „Deutschen Roten Kreuz“, dem 1897 gebildeten „Deutschen Caritasverband e. V.“ und der 1917 entstandenen „Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V.“.

Ende der Leseprobe aus 621 Seiten

Details

Titel
Das politische Selbstverständnis von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen in Studium und Praxis. Auswirkungen auf professionelles Handeln in der sozialen Arbeit
Untertitel
"Weglaufen, Mitlaufen, Amoklaufen?"
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
cum laude
Autor
Jahr
2014
Seiten
621
Katalognummer
V280520
ISBN (eBook)
9783656737506
ISBN (Buch)
9783656737483
Dateigröße
2765 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
weglaufen, mitlaufen, amoklaufen, selbstverständnis, sozialarbeiterinnen, sozialpädagoginnen, studium, praxis, auswirkungen, handeln, arbeit
Arbeit zitieren
Kathrin Dietrich (Autor:in), 2014, Das politische Selbstverständnis von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen in Studium und Praxis. Auswirkungen auf professionelles Handeln in der sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/280520

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