Was bedeutet „Ich glaube an Gott“ in der Praxis?

Das Apostolikum als Modell kontextueller Gemeindepädagogik


Fachbuch, 2014

72 Seiten


Leseprobe


Gliederung

Vorbemerkungen
Gemeindepädagogik als Arbeiten in Kontexten

Das Glaubensbekenntnis als Sammlung von Kontexten

Kontext 1: Ich glaube an Gott – meine Glaubensgeschichte

Kontext 2: Ich glaube an Gott – meine Glaubenspraxis

Kontext 3: Ich glaube an Gott – meine Glaubenswahrheit
Gott-Vater oder: Die Genderfrage
Jesus Christus oder: Probleme von Interkulturalität
Tod und Sterben oder: Umgang mit Endlichkeit
Die „Gemeinschaft der Heiligen“ oder:
Kirche als Dienstleisterin

Schlussbetrachtungen

Literatur zur Vertiefung

Vorbemerkungen

Gemeindepädagogik als Arbeiten in Kontexten

Auch wenn der Begriff und die Profession „Gemeindepädagogik“ erst in den 1970er Jahren aufkamen, durchzieht ihr Anliegen einer Kommunikation des Evangeliums die Kirchengeschichte seit den Anfängen. Als ein wechselseitiges Geschehen in unterschiedlichen Kontexten bietet sie Lernorte für neue Erfahrungen im Miteinander der Generationen und Interessengruppen (FRANZENBURG, 2010/2011; HEIMBROCK,2004).

Indem Gemeindepädagogik solche Orte gestaltet, macht sie das Evangelium erfahrbar in den alltäglichen Lebensgeschichten und den darin liegenden (religiösen) Grundfragen der Menschen (GRETHLEIN, 1994). Durch die Gestaltung und Begleitung von Lern- und Bildungsprozessen im kirchlichen Umfeld und durch den Perspektivenwechsel, Kirche aus der Perspektive der Menschen zu betrachten, verändern sich nicht nur Menschen, sondern auch Gemeinschaften. In der Kommunikation werden nicht nur Informationen ausgetauscht (Sachebene) und Beziehungen gestaltet (Beziehungsebene), sondern jedes beteiligte Subjekt erlebt dabei auch eine Veränderung im Ich, im eigenen Selbstbild, in den eigenen Werten und dem eigenen Lebensentwurf, im eigenen Selbstverständnis, die ebenfalls verbal oder nonverbal kommuniziert wird (WATZLAWICK, 2011).

Diese Feststellungen haben unmittelbare Auswirkungen auf gemeinde­pädagogisches Handeln: Im Miteinander der Generationen, aber auch im Wechselspiel von Individuum, Gemeinschaft, Inhalten und gesellschaftlichem Kontext bilden die genannten Ebenen ein komplexes Geschehen, das es sowohl in einer konkreten Situation (Unterrichtsstunde, Spiele­nachmittag, Gespräch) als auch im Blick auf die Gemeindekonzeption zu differenzieren gilt, um Widersprüche und Konflikte behandelbar zu gestalten.

Dabei ist das Streben der Menschen nach der Balance zwischen Unter- und Überforderung, nach reflexivem Bewusstsein der jeweiligen Situation, nach Handlungssouveränität und Sinnstiftung zu beachten. Es geht somit darum, im Umgang mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren zwischen Fordern und Fördern, Stützen und Schützen auszubalancieren. Daher ist es hilfreich, die Biografie der Beteiligten zu berücksichtigen und auf solche Schnittstellen zu fokussieren, die an Lebensübergängen zu finden sind (Taufe, Konfirmation, Trauung, Jubiläen, Beerdigung).

Das Glaubensbekenntnis als Sammlung von Kontexten

Um das Evangelium angemessen in bestimmten Kontexten kommunizeren zu können, braucht es Glaubensinhalte (fides quae) ebenso wie Glaubensformen (fides qua). Beide sind im Apostolikum in besonderer Weise miteinander verbunden, indem auf gemeinsame Weise, wie auch individuell ritualisiert, bekannt gemacht wird, dass es um die dreifache Begegnung mit Gott geht: um die Begegnung mit dem Gott, von dem die biblischen Geschichtsbücher, Propheten, Psalmen und Briefe erzählen; mit demjenigen, in welchem er sich einzigartig offenbart hat, Jesus von Nazareth, und mit demjenigen, der als seine besondere inspirierende und verbindende göttliche Kraft erfahrbar wird.

Durch diese Verbindung lassen sich theologische Begriffe als kristallisierte Erfahrung interpretieren und wieder in Erfahrung umformen, indem sie durch Elementarisierung, Konkretisierung, Ausdifferenzierung, Dekonstruie­rung und kreative Umsetzung gewissermaßen „verflüssigt“ werden. Das geschieht in einem existenziellen „Sprung“ in die Erfahrungswelt des Gegenübers (KIERKEGAARD, 1885; BUBER, 1995), in welchem sich beide ihrer eigenen Erfahrungswelt bewusst werden, indem sie einander die bewussten und unbewussten Anteile spiegeln. Dabei helfen Empathie, Authentizität und Kongruenz (ROGERS, 1961).

Auch wenn die Kontexte, in denen sich diese Prozesse abspielen, vielfältig sind und von der Einzellektüre über dialogische Kommunikation in Beratung, Seelsorge und Unterricht bis zu Gruppendiskussion, Vortrag und Andacht reichen und sich auf zahllose Inhalte, Themen und Fragestellungen beziehen können, lassen sie sich letztlich auf drei Grundkategorien zurückführen:

Die beteiligten Personen als jeweiliges Ich, den Kommunikationsprozess und seinen Inhalt.

Ähnliche Beobachtungen lassen sich beim Glaubensbekenntnis und seinen Vorstufen machen:

Das Symbol des Fisches lässt sich als bildhafte Bekenntnis-Vorstufe auffassen, die biblische Botschaft, Gottesbeziehung und Ritus miteinander verbindet:

Die griechische Form von Fisch - IXTHYS umfasst die Anfangsbuchstaben des Bekenntnisses, das übersetzt bedeutet: Jesus Christus, Gottes Sohn (unser) Heiland. Während die Charakterisierung Jesu als Christus/Messias, Gottessohn und Heiland das Evangelium zusammenfasst, bildet das symbolische Erkennungszeichen gleichsam die rituelle Form des Bekennens.

Bereits im Philipperhymnus werden beide Aspekte, Inhalt und Form miteinander kombiniert.

Auch wenn noch nicht trinitarisch entfaltet, taucht das doppelte Bekenntnis zum Schöpfergott und zum Leben im Geiste bereits zumindest ansatzweise ebenfalls auf:

„Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: „Jesus Christus ist der Herr" - zur Ehre Gottes, des Vaters.“ (Phil 2,5-11)

Dieser Bekenntnistext unterstreicht, dass Bekennen mit Gesinnung und menschlicher Gemeinschaft zusammenhängt.

Ein verschlüsseltes Symbol wie der Bekenntnis-Fisch lässt sich erfahrungs­bezogen entschlüsseln, indem die Sinne mit ins Spiel kommen.

Das zeigt sich am Philipperhymnus, der für moderne Leser ebenfalls verschlüsselt scheint:

Beim Entschlüsseln geht es wie im Glaubensbekenntnis um die Annäherung von göttlicher und menschlicher Sphäre. Dabei geht der Text entsprechend dem damaligen Weltbild von der vertikalen Kategorie aus (erniedrigt – erhöht, Himmel-Erde-unterirdisch).

Gleichzeitig wird aber auch ein alternatives Kategoriensystem angedeutet, das modernen Anschauungen eher enspricht, nämlich innen und außen: Ähnlich wie das „Entäußern“ ein „Verinnerlichen“ impliziert, spielt auch die Betonung des Namens mit den Kategorien von Nähe und Distanz. Diese Dialektik von oben - unten, innen - außen, vertraut - fremd ermöglicht es, entsprechende theologische Termini und Aussagen auf ihren Erfahrungsgehalt zurückzuführen und mit ihm zusammen zu vermitteln.

Der Weg dorthin führt über das Experimentieren mit unterschiedlichen Perspektiven und mit Perspektivwechseln. Das könnte z.B. so aussehen:

Wie fühlt es ich an, wenn ich oben stehe (auf Tisch oder Stuhl) und der/die andere unten? Was genau ändert sich, wenn die Positionen gewechselt werden?

Wie hoch kann ich mich strecken – wie tief komme ich zum Boden? Wie fühlt sich beides an?

Was assoziiere ich mit „oben sein“, was mit „unten sein“?

Wo hat Gott seinen Platz?

Wie fühlt es sich an, außerhalb eines Kreises zu stehen, wie innerhalb?

Was macht Menschen zu Außenseitern? Wie kommen sie wieder zurück in den Kreis?

Wie würde ich meinen (Vor-)Namen bildhaft darstellen? Wie sehen die einzelnen Buchstaben aus?

Wie wäre es umgekehrt mit dem Namen meines Gegenübers? Welche Bilder fallen mir da ein, wie sehen seine Buchstaben aus?

Welche erfreulichen Erfahrungen habe ich mit meinem Namen gemacht, welche weniger erfreulichen?

Kenne ich die (sprachliche/familiäre) Bedeutung meines Namens? Wie wichtig ist mir das?

Solche und ähnliche Anregungen helfen als dialogische Fragen oder schriftliche Aufgaben in einer Gruppenstunde, abstrakte Begriffe von Gott, Mensch, Ernierigung, Gehorsam, Gesinnung Bekenntnis sinnlich erfahrbar zu machen.

Eine Stufe weiter geht das Romanum (2. Jh.), das im 4.Jh. die Gestalt des Apostolikums erhielt und seit dem 9. Jh. zur Regel im Römischen (Karolinger-) Reich wurde. Anders als Fisch und Hymnus, zeigt es eindeutig trinitarische Gestalt, auch wenn die Gewichtung noch sehr christologisch ist:

Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen;

und an Jesus Christus, seinen einziggeborenen Sohn, unseren Herrn,

der geboren ist aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria,

der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und begraben wurde,

am dritten Tag auferstand von den Toten,

auffuhr in den Himmel,

sitzt zur Rechten des Vaters,

von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten;

und an den Heiligen Geist,

die heilige Gemeinde,

die Vergebung der Sünden,

Auferstehung des Fleisches.

Vor dem geschilderten Erfahrungshintergrund lässt sich diese Grundform in „Erfahrungssprache“ umformen:

Als Vorstufe gilt es die Begriffe zu sortieren, indem die entsprechend beschrifteten Karten im Raum vertikal und horizontal ausgelegt und in Beziehung gesetzt werden.

Das könnte z.B. so aussehen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In einem zweiten Schritt werden zu jedem Begriff Assoziationen gesammelt.

In einem dritten Schritt lassen sich auf diesem Weg neue erfahrungsbezogene Bekenntnisse formulieren.

Ein Beispiel:

Ich vertraue darauf, dass eine höhere Macht mich behütet.

Dieses Vertrauen beruht einzig und allein darauf, dass ein Mann aus Nazareth mit Namen „Gott hilft“ gelebt hat. Er hatte von Anfang an eine enge Verbindung mit dieser besonderen Macht und deshalb keine normale Geburt. Auch sein Ende war spektakulär, indem er den Kampf mit der römischen Staatsmacht aufnahm, damit in Konflikt geriet und zum Märtyrer wurde. Nach kurzer Zeit aber zeigte sich, dass seine lebendige Botschaft stärker war als der Tod, weil die beschützende höhere Macht bei ihm war und er mit ihr verbunden. Diese Lebens-Macht wird er all denen weitergeben, die sie besonders brauchen.

Ich vertraue auf diese besondere Macht und ihre Kraft, Menschen auch über Streitigkeiten hinweg, ja auch über den Tod hinaus zu vereinen.“

Um zu verdeutlichen wie es zur Ausformung allgemein gültiger Bekenntnisse kam und kommt, ist der Blick „hinter die Kulissen“ wichtig:

Ähnlich wie das Romanum im naturgeprägten Gallien und später bei den Karolingern um den Schöpfungsgedanken ergänzt wurde, könnten auch die modernen Fassungen noch Variationen erfahren, weil Elemente/Aspekte über­sehen oder überbewertet worden sind. Analog zu den altkirchlichen Konzilien braucht es dazu ein moderiertes Gespräch oder Planspiel, bei dem die unterschiedlichen Anschauungen, Interessen und Interpretationen erprobt werden. Ziel ist, ähnlich wie in Nicäa 325 und Konstantinopel 381, eine Be­kenntnisformulierung im Plural: Wir glauben….. Außerdem interessiert – ähnlich wie in Nicäa, die Frage welche Anschauungen und Interpretationen mit dem gemeinsamen Bekenntnis kompatibel sind und welche nicht.

Die Formel von Nizäa lautete:

Wir glauben an einen Gott,

den Vater, den Allmächtigen,

den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren.

Und an den einen Herrn Jesus Christus,

den Sohn Gottes,

der als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt ist, das heißt: aus dem Wesen des Vaters,

Gott aus Gott, Licht aus Licht,

wahrer Gott aus wahrem Gott,

gezeugt, nicht geschaffen,

eines Wesens mit dem Vater;

durch den alles geworden ist, was im Himmel und was auf Erden ist;

der für uns Menschen und wegen unseres Heils herabgestiegen und Fleisch geworden ist,

Mensch geworden ist,

gelitten hat und am dritten Tage auferstanden ist,

aufgestiegen ist zum Himmel,

kommen wird um die Lebenden und die Toten zu richten;

Und an den Heiligen Geist.

Nicäa 325

Am Nicäno-Konstantinopolitanum von 381 erkennt man die Ausdifferenzierungen:

Wir glauben an den einen Gott,

den Vater, den Allmächtigen,

der alles geschaffen hat, Himmel und Erde,

die sichtbare und die unsichtbare Welt.

Und an den einen Herrn Jesus Christus,

Gottes eingeborenen Sohn,

aus dem Vater geboren vor aller Zeit:

Gott von Gott, Licht vom Licht,
wahrer Gott vom wahren Gott,

gezeugt, nicht geschaffen,

eines Wesens mit dem Vater;

durch ihn ist alles geschaffen.

Für uns Menschen und zu unserem Heil

ist er vom Himmel gekommen,

hat Fleisch angenommen

durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria

und ist Mensch geworden.

Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus,

hat gelitten und ist begraben worden,

ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift

und aufgefahren in den Himmel.

Er sitzt zur Rechten des Vaters

und wird wiederkommen in Herrlichkeit,

zu richten die Lebenden und die Toten;

seiner Herrschaft wird kein Ende sein.

Wir glauben an den Heiligen Geist,

der Herr ist und lebendig macht,

der aus dem Vater (und dem Sohn) hervorgeht,

der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird,

der gesprochen hat durch die Propheten,

und die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche.

Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden.

Wir erwarten die Auferstehung der Toten

und das Leben der kommenden Welt.

Amen.

Dass innerhalb weniger Jahrzehnte mehrere Bekenntnisse aufgestellt wurden, unterstreicht die Bedeutung des 4. Jahrhunderts, in welchem die junge Staatskirche sich organisieren, ihr Profil gewinnen und sich abgrenzen musste. Auch ohne ausführliches Eingehen auf die dogmatischen Konflikte und Diskurse dieser Zeit lässt der Vergleich der Bekenntnisse schon wichtige Rückschlüsse auf ihre Funktion zu, die zu Analogien in späterer Zeit einladen

Bei der Verknüpfung von Erfahrung und Begriff in der Konstruktions-, De- und Rekonstruktions­phase spielen Bilder eine wichtige Rolle. Sie transportieren das oft nur schwer Formulierbare und bilden – wie sich bereits beim „Bekenntnis-Fisch“ zeigte - eine Stufe auf dem Weg von Glaubens­erfahrungen zu Glaubensbekenntnissen Wie konfliktreich dieser Diskurs ist, zeigt sich an der Geschichte des Glaubensbekenntnisses, das sowohl zur Selbstvergewisserung als auch der Abgrenzung diente.

Dabei spielte in der Geschichte, im Blick auf die Selbstvergewisserung, die Taufkatechese als Passageritus und Homologie ebenso eine Rolle wie die Unterscheidung zwischen Glaubensregel und Tradition; im Blick auf die Ab­grenzung zu konkurrierenden Bekenntnissen und Anschauungen ist es vor allem der antihäretische Charakter des Bekenntnisses, der zusammen mit Bischofsamt und Kanonbildung zur Konsolidierung der Kirche beitrug (LANCZKOWSKI, 1984).

Ähnliches betrifft auch die eigene Glaubensgeschichte jedes Menschen, in der die Identitätssicherung durch Vergewisserung und Abgrenzung ebenfalls im Mittelpunkt steht.

Im Folgenden sollen anhand der Grundkategorien von Person, Prozess und Projekt Anregungen gegeben werden, wie das vertraute (Apostolische) Glaubensbekenntnis zu einem Modell werden kann, Glaubenserfahrungen durch Sprachbilder kommunizierbar zu machen, gleichzeitig diese Konstrukte durch Ermittlung ihrer kontextuellen Metaphorik zu rekonstruieren, sie durch das Spiel mit ihnen zu dekonstruieren und so für neue Erfahrungen zu nutzen.

Kontext 1: Ich glaube an Gott – meine Glaubensgeschichte

Wie das allgemeine Bekenntnis zum persönlichen und erst dadurch wirksam wird, zeigt Luther im Kleinen Katechismus in seinen Erklärungen auf:

Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn‘ all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr. Ich glaube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr, der mich verlor‘nen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels; nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben; damit ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit. Das ist gewisslich wahr. Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewisslich wahr.

Auch wenn die Zeit des Katechismuslernens bereits seit längerem passé ist, lädt Luthers Form der Vermittlung zu kreativer Variation ein:

Betrachtet man die relative Fülle an Hinweisen auf die 1. Person, so zeigt sich, wie egozentrisch das Bekenntnis tatsächlich (implizit) ist, das primär Aussagen über Gott enthalten sollte.

Diese Anregung lässt sich dadurch aufnehmen, dass im Stil des Heidelberger Katechismus und seiner Nachfolger, d.h. in Frage und Antwort-Form Dreier­teams zusammenstehen: Während einer die einzelnen Aussagen des Apostolikums zitiert, fragt Nr. 2 nach jeder Aussage „Was habe ich davon?“ und Nr.3 versucht die Frage zu beantworten. Nach jeder Aussage wechseln die Positionen.

Als Vorübung kann die zentrale erste Frage des Heidelberger Katechismus mit Hilfe der bereits ausgefüllten Karten (Romanum) umformuliert werden, um in Erfahrungssätzen auszudrücken, dass Glaube vor allem und zunächst mein Glaube ist:

„Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkömmlich bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst hat und also bewahrt, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens versichert und ihm forthin zu leben von Herzen willig und bereit macht.“

Eine Lösung könnte lauten

Über den Tod hinaus vertraue ich darauf, dass die Zuversicht „Gott hilft“ (Jesus) keine Formel, sondern lebendige Erfahrung ist. Auch wenn ich im Alltag immer wieder mit Schuld und Versagen zu tun habe: Sobald ich mich auf diese neue Erfahrung „Gott hilft“ einlasse, bin ich in Kontakt mit der höheren Macht, die mich beschützt, und erlebe die Kraft, die daraus im Alltag und im Miteinander erwächst, die stärker ist sogar als der Tod.

Konsequenzen:

Betrachtet man die Geschichte des Glaubensbekenntnisses von den Anfängen bis heute unter dem Blickwinkel kontextueller Gemeindepädagogik, dann ergeben sich zahlreiche Anregungen, die oft hermetisch wirkende Terminologie zwischenzeitlich – in der Dekonstruktionsphase - durch erfahrungsbezogene Formulierungen zu ersetzen, um sie dadurch in der Rekonstruktionsphase mit diesen Erfahrungen aufzuladen.

Angewendet auf Grundkontexte bedeutet das:

1. Eigene Lektüre

Sich bewusst machen, dass Lesen nicht das Aufnehmen einer fremden, sondern das Konstruieren einer eigenen Realität bedeutet. Das gilt in besonderer Weise für religiöse und theologische Texte, in denen Zeitbedingtheit und existenzielle Bedeutung miteinander verschränkt sind. Die Beschäftigung mit dem Glaubensbekenntnis ermutigt dazu, in vergleichbaren Glaubens- und Lebensäußerungen hinter den zeitgebun­denen Formulierungen die spirituellen Erfahrungen herauszufinden, die sich in diesen abbilden.

2. Dialog

a. Beratung

Auch in den vielfältigen Formen direkter oder indirekter Beratung im Gemeindealltag sind Menschen mit den Lebens- und Glaubens­erfahrungen anderer konfrontiert, vielfach jedoch in verschlüsselter Form, die es erst zu entschlüsseln gilt.

b. Vermittlung

Ähnliches gilt für dialogische Vermittlungsform, z.B. als Mentorentum. Auch wenn hier die Inhalte bzw. Fertigkeiten im Mittelpunkt stehen, sind diese nur schwer von den Lebenserfahrungen und Glaubensüberzeugungen der Beteiligten zu trennen, die ihre Kommunikation prägen.

3. Gruppe

a. Vortrag

Nicht nur im Dialog, sondern auch bei Präsentationen und Vorträgen gilt das Gesagte:

Damit der Vortragsinhalt die Zuhörer auch wirklich erreicht und verankert wird, gilt es auch hier, Begriffe mit Erfahrungen zu ver­knüpfen.

b. Diskussion

Diskussionbeiträge wie auch deren Lenkung haben in diesem Kontext den Anspruch, dass nicht nur Äußerungen, sondern auch die dahinter verschlüsselten Botschaften und Subtexte von den Beteiligten aufgefasst, aufgegriffen und empathisch beantwortet bzw. erwidert werden.

Wie das konkret geschhehen kann, soll im Folgenden an einzelnen Aspekten des Glaubensbekenntnisses exemplifiziert werden.

Glaube und Naivität

Wenn es um die spirituelle Entwicklung und Praxis Spiritualität geht, spielt der Begriff „Naivität“ eine wichtige Rolle, der auch die Ausprägung von Glaubens­bekenntnissen und das Verhältnis von Begriff und Erfahrung prägt.

Friedrich Schweizer, der sich intensiv mit diesen Fragen beschäftigt hat, sagt dazu:

„Wir wissen heute, dass sich diese Verwandlung von sehr konkreten und an­schaulichen Vorstellungen in symbolische Vorstellungen nur mithilfe eines Bildungsprozesses vollzieht. Das heißt, Kinder, die keine religiöse Begleitung, sei es in der Familie, im Religionsunterricht, im Kindergarten haben, erhalten keine Anstöße für diese Umwandlung ihrer religiösen Vorstellungen. Man weiß beispielsweise, dass Kinder, die aus nicht religiösen Elternhäusern kommen, auch im Erwachsenenalter häufig an solchen konkreten Vorstellungen von Gott, von Christus festhalten und sie deshalb ablehnen, weil sie sagen: In den Himmel haben wir doch Raketen geschossen und niemand hat Gott dort gesehen. Das heißt, was Kinder brauchen, ist eine sensible Begleitung, eine Begleitung im Jugendalter, im Erwachsenenalter, bei den Fragen, die sie im Blick auf die in der Kindheit erworbenen religiösen Vorstellungen haben. Ich meine deshalb, es hängt sehr viel davon ab - das kann man gerade an Himmelfahrt sehen - dass die alten Vorstellungen aus der christlichen Überlieferung in einer Weise übersetzt werden, dass sie heutigen Menschen mit ihren heutigen Fragen wieder etwas sagen können…. Es gab eine Zeit, in der man sagte: Erwachsenwerden heißt, allein vernünftig sein. Wir wissen, dass die menschliche Vernunft sehr begrenzt ist und inzwischen haben auch viele Menschen begriffen, dass die Probleme des Lebens sich allein mit der Rationalität nicht lösen lassen. Zu dieser Einsicht gehört aber auch eine Wiederaneignung der Bilder und Symbole aus den Traditionen, den religiösen Traditionen, für uns Christen natürlich aus der biblischen Tradition an erster Stelle. Manche nennen dies auch eine Rückkehr zu einer ersten Naivität als eine reflektierte, eine zweite Naivität dann, wie das Paul Ricoeur und früher schon Friedrich Schleiermacher genannt haben. Insofern würde ich heute sagen: Erwachsenwerden im Glauben heißt, auch einen neuen Zugang zum Kinderglauben zu gewinnen. (Interview, SWR 13. Mai 2010)

Angewendet auf Grundkontexte bedeutet das für das erwähnte Beispiel „Himmelfahrt“

1. Eigene Lektüre

Wenn ich Texte (biblisch und außerbiblisch) zum Thema lese, um mich auf einen Vortrag vorzubereiten, lese ich sie vor allem als Glaubens­aussagen. Ich versuche zu begreifen, welches Gottesbild und welche Christologie zugrunde liegt bzw. vermittelt wird; dann setze ich dieses Bild mit meinen eigenen Annahmen und Anschauungen in Beziehung, sodass ein innerer Dialog zwischen Text und Leser entsteht. Auch wenn dieser „virtuelle Erfahrungsaustausch“ zunächst überwiegend aus Spekulationen und Imaginationen besteht, vervollständigen die gewonnenen Infor­mationen das Bild immer mehr. Am Ende kommt es im besten Fall zu einer Bereicherung des Lesers durch Anreicherung der Text-Botschaft. Das könnte sich z.B. darin ausdrücken, dass ich im Text eigene Beispiele für „Himmelserlebnisse“ ergänze und gleichzeitig z.B. etwas über schamanische Rituale erfahre.

2. Dialog

In Beratungs- wie auch in Vermittlungssituationen wird dieser Erfahrungs­austausch real. Das bietet ebenso Chancen wie Herausforderungen: Auch wenn ich die Erfahrungen des anderen aus erster Hand mitbekomme, kann ich sie dennoch nicht oder missverstehen, weil mir meine eigenen An­schauungen im Weg stehen. Daher ist die Vorübung während der Lektüre hilfreich. Im realen Dialog helfen richtige Fragen.

Ein solcher Dialog könnte z.B. folgendermaßen ablaufen (F= Frage(nder),

A= Antwort(ender)).

Situation: Konfirmand kommt nach der Stunde zur Pfarrerin.

F: Als Sie neulich meinen Opa beerdigt haben, haben Sie doch gesagt, er ist jetzt bei der Oma im Himmel…

A: Ja, so ungefähr sinngemäß.

F: Vorgestern im Himmelfahrtsgottesdienst haben Sie erzählt, dass Jesus in den Himmel zu Gott aufgefahren ist. Nun haben wir aber in der Schule gelernt, dass der Himmel praktisch überall ist, nicht nur oben, wie die Menschen damals dachten. Jetzt verstehe ich nicht, wo Jesus und wo Opa und Oma sind…

A: Du hast da eine ganz wichtige Frage angesprochen, die Menschen über­all auf der Welt beschäftigt. Du hast doch sicherlich im Englischunterricht gelernt, welche Wörter Engländer, Australier, Amerikaner und andere englischs­prachige Menschen für den Himmel benutzen?

F: Ja wir haben gelernt, dass es im Englischen zwei Begriffe gibt, „heaven“ und „sky“. Aber so ganz habe ich das nie richtig verstanden.

A: Vielleicht bringt dich das der Antwort auf deine Frage näher, wenn du überlegst, von welchem dieser beiden Himmeln ich auf dem Friedhof und in der Kirche spreche und über welchen Himmel ich mich mit einem Astronomen oder Physiker unterhalten würde.

F: Ich glaube ich weiß, was Sie meinen. Das sagt auch unser Relilehrer immer; er hat keine Probleme, sich mit den Physik- und Bio-Kollegen über die Evolutionstheorie und Weltentstehung zu unterhalten und am Sonntag mit der Gemeinde das Bekenntnis an Gott den Schöpfer zu sprechen. Aber so ganz habe ich das immer noch nicht verstanden, wo nun der Himmel tatsächlich ist…

A: Nun, versuche mit deinem Gesprächspartner immer im Klaren zu sein, was ihr jeweils mit bestimmten Begriffen meint und damit verbindet, das hilft übrigens auch insgesamt bei Gesprächen.

Es kann also sehr gut sein, dass beide Seiten Recht haben. Hast du jetzt eine Idee, wo Jesus und wo dein Opa gerade sind?

F: Mh. Sie haben ja öfter vorgelesen, dass Jesus verkündet hat, er werde wieder zu seinem Vater gehen. Auch mein Opa hat damals bei Omas Tod gesagt, sie ist jetzt bei Gott und bei ihm sehen wir uns bald wieder. Damit weiß ich allerdings nur, dass er zwar im Himmel, aber nicht im sichtbaren ist…

A: Mehr kann dir auch kein Mensch sagen, aber vielleicht Gott, wenn du ihn danach fragst. Du hast mir ja mal erzählt, dass du zuhause regelmäßig betest. Viele Beter haben deutlich gemacht, dass Gott ihnen zumindest einen Wink oder Hinweis gegeben hat….

Soweit dieser fiktive, aber mögliche Dialog. Er zeigt, wie wichtig es ist, die Deutungs- und Handlungsmuster seines Gegenübers möglichst genau zu kennen, um angemessen, d.h. empathisch, authentisch und kongruent reagieren zu können.

3. Gruppe

Das gilt in ähnlicher Weise, wenn ich vor einer Gruppe einen Vortrag halte oder mit Menschen diskutiere. Auch hier hilft es mir, selbst wenn ich ihn nicht real durchführe, mir stets einen Dialog vorzustellen. Das kann dadurch geschehen, dass ich mich weniger auf das vorbereite, was ich sagen, sondern auf das, was ich aufnehmen will. Somit tritt an die Stelle des fertig ausgearbeiteten schriftlichen Konzepts eine Fragensammlung ähnlich wie beim Lektüre-Dialog, ergänzt durch Stichworte mit Zusatzinformationen.

Ein solcher Vortrags- und Moderationszettel zum Thema Himmelfahrt könnte so aussehen:

Himmelfahrt oder Vatertag

Sky oder Heaven

Glaube und Wissenschaft

Himmel im Jenseits oder im Diesseits

Himmel auf Erden

Wie Fowler, Oser/Gmünder und andere herausgefunden haben, vollzieht sich auch das Glaubensleben eines Menschen in Phasen, die jedoch kein festes Gerüst oder gar normativ aufzufassen sind, sondern vor allem als Erklärung für bestimmte Charakteristika kindlichen, jugendlichen oder erwachsenen Verhaltens: Diese Phasen verdeutlichen die Bedeutung der ersten und zweiten Naivität, d.h. die Notwendigkeit, das kindliche Urvertrauen in seiner intuitiv-undifferenzierten eigenen von der Bibel übernommenen Mythologie über die Interventionen und Einflüsse von gesellschaftlicher Konvention und wissenschaftlicher Reflexion hinüber zu retten in eine verantwortete und bewusste Re-Mythisierung im Sinne eines übergreifend-verbindenenden und universalisierenden Glaubens.

Für religions- und gemeindepädagogisches Handeln ergibt sich daraus, vorhandenes Urvertrauen zu stärken bzw. verlorenes neu zu beleben, auf Fantasiereisen, Symbole und Metaphorik zu setzen, die Rolle der Peer-group zu würdigen und eine Balance zwischen Entmythologisierung und neuen Mythen im Sinne einer „zweiten Naivität“ (RICOEUR, 2004) zu erreichen. Durch biografisches Arbeiten mit allen Altersstufen und die gemeinsame Entfaltung einer Erinnerungskultur kann zugleich - eine Form des Konfliktmanagement - die ausgesprochene oder unausgesprochen Frage Jugendlicher nach Gott als verbürgter Garant und Schlüssel authentisch angegangen werden (Nipkow), gleichgültig, ob dahinter das Bild eines persönlichen Schöpfers oder einer übernatürlichen Macht steht (Shell-Studie 2006).

Der Blick in die Entwicklungspsychologie zeigt den Zusammenhang von Lebensgeschichte und Religion als Ausdruck normativer Krisen im Lebenszyklus sowie als eine eigene religiöse Deutungs- und Reflexions­kompetenz von Kindern, Jugendlichen und Erwach­senen.

Ähnlich wie die Kindertheologieforschung von der Untersuchung der zeichne­rischen Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen profitiert (HANISCH, 1996; OBERTHÜR, 1995; FISCHER/SCHÖLL, 2000), be­schränkt sich die Beschäftigung mit religiösen Fragen und Themen nicht auf den sprachlichen Bereich, sondern geht weit darüber hinaus.

Kontext 2: Ich glaube an Gott – meine Glaubenspraxis

Bei dem Versuch, Spiritualität als Glaubenspraxis im persönlichen und Ge­meindealltag zu vermitteln, spielt die erwähnte „zweite Naivität“ eine zentrale Rolle. Es geht dabei zum einen um eine Form der Versöhnung von Mystik und Aufklärung durch eine in transzendenten Alltagserfahrungen erkennbare „objektive“ Religion anstelle der unterschiedlichen großen Trans­zendenzsystemen bzw. Religionen (Luhmann).

Zum anderen tritt auch immer mehr im Migrationskontext die Notwendigkeit einer interkulutrellen und interreligiösen Spiritualität zutage. Um in der Fülle unterschiedlicher Spiri­tualitäten vom Esoterischen bis zum Liturgischen, vom Religions- über den Konfessions- bis zum kontext- und medienorientierten Begriff einen gangbaren Weg zu finden, bilden im Folgenden Biografie und Kommunikation die Haupt­kategorien. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der transzendenzbezogene Umgang mit Symbolen, Ritualen und Narrationen individuell er- und gelebt, aber kommunikativ vermittelt und ausgelebt wird. Das ist umso wichtiger, als dieser Umgang und Transzendenzbezug in Anlehnung an die mystische Tradition zwar auf Gottesbegegnung zielt, zugleich aber (Röm.8) auch mit der Abgründigkeit Gottes konfrontiert.

Gemäß Bubers dialogischem Prinzip, wonach Leben angeredet werden bedeutet, und der Mensch sich so als ständig in Frage gestellt erlebt, gewinnt pädagogisches Handeln in einer spirituell geprägten Gemeinschaft eine besondere Bedeutung. Sie verdeutlicht gemäß dem Modell wechselseitiger Erschließung von Botschaft und Rezipient die Bedeutung der Erfahrung für den gemeinsamen pädagogisch begleiteten Prozess spirituellen Wachsens in einem geschützten Raum; Gemeinde wird so zum Lehr- und Lebensraum, analog zum jüdischen Lehrhaus und zum im frühen Mönchtum praktizierten Mentorentum. Ob ich mich durch spirituelle Erfahrungen sensibi­lisieren lasse, hängt eng damit zusammen, ob ich mich als Akteur oder Betroffener biografischer Ereignisse erlebe, ob ich bereit und in der Lage bin, sie zu reflektieren, also ob ich gelernt habe, dass ich meine Biografie immer wieder neu konstruiere und nicht nur passiv erlebe. Da nach Kierkegaard Leben nur rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt wird, kommt es vor, so Max Frisch, dass Menschen sich früher oder später eine Geschichte erfinden, die sie für ihr Leben halten. Das hängt mit der Nichthintergehbarkeit des Subjektiven zusammen, d. h. es gibt keine Erfahrung an sich - die konkrete Biografie begrenzt räumlich und zeitlich. Ereignisse sind somit nur in ihrem Verlauf und unstabilen Beziehungsgefüge wahrnehmbar. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Lebenslauf und Lebensgeschichte und damit verbunden zwischen Struktur und Subjektivität, Makro-und Mikro­perspektive. Die jeweiligen Aspekte haben mit vorgegebenen Mustern zu tun und beschreiben Leben in Übergängen, bei denen Interdependenzen zwischen Gesellschaft und Individuum sowie Statuspassagen zu beobachten sind. Das damit verbundene Erlebnis ungelebten Lebens führt oft zur Beschäftigung mit der eigenen Biografie. Da Menschen in der Komplexität ihrer sozialen Beziehungen und Aktivitäten sowie aufgrund ihres Verhältnisses zu den natürlichen Umweltbedingungen ihrer Existenz zurechtkommen müssen und dabei ständig in einem Prozess, d.h. in Bewegung sind, kommt es auf die Fähigkeit zur Biografizität an, d.h. sich seiner Subjektivität bewusst werden zu können, was wiederum zur Veränderung von Subjekt und Kontext durch transitorisches Lernen und Sinnerschließung mit Hilfe von Zusammen­hangbildung (ALHEIT, 1993). Gemäß dem symbolischen Interaktionismus ist jegliches soziales Handeln symbolisch vermittelt; in unter­schiedlichen sozialen Handlungskontexten wirken unterschiedliche Gültigkeits­kriterien. Dabei wirken hier folgende Mechanismen: Menschen handeln Dingen und Situationen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese für sie besitzen. Die Bedeutung dieser Dinge, Situationen wird konstruiert und entsteht somit in sozialer Interaktion. Die Bedeutungen werden in interpretativen Prozessen hergestellt und modifiziert. Alle „Tatsachen" sind also schon immer interpretierte Tatsachen, sind ausgewählt, mit Bedeutung und Sinn unterlegt. Das zeigt sich z.B. darin, dass jede Form von Zeiterfahrung und Geschichtsschreibung immer in die Form einer Erzählung gebracht werden muss (RICOEUR, 2004). Das macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten. Letztlich geht es um narrative Identität als Kontinuität der Person in der narrativ eingeholten Verbindung von Sinnzusammenhängen der Person.

Verbunden mit dem biografischen Aspekt bedeuten diese Erkenntnisse im Blick auf Spiritualität und die entsprechende (Gemeinde-) Pädagogik, dass die systematische Kommunikation des Evangeliums und die Vermittlung von Transzendenzbezügen und Werten durch Symbole, Rituale und Narrationen eine Fülle an Anknüpfungsmöglichkeiten beim Einzelnen wie in Diskursen hat und entsprechend genutzt werden sollte. Außerdem gilt die Erfahrung, dass weniger der Schlüssel, sondern das Schloss die Schatztruhe öffnet, Fragen wichtiger sind als phrasenhafte Antworten, der Prozess wichtiger als das Produkt, Empathie wichtiger als Sympathie.

Konkret werden diese abstrakten Überlegungen zur Spiritualtität vor allem im Kontext des Kirchenjahres. Hier bilden Inhalte und Ausdrucksformen mit dem Gemeinschaftsaspekt zusammen eine Einheit. Außerdem werden an dieser Stelle Theologie, Christologie und Ekklesiologie praktisch und konkret und können zugleich im interreligiösen und interkulturellen Dialog problematisiert werden. Damit schließen diese Ansätze an die bisherigen Überlegungen zu einem realen bzw. virtuellen interkulturellen Dialog mit Lektüre und Botschaft an.

Einen zweiten wichtigen Zugang zu praktizierter und expliziter Glaubenshaltung und –praxis bildet die Ausformung einer eigenen Spiritualität. Diese ist jeweils stark vom Kontext abhängig.

So ist die adventliche und weihnachtliche Spiritualität vom Geist des 19. Jh. geprägt, als Wichern im Rauhen Haus den Adventskranz einführte und als zugleich Weihnachtsbaum und Krippe im eher nüchtern-wortbezogenen protestantischen Milieu Einzug hielten. Passend zum Biedermeierstil der Restauration förderte beides den Rückzug ins Private und Familiäre; diese Spiritualität spielte sich vor allem in den eigenen vier Wänden, in der „guten Stube“ ab. Sie integrierte und integriert die christliche Botschaft in die gutbürgerliche Gesellschaft, ähnlich wie im vierten Jahrhundert die Weihnachtsbotschaft mit dem römischen Sonnenwend- und Sonnengottfest verschmolzen wurde.

Die Osterbräuche rufen demgegenüber ins Freie, wo Osterhase und Ostereier warten. Auch hier bildete das 19. Jahrhundert den Höhepunkt der Ausge­staltung. So wurden aus ursprünglichen Symbolen für die Auferstehung aus dem Grab Kunstwerke wie die Fabergé-Eier oder die Porzellaneier der Hohenzollern, die mit dem Auferstehungsglaubens nichts mehr gemein hatten.

Ähnlich erging es dem „Osterhasen.” Bei den Kirchenvätern als Symbol von Fruchtbarkeit und Sinnlichkeit verpönt, wurde er auch von evangelischen Pre­digern zusammen mit den Ostereiern als katholischer Irrglaube angegriffen. Dennoch etablierte er sich, ähnlich wie die Weihnachts­frömmigkeit, in evangelischen Familien im 19. Jahrhundert, wobei wiederum die Kinder aus­schlaggebend waren, deren Bedürfnisse im Zusammenhang mit der neu eingeführten Schulpflicht und ihren familiären Auswirkungen entdeckt wurden. Daher kamen in dieser Zeit auch vermehrt Kinderbücher in Umlauf, die eine sehr anthropomorphe Vorstellung von Tieren transportierten, und damit die Szenen an der Krippe und den Osterhasen popularisierten.

In beiden Fällen, Weihnachten und Ostern, sorgten das Pathos, die naive Sen­timentalität und das Privat-Familiäre für eine spezifisch bürgerliche, inszenierte Spiritualität, die erst in jüngster Zeit durch weitere Milieus relativiert wurde. Symptomatisch für diese Form der Spiritualität ist die familiäre Gemeinschaft um den Tannenbaum bzw. beim Ostereiersuchen, deren hermetische Ab­schottung durch den damals aufkommenden Brauch verstärkt wurde, einander Weihnachts- und Ostergrüße per Postkarte zu senden. Dabei fanden sich seit dem Ende des 18. Jh. immer wieder Bemalungen der Eier, die drei Hasen mit drei Ohren zeigten, obwohl jeder Hase seine gehörigen zwei Ohren besaß. Auch wenn der Künstler dabei ein Symbol der Dreieinigkeit im Blick hatte, wurde die Abbildung im theologisch wenig interessierten Volk als Hinweis genommen, dass die abgebildeten Hasen auch die Eier brächten.

Besonderen Auftrieb erhielt diese Form der bürgerlichen Spiritualität auch durch die Entdeckung der Zuckergewinnung aus Rüben im 19. Jahrhundert.

Mit der zunehmenden Kommerzialisierung dieser beiden Festtage hängt vermutlich auch zusammen, dass die folgenden weniger populär wurden und bis heute sind.

Das gilt z.B. für das Pfingstfest, dessen Verständnis viel theologische Reflexion voraussetzt und kein greifbares Symbol wie Baum, Krippe, Eier, Hase, sondern nur das ungreifbare Feuer oder eine Taube. Außerdem fällt es in eine Zeit, in welcher säkulare „Mai-Rituale“ populärer waren und sind, bei denen die Vor­silbe „Pfingst“- primär jahreszeitlich als Frühlingsbegriff Verwendung findet, insbesondere im landwirtschaftlichen bzw. Schützen- Umfeld.

In jüngster Zeit erfahren die geschilderten Brauchtumsfragen durch inter­kulturellen Einfluss seitens unterschiedlicher Migrantengruppen neue Aktualität.

Im Folgenden soll daher aufgezeigt werden, welche Chancen und Möglichkeiten die skizzierte säkularisierte Frömmigkeit im christlichen Gewand für eine interkulturelle Spiritualität bietet.

Da das „Kirchenjahr“ eine Konstruktion christlicher Theologen darstellt, wird als „roter Faden“ das Kalenderjahr gewählt.

Die folgenden Ausführungen sind als Beispiel auf das Jahr 2014 bezogen. Da die islamischen Feste wandern, ergeben sich andere Konstellationen, die allerdings nach dem analogen Muster gestaltet werden können.

Bereits der Anfang des Kalenderjahres bietet Gelegenheit, sich kreativ mit innerchristlicher Ökumene zu beschäftigen und damit einen wichtigen Aspekt des Glaubensbekenntnisses und der spirituellen Haltung zu betonen: Während am 1. Januar die evangelischen und orthodoxen Christen Beschneidung und Namensgebung Jesu feiern, ist es für die katholische Kirche das Hochfest Mariens. Zudem feiert die orthodoxe Kirche ihren Heiligen Basilius von Caesarea an diesem Tag.

Eine Möglichkeit, mit dieser Vielfalt im Sinne dialogischer und interkultureller Spiritualität kreativ umzugehen, führt über das Stichwort Neubeginn.

Eine Anregung bietet eine Wortliste von Begriffen, die alle mit neu-/Neu- beginnen.

Um zu erfahren, wie sich diese Begriffe „anfühlen“, bieten sich Standbilder und Fantasiereisen an.

So könnte die Einladung zum Begriff „Neugier“ lauten:

„Stellt euch vor, ihr kämet von einem anderen Stern und würdet zum ersten Mal einen Raum wie diesen sehen. Wie fühlt sich das an? Wie bewegt man sich in einer solchen Situation, wie verändert es den Blick, das Hören, welche Gedanken gehen durch den Kopf? Probiert das einfach einmal aus.“

Eine vergleichbare Anregung bietet eine Tabelle, in welcher Vor- und Nachteile von Alt und Neu (jeweils unterschieden von betagt und jung) aufgeschrieben werden.

Auch diese Eigenschaftsreihen lassen sich erfahrbar machen, indem man sie „verleiblicht“.

So könnte eine Tabellenreihe lauten:

Vertraut – langweilig – interessant – bedrohlich

Diese Begriffe, auf Plakate geschrieben und an den vier Ecken im Raum verteilt, gilt es miteinander zu verbinden. Das geschieht, indem die Teilnehmenden die Plakate in freier Assoziation ergänzen, indem sie Gegenstände, Situationen und Eigenschaften stichworthaft hinzufügen, die für sie zu diesem Begriff passen.

In einer nächsten Runde entwickeln Klein(st)gruppen zu jedem Plakat eine Geschichte, in der es vor allem auf Emotionen und Motivationen ankommt.

In einer dritten Runde wird aus den vier Teilgeschichten gemeinsam ein Drehbuch für einen Film bzw. Hörspiel entwickelt, das, je nach Möglich­keiten vor Ort, anschließend oder bei anderer Ge­legenheit verwirklicht wer­den kann.

Ein solches Hörspiel-Drehbuch könnte (verkürzt) so aussehen:

1. Szene: Im Reisebüro. Ein Ehepaar versucht sich auf ein Reiseziel zu einigen; die REiskauffrau soll schlichten. Dabei zeigt sich, dass es nicht nur um die Wahl „See oder Gebirge“, „Natur oder Kultur“ geht, sondern um Sicherheit: Während er seine gewohnte Umgebung wiederfinden möchte, will sie unbedingt immer Neues erleben. Die Reisekauffrau fühlt sich zunächst überfordert, lenkt dann aber das Gespräch des Paares auf ihre Erinnerungen an Situationen, wo das Vertraute auf einmal nicht mehr nur langweilig und uninteressant und das vermeintlich faszinierend Neue plötzlich Vertrautes offenbarte und an Bekanntes erinnerte.

2. Szene: Familientreffen nach langer Zeit. Sie erkennt ihren phlegmatischen Ehemann nach vielen Jahren Ehe nicht mehr wieder, der angesichts der erwachsen gewordenen Nichten zum leidenschaftlichen Charmeur wird. Als die noch sehr junge Tochter bei dieser Gelegenheit ihren neuen wesentlich älteren Freund präsentiert und ihren Umzug ankündigt, protestieren die Eltern zunächst und legen ihr Veto ein. Im Gespräch mit dem künftigen Schwiegersohn müssen sie ein- und zugestehen, dass es damals bei ihnen nicht viel anders war; außerdem entdeckt er so viele Gemensamkeiten und gemeinsame Interessen, dass er sogleich das Du anbietet und Verabredungen getroffen werden. Seine Frau fühlt sich durch den „Eindringling“ und seine Eigenschaften an ihren Mann in der Zeit des Kennenlernens erinnert und kann ihre Tochter nun verstehen.

3. Szene: Wieder im Reisebüro

Das Paar bucht einen Urlaub in einer leicht erreichbaren aber doch abgelegenen Ferien­anlage mit komplett eingerichteten Wohnungen zur Selbstversorgung, auf halber Strecke zwischen einem Gebirgsmassiv und dem Meer in der Nähe einer alten Römerstadt und einem Einkaufszentrum mit dem täglichen freiwilligen Angebot von Ausflügen, Sport- und Kulturkursen.

Überdies bietet der Januar etliche Gelegenheiten zu interkulturellen Feiern, da den Monat über der Geburtstag wichtiger Persönlichkeiten gefeiert wird, zum anderen steht die Natur im Mittelpunkt. So feiern am 6. Und 7. Januar evangelische und katholische Christen die „Erschei­nung“ Christi als Licht der Welt und auch die orthodoxen Christen feiern dann ihr Weihnachtsfest gemeinsam mit dem Fest der Theophanie d.h. Taufe Jesu. Außerdem feiern die Muslime die Geburt Mohammads im Lichterfest, das allerdings gemäß dem Mondkalender wandert.

Ähnlich wie im Orthodoxen Christentum die Taufe zugleich als Segnung allen Wassers aufgefasst und von den Christen rituell in Segens­handlungen nachvollzogen wird, feiert das Judentum das Neujahr der Bäume, indem neue Bäume gepflanzt und viele Früchte gegessen werden.

Außerdem wird in der Orthodoxen Kirche Ende Januar gleich mehrerer Heiliger bzw. Kirchenlehrer gedacht (Erzbischof Sava in Serbien, Basilius, Gregor von Nazianz, und Johannes Chrysostomos (344/349-407) in Griechenland.

Der Januar ist somit aus interkultureller wie aus spiritueller Sicht ein Monat der vier Elemente: Feuer (Epiphanie), Wasser (Taufe), Erde (Bäume) und Luft (Heiliger Geist/Segen) und des Neubeginns

Diese Kombination lädt zu- einem gemeinsamen Fest der christlichen Konfessionen zusammen mit den islamischen Geschwistern, z.B. im Rahmen der ACK ein, in dessen Mittelpunkt ein entsprechendes Ritual stehen könnte.

Dieses Ritual könnte folgendermaßen gestaltet sein.

Alle Teilnehmenden sitzen in einem Kreis, so dass eine symmetrische Kommunikation auf Augenhöhe möglich ist.

In der Mitte steht eine Schale mit Wasser, eine brennende Kerze, ein Teller mit Blumenerde und eine kleine Feder, die man in der Luft schweben lassen kann.

Jedes Symbol wir mehrfach herumgereicht: Bei ersten Mal ist jede/r Anwesende eingeladen zu erzählen, was er/sie individuell mit diesem Symbol verbindet und dankt dem Element dafür. In der zweiten Runde geht es um die kollektive Spiritualität. Jede und jeder ist eingeladen zu erzählen, welche Rolle das Symbol in seiner Religionsgemeinschaft spielt, und welche verbindenden Elemente er/sie darin sieht.

In der Abschlussrunde münden diese Erläuterungen und Visionen in eine symbolgebundene Segensbitte und –geste.

Februar und März sind geprägt von der Fastenzeit sowohl bei den christ­lichen Konfessionen als auch bei den Aleviten (Hizir-Festtag-Fasten), oft verbunden mit heiligen Speisen wie beim jüdischen Purimfest (mit Vorfasten). Auch hier steht das Bedenken der Elemente in Verbindung mit Geburtsgeschichten (Alis Geburt bei Aleviten, Verkündigung an Maria bei katholischen und orthodoxen Christen.

Auch das jüdische Passah und die christliche Karwoche haben mit dem Thema „angemessene Nahrung“ zu tun.

Daher bietet sich als Möglichkeit, interkulturelle Spiritualität gemeinsam zu erleben an, das Brot als gemeinsames Element real und symbolisch in den Mittelpunkt zu stellen.

Das kann dadurch geschehen, dass zunächst der Weg zur Brotwerdung als mystischer Befreiungsweg nachvollzogen wird. Das kann entweder real oder als Fantasiereise geschehen, beides entweder hintereinander oder alternativ.

Real:

Die Anwesenden versammeln sich zunächst auf einem Acker, wo sie gemeinsam biblische Texte lesen und bedenken, die für den einzelnen Teilnehmer bedeutsam sind. Bei jeder Stelle, die etwas im Leben ausgelöst, zum Wachstum gebracht hat, wird ein Samenkorn mit einer Dankgeste in die Erde gelegt.

Die zweite Station ist eine alte Mühle, wo die Teilnehmer um den Mühlstein herumstehen.

Sie lesen aus Erzählungen von Menschen, die sich individuell bzw. kollektiv zerrieben fühlten oder fühlen wie zwischen zwei Mühlsteinen. Als Sinnstiftungszeichen füllt jede und jeder aus seinem Vorrat eine Handvoll Mehl in einer herumgereichten Schüssel; aus diesem Mehl soll Brot werden.

Daher ist die nächste Station eine Bäckerei, in welcher Feuertexte im Mittelpunkt stehen (brennender Dornbusch, Feuersäule, Pfingsten). In einer weiteren Runde geht zunächst ein Zettel mit dem Begriff „Feuer“ herum, zu dem nur positive Assoziationen gesammelt werden sollen.

In der abschließenden Runde wird die Kerze, die als Zentrum des Stuhlkreises alle miteinander verband, herumgereicht und jedem Anwesenden von der Liste ein Segenswort mitgegeben.. Sie verbleibt am Ende beim Backofen als Symbol des produktiven Feuers.

Virtuell:

Alternativ oder ergänzend können diese Stationen auch imaginiert werden (Texte wie oben)

Der Mai ist geprägt von der Dialektik von Gabe und Aufgabe. Das gilt für die Nacht der Rega’ib, in welcher die Muslime von Gott Segen und Erneuerung erwarten; ebenso gilt es für das jüdische Wochenfest, wo die Thora als göttliches Geschenk gefeiert wird, und das alevitische Fest der Schutzpatrone von Land und Meer, in welchem sich die Kraft der Schöpfung offenbart und den Menschen Gesundheit und langes Leben zuteil wird.

Auch die beiden Feiern der Himmelfahrten Christi und Mohameds lassen sich in diesen Kontext einordnen.

Um diese Dialektik von Gabe und Aufgabe, Wort , Antwort und Verantwortung im Sinne inter­kultureller und interreligiöser Spiritualität erfahrbar zu machen, bietet sich das Symbol des Glückwunschbriefes an: Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin schreibt seinem bzw. ihrem Nachbarn bzw. Gegenüber einen solchen, in welchem er/sie ihm bzw. ihr zu einem speziellen Fest gratuliert und fügt einen besonderen Grund an, weshalb ihm bzw ihr das besonders wichtig ist und was er/sie sich für die Gemeinschaft davon verspricht. Der/die Antwortende bedankt sich schriftlich für den Segenswunsch, erläutert seine bzw. ihre Wertschätzung des Festes und seine bzw. ihre Überlegungen, wie sich der Festimpuls für die interkulturelle Gemeinschaft umsetzen lässt. Anschließend werden in Kleingruppen für jedes Fest die Vorschläge ausgewertet und in Konzepte umgewandelt. Für jedes Fest erklärt sich eine Koordinierungsperson bereit.

Dass im Jahre 2014 im Juni die islamische Nacht der Erlösung, in der Gott die Betenden mit Segnungen überhäuft, fast zeitgleich mit dem Pfingstfest liegt, in welchem die Christen eine ähnliche Wirkung des heiligen Geistes feiern, lädt im Sinne interkultureller Spiritualität zur vertieften Auseinander­setzung mit Segensformeln und –formen ein. Hinzu kommt als Herausforderung die Nachbarschaft zum Trinitatis- und zum Fronleichnamsfest sowie zum Johannistag auf christlicher sowie der Beginn des Ramadams auf muslimischer Seite.

Da die islamischen Feste durch das Mondjahr wandern, verringert sich in den Folgejahren zwar die zeitliche Nähe, die inhaltliche lässt sich jedoch nach wie vor für den Austausch nutzen.

Die Konzentration auf das gemeinsame Segensritual relativiert den trinitarischen Charakter auf christlicher Seite und erweitert das Ritual durch die Spiritualität des islamischen Glaubens.

Diese Segensfeier könnte so aussehen, dass zunächst gemeinsam nach wichtigen Elementen einer Segensformel und eines Segensrituals (sprachlich und nonverbal) gesucht wird. Diese werden dann zu einer oder zwei Grundformen kombiniert

Der Juli konfrontiert Juden, Christen und Muslime mit der Schicksals- und Bestimmungsfrage. Bei den Juden macht sich das an der Einnerung an die Tempelzerstörungen fest, im Islam an der Nacht der Bestimmung, zugliech die drittletzte Nacht im Ramadan. Diese lädt dazu ein, miteinander die Hiobserzählung – vor allem Hiobs Gespräche mit seinen Freunden – dialogisch im Rollenspiel zu lesen und zu reflektieren, da die Theodizeefrage alle Religionen miteiander verbindet. Bestimmende Fragestellung könnte dabei sein: Was bringt jeden der Freunde dazu, gerade so das Geschehen zu deuten und solche Ratschläge zu geben?

Im August steht neben der Verklärungsgeschichte (Mt 17) Marias Aufnahme in den Himmel im Mittelpunkt; außerdem verehren die anatolischen Aleviten ihren Heiligen Hacı Bektasch Veli.

Hier geht es somit, nicht zuletzt beim baldigen Ende von Sommer und Ferien, um die Frage, wieso in der Rückschau oft genug Ereignisse verklärt erscheinen oder dargestellt werden.

Um dies reflektieren zu können, bilden unterschiedliche Kameraeinstellungen und Linsen beim Fotografieren des gleichen Motiv eine mögliche Anregung, die zur Beschäftigung mit eigenen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern ermutigt.

Im September beginnt nicht nur das neue Jahr im Judentum (Rosch Haschana), sondern auch das Kirchenjahr in der Orthodoxen Kirche; außerdem wird zusammen mit der katholischen Kirche Mariae Geburt gefeiert und der Wiederauffindung des Kreuzes Christi durch die Kaiserin Helena zu Beginn des 4.Jahrhunderts gedacht.

Damit ist das Thema Neubeginn mitten im Alltag vorgegeben. Ankünpfend an Tauf- und Beschneidungsfeiern könnte über den Wert und die Spezifika von Passageriten und ihre Ausgestaltung diskutiert werden.

Der Oktober ist durch den jüdischen Versöhnungstag (jom kippur) und das islamische Opferfest geprägt, die jeweils auf ihre Weise zur Konfliktbewältigung aufrufen. Auch hier gilt durch die Abhängkeit des Opferfestes vom zeitlich wanderenden Ramadan, dass sich die zeitliche Nähe in den Folgejahren verringern kann, die inhaltliche Nähe aber bleibt.

.Auch das christliche Erntedankfest sowie das jüdische Laubhüttenfest erinnern den Menschen an seine Verantwortung für die Mitwelt ebenso wie das Fest der Gesetzesfreude im Judentum. Ansätze dazu finden sich auch im islamischen Neujahrsfest, im Muharrem-Fassten der Aleviten zu Ehren des ermordeten dritten Imam Hüseyin, und beim Reformationstag.

Folgende Anregung, im Sinne interkultureller Spiritualität das Doppelthema Konflikt- und Ressourcenmanagement in seinen Chancen und Herausforderungen erfahrbar zu machen, könnte die bereits zuvor gemachten Erfahrungen folgendermaßen spielerisch aufgreifen:

Vier Menschen, die vier Religionen bzw. Weltanschauungen repräsentieren, sitzen um einen großen Topf herum, der mit Wasser gefüllt ist; in diesem schwimmen kleine Bällchen in vier verschiedenen Farben. Gemäß der alten Erzählung, wonach ein Rabbi die Möglichkeit erhält, Einblick in den Himmel und in die Hölle zu gewinnen und in beiden Fällen Menschen um einen großen Topf herum sitzen sieht, in dem köstliche Speisen aufgewärmt werden. Sie haben große Löffel in den Händen. Erst bei genauem Hinsehen, wird deutlich, warum die Himmelsbewohner zufrieden und satt wirken, während die Höllenbewohner unter gleichen Bedingungen hungrig und verzweifelt: Während sie wie bisher vergeblich versuchen, sich mit viel zu langen Löffeln selbst die Köstlichkeiten zu fischen und in den Mund zu schieben, „füttern“ sich die einander gegenüber sitzenden Himmels­bewohner gegenseitig und werden so satt.

In der Spiel-Umsetzung gewinnt der Spieler bzw. die Spielerin, der/die zuerst alle farblich passenden Bälle auf den Platz seines/ihres Gegenübers mit einem Hilfsmittel gebracht hat. Dabei ist es der Fantasie der Spieler überlassen, um welches Hilfsmittel es sich handelt bzw. ob die Bälle im Topf bzw. in der Wanne am entsprechenden Rand verbleiben oder außen gelagert werden. Das Spiel existiert somit in mehreren Varianten bzw. Schwierigkeitsgraden. Dazu gehört auch, die Möglichkeit, die Bälle zuvor zu beschriften, um ihren Ressourcencharakter zu unterstreichen (Pflanzen, Tiere, Bodenschätze, Wasser etc.).

Unter den Faktoren, die unsere Einstellung (potenziellen) Konfliktpartner wie auch der Umwelt gegenüber bestimmen, spielen die eigenen Deutungsmuster eine entscheidende Rolle, die wiederum mit der Sozialisation zusammenhängen.Auch hier geht es also darum, welche Linse ich in meine „Herzenskamera“ eingesetzt habe und darum, ob bzw. wie ich sie bei Bedarf auswechseln kann.

Der November verbindet Tod und Neubeginn, sowohl bei Allerheiligen als auch beim islamischen Aschurafest , wo – ähnlich wie beim Fasten beendenden alevitischen Aschure-Tag - der Errettung Noahs gedacht wird. Verbunden ist dieses Erinnern an Errettung zugleich mit der Ermahnung, entsprechend andere zu retten, da man zufällig Christus im Mitmenschen begegnen könnte. Darauf deuten der Martinstag, der orthodoxe Fastenbeginn, der Buß- und Bettag und der Adventsbeginn auf ihre spezifische Weise hin.

Diese Dialektik von Ende und Neubeginn schließt den Jahreskreis ansatzweise und lädt dazu ein, noch einmal einen virtuellen Gang durch die Erfahrungen des Jahres zu machen, bevor zur Feier von Weihnachten und Chanukka (Lichterfest) ein gemeinsames Lichterfest die Reihe abschließt.

Dieser virtuelle Gang kann sich am Muster der Emmauserzählung (Lk 24) orientieren, wo ebenfalls Rückschau gehalten und so Kraft für die Zukunft und Verständnis der Gegenwart ermöglicht wird:

„Und siehe, eine Gruuppe von Menschen machte sich auf den Weg von dem Erlebnis besonderer Nähe und Gemeinschaft über Grenzen heinaus wieder zurück nach Hause. Gern hätten sie das Erlebte fortgesetzt, doch das Ganze war ja nur ein Intermezzo, eine Ahnung davon, was alles möglich wäre, wenn man die entworfenen Visionen tatsächlich umsetzte. Aber nun rief die Pflicht, es ging wieder in die Kirche, in den Dom, in die Moschee und in die Synagoge, alles musste weitergehen wie bisher.

Sie waren so sehr ins Gespräch vertieft, dass sie erst relativ spät den Unbekannten bemerkten, der sie offenbar schon eine Weile begleitet und belauscht hatte, nicht neugierig – eher wirklich interessiert. Niemand kannte ihn, aber jeder war überzeugt, ihn schon einmal in seiner Messe, seinem Gottesdienst, beim Passahfest oder im Ramadan gesehen zu haben. Als er ihre Blicke bemerkte sprach er sie an: „Wirklich interessant, was ihr berichtet; das sind genau die Visionen von einem globalen Miteinander, die ich auch habe, auch wenn oder gerade weil ich es nicht so mit religiösen Institutionen habe. Aber Religion interessiert mich“. Dann holte er gleich drei Bücher hervor: die Tora, eine Evangeliensammlung, einen Koran; in jedem Buch hatte er bestimmte Seiten markiert, aus denen er nun abwechselnd vorlas. In diesen Texten war davon die Rede, dass Tausende ohne Ansehen des Bekenntnisses satt wurden, dass Gottes Botschaft über Gebiets- und Religionsgrenzen hinweg verbreitet wurde, dass Menschen sich ohne Sprachprobleme verständigen konnten.

Diese Worte ließen noch einmal die Erlebnisse der letzten Tage und Wochen lebendig werden. Daher stimmten auch alle fast gleichzeitig zu, als ihr Begleiter sie in eine Herberge am Wegesrand einlud, unweit der Kreuzung, auf der sich ihre Wege trennen würden. Gemeinsam in einem großen Saal durfte jeder auf seine Weise zunächst sein Gebet sprechen, ganz gleich in welcher Sprache, ob nach Mekka, nach Jerusalem oder auf ein mitgebrachtes Kreuz gerichtet. Dann setzten sich alle um einen großen runden Tisch, ohne jede Tischordnung. Niemand wunderte sich, dass nicht diejenigen zusammensaßen, die sowieso sich immer wieder trafen und kannten, sondern völlig unbekannte Menschen sich austauschten. Auch verwunderte es niemand, dass der Brotlaib, der herumgereicht wurde, so klein er zunächst erschien, alle satt machte. Auch, dass nach anfänglichem Zögern jeder den gemeinsamen Kelch nahm. Als zwischendurch jemand bemerkte, dass sich der Fremde davongeschlichen hatte, ließ sie das ruhig: Sie hatten ja seine Worte, die sie immer wieder an dieses Erlebnis erinnerten und sie hatten die Erfahrung, dass die Vision in diesen Worten sich verwirklichen ließ; außerdem stellten sie fest, dass er bereits alles bezahlt hatte. Daher machten sie sich auf den Weg gen Heimat. Ihr Abschiedswort auf der Kreuzung kein Lebewohl, sondern abwechselnd Adieu und auf Wiedersehen! Sie wussten, sie konnten und würden die Vision eines neuen Miteinanders immer wieder verwirklichen können.

Konsequenzen

Durch miteinander geteilte und einander mitgeteilte spirituelle Erfahrungen entsteht Schritt für Schritt eine interkulturelle spirituelle Gemeinschaft, die sich um Wort und Sakrament versammelt, ohne dass es dabei auf die einzelnen Formulierungen oder Rituale ankommt. Weder ein spezieller vorgegebener Text noch ein konkreter Ritus ist gemeint, sondern die Tatsache, dass eine spirituelle Gemeinschaft ein verbales und ein nonverbales Zentrum braucht. Das verbale drückt sich in Narrationen, Formeln, Gebeten und anderen Formen aus, die spirituelle Erfahrungen kommunizierbar machen, in Symbolen verdichtet und als performatives Reden wirksam werden. Um solche Erfahrungen aktualisierbar zu machen, braucht es allerdings Rituale bzw. Riten, die helfen, das Unsagbare auszudrücken. Damit wird zugleich deutlich, dass es primär um das Gemeinwesen, weniger um eine klar definierte Gemeinde geht.

Voraussetzung für das Gelingen gemeinwesenorientierter Bildungsansätze ist das Zusammenwirken von Bildungseinrichtungen, Bildungsanbietern, Organisationen und Personen, die sich als Teil eines Gemeinwesens verstehen und für das lokale Umfeld da sind. Dieses Engagement braucht unterstützende Strukturen und eine Kommunikationskultur, die eine Integration vieler unterschiedlicher Akteure ermöglicht. Kinder, Jugendliche und Erwachsene lernen nicht in einem Biotop‚ abgeschlossen von der Umwelt, sondern sind Teil des Gemeinwesens‚ gleich, ob sie in die Schule, den Kindergarten, das Jugend(bildungs-)zentrum, zur Nachhilfe, zum Sport oder zur Feuerwehr, in die Kirchengemeinde oder in die Volkshochschule gehen. Gemeinwesenorientiertes Bildungshandeln setzt Lernen und Projekte zur eigenen Lebenswelt in Beziehung und weckt damit bei den Lernenden ein größeres Interesse an den Lerninhalten. So kann auch der individuelle Erfahrungs- und Wissenshinter­grund besser in das Lernen integriert werden. Das setzt allerdings eine große Offenheit der Bildungsanbieter und die Bereitschaft für Vernetzung und Kooperation voraus. Netzwerke gründen auf einer längerfristigen Leistung und Gegenleistung der Akteure und können nicht ohne Vertrauen auskommen. Vertrauen und gemeinsame Werte bilden die Grundlage für das gemeinsame Agieren in Netzwerken aller Art: Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur, Kirchen, Wissenschaft und Verbände, und helfen so beim Auf- und Ausbau eines Gemeinwesens.

Darüber hinaus ist das Wissen um die unterschiedlichen Milieus wichtig, die ein Gemeinwesen prägen

Kontext 3: Ich glaube an Gott – meine Glaubenswahrheit

Die Beschäftigung mit der persönlichen Glaubenspraxis hat deutlich gemacht, wie sehr Inhalt und Form von der jeweiligen religiösen Sozialisation abhängen. Das betrifft nicht nur den interreligiösen oder interkonfessionellen Bereich, sondern findet sich auch innerhalb einer Gemeinschaft, die formal das gleiche Bekenntnis hat. Das zeigt sich an den Milieustudien, durch welche die Ausdifferen­ziertheit moderner Gesellschaften deutlich geworden ist.

Wie sich die einzelnen Milieus ausdifferenzieren, lässt sich am Gottesbild aufzeigen:

Kon servativ-Etablierte

- Gott als Garant von Familientradition und gesellschaftlicher Moral

Bürg e rlic h e Mitte

- Gott als Halt und Orientierung durch gewohnte Rituale

Tr ad i tionelle

- Gott als Inbegriff volkskirchlicher Tradition und Bürgerlichkeit

Prekäre

- Gott als Trost oder Illusion

Hedonisten

- Gott als abzulehnende Kontrollinstanz und Machtinstrument

Adaptiv-Pragmatische

- Gott als Symbol von Transzendenz und Spiritualität, nützlich zur ökologischen Erziehung

So zi a lökologische

- Gott als universelles Prinzip, ohne Institution

Expeditive

- Gott als die göttliche Kraft in allem Lebendigen ohne Institution

Performer

- Gott als Inbegriff des Irrationalen und Weltfernen

Liberal-Intellektuelle

- Gott als interkulturelles und ethisches Phänomen

(Quelle: www.mdg-online.de)

Die Liste bestätigt, wie wichtig das Gottesbild für die kulturelle Identität einer Gruppe ist und wie bedeutsam umgekehrt die jeweilige Sozialisation für das Gottesbild. Es steht zugleich für ein Familienbild, für die Genderfrage, für die politische Machtfrage, die Theodizeefrage, das Verhältnis zwischen Glaube und Wissenschaft, den interreligiösen Dialog, das Gemeinschaftsbild und die Frage nach dem Schicksal nach dem Tod. Dabei lassen sich drei Großgruppen unterscheiden, die sich auch in Jugendstudien (SHELL u.a.) wiederfinden: Diejenigen, für die Gott als Person real und wichtig für Familie und Gesellschaft ist, diejenigen, die nur von einer göttlichen Kraft bzw. ethischem Prinzip ausgehen und solche, die ihn kategorisch leugnen, weil er keine Bedeutung für ihr Leben hat.

Wer noch vom Bürgertum des 19. Jahrhunderts geprägt ist (Konserveativ-Etablierte, Bürgerliche Mitte, Traditionelle), möchte nach Möglichkeit keine Veränderungen. Daher wird den Kindern auch Gott als Inbegriff der bürgerlichen Tugenden und ihr Garant vermittelt. Wer sich dagegen erst seinen Platz in der Gesellschaft erstreiten muss, weil er seinen ursprünglichen Status verlor (Prekäre), weil er erst als eigenständige Gruppe zum Vorschein kam (Hedonisten), lehnt Gott als nur ausgedachtes Machtinstrument ab. Darüber hinaus gibt es solche Gruppen, für die nicht so sehr die Zugehörigkeit zu einer Gruppe als vielmehr die Alltagsorganisation (adaptiv – pragmatische) bzw. die Verantwortung für die Umwelt (Sozialökologische).

Im Folgenden soll an exemplarischen Texten aufgezeigt werden, wie Glaubensinhalte so vermittelt werden können, dass sie diesen Strömungen jeweils gerecht werden ohne zu vereinnahmen. Auf diese Weise wird deutlich, wie wichtig Empathie und Achtsamkeit auch bei fehlender Verständigung sind, wie sehr sie bei den Beteiligten Dissenzfähigkeit entwickeln.

Gott-Vater oder: Die Genderfrage

Einen Schlüsseltext zur Frage von Gottesbild und Genderfrage stellt das Vaterunser dar, das seit dem Jahr 90 heiligstes Gebet war, aber von Katechumenen nicht gebetet werden durfte. Erst im Karolingerreich wurde es (auswendig) Pflicht, um Pate sein zu können.

Mit seinen absolutistischen Formulierungen transportiert es ein Vater- und Familienbild, das heute nur noch vereinzelt anzutreffen ist. Angesichts der gesellschaftlichen Vielfalt an Lebensformen und Familien­bildern lohnt sich eine intensivere Auseinandersetzung unter interkulturellem und spirutellem Aspekt.

Ein Zugang findet sich um 1700 in der Grafschaft Wittgenstein. Dort fanden sich zahlreiche radikal eingestellte Pietisten ein, um das neue Jerusalem zu feiern. Ihre Einstellung lässt sich nicht nur an der „Berleburger Bibel“ sondern auch am Katechismus von Pfarrer Wilhelm Abresch ablesen, in dem er seine Vorlage, den Heidelberger Katechismus (hier Frage 120-29) auf die persönliche Lebensführung hin zuspitzt. Seine Auffassung vom Vaterunser zeigt zudem das Familienbild seiner Zeit:

1. Familie braucht klare Regeln:

„Wodurch erlangen wir die Kraft, das Gesetz zu halten? - Durch unablässig stetes Gebet um den Heiligen Geist und um dessen kräftige Wirkung in unserm Herzen. Haben wir auch eine Vorschrift, was wir, und auch einigermaßen wie wir beten sollen? Ja das Gebet des Herrn ist eine Vorschrift, wonach wir unser Gebet einrichten sollen.

2. Familie ist hierarchisch strukturiert:

„Wie viele Teile hat dieses Gebet? Drei: die Vorrede oder Ansprache, die sieben Bitten und den Beschluss Wie lautet die Vorrede oder Ansprache? - Unser Vater, der du bist in den Himmeln. Was soll diese Ansprache bei uns erwecken? - Eine kindliche Ehrerbietung, Furcht, Liebe und Zutrauen zu dem dreieinigen Gott als unserem himmlischen Vater. - Wie lautet die erste Bitte? Geheiligt werde dein Name. - Was bitten wir in dieser Bitte? - dass Gott uns und anderen Menschen durch seinen Heiligen Geist Licht und Kraft verleihen wolle, seine Wesen, Wege, Werke und Tugenden gründlich zu erkennen, von Herzen zu lieben und mit Gedanken, Worten und Werken zu preisen.“

3. Familie muss beschützt werden:

„Wie lautet die zweite Bitte? - Dein Reich komme. - Was bitten wir in dieser Bitte?- dass Gott in uns und anderen Menschen das Reich des Teufels zerstören und hergegen sein Reich darin aufrichten Alle, damit wir hier mögen Teilhaben am Reich der Gnaden und droben am Reich der Herrlichkeit. –

4. Familie hat mit Gehorsam zu tun:

„Wie lautet die dritte Bitte? - Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. - Was bitten wir in dieser Bitte? - dass Gott uns und anderen Menschen Kraft geben wolle unsern eigenen Willen zu brechen und hergegen seinen heiligen Willen in Lieb und Leid zu vollbringen und zwar so aufrichtig, willig, treulich und beständig wie die Engel im Himmel. –

5. Familie hat mit Versorgung zu tun:

„Wie lautet die vierte Bitte? - Unser tägliches Brot gib uns heute. - Was bitten wir in dieser Bitte? - dass Gott unsere Seele und Geist mit Christo dem wahrwesentlichen Brot und Wort und mit seiner Kraft Gnade und Friede nähren und stärken und dann auch die Notdurft für den Leib verleihen wolle.

6. Familie hat mit Konfliktfähigkeit zu tun:

„Wie lautet die fünfte Bitte? - ergib uns unsere Schulden als auch wir vergeben unseren Schuldigern. - Was bitten wir in dieser Bitte? - dass Gott uns und allen seinen Kindern um der Genugtuung Christi willen alle Sünden vergeben wolle, gleichwie wir durch seine Gnade auch unsern Beleidigern ihre Fehler von Herzen verzeihen. - Was ist bei dieser Bitte in Acht zu nehmen? - dass diejenigen Menschen, welche ihren Feinden und Beleidigern nicht von Herzen wollen vergeben auch keine Vergebung von Gott erlangen können.

7. Famile bedeutet ein festes Wertesystem:

„Wie lautet die sechste Bitte? - Und führe uns nicht in Versuchung. - Was bitten wir in dieser Bitte? - dass Gott uns und alle seine Kinder erhalten und stärken wolle durch die Kraft des Heiligen Geistes, den Versuchungen und Reizungen des Teufels der Welt und des Fleisches zu widerstehen und dieselbige zu überwinden. - Wie lautet die siebente Bitte? - Sondern erlöse uns vom Bösen. - Was bitten wir in dieser Bitte? - dass uns Gott vom bösen Satan und allen seinen Instrumenten und Werken endlich ganz erlösen und einen vollkommenen Sieg über dieselbige verleihen wolle.

8. Familie ist der Inbegriff von Harmonie und Heil:

„Wie lautet der Beschluss des Gebets des Herrn? - Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. - Was begreift der erste Teil dieses Beschlusses in sich? - Ein Bekenntnis des göttlichen Lobs und unseres Glaubens und Hoffnung und zugleich eine Beweg-Rede, worin wir Gott vorhalten gewisse Gründe und zu erhören. Wie viel sind derselben Gründe? - Drei. - In welchen Worten ist der erste Grund enthalten? - In den Worten dann dein ist das Reich - Was halten wir damit Gott vor? - dass er unser höchster König und Herr und daher sich unser als seiner Untertanen müsse und werde annehmen. - In welchen Worten ist der zweite Grund enthalten? - In den Worten dein ist die Kraft. - Was halten wir damit Gott vor? - Seine Allmächtigkeit wodurch er Kraft und Macht genug habe uns aus aller Not zu erretten und alles Gute zu geben - In welchen Worten ist der dritte Grund enthalten? In den Worten dein ist die Herrlichkeit in Ewigkeit - Was halten wir damit Gott vor? --Dass alles, was er uns gibt, nicht zu unserem, sondern zu seinem Lob und Preis gereichen solle in alle ewige Ewigkeit. - Was ist dabei anzumerken, dass uns Christus im Anfang hat lehren bitten um die Heiligung des Namens Gottes und das Gebet beschlossen mit den Worten dein ist die Herrlichkeit? - Dass wir in allem unserem Tun und Lassen und sonderlich in allem was wir bitten im Gebet keinen andern Zweck sollen haben als die Ehre Gottes. - Was bedeutet aber das Schlusswörtlein Amen? - Das heißt soviel als ja es sei also, es geschehe also. - Was drücken wir dann damit aus? - Unser herzliches Verlangen und Vertrauen erhöret zu werden. - Wie können wir also dieses Wörtlein nennen? Ein Wunsch-Wort, und ein Versicherungs-Wort. - Warum wird es ein Wunschwort genannt? - Weil es soviel heißt als Herr tue es, was wir gebeten haben. - Warum wird es ein Versicherungswort genannt? - Weil es soviel heißt als Ja, Herr, du wirst es tun. - Wie muss man also dieses Wörtlein Amen aussprechen? - Mit herzlicher Andacht,Wunsch, Verlangen und Vertrauen und nicht dem bloßen Munde. - Ist es nun genug zum wahren Christentum und zur Seligkeit wenn man die Gründe des Christentums auswendig weis und kann daher sagen mit dem Munde?- Nein. - Was wird dann mehr dazu erfordert? - Man muss sie auch gründlich erkennen und danach tun.

Auch wenn heutzutage kein neues Jerusalem oder eine Heilszeit erwartet wird, sind Menschen immer wieder mit Aufbrüchen konfrontiert, wo Passageriten von Bedeutung werden. Das Vaterunser kann so ein Modell darstellen.

Die entscheidenden Elemente dazu werden von Abresch direkt oder indirekt angesprochen. Sie lassen sich den drei berühmten Fragen Kants zuordnen, die auch jeden Neubeginn prägen:

1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?

Was kann ich wissen?

Jeder Neubeginn führt weitgehend ins Ungewisse. Was dabei hilft, sind Regeln, an denen man sich orientieren kann. Ähnlich wie die guten Vorsätze zu Beginn eines neuen Jahres sind sie nicht immer leicht zu befolgen.

Daher hilft eine „Bedienungsanleitung.“ Abresch macht deutlich, dass das Vaterunser diese Funktion auf doppelte Weise einnimmt: Als Gebet befreit es von der Sorge, sich nicht regelkonform zu verhalten, als Mustergebet befreit es von der Sorge „falsch“ zu beten.

Was bei Kant die „reine Vernunft“ als Metaphysik erfasst, taucht im Gebet im tiefen Wissen um Geliebtsein und Eingebundensein auf. Hintergrund ist die Tatsache, dass mit dem Vaterunser nicht nur der Text, sondern auch der Lehrer transportiert wird. Ähnlich ist auch im Alltagslernen die Lehrer-Schüler-Beziehung mindestens eenso wichtig wie der Lernstoff, zumindest aber an ihn gebunden. Nur wenn ich durch das Modell des/der Lehrenden nicht nur höre oder lese, sondern miterlebe, was kindliche Ehrerbietung, Furcht, Liebe und Zutrauen zu dem dreieinigen Gott als unserem himmlischen Vater bedeutet, kann sie in mir erweckt werden.

Es geht somit auch beim Gebet weniger um inhaltlich deutendes oder gar vom Stellenwert bedeutendes, sondern um personales bzw. dialogisches Lernen und Wissen, das dadurch bedeutsam wird.

Was soll ich tun?

Auch der von Kant angesprochene und von der praktischen Vernunft untersuchte moralische Aspekt taucht im Vaterunser zentral auf, da es um die Frage geht, wie konform unser Verhalten mit der Achtung vor dem Menschsein ist wie sehr wir die Menschlichkeit als obsterstes Gesetz annehmen und die Achtung der Menschheit im Einzelnen.

Übersetzt in kantische Terminolgie beschreibt Abresch christliche Ethik im Sinne von Jesu „kategorischem Imperativ“: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst“ – anders ausgedrückt: Du kannst zu anderen erst dann eine empathisch–konstruktive oder gar freundschaftliche Beziehung aufbauen, wenn du diese auch zu dir selbst hast. Das setzt voraus, dass du dich von Anfang an als angenomen, geliebt und wertgeschätzt erlebst. Darauf, so erinnert Abresch, nimmt das Vaterunser Bezug. In der Terminologie seiner pietistischen Zeit erinnert er daran, wie wichtig es für die Lebensgestaltung ist zu erleben, dass Gottes Name als Zusage „Ich bin bei dir“ (JHWH) nicht nur ein bloßes Wort, sondern lebendige Erfahrung ist, Ausdruck eines Wesens, einer Haltung, eines Gegenüber.

Erst aus diesem Urvertrauen heraus kann ich mich den Konsequenzen einer solchen Aussage stellen. Ich kann die mit dieser Zusage verbundene Vision und Konzeption bedingungsloser Annahme mit konkurrierenden Angeboten vergleichen und vor dem Hintergrund meiner Lebenswirklichkeit und Lebenerfahrung prüfen. Ich muss mir allerdings bewusst sein, dass eine solche Haltung meine eigenen Ansprüche und Bestrebungen zugunsten des Gemeinwohls im Sinne von Bergpredigt, goldener Regel und kategorischem Imperativ relativiert und damit dissensfähig macht.

Was darf ich hoffen?

Wenn ich diesem Gebets- und damit Lebensführungsmanual folge, dann, so erinnert auch Abresch, hat das nicht nur geistlich-virtuelle, sondern ganz konkrete soziale und materielle Folgen: Wenn mir daran liegt, bedingungslose Annahme zu leben, dann ist damit zwangsläufig die Gerechtigkeitsfrage auf der Tagesordnung, dann geht es auch um bedingungsloses Grundeinkommen, Mindestlohn, Umverteilung, Schuldenschnitt, fairen Handel, Korruptions­bekämpfung, Konflikt­management, Mediation und Friedensstiftung.

Was ist der Mensch?

Ähnlich wie die drei Antworten der Metaphysik, Moral und Religion Kant zur Antwort auf die Frage nach dem Menschsein brachten, die er im kategorischen Imperativ formulierte, führen auch die Schritte des Vaterunsers zur Frage nach dem Menschseins, allerdings auf negativem Wege: Während für den Philosophen der Mensch in der Menschheit aufgeht, findet sich der glaubende Mensch selbst, indem er sich ganz einer höheren Macht hingibt in der Erfahrung, dass all das worum er bietet, worum er sich sorgen macht, längst bereitet und gelöst ist. Seine Aufgabe besteht darin, den Transfer zu leisten vom transzendenten in den Alltagsbereich.

Für diesen Transfer bietet das Vaterunser zunächst das Ritual an, fokussiert auf das Wort. „Amen“ – So sei es. Als bloße Floskel bleibt es relativ wirkungslos – als rituelle Formel verstanden macht es aus einer Floskel einen Vertragsabschluss (FRANZENBURG 2011).

Wie die spirituelle Form dieses Transfers aussehen könnte, lässt Luther in seiner von der monastischen Tradition geprägten Auslegung erkennen:

Und diese zwei Dinge sind nötig es zu wissen. Die Weise ist, daß man wenig Worte mache, aber viel und tiefe Meinungen oder Sinne. Je weniger Worte, je besser das Gebet, je mehr Worte, je ärgerlicher das Gebet. Wenig Worte und viel Meinung ist christlich, viel Worte und wenig Meinung ist heidnisch. Darum spricht Jesus in Matthäus 6,7: Ihr sollt nicht viel reden (plappern), wenn ihr betet, wie die Heiden. So auch Johannes 4,24 als er zu dem heidnischen Weibe sprach: «Wer Gott anbeten will, der muß ihn in dem Geist und in der Wahrheit anbeten»; denn solche Beter sucht der Vater. Nun, «im Geist beten» oder «geistlich beten» heißt so im Gegensatz zum «leiblichen Gebet», und «in der Wahrheit beten» heißt so im Gegensatz zum «Gebet nur dem Scheine zuliebe».. Denn das hat einen großen Schein vor den Leuten, und geschieht mit dem leiblichen Munde, und nicht wahrhaftig; aber das geistliche und wahrhaftige Gebet ist die innerliche Begierde, Seufzen und Verlangen aus Herzens Grunde. Das erste macht Heuchler, und falsche, sichere Geister; das andere macht Heilige und furchtsame Kinder Gottes. Doch ist hier ein Unterschied zu merken, denn das äußerliche Gebet geschieht in dreierlei Weise: zum ersten, aus lauter Gehorsam, wie die Priester und Geistlichen singen und lesen; auch die, die aufgesetzte Buße oder gelobte Gebete sprechen. Bei diesem Gebet ist der Gehorsam fast das Beste, und fast gleich einer anderen leiblichen Arbeit des Gehorsams (so solch ein Gebet aus einfältiger gehorsamer Meinung geschieht, nicht um Geldes oder Ehre und Lobes willen), ja so viel unaussprechliche Gnade ist in dem Wort Gottes, daß es, auch mit dem Munde ohne Andacht gesprochen (in der Meinung eines Gehorsams), ein fruchtbares Gebet ist und dem Teufel weh tut. Zum anderen, ohne Gehorsam, oder mit Unwillen und Unlust, oder um Geld, die Ehre oder Lobes willen. Solches Gebet wäre besser unterlassen. Doch wird diesen Betern hier ihr Lohn dafür gegeben in der Form von zeitlichem Gut oder zeitlicher Ehre; denn so lohnt Gott die Knechte ab, aber nicht die Kinder. Zum dritten, mit Andacht des Herzens; da wird der Schein in die Wahrheit gezogen, und das Äußerliche in das Innerliche; ja, die inwendige Wahrheit bricht heraus und leuchtet mit dem äußerlichen Schein. Aber es ist nicht möglich, daß der viel Worte macht, der geistlich und gründlich betet, denn die Seele, wenn sie gewahr wird, was sie spricht, und dann mit Bedacht auf die Worte und Sinne denkt, muß sie die Worte fahren lassen und den Sinne nachdenken, oder wiederum, den Sinn muß sie fallen lassen den Worten nachdenken. Darum sind solche mündliche Gebete nicht weiter anzunehmen, denn als einer Anreizung und Bewegung der Seele, daß sie dem Sinne und den Begierden nachdenken, wie die Worte anzeigen. So ist auch in vielen Psalmen die Überschrift und der Titel, das ist, daß diese Gebete, ob sie gleich wenig Worte haben, doch Anreizung und Bewegung sind dem Herzen, etwas Gutes zu denken oder zu begehren. Auch finden wir in den Psalmen das Wort «Sela»(das ist, «Ruhe «), und wird weder gelesen noch gesungen; uns zu ermahnen, das, wo ein besonderes Stück sich findet im Gebet, daß man dort stillhält und ruht, die Meinung (Sinn) wohl zu betrachten. Die Worte sind: „Vater unser, der du bist“. Denn weil dieses Gebet von unserem Herrn einen Ursprung hat, wird es ohne Zweifel das höchste, edelste und beste Gebet sein, denn hätte er ein besseres gewußt, der fromme, treue Schulmeister, er würde es uns auch gelehrt haben. …Nicht, daß ich Gebete verwerfe, sondern daß die Zuversicht auf diese mündlichen Gebete zuviel ist, und dadurch das rechte, geistliche, innerliche, wahrhaftige Vaterunser verachtet wird. Denn aller Ablaß, aller Nutzen, der ganze Segen, und alles, was der Mensch bedarf an Leib und Seele, das ist in diesem Gebet überflüssig enthalten. Und es wäre besser, du betest ein Vaterunser mit herzliche Begierde und Meinung der Worte, daraus eine Besserung deines Lebens komme, denn das du aller Gebete Segen hättest. …..Also möchten nun dies Gebet beten alle arbeitenden Leute, und die auch nicht wissen, was diese Worte bedeuten. Und das halte ich für das Beste Gebet, denn da redet das Herz mehr als der Mund. …. Darum ist das Wort Christi vom geistlichen Gebet gesagt, das mag ohne Unterlaß sein, auch in leiblicher Arbeit; wiewohl es niemand ganz vollkommen bringt, den wer kann immer sein Herz zu jeder Zeit zu Gott erheben? Darum ist durch dasselbe Wort ein Ziel gesetzt, danach wir uns richten sollen, und wenn wir sehen, daß wir es nicht tun, daß wir uns erkennen als Schwache, gebrechliche Menschen, und dadurch gedemütigt werden und um Gnade bitten über unsere Gebrechlichkeit. Und so lehren alle Lehrer der Schrift, daß das Wesen und die Natur des Gebetes nichts anderes ist, denn eine Erhebung des Gemütes oder Herzens zu Gott. Ist nun die Natur und Art des Gebetes des Herzens eine Erhebung zu Gott, so folgt, daß alles andere, was nicht des Herzens Erhebung ist, nicht Gebet ist. …Ja, es soll sich niemand auf sein Herz verlassen, daß er ohne Worte wollte beten, er sei denn wohl geübt im Geist und der auch Erfahrung habe, die fremden Gedanken auszuschlagen; sonst würde ihn der Teufel ganz und gar verführen, und sein Gebet im Herzen bald zerstören. Darum soll man sich an die Worte halten und diesen nachsteigen, solange wie die Federn wachsen, daß man fliegen mag ohne Worte. Denn das mündliche Gebet oder die Worte verwerfe ich nicht, soll auch niemand verwerfen, ja, mit großen Dank annehmen als eine besonders große Gabe Gottes. Aber das ist zu verwerfen, daß man der Worte nicht zu ihrem Amt und zu ihrer Frucht gebraucht, nämlich, das Herz zu bewegen, sondern in falscher Zuversicht verläßt man sich darauf, daß man sie mit dem Munde nur gemurmelt oder geplappert hatte ohne alle Frucht und Besserung, ja, mit Ärgerung des Herzens. …Das Gebet ist ein geistlich, allgemeines Gut, darum soll man es niemanden rauben, auch nicht die Feinde. Denn so er unser aller Vater ist, will er, daß wir unter einander Brüder sein sollen, freundlich lieben und für einander bitten gleichwie für uns selbst.

Luthers Rat: wenig Worte mache, aber viel und tiefe Meinungen oder Sinne – Gott in dem Geist und in der Wahrheit anbeten – d ieses Plädoyer für ein spirituelles Beten macht auf den rituellen Charakter christlicher Kontemplation aufmerksam, der sie mit anderen außerchristlichen Meditationsformen verbindet und für unterschiedliche Gruppen anschlussfähig macht. Indem Jesus als Lehrer charakterisiert wird, der in einer pädagogisch geistlichen Tradition stand, wird ebenfalls der interkulturelle Aspekt betont, ebenso wie die Betonung des Plurals jeder Individualisierung vorbeugt. Außerdem weist Luther auf die Anrede Abba - Papa hin, die auf spirituelle Tiefe im Sinne von Urvertrauen hinweist und vor bloßem Zitieren bewahrt.

So könnte das Wort „AMEN“ gleichsam als Mantra so lange und intensiv meditiert werden, bis sein ritueller Sinn erkannt und erfahren wird.

Ein anderer Weg, spirituell-kreativ sich das Vaterunser anzueignen, besteht in der Umformulierung und Aktualisierung, z.B. nach folgendem Muster:

Vater unser im Himmel,

der du uns mal väterlich, mal mütterlich begegnest, wo auch immer wir unterwegs sind:

Geheiligt werde dein Name,

indem wir ihn mit unserem Leben füllen,

mit Nähe, Offenheit, Staunen, Wahrhaftigkeit.

Dein Reich komme, –

auch in unser Herz, in unsere Beziehungen und Gemeinschaftenf:

Es wachse auf wie ein Samenkorn

und bringe Freude und Gelassenheit in unsere Herzen

Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden,

nicht als Befehl, sondern als Einladung, aus willenlosen Objekten, die nur gelebt werden, zu Akteuren unseres Lebens zu werden, indem wir uns damit beschenken lassen und dieses Geschenk des Lebens miteinander teilen.

Unser tägliches Brot gib uns heute,

ganz gleich, wonach jeder und jede von uns hungert und dürstet,

lass uns erkennen, dass genug für alle da ist.

Und vergib uns unsere Schuld -

wenn wir wieder einmal nur an uns gedacht haben - ,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern;

weil nur so Herzen und Beziehungen gesunden können.

Und führe uns nicht in die Versuchung,

uns mit den Sachzwängen und Gegebenheiten abzufinden,

sondern erlöse uns von dem Bösen,

das uns einreden will, nur der Rücksichtslose gewinne, jeder sei seines Glückes Schmied und selber schuld an seinem Schicksal

Denn dein ist das Reich

des inneren und äußeren Friedens, in dem jede und jeder Platz hat,

Und dein ist die Kraft –

in unserer Schwachheit wie in unserer Sehnsucht,

Und die Herrlichkeit,

die sich nur mit den Augen und Ohren des Herzen bewundern und vernehmen lässt, an der uns jeder Augen-Blick Anteil gibt.

Amen - So soll es sein.

Einen weiteren Schlüsseltext stellt in diesem Zusammenhang das Gleichnis vom verlorenen Sohn dar, das eigentlich die Schilderung eines besonderen Vaterbildes ist. Daher bildet es eine besondere Form, das Vaterunser und das Bekenntnis zu Gottes Barmherzigkeit zu aktualisieren.

Zudem bietet es Anknüpfungsmöglichkeiten zu Themen, die im Glauben an Gott kontrovers behandelt werden, wie z.B. das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft, das zumeist an der Kontroverse zwischen Schöpfung und Evolution aufgehängt wird.

Diese Kontroverse lässt sich als Aktualisierung der Erzählung vom verlorenen Sohn verstehen.

Das könnte – auf den Schöpferglauben fokussiert – folgendermaßen aussehen:

Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngere unter ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, den Teil der Güter, der mir gehört. Und er teilte ihnen das Gut. Den älteren führte er in den Garten: Das alles gehört dir. Auch wenn es zunächst unscheinbar aussieht – je länger und intensiver du dich damit beschäftigst, alles genau beobachtest und förderst, geduldig wartest, wachsen und sich entwickeln lässt, was wachsen und sich entwickeln will, dann wirst du über die vielen Wunder und Geheimnisse dort staunen. Dann wandte er sich an den jüngeren Sohn: Da du es offensichtlich eilig hast, erhältst du hier alle Erkenntnisse, Statistiken, Theorien und Berechnungen, die du brauchst, um sehr schnell die Baupläne meiner Geschöpfe zu durchschauen und nachbauen zu können, um wirklich unabhängig zu sein.

Und nicht lange darnach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog ferne über Land; und daselbst brachte er sein Gut durch. Sehr gierig hatte er alle Unterlagen nur eingepackt; als er sie wieder auspackte, passten sie irgendwie nicht richtig zusammen. Dennoch begann er drauflos zu experimentieren, hier und dort einzelne Teile zu optimieren und war immer mehr von seinen Möglichkeiten begeistert. Die Menschen kauftem ihm seine neu gezüchteten Pflanzen, Medikamente, Operationen zu jedem Preis ab; Mütter brachten ihre Kindergartenkinder zu ihm, Manager und Studenten warteten geduldig auf ihren Termin bei ihm, doch bald machten sich Nebenwirkungen bemerkbar, zeigten sich Veränderungen und Effekte, die nicht beabsichtigt waren. Immer öfter traten Störungen, Unfälle, Resistenzen auf, musste die Dosis weiter gesteigert, immer wieder nachgebessert werden; immer deutlicher äußerten sich Zweifel, Befürchtungen, Depressionen, die auch vor ihm nicht Halt machten. Wie konnte das passieren? War da nicht ursprünglich zuhause alles zwar weniger effektiv und spektakulär, aber dafür irgendwie vollständiger, runder gewesen? Am Ende war er selbst abhängig von seinen Medikamenten und Extrakten, hatte enorme Kredite für unbrauchbar gewordene Apparate aufgenommen und völlig am Ende.

„Da er nun all das Seine verzehrt hatte, ward eine große Teuerung durch das ganze Land, und er fing an zu darben. Und ging hin und hängte sich an einen Bürger des Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen; und niemand gab sie ihm. Die Schweine ringsum ekelten ihn zunächst, dann begannen sie ihn zu faszinieren, da er sie bislang nur aus Statistiken und Aktivzinsbilanzen kannte. Hier liefen sie völlig unökonomisch und uneffektiv frei herum, suchten sich, was sie fanden, und sie halfen einander, dass jedes satt wurde, ohne dass jemand ihnen das Programm einprogrammiert hatte. Das erinnert ihn an Zuhause. Auch dort hatte er immer wieder darüber gestaunt, als er sich das Staunen noch leisten konnte. Im Geiste sah er sich neben Vater und Bruder auf der Veranda sitzen und staunend zuschauen, wie Wesen, die eigentlich Feinde sein mussten, harmonierten, wie an unerwarteter Stelle mitten in einer Wüste auf einmal grüne Halme sich durch den Sand bohrten.

Soweit dieser Teil der aktualisierten Geschichte als Anregung, sie selbst zu Ende zu führen. Ob man sich dabei am Original und seinem „happy end“ orientiert oder einen offenen Schluss wählt, regt zum Nachdenken über die eigene Haltung in der Frage von Glauben und Denken an.

Einen weiteren Anstoß im Blick auf Glaube und Alltag bildet die Theodizeefrage, also die Ratlosigkeit, warum Gott so viel sinnloses Leiden zulässt, obwohl er doch allmächtig sein soll. Immer wieder werden Menschen mit Hiobsbotschaften über den Verlust eines geliebten Menschen, der eigenen Gesundheit, über gescheiterte Pläne, unerfüllte Wünsche und über unerklärliche Schicksalsschläge weltweit konfrontiert. Umgekehrt werden Menschen immer wieder mit der Herausforderung konfrontiert, auf solche Anfragen zu reagieren.

Während in der biblischen Hiobserzählung seine Freunde zu Argumenten greifen und im Dialog zwischen Hiob und Gott letzterer auf seine unermessliche Macht verweist, der der menschliche Verstand nicht gewachsen ist, geht das Evangelium noch einen anderen Weg.

Die drei Stationen dieses Weges, die sich analog z.B. auch in Psalm 23 wiederfinden, lassen sich als Ermutigung zur Theodizee-Intervention verstehn.

Stufe 1: Urvertrauen

Modellhaft für diese Einstellung ist Psalm 23

In Luthers Übersetzung lautet er:

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser Er erquicket meine Seele und führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar

Übertragen auf moderne Beratungssituationen könnte er folgendermaßen in Form einer Fantasiereise oder Meditation aktualisiert werden:

Was auch immer dich für Sorgen und Probleme belasten, hier bis du geborgen; hier ist ein geschützter Raum, hier erlebst du Akzeptanz und Wertschätzung. Nimm dir Zeit, das ganz in dich aufzunehmen – alles andere ist zweitrangig.

Wenn du das Gefühl hast, ausgebrannt zu sein wie in einer großen Wüste, dann richte dir deine Oase ein. Alles was du brauchst, ist das verinnerlichte Gefühl, so angenommen zu sein wie du bist, äußerlich erfahrbar zu machen: Was brauchst du dazu in diesem Raum, was muss verändert, was hinzugefügt, was entfernt werden, damit du dieses Gefühl bekommst, wie in einer Oase einfach loslassen, entspannen, du selbst sein zu können, wie sollte deine Haltung sein, was möchtest du hören, schmecken, riechen, sehen?

Es könnte sein, dass du dir Gedanken machst, ob das auch alles richtig ist, wohin das führen mag, wenn alle so… und so weiter. Dann lass solche Gedanken einfach kommen und gehen. Alles, was dir guttut, ist gut, und alles, womit es dir gut geht, geht den richtigen Weg.

Wenn es gut für dich ist, kannst du auch die Augen schließen, um besser genießen zu können. Wenn du Sorge hast einzuschlafen oder Angst, im Dunkel ausgeliefert zu sein, dann nimm etwas aus deiner Oase in die Hand, womit du sie immer spüren kannst.

Dann lass deine Oase vor deinem inneren Auge so lebendig wie möglich werden: Sieh, spüre, rieche, höre, empfinde alles, was dir hilft, einfach nur glücklich zu sein. Egal, wie unwahrscheinlich es dir vorkommt, konzentriere dich auf diese Sinneseindrücke so sehr, bis sie wie real wirken.

Alle kritischen oder störenden Stimmen, Bilder, Gedanken, Geräusch lass einfach kommen und wieder gehen. Rufe dir zur Verstärkung einen Augenblick aus der Vergangenheit in Erinnerung, wo du glücklich warst, und erlebe diesen Moment noch einmal so lebendig wir möglich. Dehne diesen Augenblick so weit wie möglich aus, vergiss die Zeit, genieße einfach, bis du das Gefühl hast: Auch wenn ich jetzt gleich wieder im normalen Alltag bin, kann ich mich jederzeit wieder in diesen Zustand bringen, unbedingt behütet und geliebt zu sein. Ich brauche mich nur an diesen Augenblick erinnern, mir nur noch einmal die Worte in Erinnerung rufen: Hier bist du geborgen.

Was der Beter des 23. Psalms in die zuversichtliche Überschrift formt „Jahwe ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“, die dann entfaltet wird, formuliert Jesus in Mt 5 als Seligpreisungen. In der Sprache des Evangelisten lauten sie:

„Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.

Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.

Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.

Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.

Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen.

Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.

Übersetzt in modernen Beratungsstil, könnten diese Zusprüche folgendermaßen verwendet werden:

- Um den Himmel auf Erden zu erleben, muss man nicht alles verstehen und erklären können, was geschieht
- Im Durchstehen von Krisen steckt bereits die Kraft zu ihrer Bewältigung
- Gewalt ist angemaßt und zerstörend, Macht ist anvertraut und aufbauend
- Hinter unseren materiellen Wünschen steht oft die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe.
- Was bedingungslose Annahme bedeutet, lässt sich nur begreifen, indem man sie ausprobiert.
- Dazu gehört auch die Erfahrung, dass Hingabe auch ausgenutzt werden kann.

Wenn ich konfrontiert bin mit einem Menschen, der einen schweren Verlust zu verkraften hat, besteht meine erste Herausforderung und Chance darin, entsprechend dem Bekenntnis zum allmächtigen Gott, Raum für aktualisiertes Urvertrauen zu schaffen.

Das beginnt bereits mit der Raumgestaltung und bedeutet vor allem empathisches, authentisches und kongruentes Verhalten (nach Rogers), das um den Unterschied weiß zwischen Trost und Vertröstung und darum, dass Kommunizieren bedeutet, die Sorgen aber auch die Ideen eines Beteiligten zu etwas Gemeinsamen (communis) zu machen und – ähnlich wie beim „Kommunizieren“ während der Kommunion/des Abendmahls - Anteil haben an etwas/einem Größeren. Wie das konkret aussehen kann, soll an der Kurzfassung einer Beratungssituation aufgezeigt werden.

Die Gesprächspartnerin ist über 90 Jahre alt, seit vielen Jahren im Pflegeheim bettlägerig, zu 100% pflegebedürftig, aber nicht ernsthaft krank. Ihre Bitte um Erlösung an Menschen und an Gott, blieb unerhört. Vor einem Jahr verlor sie nach langer schwerer Krankheit nach 70 Ehejahren ihren Mann, vor einigen Wochen Kinder und Enkel bei einer unverschuldeten Massen­karambolage. Auch ihre Frage nach dem Warum blieb unbeantwortet. Kaum jemand kommt zu Besuch; aus der Kirche ist sie vor Jahren ausgetreten, als sie sich bei der Pflege ihres Mannes und seiner Sterbebegleitung alleingelassen fühlte.

Nur eine Nachbarin kommt ab und zu. Bei einem Besuch liegt die Bibel aufgeschlagen bei Hiob auf dem Nachttisch. Die alte Dame begrüßt ihren Besuch mit der Bemerkung: „Manche Fragen kann wohl nur Gott beantworten – aber mir nicht.“

Wie kann die Besucherin so darauf reagieren, dass sich ihr Gegenüber ernst genommen und wertgeschätzt fühlt und zugleich etwas von der Atmosphäre erlebt, die den 23. Psalm und die Seligpreisungen prägt?

Auch wenn sich diese Frage nur individuell und in einer konkreten Situation wirklich beantworten lässt, sollen zumindest Anregungen auf der Grundlage einer realen, aber verfremdeten Situation gegeben werden:

1. „Vielleicht sind wir tatsächlich in der Situation eines Schafes gegenüber seinem Hirten“ (es schließt sich ein Gespräch über Ps 23 an (Text auf Grußkarte) und über den Segen, einfach nur vertrauen zu können wie ein Kind (s. Aktualisierung))
2. „Sind wir nur dann auf der Insel der Seligen, wenn wir alles erklären und beantworten können?“ (es schließt sich ein Gespräch über die Seligpreisungen an (Text auf Grußkarte) und darüber, was es heißt, dass der Himmel längst da ist (s. Aktualisierung)).

Stufe 2: Konfrontation mit bedingungsloser Liebe

Die Erfahrung bedingungslos akzeptiert und geliebt und so behütet man selbst zu sein, ist Gabe und Aufgabe. Das verdeutlicht Jesus mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Bei Lukas lautet es so:

Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter Räuber, die ihn auch auszogen und ihm Schläge versetzten und weggingen und ihn halb tot liegen ließen.Zufällig aber ging ein Priester jenen Weg hinab; und als er ihn sah, ging er an der entgegen gesetzten Seite vorüber. Ebenso aber kam auch ein Levit, der an den Ort gelangte, und er sah ihn und ging an der entgegengesetzten Seite vorüber. Aber ein Samariter, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt;und er trat hinzu und verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf; und er setzte ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in eine Herberge und trug Sorge für ihn. Und am folgenden Morgen zog er zwei Denare heraus und gab sie dem Wirt und sprach: Trage Sorge für ihn! Und was du noch dazu verwenden wirst, werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme. Was meinst du, wer von diesen dreien der Nächste dessen gewesen ist, der unter die Räuber gefallen war? Er aber sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm übte. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin und handle du ebenso!“

Im Blick auf die geschilderte Beratungssituation ähnelt die Situation dessen, der verletzt am Boden liegt, derjenigen der bettlägerigen Patienten, die auch alles hilflos über sich ergehen lassen muss.

Nachdem zu Gesprächsbeginn mit Hilfe von Psalm 23 bzw. den Seligpreisungen eine Atmosphäre von Empathie, Kongruenz und Akzeptanz aufgebaut wurde, kann versucht werden, die Negativerfahrungen in diese zu integrieren.

Vielleicht endete die erste Runde mit der Feststellung der Patientin:

„Natürlich ist es eine große Hilfe, wenn man so auf Gott als guten Hirten oder auf den Himmel auf Erden in kleinen Spuren und Zeichen vertrauen kann – aber wenn er oder zumindest sein Personal einen so enttäuscht haben….

Dann könnte die Anknüpfung so gestaltet werden:

„….dann fühlt man sich dem Schicksal hilflos ausgeliefert, so als läge man von den Schicksalsschlägen schwer geschlagen und verletzt am Boden und könne nur hilflos und sehnsüchtig zu möglichen Helfern aufschauen….“ ….Die aber meistens einfach vorübergehen, einen links liegen lassen“ lautet vermutlich die Antwort . „Ja, und oft sind es gerade diejenigen, von denen man es am wenigsten erwartet“ lautet die Ewiderung . „Genau; ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen….“ „Gott sei Dank werden aber auch andere Geschichten erzählt, von hilfsbereiten, vorurteils- und bedigungslos liebenden Menschen, von denen man es auch am wenigsten erwartet habe. Davon lasse ich mich immer wieder inspirieren.“ „Ja, ich weiß schon, worauf Sie anspielen, Sie gute Samariterin, Sie sind da eine große Ausnahme.“

So könnte sich der Dialog weiter entwickeln und zum Nachdenken darüber anregen, warum man vor allem die Negativbeispiele in Erinnerung behält und Liebe und Hilfsbereitschaft allzu selbstverständlich erwartet und hinnimmt.

Das führt zur nächsten Gesprächsphase, in der diese postiven Erfahrungen weiter verankert werden sollen.

Stufe 3: Erfahrung als Proviant

Um den Anfechtungen der Theodizee gegenüber künftig besser gewappnet zu sein, bieten Jesu letzte Worte am Kreuz wichtige Anregungen, da in ihnen existenzielle Erfahrung, Reflexion und Kommunikation verschmelzen.

Menschen, wie die hier vorgestellte Patientin, können – evtl. unterstützt durch die musikalische Umsetzung durch Joseph Haydn – einen holistischen Zugang zu Oasenerfahrungen gewinnen, die die Wüste ringsum nicht aussparen (bzw. Himmelserfahrungen mit dem Staub der Erde).

Mein Gott, warum hast du mich verlassen

Die Theodizee-Grundstimmung erlaubt, mit Ps22 oder andern Vorbildern, die damit verbundenen Agressionen zu- und herauszulassen, denn trotz traumatischer Enttäuschungen ist Gott noch nicht gänzlich für den Leidenden verschwunden, sondern zumeist verborgen in Fragen, Zweifeln, in Gestalt von Schicksal, Los etc.

Die Patientin im vorliegenden Fall könnte z.B. eingeladen werden, mit Farben und Papier oder Knete ihre Wut auf Gott und das Schicksal auszudrücken, um sich so von Druck zu befreien; gleichzeitig käme das eher kindgemäße Tun ihrem hilflosen Zustand entgegen.

Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun

Umgang mit Theodizee als eigenem und fremden Leid und Umgang mit Vergebung und Vergeben können hängen eng miteiander zusammen.

Nur ein geringer Teil der Theodizee- und Leidenserfahrung beschränkt sich auf den abwesenden Gott, der größere Teil hat mit Menschen zu tun, die in die schicksalhafte Situation involviert sind, ohne direkt verantwortlich zu sein.

Im vorliegenden Fall liegt allerdings ein doppelter direkter Schuldvorwurf vor, so dass das Thema Vergebung gegenüber kirchlichen Mitarbeitenden bzw. Amtsträgern wie auch gegenüber dem unbekannten Unfallverursacher auf dem Tisch liegt. Dafür braucht es ein Ritual, das ihr hilft, ihre Vorwürfe und ihr Bedürfnis nach Klärung gleichermaßen wertzuschätzen. Dabei sollte das Ritual nach bekanntem und unbekanntem Vergebungs­partner differenziert sein. Dabei bietet sich in einem Fall eher ein Kerzenritual an, während in einem personalen Fall ein persönlicher Brief angemessen scheint, der aber nicht abgeschickt wird.

Mutter, dein Sohn – Sohn, deine Mutter

Die von Ärzten und Therapeuten bestätigte heilsame Wirkung von Vergebung hängt mit der Erfahrung zusammen, dass Schicksale von Menschen über Generationen und Grenzen hinweg durch äußere Einwirkung miteinander verschmolzen sind, teils wissentlich, oft unwissend.

So weiß die Patientin, dass viele Angehörige von Unfallopfern mit ihr das gleiche Los teilen, vielleicht kennt sie sogar einige. Es könnte durchaus sein, dass sie bei der Suche danach auf komplementäre Fälle trifft – Kinder, Enkel, die Eltern oder Großeltern verloren haben.

Auch wird sie nicht die einzige sein, die ihre negativen Erfahrungen mit einem bestimmten Amtsträger oder einer Gemeinde gemacht hat – auch hier gibt es sicherlich komplementäre Fälle.

Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein

Wer die befreiende Wirkung von kontrollierten Wutausbrüchen und von Vergebung gespürt hat und sich die Verbundenheit mit den Menschen ringsum wie mit der Menschheit insgesamt bewusst gemacht hat, ist auch bereit, den Einbruch des Himmels bzw. des Transzendenten in irdische Alltagssorgen anzunehmen. Durch die Relativierung der eigenen irdischen Existenz verliert die Endlichkeit und das eigene Ende das Bedrohliche.

Mich dürstet

Die eigenen Bedürfnisse ernstzunehmen und wertzuschätzen, ist für junge Menschen inzwischen selbstverständlich und wird oft übertrieben; dabei geraten jedoch oftmals nur die von der Clique oder in den Medien propagierten Bedürfnisisse in den Blick. So steht z.B. Wertschätzung/In-Sein an erster Stelle, aber die wirklich eigenen Bedürfnisse werden verdrängt.Auch für Ältere ist es nach wie vor eine Herausforderung, seine Bedürfnisse wertzuschätzen. Wer sich viele Jahre lang nur für andere eingesetzt und aufgeopfert hat, für Kinder, Enkel, Ehepartner, im Ehrenamt, verdrängt seine Bedürfnisse oft so sehr, dass er sie nur noch indirekt wahrnimmt. Im Rahmen einer säkularen Theodizeefrage melden sie sich als Klage über das ungerechte Schicksal, zumal wenn erwartete Dankbarkeit ausbleibt. Sie ernstzunehmen befreit zu eigenverantwortlichem Handeln, macht dem einzelnen Menschen deutlich: Ich brauche nicht mehr auf göttliches Eingreifen oder die Gesellschaft oder andere Menschen zu warten oder meine Wünsche auf sie projezieren, sondern kann bewusst unterscheiden lernen zwischen meinem Handlungsspielraum und den Bereichen, die entweder im Gestaltungs- und Verantwortungsbereich meiner Mitmenschen oder höherer Gewalten liegen.

Auf diese Weise kann ich gemäß dem alten Gebet handeln: „Gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Das bedeutet z.B. im Fall der geschilderten Patientin: Ob ich mich über meinen Zustand ärgere oder nicht, liegt in meiner Hand, mein Zustand selbst weniger; wie ich meine Besucher ansehe, entscheide ich, damit beeinflusse ich ein wenig, wie sie mir begegnen, auch wenn ich dass nicht in der Hand habe.

In deine Hände lege ich meinen Geist

Für die Situationen, die außerhalb menschlichen Einflusses liegen, finden sich ebenfalls Kommu­nikationsformen, beidie zwischenmenschlichen Erfahrungen hilfreich sind. Dabei erweist sich die Metaphorik der „Hand Gottes“ als hilfreich. Um im Ernstfall fest darauf zu vertrauen, dass wir nicht tiefer fallen können als in Gottes Hand, lohnt die rechtzeigite Beschäftigung mit diesem Symbol; zudem ist es in sich ambivalent und als theologische Aussage nicht leicht zu entschlüsseln: Hände können schlagen und streicheln, festhalten und Halt geben, anregen und abwehren, hinweisen und abweisen.

Sie können Menschen so behandeln, dass sie wieder handlungsfähig werden, aber auch so, dass sie keine Möglichkeit zum eigenen Handeln haben. Gott selbst – so unterstreichen Kruzifixe ohne Arme – hat nur unsere Hände; er erschafft die Welt nur durch sein Wort, handelt nur durch sein Wort, das in uns und durch uns tätig wird.

Eine Möglichkeit mit dieser Ambivalenz umzugehen, besteht darin, sich auf die positive Botschaft hinter dem Bild zu konzentrieren. Dazu wird dem Gegenüber eine Karte gegeben, auf der eine solche Botschaft – allerdings nur schwarz auf weiß – zu lesen ist: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag“. Die betreffende Person wird gebeten, für eine andere Person, die in großer Not ist, das Hintergrundbild dazu entweder zu malen oder zu beschreiben. Auf diese Weise findet sie einen kreativen Zugang zu dieser Form des als zweite Naivität aktualisierten Urvertrauens

Es ist vollbracht

Sowohl das Thema Theodizee als auch das damit verbundene Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein oder zu kurz zu kommen, haben mit dem Motiv des Unabgeschlossenen, Unfertigen zu tun. Umso wichtiger ist es, für sich und andere eine Abrundung zu erreichen. Dabei kommt es auf Inklusion der Beteiligten an; jede Person soll das Gefühl bekommen, dass genau ihre Erfahrungen und Ideen von entscheidender Bedeutung für das Ganze sind, auch wenn sie isoliert banal und marginal erscheinen.

Das kann z.B. dadurch erreicht werden, dass die Stichworte zu den jeweiligen Erfahrungen und Ideen auf unterschiedlich farbiges Papier geschrieben werden und aus den Papierteilen dann ein Mosaik bzw. Kaleidoskop entsteht, indem im Gespräch Gemeinsamkeiten und Verbindungslinien auch bei zunächst unverbunden scheinenden Begriffen herausgefunden werden.

Konsequenzen

Gewissermaßen als Resumee von Gottes schöpferischem Handeln als vergebender Vater und empathisch-verantwortungsvolle Autorität lassen sich die beiden Schöpfungserzählungen lesen: Während die zweite an die menschliche Verantwortung gegenüber der Um- bzw. Mitwelt appelliert und Verantwortung somit als Auftrag qualifiziert, lässt sich der Beginn der Bibel gewissermaßen als Projektskizze lessen, die auf ihre Weise aufzeigt, wie ein Stück HImmel in den Alltag gebracht werden kann.

Beide Schöpfungserzählungen, mit denen die Bibel beginnt, sind Erzählungen über den Schöpfer und sein Wesen, nicht über das Schöpfungswerk, d.h. über die genaue Entstehung des Lebens. Damit sind sie, ähnlich wie die übrigen biblischen Erzählungen, variierte Glaubensbekenntnisse in elementarer und narrativer Form: In einer besonderen geschichtlichen Situation wird der Gemeinde verkündet, auf welchen Gott sie vertrauen können und was dieser Gott von ihnen erwartet.

Damit besteht eine kontextuelle Analogie zur gegenwärtigen gemeinde­pädagogischen Situation, die im Folgenden an den Zielkontexten Familienzentrum, Ganztag und Erwachsenenbildung exem­plifiziert werden soll.

Bereits die Überschrift (Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde) verdeutlicht Kontext und Setting: Auch gemeindepädagogisches Handeln steht in einem globalen Kontext von Gabe und Aufgabe: Die Lebensgrundlagen sind von den Folgegenerationen her gesehen nur anvertraut. Ihre Bewahrung (Thema von Gen.2) steht unter Gottes Geleit.

Wenn Kinder, Eltern, Erzieherinnen, PädagogInnen und TheologInnen gemeinsam etwas aufbauen, z.B. in einem Familienzentrum, sind sie eingebunden in sein Heilswirken. Gleiches geschieht in der Konfirmandenarbeit, in der Jugendarbeit und im schulischen Ganztag sowie in den verschiedenen Formen der Erwachsenen- und Seniorenarbeit. Dabei wird deutlich, dass es letztlich (auch) um die menschliche Selbstaktualisierungs-Dynamik geht, die alle Generationen umschließt und in ihrer überindividuellen Bedeutung auch Institutionen beeinflusst (FRANZENBURG, 2010).

In den einzelnen Tageswerken des Schöpfungsberichts wird diese Verantwortung weiter entfaltet:

1) „Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“

Diese Beschreibung der Urflut lässt sich auch - mutatis mutandis - auf die Lebenswirklichkeit kleiner Kinder übertragen, die zunächst zwar keine unbeschriebenen Blätter sind, aber sich wie eine Wasserfläche vom Wind treiben lassen. Daher ist es wichtig, auf die passenden Winde zu achten. Außerdem sind stets die durch das Wasser in psychoanalytischer Deutung symbolisierten Emotionen zu berücksichtigen. Es kommt somit auf die Balance an, die vorhandenen Antriebe und Emotionen nicht vorschnell zu stauen, zu kanalisieren oder fließen zu lassen, sondern sie erst einmal wahrzunehmen, da sie konstitutiv zur jeweiligen Persönlichkeit gehören und ihrer Selbstaktu­alisierung dienen. Damit sich diese latente Entfaltungsdynamik ungehindert, aber angemessen aktualisieren kann, ist ein entsprechender Geist der Akzeptanz, Empathie und Wertschätzung wichtig. Den Kindern sollte ein umfassender Kontakt zu ihren Gefühlen ermöglicht werden, ohne dass sie von ihnen mitgerissen werden. Daher sollte auch Kontakt zu den Emotionen und Bedürfnissen der anderen Beteiligten gesucht werden. Darüber hinaus spielen Raum und Zeit, d. h. die Erkenntnis der Biografiebezogenheit von Erlebensinhalten, eine wichtige Rolle. Für den systemorientierten Zugang bedeutet diese Aussage, dass über die Biografiebezogenheit hinaus auch der konkrete Kontext wichtig ist. Wie Dinge erlebt werden, hängt auch mit Hierarchien, mit Konstellationen und Organisationsformen zusammen. Umgekehrt können gemeinsame Erfahrungen solche Strukturen aufbrechen. Beides sollte altersgemäß vermittelt warden.

Um deutlich zu machen, dass jede Aussage nicht nur eindimensional zu verstehen ist, sollten unterschiedliche Bedeutungs­zuschreibungen, bildhafte Füllungen und emotionalen Aufladungen und Gewichtungen von Worten beachtet werden. Auch das gilt es zu vermitteln.

Ähnliches gilt auch für die Licht-Metaphorik. Die zu Beginnn der Schöpfungserzählung geschilderte Energie hat mit psychischer, mentaler und emotionaler Energie zu tun, die erst durch klare Definition, als Abgrenzung und Bestimmung, handhabbar wird. Es kommt somit auf die Achtsamkeit und Wachheit aller Beteiligten an, wenn latente Bedürfnisse und Energien sich aktualisieren, Impressionen ihren Ausdruck finden. Auch dabei gilt es wahrzunehmen, ohne zu bewerten, im entsprechenden Geist der Akzeptanz, Empathie und Wertschätzung. Daher sollte Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auch hier ein umfassender Kontakt zu ihren Antrieben ermöglicht werden sollte, ohne dass sie von ihnen mitgerissen werden. Dafür ist es wichtig zu vermitteln, dass vermeintliche Störungen akzeptiert, wenn auch nicht immer unkommentiert hingenommen werden. Gemäß der Biografiebezogenheit der Erlebensinhalte gilt es diese kindgemäß ohne Bewertung als Lernmöglichkeit zu reflektieren.

Für den systemorientierten Zugang bedeutet dies, dass auch hier der Kontext einbezogen wird (nicht jede Gefühlsäußerung passt in jeden Kontext). An die Stelle des durch das Evangelium aufgebrochenen Tun-Ergehens-Zusammenhang sollte Empathietraining durch Perspektivwechsel (Rollenspiel, Figurenspiel) treten. Im Verhältnis von konfessionell-christlichen zu säkularen Kon­texten, Inhalten, Intentionen und Biografien geht es nicht um Scheidung, sondern um Unterscheidung (Daher ist die Nacht nicht völlig dunkel, der Tag nicht völlig hell). An die Stelle bloßer Schwarz-Weiß-Rhetorik sollte daher die Farbigkeit eines Sonnenauf- bzw. -untergangs, die besondere Stimmung einer Sternen- und Vollmondnacht bzw. eines diesigen Herbsttages treten. Auf diese Weise wird deutlich, dass auch der Einzelne Licht und Schatten in sich trägt, zwischen Himmel und Erde ausgespannt ist und diese Spannung auszuhalten hat. Auch dabei gilt es beide Eindrücke wahrzunehmen, ohne zu bewerten, im entsprechenden Geist der Akzeptanz, Empathie und Wert­schätzung.

Um in Kontakt mit den materiellen und transzendenten Bedürfnissen und Ressourcen zu gelangen, ist es hilfreich zu erfahren, dass Licht Farbenfülle meint, die auch im Kleinen und Unscheinbaren aufscheint. Es geht somit darum, die ganze Farbigkeit des Lebens auf sich wirken zu lassen und ihr Ausdruck zu geben. Auf diese Weise tritt an die Stelle eines polaren (oben-unten, Gewinner-Verlierer, Täter-Opfer) ein komplexes System, das sich durch gemeinsame Lernprozesse erschließen lässt; dazu gehört auch die Mehrdimensionalität von Kommunikation. Zu dieser gehört es, Grenzen zu ziehen, ohne aus- oder abzugrenzen, stets transparent zu machen, dass der Einzelne als eigenständige Persönlichkeit gewürdigt und akzeptiert wird, auch wenn nicht jedes Verhalten toleriert werden kann.

Um das eigene Potenzial zu entfalten, ist ein geschützter Raum nötig, der Konflikte mit den Entfaltungsmöglichkeiten anderer ausschließt. Dazu gehört auch das Wahrnehmen fremder Bedürfnisse. Dabei kann man sich am Prinzip des Schöpfungsberichtes orientieren: „Jeder nach seiner Art“, also am Prinzip, alle Wachstums- und Entwicklung fördernden Interventionen für die jeweilige individuelle Persönlichkeit zu betonen und das Gegenteil zu vermeiden. Dafür ist es hilfreich, im Geist der Akzeptanz, Empathie und Wertschätzung Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen den Kontakt zu ihren Wachstumsimpulsen aber auch zu äußeren Entwicklungsimpulsen zu ermöglichen bzw. zu erleichtern, was auch die Kunst von Kompromissen bzw. von Befriedigungsaufschub ein­schließt und positives Denken fördert.

Angesichts der Ambivalenzen und Wechselfälle im Leben ist eine frühe Vorbereitung auf eine Ambivalenz- und Frustrationstoleranz hilfreich.

Dazu gehört die Erfahrung, dass Licht und Schatten gleichermaßen ihren Platz und Wert im Leben haben. Dadurch wird der Einzelne befähigt, auch den eigenen und fremden Lebensschatten in Akzeptanz, Empathie und Wertschätzung anzunehmen im umfassenden Kontakt zu allen Anteilen der Persönlichkeit; außerdem lernt er dadurch die Fähigkeit zwischen Dingen, die man ändern kann und solchen, denen man ausgesetzt ist, zu unterscheiden. Das führt zu einer stärkeren Unabhängigkeit und Handlungsmotivation gegenüber kontingenzen und ambivalenten Situationen.

Dabei helfen biblische Modellgeschichten, Bewältigungsstrategien kennenzulernen und erproben. Das bedeutet zugleich einen extrem ressourcenorientierten und optimistischen Zugang im Sinne von Resilienz und Salutogenese, indem Menschen Zusammenhänge erkennen, sich als selbstbestimmt erleben und dem Geschehen einen Sinn abgewinnen und so ihre Selbst-Aktualisierung zu einem besseren Menschsein verwirklichen können.

Das Animalische und das Menschliche, Antriebe und Reflexionen machen die Person aus. Beides gilt es individuell und in Gemeinschaft zu integrieren. Für den personorientierten Zugang bedeutet dies ein möglichst ganzheitliches Menschenbild, das auch den Transzendenzbezug umfasst und zu einem Ganzen verhilft, das mehr ist als die Summe seiner Teile (FRANZENBURG, 2010).

Jesus Christus oder: Probleme von Interkulturalität

Wie bereits unter dem Blickwinkel der spirituellen Glaubenspraxis erörtert, ist im Glaubenbekenntnis und in der Glaubenswirklichkeit aus interkultureller und interreligiöser Perspektive vor allem die Christologie von Bedeutung. Während, wie gezeigt, die Stationen des Kirchenjahres unter praktisch-spirituellem Aspekt Dialoge bzw. Trialoge öffnen, soll im Folgenden der inhaltliche Aspekt im Mittelpunkt stehen.

Ausgehend von der Feststellung, dass in Evangelium immer wieder die Abrahamssohnschaft aller Glaubenden betont wird und auch die Nachkommen Ismaels, die Muslime, Gottes Segen genießen (Gen 17,18f.), soll ein Weg interkultureller und pluralistischer Hermeneutik gesucht warden, der weder ausschließt noch völlig integriert, sondern inkludiert.

Ein Weg dorthin führt über Lessings Ringparabel

Nachdem Nathan von Saladin gefragt wird, welche Religion, Christentum, Judentum oder Islam, er für die Wahre hält, antwortet Nathan, indem er eine Geschichte erzählt, in der ein Ring die wahre Religion symbolisiert.

„Vor grauen Jahren lebte ein Mann in Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, und hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, dass ihn der Mann in Osten darum nie vom Finger ließ; und die Verfügung traf, auf ewig ihn bei seinem Hause zu erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring von seinen Söhnen dem geliebtesten; und setzte fest, dass dieser wiederum den Ring von seinen Söhnen dem vermache, der ihm der liebste sei; und stets der liebste, ohn‘ Ansehen der Geburt, in Kraft allein des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn, auf einen Vater endlich von drei Söhnen; die alle drei ihm gleich gehorsam waren, die alle drei er folglich gleich zu lieben sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald der dritte - so wie jeder sich mit ihm alleine befand, und sein ergießend Herz die andern zwei nicht teilten, - würdiger des Ringes; den er denn auch einem jeden die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen. Das ging nun so, solang es ging. - Allein es kam zum Sterben, und der gute Vater kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort verlassen, so zu kränken. - Was zu tun? - Er sendet in geheim zu einem Künstler, bei dem er, nach dem Muster eines Ringes, zwei andere bestellt, und weder Kosten noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, vollkommen gleich zu machen. Das gelingt dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, kann selbst der Vater seinen Musterring nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft er seine Söhne, jeden insbesondere;gibt jedem insbesondere seinen Segen, - und seinen Ring, - und stirbt. - Kaum war der Vater tot, so kommt ein jeder mit seinem Ring, und jeder will der Fürst des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht erweislich; - Fast so unverweislich, als uns der rechte Glaube. Saladin . Wie? das sollDie Antwort sein auf meine Frage?.Nathan:. Soll Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe mir nicht getrau zu unterscheiden, die der Vater in der Absicht machen ließ, damit nicht zu unterscheiden wären. Saladin: Die Ringe! – Spiele nicht mit mir! – Ich dächte, daß die Religionen, die ich dir genannt, doch wohl zu unterscheiden wären. Bis auf die Kleidung, bis auf Speis' und Trank! Nathan.Und nur von seiten ihrer Gründe nicht. Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! – Und Geschichte muß doch wohl allein auf TreuUnd Glauben angenommen werden? – Nicht? –Nun, wessen Treu und Glauben zieht man dennAm wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? doch deren, die von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe gegeben? die uns nie getäuscht, als wo getäuscht zu werden uns heilsamer war? –Wie kann ich meinen Vätern wenigerals du den deinen glauben? Oder umgekehrt. –Kann ich von dir verlangen, daß du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das Nämliche gilt von den Christen. Nicht? –Saladin.(Bei dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. Ich muß verstummen.)

Die Söhne verklagten sich; und jeder schwur dem Richter, unmittelbar aus seines Vaters Hand den Ring zu haben. - Wie auch wahr! - Nachdem er von ihm lange das Versprechen schon gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu genießen. - Wie nicht minder wahr! - Der Vater, beteuerte jeder, könne gegen ihn nicht falsch gewesen sein; und eh‘ er dieses von ihm, von einem solchen lieben Vater, argwöhnen lasse; eh‘ müss‘ er seine Brüder, so gern er sonst von ihnen nur das Beste bereit zu glauben sei, des falschen Spiels bezeihen; und er wolle die Verräter schon auszufinden wissen; sich schon rächen. Der Richter sprach: Wenn ihr mir nun den Vater nicht bald zur Stelle schafft, so weis‘ ich euch von meinem Stuhle. Denkt ihr, dass ich Rätsel zu lösen da bin? Oder harret ihr, bis dass der rechte Ring den Mund eröffne? - Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; vor Gott und Menschen angenehm. Das muss entscheiden! Denn die falschen Ringe werden doch das nicht können! - Nun; wen lieben zwei von euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück? und nicht nach außen? Jeder liebt sich selber nur am meisten? – O, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger! Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren. Den Verlust zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater die drei für einen machen. Und also, wenn ihr nicht meinen Rat, statt meines Spruches wollt: Geht nur! - Mein Rat ist aber der: ihr nehmt die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: so glaube jeder sicher seinen Ring den echten. - Möglich; dass der Vater nun die Tyrannei des einen Rings nicht länger in seinem Hause dulden wollen! - Und gewiss; dass er euch alle drei geliebt, und gleich geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, um einen zu begünstigen. - Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochenen von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innig­sterErgebenheit in Gott zu Hilf‘! Und wenn sich dann der Steine Kräfte bei euren Kindeskindeskindern äußern; so lad‘ ich über tausend Jahre sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weis‘rer Mann auf diesem Stuhle sitzen als ich; und sprechen. Geht! -So sagte der bescheidene Richter.

Eine Möglichkeit, sich einer interkulturellen Hermeneutik im Sinne der Ringparabel zu nähern, ist eine aktualisierte Fassung des Gesprächs, das Nathan mit Saladin führt und das dessen Schwester und die unwissenden Geschwister Recha und den Tempelherrn, zu einer Familie vereint, denen diese Parabel gilt.

Denkbar ist eine KU-Situation, in der in Anwesenheit eines muslimischen Jugendlichen, den ein Konfirmand mitgebracht hat, und eines jüdischen Zeitzeugen, der am Abend einen Vortrag über Auschwitz halten soll, über Jesus diskutiert wird. Auslöser könnten die Bemerkungen von Konfirmanden sein, das mit der Jungfrauengeburt sei ja völlig unmöglich und ebenso, dass ein Leichnam nach drei Tagen das Grab verlässt. Eine Religion, die so etwas, auch dass ein Mensch Gottes Sohn sei, lehrt, sei doch wohl sehr antiquiert, denn solche Sachen könne man zwar antiken Sagen lesen, aber heute nicht mehr glauben.

Anknüpfend an die Ringparabel lassen sich diese Einwände folgendermaßen konstruktiv nutzen:

Lehrer: „Du hast sicherlich in der Schule mitbekommen, dass das Christentum von Anfang an viel von anderen Religionen und Weltanschauungen übernommen hat, angefangen vom Weihnachtstermin zur Wintersonnenwende über besondere Geburt, Gottessohnschaft, Wunderheilungen, Aufer­weckungen, Himmelfahrten und so weiter. Insofern ist das Christentum nicht etwas Besonderes.“ – Konfi: „Und warum ist es für uns so wichtig? – Yussuf ist halt genauso stolz auf seinen Islam und Allah und Sie, Mr. …. (zum jüdischen Zeitzeugen) auf Ihren Glauben“ – Zeitzeuge: „Ja, du hast Recht, ich bin genauso stolz auf mein Judentum, auch wenn meine Religion momentan mit den politischen Konflikten in Israel durcheinandergemengt wird; mir geht es aber um die Religion, und euch im Augenblick auch. Daher würde ich mich gern mit euch über die Ringparabel unterhalten um zu zeigen, warum es für uns wichtig ist, das Besondere einer jeden Religion heruaszustellen – habt ihr sie schon in der Schule besprochen? Ich möchte sie euch als moderner Nathan noch einmal neu erzählen:

Von Anfang der Welt an, seit es Menschen gab, hatte Gott, egal wie wir ihn nennen, dem Menschen seinen Segen zur Verfügung gestellt. Erkennen sollte man diese Kraft, in Gott und bei den Menschen geborgen zu sein, an einem kostbaren Ring. Den bekam immer derjenige Mensch, der ihm am nächsten stand und der sollte ihn entsprechend weitergeben.

Da meldet sich ein Konfi: „Das ist aber ungerecht – unter so vielen vorbildlichen Menschen immer nur einer!” Ein anderer stimmt zu: „Das ist mal wieder typisch Religion: immer die wenigen Auserwählten und die vielen anderen können zusehen…. “

Der jüdische Gast holt einen Ring aus der Tasche: „Was ist eigentlich das besondere an einem Ring? Sind es die Schmucksteine, der Goldgehalt oder was?“

Nach einigem Hin und Her einigt man sich darauf, dass der Anlass wichtiger als das Äußere ist und damit auch der bzw. die Schenkende. Dabei wird verwiesen auf Freundschafts-, Verlobungs- und Eheringe, auf Siegel- und Herrschaftsringe .

Der alte Mann erläutert: „Das Besondere an den Religionen ist ebenfalls nicht das Äußere, sonderen die „Kraft des steins im Ring:“

Von da aus aus kommen die Jugendlichen im Gespräch darauf, weniger auf die Formulierungen und Begriffe zu achten, als auf die Liebesbotschaft dahinter .

Der alte Mann fährt fort: „Und um diese Liebe geht es, die allen Menschen gleichermaßen gilt. Daher hat sich Gott so viel Mühe gemacht, die Ringe ununterscheidbar zu machen. Nur wir Menschen sind bestrebt, Unterschiede hervorzuheben, zu betonen und sogar als Gründe für Konflikte und als Kriegsauslöser zu nutzen.“

Ein Konfirmand: „Aber es gibt doch Unterschiede in Erzählungen, Ritualen Kleidung, Speisegebote usw.“ Der alte Mann stimmt ihm zu: „Das hatte Sultan Saladin Nathan gegenüber auch eingewendet. Der hatte sehr klug geantwortet: Alle Religionen beruhen auf geschichtlichen Er­zählungen, und am glaubwürdigsten sind diejenigen, die von den eigenen Vorfahren überliefert wurden. Weil sie nicht nur Daten und Informationen, sondern auch Liebe weitergegeben haben, wie im Fall des Rings; trotzdem sind es Erzählungen und nur die Liebe erweist ihre Wahrheit.“

Da meldet sich der Lehrer zu Wort: „Das gilt dann auch für einzelne Aussagen in diesen Geschichten, wie die Jung­frauen­geburt. Auch diese Aussage ist letztlich eine Liebesbotschaft; sie sagt: Jede Geburt, auch deine, ist ein Wunder und ein wunderbares Geschenk.Deshalb hast du mit der Geburt schon gewissermaßen Gottes Ring am Finger. Mit dem Vater unser machst du dir selbst deutlich, dass du sein Kind bist. Auch wenn nur ein Mensch sich besser fühlt, weil du bei ihm bist, ist das schon ein Heilungswunder. Auch die Auferstehung ist eine Liebesbotschaft an alle, die an dem neuen Leben interessiert sind, das in einem Augenblick etwas von der Ewigkeit verrät. Sie bedeutet: Wer Gottes Segen angenommen und wahrgenommen, gelebt und geteilt hat, braucht keine Angst vor dem Ende zu haben, weil diese Kraft bleibt. Dann ist es auch gleichgültig, wie du das danach ausmalst oder dir vorstellst.“

Zum Abschied meldet sich noch einmal der alte Jude zu Wort: „ Wir sind eben doch noch nicht an dem Punkt, den Lessing und Schiller und so viele vor und nach ihnen ersehnten: „Alle Menschen werden Brüder….“ Aber ich wünsche euch, dass ihr noch erlebt, dass die äußeren Unterschiede nicht mehr trennen und entfremden, sondern ein konstruktives Gespräch miteinander über Erfahrungen und Besonderheiten ermöglichen.“

So ähnlich könnnte sich ei interreligiöses Gespräch über Glaubensinhalte abspielen, das generations­übergreifend ermöglicht, sowohl die eigene Religion neu zu sehen als auch Zugänge zu fremden Religionen zu finden. So könnte sich z.B. die Diskussion um Verlobungs- und Eheringe zum Gespräch über Eheformen und Rituale in den Religionen ausweiten; ähnliches gilt für den Hinweis auf das jugendliche Alter von Maria. Die Anrede „unser Pappa” führt wahrscheinlich zu Dis­kussionen über das Verhältnis zu Gott als Herrn, wie es im Judentum und Islam vorherrscht. Außerdem könnte das Gespräch über Heilung sich ausweiten zum Nachdenken über das, was Menschen heil macht, über Ursachen und Symptome, über Resilienz und Salutogenese, z.B. über möglicherweise krankmachende und stärkende Verhaltensweisen. Das Gespräch über die letzten Dinge könnte ausgeweitet werden zum Vergleich zwischen Jenseitsvorstellungen im Judentum, Christentum und Islam, aber auch im Hinduismus, Buddhismus und bei nichtreligiösen Menschen.

Tod und Sterben oder: Umgang mit Endlichkeit

Um im Sinne kontextueller interkultureller und spiritueller Gemeindepädagogik damit umzugehen, bietet sich Psalm 39 bzw. Psalm 90 an: In beiden wird das memento mori-Motiv auf unterschiedliche Weise ausgemalt:

Psalm 90 erinnert an Hiobs Gespräch mit dem himmelweit überlegenen Gott, vor dem der endliche Mensch nur ein Grashalm ist:

HERR, Gott, du bist unsre Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt. Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahinmüssen. Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon. Wer glaubt aber, daß du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm? Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. HERR, kehre doch wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig! Fülle uns früh mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang. Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden. Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Ehre ihren Kindern. Und der HERR, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns; ja, das Werk unsrer Hände wolle er fördern!

Die Herausforderung dieses Psalms ist die Dialektik von Zorn und Gnade, vom deus absconditus und deus revelatus.

In die Lebenswirklichkeit von heute übertragen bedeutet das, mit Kontingenzerfahrungen fertig zu werden.

Das könnte so aussehen, einen eigenen Zufallsgenerator zu konstruieren:

Dafür werden aus Papier/Pappe mehrere Würfel gebastelt, auf deren sechs Seiten unterschiedliche Begriffe stehen.

Auf dem ersten Würfel finden sich folgende Begriffe:

Ich – Wir – die Gesellschaft – das Schicksal – Gott – meine Familie

Auf dem zweiten Würfel finden sich folgende Begriffe:

Sich freuen – Erfolg haben – Trauern – Arbeiten – Hoffen - Lieben

Auf dem dritten Würfel finden sich folgende Begriffe:

Unterbrechung – Anfang – Ende – Fortsetzung – Abbruch - Neubeginn

Auf dem vierten Würfel finden sich folgende Begriffe:

Leben – Leistung – Beziehung – Träumen – Spiel – Gemeinschaft

Wird mit allen vier Würfeln blind gewürfelt, so ergibt sich eine Wortkombination, die zu Geschichten anregt, die über den immanenten Rahmen hinausreicht.

So lässt die Kombination: Wir – Trauern – Fortsetzung – Spiel zahlreiche Deutungen zu, je nachdem, was jeweils mit den Begriffen konkret gemeint ist. Daher hat die gültige Deutung nur der/die Würfelnde mit seinem/ihren konkreten Anliegen. Leidet z.B. jemand an dem Verlust eines geliebten Menschen, dann kann er/sie aus der Kombination lesen: Mit dem Tod ist nicht alles aus, sondern das Beziehungsspiel geht auf andere Weise weiter; wenn Gemeinschaft auch in der Trauer gelebt wird, ist sie grenzenlos.

Anders als bei Orakeln sollte es nicht bei der einen Deutung bleiben, damit deutlich wird, dass diese (zufällige) Kombination und ihre individuelle Deutung auch eine Fülle an weiteren Deutungs­möglichkeiten eröffnet.

So lässt sich auch lesen: Grenzüberschreitende Gemeinschaft entsteht auch dann, wenn die Trauer in unterschiedlichen Aspekten und Facetten „durchgespielt“ wird, d.h. mit einer gewissen Gelassenheit, nach bestimmten Regeln.

Es könnte auch gemeint sein: Wenn das Spiel weiter fortgesetzt wird, trauern wir alle, können uns besser einfühlen in Trauer.

Wenn auf diese Weise verschieden Lösungen reflektiert werden, wird im Sinne von Psalm 90 ein anderes Umgehen mit Kontingenzen, also den Wechselfällen des Alltags, und ein neuer Blick auf Endlichkeit und Transzendenz ermöglicht: Aus der Furcht vor Gottes Zorn wird das Hoffen auf seine Gnade, aus der Verlusterfahrung die Fokussierung auf neue Formen der Gemeinschaft.

Ähnlich sieht es im Umgang mit Psalm 39 aus:

Aber, HERR, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß. Siehe, meiner Tage sind einer Hand breit bei dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! Sie gehen daher wie ein Schemen und machen sich viel vergebliche Unruhe; sie sammeln, und wissen nicht, wer es einnehmen wird. Nun, HERR, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich. Errette mich von aller meiner Sünde und laß mich nicht den Narren ein Spott werden. Ich will schweigen und meinen Mund nicht auftun; denn du hast's getan. Wende deine Plage von mir; denn ich bin verschmachtet von der Strafe deiner Hand. Wenn du einen züchtigst um der Sünde willen, so wird seine Schöne verzehrt wie von Motten. Ach wie gar nichts sind doch alle Menschen! Höre mein Gebet, HERR, und vernimm‘ mein Schreien und schweige nicht über meine Tränen; denn ich bin dein Pilger und dein Bürger wie alle meine Väter.

Laß ab von mir, daß ich mich erquicke, ehe ich den hinfahre und nicht mehr hier sei.

Hier liegt der Fokus auf der falschen Annahme, man könne es sich hier auf Erden für die Ewigkeit einrichten. Damit ist dieser Psalm noch stärker als Psalm 39 dem memento mori verpflichtet:

Lernen, sterblich zu sein, bedeutet lernen, richtig zu leben. Was der Psalmdichter hier ausdrückt, ist eine alte Menschheits- und Menschsein- Erfahrung. Allerdings gehört zum Menschsein auch die Eigenschaft, Unangenehmes zu verdrängen und zu ignorieren. Daher gilt es, immer wieder ein Bewusstsein zu schaffen für das Wesentliche im Leben, dafür, nicht immer aus dem Vollen schöpfen zu können. Darauf verweist auch das Evangelium: Jesus erzählt seinen Jüngern ein Gleichnis (Lk 12,16-21) über die Notwendigkeit, jederzeit mit dem Ende zu rechnen und nicht für die Ewigkeit auf Erden zu planen und zu sammeln. Die biblische Tradition verweist auf die Möglichkeit und Notwendigkeit, angesichts des sicheren Endes ein angemessenes Leben zu führen. Das setzt allerdings eine entsprechende religiöse Sozialisation und Offenheit voraus, die offenbar auch damals nicht selbstverständlich war. Das bringt die Notwendigkeit mit sich, die von Anfang an in uns angelegte Spannung zwischen Werden, Sein und Vergehen zu akzeptieren, auszuhalten und zu nutzen.

Das Entsetzliche aber, welches der Christ hat kennen lernen, ist die „Krankheit zum Tode". So formuliert Sören Kierkegaard sein Anliegen in der Einleitung zur „Krankheit zum Tode". Er greift damit das zentrale Anliegen der mittelalterlichen ars moriendi auf, indem er die Verzweiflung, nicht man selbst sein zu können, als Krankheit zum Tode charakterisiert. Das eigentlich Schreckliche angesichts der Endlichkeit des Daseins ist die Selbstentfremdung des Menschen bei ihrer Überwindung. Nur gestalten sowie den uns von Natur gegebenen Tod zur rechten Zeit auf uns zu nehmen. Gleichzeitig geht es darum, die prozentual und absolut zunehmende Zahl an Lebensjahren und Lebenszeit sinnvoll zu nutzen. Der Glaube betont: Wer sich ganz auf Christus bzw. Gott einlässt, kommt zu sich selbst und überwindet tatsächlich den eigentlichen Tod; das macht das Leben eigentlich kostbar, indem sich die Erfahrungen von Lebensleistung und Lebensbegrenzung immer mehr als Steigerung des Lebensgfühls mischen (GUARDINI, 1953)

Im Blick auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit spielen die unterschiedlichen Phasen im menschlichen Leben eine wichtige Rolle. Auch im täglichen Sprachgebrauch wird zwischen Kindheit, Jugend, jungem Erwachsenen, Erwachsenem, und altem Menschen unterschieden. In letzter Zeit werden die Erwachsenen- und Altersphasen noch weiter in die Generation 50+, 60+ … differenziert: Entweder als Lebensreife oder Alters­krise, als frühes, mittleres und höheres Erwachsenenalter oder als junges Erwachsenenalter, etabliertes Erwachsenenalter oder mittleres Erwachsenalter: Jede dieser Phasen hat ihre eigenen Aufgaben zu bewältigen. Menschliche Entwicklung beruht darauf, dass sich das Individuum in jedem Lebensalter mit ganz spezifischen Lebenssituationen auseinander zu setzen hat, was wiederum die jeweiligen Erlebnis-und Verhaltensweisen verändert.

Die„Gemeinschaft der Heiligen“ oder: Kirche als Dienstleisterin

„Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl es viele sind, einen Leib bilden, so auch Christus.Denn durch einen Geist wurden wir ja alle in einen Leib hineingetauft, ob Juden oder Griechen, ob Sklaven oder Freie; und alle wurden wir getränkt miteinem Geist. Und der Leib besteht ja nicht aus einem Glied, sondern aus vielen.Wenn der Fuß sagt: Weil ich nicht Hand bin, gehöre ich nicht zum Leib, gehört er nicht dennoch zum Leib? Und wenn das Ohr sagt: Weil ich nicht Auge bin, gehöre ich nicht zum Leib, gehört es nicht dennoch zum Leib? Ist der ganze Leib Auge, wo bleibt das Gehör? Ist er aber ganz Gehör, wo bleibt dann der Geruchssinn? Nun aber hat Gott alle Glieder an ihre Stelle gesetzt, ein jedes von ihnen an die Stelle des Leibes, an der er es haben wollte. Wäre aber alles ein Glied, wo bliebe der Leib? Nun aber gibt es viele Glieder, aber nur einen Leib.“

So beginnt das berühmte Bild, mit dem Paulus in seinem Brief an die Korinther (1Kor 13) Gemeinde beschreibt. Dieses Bild lädt dazu ein, es auf eine konkrete Situation zu übertragen:

Wo finde ich die einzelnen Körperteile in meiner konkreten Gemeinde­wirklichkeit wieder? Wo finde ich in der verfassten Gemeinde die geglaubte wieder? Wie kann ich mithelfen, sie deutlicher werden zu lassen?

Diese Fragen führen Beschäftigung mit der „Gemeinschaft der Heiligen“, die im Glaubensbekenntnis als ein Kennzeichen des Heiligen Geistes aufgeführt wird. Einen möglichen Zugang dazu bietet Bonhoeffers gleichnamige soziologische Dissertation, in der er seine These von „Christus als Gemeinde existierend“ ausführt. Für ihn ist die Gemeinde, wie er auch in seiner Ethik und öfter betont universale Gemeinde Gottes und zugleich konkrete Gestalt der Gesamtgemeinde Gottes im Sinne des Leibes Christi.

Während Bonhoeffer hier den Wert der Einzelgemeinde gegenüber der Gesamtkirche herausstellt, erörtert er die darin anklingende geschwisterliche Gemeinschaft im Alltag und damit die Ausprägung der geglaubten Gemeinde in der Institution in seinem Buch "Gemeinsames Leben" von 1939 Anregungen, das er am Ende seiner vierjährigen Tätigkeit als Leiter der Predigerseminare der Bekennenden Kirche schrieb. Hier betont er erneut, dass für ihn christliche Gemeinschaft keine Selbstverständlichkeit, sondern gnädiges Geschenk Gottes ist, um das es immer wieder zu beten und zu ringen gelte. Dabei spielt die Seelsorge als Begegnung mit dem Wort Gottes eine zentrale Rolle. Gemeinsames Leben müsse daher eingebettet sein in das Ganze der Kirche, um der Gefahr der Sektiererei zu entgehen.

Wie das konkret aussehen kann, beschreibt Bonhoeffer in dem Kapitel „Der gemeinsame Tag" als Stationen der christlichen Gemeinschaft, speziell einer Hausgemeinde. Er kommt ausführlich auf Morgen- und Abendandachten, auf die Arbeit und auf die Tischgemeinschaft zu sprechen. Am ausführlichsten widmet er sich dem gemeinsamen Gottesdienst am Morgen. Dieser Gottesdienst soll seiner Meinung nach bestehen aus Schriftlesung, aus dem Lied und aus dem Gebet. Er kommt also zu den ganz einfachen Elementen der Urkirche zurück. Das gilt auch für die Dienste, die in der Gemeinschaft konstitutiv sind: Anhören, tätige Hilfsbereitschaft, Tragen und der Dienst mit dem Wort Gottes.

Mit diesen Äußerungen spielt Bonhoeffer auf eine wichtige Szene aus der Frühzeit des Christentums an:

Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen. Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen, und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.

Hier lohnt sich, gemeinsam ein „Rezeptbuch” zu entwickeln, um dieses Ergebnis zu erreichen. Dazu gehören sicherlich die von Bohoeffer erwähnten Tugenden wie auch weitere, die sich davon ableiten, wie Empathie, Kongruenz, Authentizität und Verbindlichkeit, oder auch die paulinische Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe. Wichtig ist bei diesem Rezeptbuch, weniger dem Schema von Ursache-Wirkung zu folgen, sondern eher prozessorientiert vorzugehen; sinnvoller als die Überlegung: um c zu erreichen, benötige ich a und b im Verhältnis 1:2 in genau dieser Reihenfolge erscheint die Offenheit dafür, was passiert, wenn ich, statt wie bisher c oder d, auf einmal a oder g anwende. Auf eine konkrete Situation bezogen heißt das: Wenn ich möchte, dass in meiner Gemeinde der Gottesdienst stärker beachtet und besucht wird, besteht die traditionelle Lösung, Informationen über Besucherwünsche zu sammeln und umzu­setzten. Eine Alternative besteht darin, durch sein eigenes Auftreten und Verhalten zu vermitteln, dass der Gottesdienst tatsächlich im Mittelpunkt des Gemeindelebens steht; merke ich bei dieser Gelegenheit, dass das für mich doch nicht zutrifft, muss ich meine Zielperspektive oder mein Verhalten ändern.

Schlussbetrachtungen:

Was bedeutet: Ich glaube an Gott in der Praxis?

Nach dem skizzenhaften Durchgang durch die Geschichte des Glaubensbekenntnisses, nach der ebenso skizzenhaften Beschäftigung mit seiner Bedeutung und Funktion für den Einzelnen und die Gemeinschaft und nach einigen Experimenten mit einer neuen Sicht auf Kirchenjahr und Gemeinde lässt sich diese Frage dreifach beantworten:

1. Aus dem Blickwinkel der persönlichen Glaubensgeschichte bedeutet „Ich glaube an Gott“: Meine spirituellen Erfahrungen ermutigen mich, auch mein Fragen und Suchen ernstzunehmen und ebenso das Suchen und Fragen derer, denen ich begegne. Die Reflexion und der Austausch darüber verändert, bereichert und erweitert meine Glaubensaussagen und Formulierungen. Diese Erfahrungen öffnen mich für ähnliche Experimente.

2. Aus dem Blickwinkel der individuellen und kollektiven Glaubenspraxis lässt sich die Frage folgendermaßen beantworten:

Das gemeinsame Feiern, unabhängig von der Frage nach formeller Korrektheit, ermutigt dazu, angesichts der intra- und interreligiösen Pluralität bestehende Feste mit neuen Narrationen und Ritualen zu ergänzen und neue gemeinsame Feiern zu kreieren, in denen der inklusive und plurale Charakter von Religiosität und Spiritualiät zum Ausdruck kommt.

3. Aus dem Blickwinkel der individuellen und kollektiven Glaubenswahr­heit(en) wird zwar manches von dem in der Praxis und pragmatisch Erprobten als anzustrebende, aber momentan nicht realistische Vision relativiert. Dennoch lässt es die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft auf der einen Seite und das zunehmende Interesse an einer „niedrigschwelligen säkularen Religiosität” andererseits nur noch als eine Frage der Zeit erscheinen, bis sich eine plurale und pluralistische Religiosität, zumindest als Ergän­zungsangebot, neben den „Experten- oder Hochreligionen” etabliert hat.

Alle drei Perspektiven lassen Glauben in der Praxis als individuell erlebt, aber gemeinschaftlich gelebt erscheinen, was soziale Verantwortung bedeutet: Glaube bewährt sich vor allem im Umgang mit Ressourcen und in ihrer angemessenen Verteilung. Vor allem lassen sie als wichtigste Ressource für Glauben und Leben die eigene Biografie als Teil kollek­tiver Erinnerungskultur und kultureller Identität durchscheinen:

Auch wenn ich mich mit Texten, Formeln, Ritualen, Gesprächspartnern oder Theorien beschäftigte, bin ich stets mit mir selbst und meinen Erfahrungen konfrontiert. Daher regen die Überlegungen dazu an, mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auf diesem Weg der Integration unterschiedlicher Biografien und Lebenswelten Erfah­rungsspuren miteinander zu teilen, die jenseits von Theologien und Institutionen den Glauben gemeinsam erschließen.

Literatur zur Vertiefung:

Alheit, Peter, Transitorische Bildungsprozesse: Das „biographische Paradigma“ in der Weiterbildung. In: Mader, W. (Hrsg.): Weiterbildung und Gesellschaft. Grundlagen wissenschaftlicher und beruflicher Praxis in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 17. Bremen 1993, 343–417

Bonhoeffer, Dietrich, Sanctorum communio, Gütersloh 1986

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Buber, Martin, Ich und Du, Stuttgart 1995

Bucher, Anton A . Alter Gott zu neuen Kindern? Neuer Gott von alten Kindern? Was sich Kinder unter Gott vorstellen. In: Vreni Merz (Hrsg.), Alter Gott für neue Kinder? Das traditionelle Gottesbild und die nachwachsende Generation. Freiburg Schweiz 1994

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Guardini, Romano , Die Lebensalter. Ihre ethische und pädagogische Bedeutung. Würzburg 1953

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Kierkegaard, Sören, Entweder - Oder, München 1975

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Nipkow, Karl-Ernst, Erwachsenwerden ohne Gott, München 1987

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Oberthür, Rainer, Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, München 1995

Oser, Fritz/ Gmünder, Paul, Der Mensch, Zürich/Köln 1984

Ricoeur, Paul , Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004

Rogers, Carl, On becoming a person, Boston 1961

Schweitzer, Friedrich, Lebensgeschichte und Religion, Gütersloh, 1994

Watzlawick, Paul, Man kann nicht nicht kommunizieren, Bern 2011

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Was bedeutet „Ich glaube an Gott“ in der Praxis?
Untertitel
Das Apostolikum als Modell kontextueller Gemeindepädagogik
Hochschule
Universität Münster
Veranstaltung
Gemeindepädagogik
Autor
Jahr
2014
Seiten
72
Katalognummer
V280143
ISBN (eBook)
9783656743040
ISBN (Buch)
9783656743026
Dateigröße
737 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Apostolikum, Gemeindepädagogik
Arbeit zitieren
Geert Franzenburg (Autor:in), 2014, Was bedeutet „Ich glaube an Gott“ in der Praxis?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/280143

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