Die Angehörigenbetreuung auf einer Intensivstation

„Das Bedürfnis nach Informationen“


Magisterarbeit, 2014

104 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Ziele
1.2.1 Forschungsfragen
1.2.2 Struktur und Aufbau der Arbeit

2 Theoretischer Bezugsrahmen
2.1 Literaturrecherche
2.2 Familien – System Theorie
2.2.1 Kernfamilie
2.2.2 Systemtheorie
2.3 Konzept der familien- und umweltbezogenen Pflege
2.4 Information versus Kommunikation
2.4.1 Kommunikation als System
2.4.2 Kommunikation zwischen Pflegepersonal und Angehörigen
2.4.3 Menschliche Bedürfnisse
2.4.4 Bedürfnis – Turm
2.5 Pflegefachkompetenz
2.5.1 Stufe 1: Neuling
2.5.2 Stufe 2. Fortgeschrittener Anfänger
2.5.3 Stufe 3: Kompetente Pflegende
2.5.4 Stufe 4: Erfahrene Pflegende
2.5.5 Stufe 5: Pflegeexpertin
2.6 Angehörigenbetreuung
2.6.1 Familien auf einer Intensivstation
2.6.2 Bedürfnisse der Angehörigen eines Intensivpatienten
2.6.3 Aufklärungs- und Informationsgespräche
2.6.4 Bedürfnis nach Information
2.6.5 Betreuungskonzepte

3 Methodik
3.1 Qualitative Forschung
3.1.1 Phänomenologie in der qualitativen Forschung
3.1.2 Gütekriterien qualitativer Forschung
3.1.3 Ethische Aspekte
3.1.4 Population und Stichprobe
3.1.5 Ein- und Ausschlusskriterien
3.1.6 Problemzentriertes Interview als Messinstrument
3.1.7 Halbstrukturierter Interviewleitfaden
3.1.8 Transkription
3.1.9 Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2008)

4 Ergebnisse
4.1 Darstellung der Ergebnisse
4.1.1 Warteraum vor der Intensivstation
4.1.2 Ganzheitliche Pflege
4.1.3 Bedürfnisse
4.1.4 Emotionen
4.1.5 Empfinden
4.1.6 Erleben
4.1.7 Verbesserungspotential
4.2 Zusammenfassung der Ergebnisse

5 Diskussion mit Limitationen und Ausblick
5.1 Limitation
5.2 Ausblick

6 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang

1 Einleitung

Jährlich werden ca. 170 000 Menschen in Österreich auf einer Intensivstation aufgenommen (Statistik Austria, 2008, S. 456). Die Intensivstation ist ein Ort, der es aufgrund von Hightech-Technik ermöglicht, Patienten in lebensbedrohlichen Situationen zu überwachen, zu behandeln und zu pflegen. Die Ziele der therapeutischen Interventionen sind Erhaltung, Stabilisierung und Verbesserung des Gesundheitszustandes der Patienten (Metzing, 2003). Für die Patienten auf der Intensivstation selbst nehmen Angehörige eine unverzichtbare Rolle ein. Nicht nur die erkrankte Person, sondern auch die ganze Familie ist in dieser Ausnahmesituation betroffen und darum sollte auch den Angehörigen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden (Kuhlmann, 2004).

Die Wissenschaft hat sich in den letzten drei Jahrzehnten vermehrt mit der Angehörigenbetreuung von Intensivpatienten befasst, die sich vorwiegend auf den angloamerikanischen Raum beschränken (Bijttebier et al., 2001). Im deutschen Sprachraum gibt es seit dem letzen Jahrzehnt einige Untersuchungen hinsichtlich Angehörigenintegration bzw. Betreuung auf Intensivstationen (Kuhlmann, 2004; Metzing, 2003).

Es zeichnet sich in den letzten Jahren in der internationalen Pflegefachliteratur eine neue Perspektive ab. Die Menschen werden als Teil eines sozialen Systems gesehen, in dem sie eine Rolle erfüllen und darum hat für die Pflege in diesem Zusammenhang der Begriff der „Angehörigenintegration“ an Bedeutung gewonnen (Metzing, 2003). Eine Familie wird als System verstanden, das aus Subsystemen, den jeweiligen Mitgliedern der Familie, besteht. Die Krankheit eines Familienmitgliedes wirkt sich auf das gesamte System aus und kann deshalb eine Krise auslösen (Metzing, 2003).

Ein Mensch der im Krankenhaus stationär aufgenommen wurde, bekommt in der Regel Besuch von seinen Familienmitgliedern. Besucher sind alltäglich im Krankenhaus anzutreffen und so haben Pflegepersonen nicht nur mit dem erkrankten Patienten selbst, sondern auch mit den Angehörigen zu tun.

Der Besuch der Familienmitglieder kann als Schnittstelle zwischen Patient als Individuum im medizinisch-pflegerischen System und seinem familiären System betrachtet werden (Metzing, 2003). Die äußeren, strukturell vorgegebenen Bedingungen einer Intensivstation zeigen oft schon, dass sich für die Familienmitglieder von Intensivpatienten eine fremde und besondere Situation ergibt. Die Sorge um den lebensbedrohlichen Zustand des Patienten kommt hinzu (Kuhlmann, 2004).

Angehörige wirken auf einer Intensivstation oft hilflos und verunsichert. Sie befinden sich, wie die Patienten selbst auch, in einer schweren, existenziellen Krise. Familienmitglieder geben den Intensivpatienten Geborgenheit, Orientierung, Nähe und Hoffnung. Angehörige sind für den Patienten somit eine Brücke zur Außenwelt (Kuhlmann, 2004).

Die Angehörigenbetreuung stellt auch für das Pflegepersonal eine große Herausforderung dar. Die Angehörigen sind Teil der Umgebung des Intensivpatienten und spielen eine zentrale Rolle bei der Förderung seiner Gesundheit. Zahlreiche qualitative Studien belegen, dass Familienangehörige oder andere wichtige Bezugspersonen eine entscheidende Rolle für die Genesung des Patienten spielen (Kuhlmann, 2004; Metzing, 2003). Eine gute Beziehung zu den Angehörigen sowie Unterstützung durch das Pflegepersonal birgt das Potenzial, die Genesung des erkrankten Familienmitglieds positiv zu beeinflussen (Kuhlmann, 2004). Durch die Angehörigenintegration wird die „ganzheitliche Pflege“ deutlich, welche die direkte Einbindung von Angehörigen vorsieht. Die Angehörigenintegration ist oft die einzige Verbindung zwischen Intensivpatienten und dem gesamten Behandlungsteam (Kuhlmann, 2004).

1.1 Problemstellung

Der Aufenthalt auf einer Intensivstation steht im engen Zusammenhang mit einer für den Patienten lebensbedrohlichen und kritischen Situation. Das Erleben solcher Situationen tritt für die Patienten oftmals unvorhersehbar ein, sodass die Menschen keine Möglichkeit haben, sich auf diese Situation vorzubereiten (Besendorfer, 2002). Die Aufnahme schwerkranker Patienten auf einer Intensivstation stellt nicht nur für die Patienten, sondern auch für deren Angehörige eine Extremsituation dar. Daraus resultiert, dass vom ersten Moment an bis über Wochen, das Leben für Angehörige nicht mehr planbar ist (Engström, Söderberg, 2004). Ein Intensivaufenthalt von erkrankten Familienmitgliedern kann für Angehörige als sehr belastend empfunden werden (Bijttebier et al., 2001). Diese Situation am Anfang macht es den Angehörigen schwer, richtig zu reagieren. Wie und was Patienten sowie Angehörige auf der Intensivstation zum Zeitpunkt des Aufenthaltes fühlen, ist nach außen hin häufig nicht erkennbar (Kuhlmann, 2004). Rose (1995) zeigt auf, dass die Emotionen und die Gefühle wie eine Achterbahn verlaufen. Angehörige unterdrücken ihre emotionalen Gefühle, weil sie der Meinung sind, es sich nicht leisten zu können, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen (Johansson et al., 2002).

Wissenschaftliche Studien belegen auch, dass Angehörige von Intensivpatienten durch die plötzliche Erkrankung geschockt und großem Stress ausgesetzt sind (Kuhlmann, 2004; Pochard et al., 2001). Paul, Rattray (2008) belegen, dass Zustände wie Angst, Depression, oder posttraumatisches Stresserleben bei Angehörigen häufig vorhanden ist. Diese Symptome haben Angehörige oft auch noch lange nach der Entlassung von der Intensivstation.

Das Gefühl der Hilflosigkeit im Angesicht des hoch technisierten Umfeldes kann Angehörige sehr belasten. Weiters wird auch wissenschaftlich belegt, dass Angehörige und Patienten ein großes Informationsbedürfnis haben (Bijttebier et al. 2001).

Besonders in den ersten Stunden und Tagen nach der Aufnahme des Intensivpatienten haben die Angehörigen das Bedürfnis nach ehrlichen und verständlichen Informationen über den gesundheitlichen Zustand des Patienten, die Behandlung, Prognose und die Sicherheit, dass ihr Familienmitglied die bestmögliche Versorgung und Pflege erhält (Bijttebier et al. 2001). Nach Engström, Söderberg (2004) wird das „Nicht Wissen“ als besonders schlimmes Erlebnis definiert. Die Auskunft über den gesundheitlichen Zustand erfolgt über den Arzt. Die Pflegepersonen werden als Vertrauenspersonen von Angehörigen angesehen und so müssen sie meistens die Informationen von den Ärzten übersetzen (Engström, Söderberg, 2004). Gaul et al. (2002) führen bei ihrer quantitativen Studie an, dass 60,3% der Angehörigen bei pflegerischen Tätigkeiten mitwirken möchten. Die Bezugspersonen hätten dadurch die Möglichkeit, sich mit dem Zustand der Pflegebedürftigkeit schon während der Akuterkrankung auseinander zu setzen und es kann ein intensiver Kontakt zum erkrankten Familienmitglied sowie zu den Pflegekräften entstehen (Gaul et al., 2002).

In der Praxis wird dieses Informationsbedürfnis von Pflegekräften oftmals unterschätzt, obwohl pflegetheoretisch die Auffassung vertreten wird, dass Pflegende nicht nur für den Patienten, sondern auch für die Betreuung und Unterstützung der Angehörigen verantwortlich sind (Kuhlmann, 2004).

In der zu verfassenden Arbeit wird die Autorin die „Familien – System Theorie“ beschreiben, danach folgt die Auseinandersetzung mit der Systemtheorie und dem Konzept der familien- und umweltbezogenen Pflege von Marie-Luise Friedemann und anschließend wird die Kommunikation als System vorgestellt (Friedeman, Köhlen, 2010).

1.2 Ziele

Ziel der Arbeit ist es, das Erleben von Belastungssituationen bei Angehörigen von Intensivpatienten darzustellen. Weiters sollen die Informationsbedürfnisse der Angehörigen von Patienten auf Intensivstationen aufgezeigt werden. Die Erkenntnisse sollen das Pflegepersonal auf Intensivstationen unterstützen, sich ein Bild von der Realität der Angehörigen aus der Betroffenenperspektive zu machen. Dieses Wissen kann dazu beitragen, die „Angehörigenbetreuung“ auf der Intensivstation zu reflektieren und zu diskutieren.

1.2.1 Forschungsfragen

Folgende Fragen sollen im Rahmen der vorliegenden Arbeit beantwortet werden:

1. Wie erleben die Angehörigen von Patienten den Aufenthalt auf einer Intensivstation?
2. Welche Informationsbedürfnisse haben Angehörige von Patienten während des Intensivaufenthaltes?
3. Inwieweit möchten Angehörige in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden?
4. Werden die Fragen von Angehörigen durch das Pflegepersonal ausreichend beantwortet?

1.2.2 Struktur und Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Im theoretischen Teil werden auf Basis der Ergebnisse aus der Literaturrecherche die Familien-System Theorie und die Angehörigenbetreuung auf der Intensivstation dargestellt. Das Konzept der familien- und umweltbezogenen Pflege von Marie-Luise Friedemann bildet den theoretischen Hintergrund.

Im empirischen Teil wird als Studiendesign die Methode der qualitativen Forschung verwendet. Das Forschungsinteresse liegt darin, die Bedürfnisse der Angehörige während des Intensivaufenthaltes eines Familienmitglieds in Erfahrung zu bringen. Die Intention dieser Untersuchung ist es, eine dichte Beschreibung von Phänomenen und Handlungen von Betroffenen zu erklären.

Die Datenerhebung erfolgt anhand der Durchführung eines problemzentrierten Interviews mit Angehörigen von Patienten auf der Intensivstation im LKH-Graz West. Die Autorin erstellt einen halbstrukturierten Interviewleitfaden, dieser ermöglicht eine gute Rekonstruktion der Erlebnisse. Die Datenauswertung erfolgt mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (2007).

2 Theoretischer Bezugsrahmen

Im folgenden Teil werden die Ergebnissen aus der Literaturrecherche beschrieben und die Familien–System Theorie mit Begriffsdefinition vorgestellt. Danach folgen die Auseinandersetzung mit der Systemtheorie und dem Konzept der familien- und umweltbezogenen Pflege von Marie-Luise Friedemann, sowie Ausführungen zur Kommunikation als System. Für die Autorin hat das Konzept der familien- und umweltbezogenen Pflege eine große Bedeutung, da es ein wichtiger Bestandteil für die Angehörigenbetreuung auf der Intensivstation ist.

2.1 Literaturrecherche

Die systematische Literaturrecherche erfolgte im Zeitraum Oktober 2009 bis Februar 2011. Nach Artikeln und Studien zu diesem Thema wurde in folgenden elektronischen Datenbanken gesucht: CINAHL, PubMed, MEDLINE, EBCOhost in Academic Search Elite und Carelit. Im Internet wurde mit Hilfe der Suchmaschinen Google und Google Scholar relevante Literatur gesucht. Es wurde nach systematischen Übersichtsarbeiten und Studien in deutscher und englischer Sprache recherchiert. Weiters wurde nach Zeitschriften über den Hans Huber Verlag „Pflege“, Pflegewissenschaft und der Fachzeitschrift „Intensiv“ gesucht. Ergänzend wurde an der Bibliothek der UMIT in Hall und über die Homepage der Universität Witten-Herdecke zum Thema „Angehörigenbetreuung“ recherchiert. Das Suchprotokoll zur Literaturrecherche ist im Anhang der vorliegenden Arbeit ersichtlich.

Die Recherche beschränkte sich auf aktuelle Literatur aus den letzten zehn bis fünfzehn Jahren. Methodische Einschlusskriterien bezogen sich auf Qualität und Texttyp der einzelnen Publikationen nach Behrens und Langer (2006, S. 165). Ausgeschlossen wurden Studien, die sich explizit mit Kindern als Patienten sowie mit den Themen „Trauern, Sterben und Hirntodproblematik“ beschäftigen. Die Ein- und Ausschlusskriterien werden in der Tabelle 1 dargestellt.

Tabelle 1: Ein- und Ausschlusskriterien (eigene Darstellung)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Recherche erfolgte anhand folgender Suchbegriffe: „family“, „members“, „familiy members“, „family nursing“, „critical care“ „patient“, „experience“, „intensiv care unit“, „communication skills“, welche zum Teil einzeln sowie in Kombination verwendet wurden.

Durch Setzen von Bool’schen Operatoren (AND und OR) und Trunkierungen wurde die Suche in den Datenbanken eingegrenzt, erweitert sowie erleichtert. Die häufigsten Treffer wurden in den Datenbanken CINAHL, PubMed und Academic Search Elite erzielt. Die Auswahl der relevanten Artikel erfolgte anhand der Abstracts.

2.2 Familien – System Theorie

Für die Bearbeitung des gewählten Themas ist es notwendig einige Begriffe der „Familien – System Theorie“ genauer zu definieren.

2.2.1 Kernfamilie

Der Begriff „Familie“ stammt aus dem Griechischen „oikos“ bedeutet sowohl Haus als auch Familie (Gehring et al. 2001, S. 17). Die Kernfamilie besteht aus Eltern mit ihren biologischen Kindern. Die Struktur der Kernfamilie ist weder ideal noch problematisch. Diese Mitglieder müssen in jeder Form des Zusammenlebens ihre Ziele und Werte durch Systemänderung, Kohärenz und Individuation erreichen. Die Gefahren, die die Kernfamilien bedrohen, sind Wertkonflikte (Friedemann, Köhlen, 2010, S. 83). Familienformen sollten differenziert werden, um das Bild der Familie vom „Ballast der Idealisierung“ zu entlasten. Das ist eine schwierige Aufgabe für ein System, dessen Erhaltung von nur zwei erwachsenen Personen abhängt. Durch bestimmte Werte und Ansichten, wird die Familienkongruenz angegriffen und die Stabilität der Familie bedroht. Laut Familiendefinition werden nach der Theorie des systemischen Gleichgewichtes nur wenige Familien als reine Kernfamilien betrachtet. Es ist nicht nur wichtig wer innerhalb eines Haushaltes wohnt, sondern wer zum familiären Netz oder zu einer erweiterten Familie dazugehört. Dieses Netz übernimmt die Funktion der Systemerhaltung und wird zu einem wichtigen Faktor für Stabilität in der Kernfamilie (Friedemann, Köhlen, 2010, S. 84).

2.2.2 Systemtheorie

Ein „System“ wird als geordnetes Ganzes verstanden, dessen Elemente in bestimmten Beziehungen zueinander sowie in ständiger Interaktion miteinander stehen. Es handelt sich um eine Organisationstheorie, die sich mit Dynamiken von Teilen innerhalb eines Ganzen befasst. Es wird davon ausgegangen, dass jede Aktion eine Reaktion in der Umwelt hervorruft, völlig unabhängig davon, ob es sich um eine physikalische, soziale oder chemische Aktion handelt. Ein System ohne die Umwelt gibt es nicht. Denn solange kein System da ist, kann in unserem systemtheoretischen Weltschöpfungsmythos der Urstoff vor der Erschaffung der Welt keine Umwelt darstellen (Krieger, 1998, S. 13). Es wird von einer System/Umwelt-Differenz gesprochen, die von Lohmann (1994) wie folgt bezeichnet wird: „Systeme sind nicht nur gelegentlich und nicht nur adaptiv, sie sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz. In diesem Sinne ist Grenzerhaltung Systemerhaltung (Lohmann, 1984, S. 35 zit. aus Krieger, 1994, S. 13).

2.3 Konzept der familien- und umweltbezogenen Pflege

Friedeman (2010) sieht das Konzept der familien- und umweltbezogenen Pflege als konstruktive Antwort auf die Schwierigkeit, die Familie und die Umwelt in die Pflege einzubeziehen.

Die familien- und umweltbezogene Pflege orientiert sich am Paradigma von Umwelt, Mensch, Gesundheit und Pflege. Gesundheit und Pflege beziehen sich nicht nur auf das Individuum, sondern auch aus der Perspektive der Familie und ihrer Subsysteme (Friedeman, Köhlen, 2010, S. 25). Die Umwelt ist ein Kontext, in dem sich die Menschheit bewegt. Die Umwelt umschließt nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts alle Systeme, die den Menschen und seine Familie umgeben.

Der Mensch definiert seine Identität über seine Beziehungen zu seiner Umwelt wie z. B. zu Mitmenschen oder Gegenständen. Die menschliche Realität wird über die Funktionen seines Körpers bestimmt und ist deshalb eingeschränkt (Friedemann, Köhlen, 2010, S. 27). Die Gesundheit ist der Ausdruck der Kongruenz des menschlichen Systems in Rhythmus und Muster nach außen mit seiner Umwelt und nach innen mit seinen Subsystemen. Jeder Mensch empfindet und erlebt Gesundheit und sie ist nährende Energie, die dem Menschen ein tiefes Wohlbefinden verleiht. Die Gesundheit verleiht Kraft, die zum Handeln und Denken motiviert und den täglichen Störungen erfolgreich entgegenwirkt. Ein allgemeines Wohlbefinden kennzeichnet die „Gesundheit“. Die Gesundheit fördert die Systemfunktionen und hilft Angst abzubauen. Sie kann jedoch begrenzt sein, da immer wieder Systemstörungen auftreten können. Eine körperliche Krankheit wird durch eine Systemstörung des organischen Subsystems hervorgerufen. Durch Systeminkongruenz entsteht Angst, die wiederum ein Symbol für fehlende Gesundheit ist. Die Konzepte der Gesundheit und körperlichen Krankheit müssen als getrennte und unterschiedliche Begriffe aufgefasst werden. Die Pflege sowie die medizinische Behandlung sind auf die Krankheit ausgerichtet und es gilt die empfundene Gesundheit in den Vordergrund zu rücken, um die Kongruenz wieder herzustellen. Reichen die Regulation und die Kontrolle nicht mehr aus, um Kongruenz nach außen und Gesundheit nach innen zu erlagen, verlagert sich der pflegerische Schwerpunkt auf die Kohärenz- und Individuationsdimension (Friedemann, Köhlen, 2010, S. 36).

Die Familie ist ein System mit Subsystemen und innerhalb der Familie schließen sich gewisse Mitglieder zu interpersonellen Subsystemen zusammen, um bestimmte Aufgaben zu lösen. Sie wird als unabhängiges offenes System verstanden, das mit seiner Umwelt in Austausch steht. Die Familienmitglieder müssen nicht verwandt sein, aber sie müssen in Beziehung stehen und eine Familienrolle ausüben (Friedemann, Köhlen, 2010, S. 37). Die Familienzugehörigkeit ist immer subjektiv zu betrachten und muss aus der Perspektive jeder einzelnen Person entschieden werden. Je nach der Perspektive des einzelnen Menschen kann sich die Familienstruktur ändern. Dieser subjektive Unterschied der Familienzusammengehörigkeit aus der Betroffenenperspektive muss in der Pflege zuerst geklärt werden. Für die Pflegepersonen ist es wichtig zu erfahren, wer zur Familie gehört, wie wichtig diese Personen für den Patienten sind und welche Rolle sie im täglichen Leben spielen (Friedemann, Köhlen, 2010, S. 39).

Die Pflege nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts ist mit der Pflege der systemischen Einheit Mensch, Familie und Umwelt, gleich zu setzen. Die Pflege wird als Dienstleistung auf allen Systemebenen verstanden (Individuum, Familie, Interaktionssystem, Gemeinde). Die Pflege des Individuums schließt die Familie, die Umweltsysteme sowie ihre Subsysteme mit ein. Das Ziel der Pflege ist es, Prozesse aufzuzeigen, die dem System das Kongruenzstreben erleichtern oder ermöglicht. Das Ziel des Systems ist die Gesundheit. Durch eine bessere Familienkongruenz werden auch die einzelnen Mitglieder der Familie, Gesundheit finden. Nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts liegt der Grund in der Vernetzung der der einzelnen Personen untereinander (Friedemann, Köhlen, 2010, S. 49).

Laut Friedemann (2010) bedeutet die Pflege der Familie, eine Verlagerung des Pflegeansatzes auf eine höhere Systemebene, zu Interaktionssystemen, zum Familiensystem oder zu Umweltsystemen, die mit der Familie zusammenarbeiten. Die Voraussetzung der familien- und umweltbezogenen Pflege ist, dass die Familie die wichtigste Vernetzung für die betroffenen Personen bedeutet. Das Einbeziehen der Familie in die Pflege ist dort nötig, wo Angehörige nach der Krankenhausentlassung der Person für die Pflege mit integriert werden (Friedemann, Köhlen, 2010, S. 62).

2.4 Information versus Kommunikation

Nach Simon (2009) wird dann von Information gesprochen, wenn Einschätzungen oder Daten zu einem bestimmten Zweck mitgeteilt werden. Die Information reduziert das Unbekannte sowie die Ungewissheit (Simon, 2009, S. 16). Die Kommunikation ist ein Informationsaustausch zweier Personen. Der Sender ist der Kommunikator, von dem die Information ausgeht und der Empfänger ist der Kommunikant, der sie erhält (Simon, 2009, S. 16). Menschen sprechen oft von Kommunikation ohne genau zu wissen was das Wort eigentlich beinhaltet. Eine der Hauptunterscheidungen, wie die Kommunikation betrachtet werden kann, bezieht sich auf den Inhalt der übertragenen Nachricht. Wenn zwei Personen miteinander kommunizieren, ist es wichtig, wie der Empfänger die Nachricht des Sprechers interpretiert und versteht. Die Kommunikation kann nur dann als erfolgreich betrachtet werden, wenn die gesagten Worte gemeinsam eine ähnliche Vorstellung ausgelöst haben. Die Grundvoraussetzung sind die Überschneidungen und Gemeinsamkeiten der erworbenen Sprachkenntnis. Die Kommunikation kann als jede Form von Verhalten und Handlung verstanden werden, sobald sie auf ein bestimmtes Gegenüber, einen Handlungs- bzw. Interaktionspartner ausgerichtet ist. Kommunikation kann als Austausch von Mitteilungen bzw. Informationen zwischen Individuen aufgefasst werden (Watzlawick et al. 2007, S. 50).

Watzlawick bestätigt auch, dass Kommunikation nicht nur dann stattfindet, wenn sie absichtlich bewusst und erfolgreich ist, sondern wenn gegenseitiges Verständnis zustande kommt (Watzlawick et al. 2007, S. 52)

Watzlawick beschreibt sein Kommunikationsmodell auf Basis der Systemtheorie. Er definiert folgende Aspekte: Systeme bestehen aus (abgrenzbaren) Elementen und zwischen diesen Elementen bestehen Wechselbeziehungen. Jedes System besitzt eine Grenze nach außen, die mehr oder weniger durchlässt. Die Beziehungen zwischen einem System und seiner Umgebung (Umwelt) entstehen an den Systemgrenzen. Hier entscheidet sich, was in einem System „hineinkommen“ (Input) bzw. „herauskommen“ (Output) kann. Systeme zeigen im Allgemeinen ein zielgerichtetes Entwicklungsverhalten“ (Watzlawick et al. 2007, S. 52-53).

Watzlawick trägt diese theoretischen Vorüberlegungen auf menschliche Beziehungen Er betrachtet dabei das Individuum als Grundelement eines Systems und bezeichnet menschliche Beziehungen sowie Kommunikationsabläufe als „offenes System“ (Watzlawick et al. 2007, S. 52-54). Wenn bei einem Kommunikationsprozess drei Menschen miteinander kommunizieren, agieren diese Personen als ein dreifaches Ganzes, die ein System bilden (Simon, 2009, S. 23).

2.4.1 Kommunikation als System

Ein System wird als zusammengesetzte Einheit definiert und besteht wiederum aus Einzelbestandteilen oder Elementen (Simon, 2009, S. 69). Die Kommunikation ist ein wichtiges Merkmal sozialer Systeme. Kommunikation wird als Synthese dreier Selektionen, als „Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen“ aufgefasst (Krieger, 1998, S. 100). Sind nicht alle drei Sektionen vorhanden, ist die Kommunikation gescheitert. Damit das Kommunikationssystem aufrechterhalten bleibt, muss Kommunikation an Kommunikation angeschlossen werden. Dieses System besteht nicht nur aus Gedanken und Gefühlen, sondern aus einer Kette von Kommunikationen. Diese Kette wird miteinander vernetzt, dass allein darüber Auskunft gibt, ob man verstanden worden ist oder nicht (Krieger, 1998, S. 101).

Im Kommunikationsprozess bezieht sich Kommunikation nicht operativ auf den Menschen, oder innerpsychische Zustände, sondern selbstreferentiell auf die Kommunikation (Krieger, S. 1998, S. 102).

2.4.2 Kommunikation zwischen Pflegepersonal und Angehörigen

Das Pflegepersonal hat nicht nur mit den Patienten, sondern auch mit ihren Angehörigen zu tun. Das können Familienmitglieder (Eltern, Kinder etc.) oder auch Nachbarn, Freunde und Bekannte sein (Matolycz, 2009, S. 231). Die Kommunikation mit Angehörigen ist oft schwierig, bedingt durch die Sorge, Angst und Unsicherheiten. Hier kann eine verbesserte Kommunikation im Pflegebereich als Antistressor wirken. Eine gute Voraussetzung ist eine ausreichende Information beim Erst- oder Aufnahmegespräch mit Patienten und Angehörigen. Dadurch wissen Pflegeexpertise vieles über die speziellen Bedürfnisse, Vorlieben, Abneigungen oder die Biographie des Patienten (Matolycz, 2009, S. 233). Kommunikative Kompetenz muss erlernt werden, damit diese in die tägliche Arbeit mit einfließen kann. Damit es kompetent gelebt wird, ist theoretisches Wissen über die Kommunikation Voraussetzung, um es die Praxis anzuwenden. Des Weiteren hat die kommunikative Kompetenz einen herausragenden Stellenwert für die berufliche Handlungsfähigkeit von Pflegepersonen. Die Kommunikationsfähigkeit sowie die Integration des gesamten Behandlungsteams ist für den kritisch kranken Menschen und für den Angehörigen eine unabdingbare Voraussetzung. Pflegerische Gespräche mit dem Patienten und Familienmitgliedern bilden die Basis für eine vertrauensvolle und förderliche Zusammenarbeit. Der gegenseitige Informationsaustausch, sowie die pflegerische Beratung und die emotionale Unterstützung fördern die Zusammenarbeit mit den Angehörigen (Herzog, 2001). Die kommunikative Kompetenz führt zu einer professionellen Beziehung zwischen Patient, Angehörigen und Pflegepersonen, wobei der Patient im Vordergrund steht. Sie besteht in der Fähigkeit, dass die Pflegepersonen mit den Problemen, Ängsten, Sorgen von Patienten und Angehörigen angemessen umgehen kann. Die pflegerische Fachkompetenz ist eine wesentliche Grundlage zur Umsetzung der professionellen Pflege (Herzog, 2001).

2.4.3 Menschliche Bedürfnisse

Nach Birkenbihl (2006) heißt optimal kommunizieren, die Bedürfnisse des anderen nicht zu missachten. Ein Gesprächspartner, der die Bedürfnisse seines Gegenübers anspricht, ist dem Gesprächspartner lieber, als eine Person, die nur die eigenen Bedürfnisse befriedigt (Birkenbihl, 2006, S. 46). Um die Bedürfnisse der anderen Person zu berücksichtigen, muss versucht werden, alle Bedürfnisse in Kategorien einzuteilen, so dass das Erkennen der Bedürfnis-Kategorien des anderen schnell und leicht vonstattengeht. Denn nur was im Prinzip einfach ist, kann automatisch werden und wenn das Erkennen und Eingehen auf die Bedürfnisse anderer Personen automatisch wird, werden diese Personen bei den Gesprächen gut kommunizieren. (Birkenbihl, 2006, S. 48). Aus den Bedürfnissen entstehen individuelle Maßnahmen zu deren Befriedigung und diese Maßnahmen sichern das Leben oder die Gesundheit. Weiters fördern sie die Genesung oder tragen zu einem friedlichen Tod bei. Mit den Begriffen Kraft (Physis, Körper), Willen (Geist) wird die Ganzheitlichkeit eines Menschen definiert (Menche, 2007, S. 100).

2.4.4 Bedürfnis – Turm

Die menschlichen Bedürfnisse lassen sich in fünf Stufen gliedern. Jede Stufe beschreibt eine Kategorie von Bedürfnissen und deren Nichtbefriedigung führt immer ein Defizit herbei (Birkenbihl, 2006, S. 48). In der Stufe 1 sind die Grundbedürfnisse, wie z.B. Atmung, Schlaf, Nahrung, Wärme, Gesundheit, Wohnraum, Sexualität, Bewegung enthalten. Die Stufe 2 bedeutet Sicherheit und Geborgenheit, dazu zählen Recht und Ordnung, Schutz vor Gefahren, festes Einkommen, Absicherung, Unterkunft. In der Stufe 3 werden die sozialen Bedürfnisse beschrieben (z.B. Familie, Freundeskreis, Partnerschaft, Liebe, Intimität, Kommunikation). Weiter beschäftigt sich die Stufe 4 mit den Individualbedürfnissen. Hier geht es um Höhere Wertschätzung durch Status, Respekt, Anerkennung, Wohlstand, Geld, Einfluss, private und berufliche Erfolge, mentale und körperliche Stärke. Die letzte und 5 Stufe wird als Selbstverwirklichung definiert wie z.B. Individualität, Talententfaltung, Perfektion, Erleuchtung, Selbstverbesserung (Birkenbihl, 2006, S. 49). Die oberen Stufen werden so lange realisiert, wie die Basis ist. Werden einer Person die unteren Stufen weggezogen, so interessieren ihn die Bedürfnisse der oberen Stufe erst dann wieder, wenn er das Fundament neu errichtet hat (Birkenbihl, 2006, S. 49).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Bedürfnispyramide nach Abraham Harold Maslow (www.informatikkaufmann-azubi.de/tagebuch/wp-c, 27.03.2010)

2.5 Pflegefachkompetenz

In dieser Arbeit ist es notwendig, sich mit den Stufen der Pflegekompetenz von Benner (2000, S. 36ff) zu befassen, da sich nur über das Verständnis des Kompetenzerwerbes Ableitungen schaffen lassen (Benner, 2000, S. 36ff). Die fünf Stufen der Pflegekompetenz sind: „Stufe 1: Neuling, Stufe 2: Fortgeschrittener Anfänger; Stufe 3: Kompetente Pflegende, Stufe 4: Erfahrene Pflegende, Stufe 5: Pflegeexperte (Expertenstufe)“ (Benner, 2000, S. 41-53).

2.5.1 Stufe 1: Neuling

Anfänger haben noch keine Erfahrungen in zu handelnden Situationen. Sie müssen belehrt werden, da sie auf keine Erfahrungen zurückgreifen können. Der Anfänger ist jedoch in der Lage messbare Anzeichen (z.B. Puls, Blutdruck, Gewicht etc.) für den Zustand des Patienten zu erkennen, „ohne Erfahrung mit der Situation gemacht zu haben“ (Benner, 2000, S. 41). Da der Neuling keine Erfahrungen mit den Situationen gemacht hat, besteht die Schwierigkeit darin, dass er auf Regeln angewiesen ist, an denen er sein Verhalten ausrichten kann. Das Befolgen von Regeln steht oft im Weg, da in einer realen Situation die Regeln dem Neuling nicht definitiv sagen, welche Aufgaben nun Prioritäten haben. Nicht nur den Schüler in der Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung wird diese Rolle des „Neulings“ zugeschrieben, sondern auch Spezialisten mit einer qualifizierten Ausbildung können wieder zum Neuling werden, wenn sie auf ein bislang unbekanntes Gebiet stoßen (Benner, 2000, S. 42).

2.5.2 Stufe 2. Fortgeschrittener Anfänger

Der fortgeschrittene Anfänger hat bereits viele Situationen bewältigt. Er hat Erfahrung mit realen Situationen gemacht und es sind ihm die Aspekte der Situation bewusst. Wenn ein Patient bereit ist, sich auf etwas „Neues“ einzulassen, ist der fortgeschrittene Anfänger in der Lage, das Erfassen von Attributen einer Situation hinaus zu erkennen. In der Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung wird der fortgeschrittene Anfänger so geschult, dass er auf Fragen des Patienten achtet und in der Lage ist, diese zu beobachten. Dies beruht auf Erfahrungen, die der fortgeschrittene Anfänger in gleichartigen Situationen bereits gemacht hat (Benner, 2000, 42-43).

2.5.3 Stufe 3: Kompetente Pflegende

Diese Stufe befähigt Pflegende, die zwei bis drei Jahre Berufserfahrung im gleichen oder ähnlichen Berufsfeld haben, ein bewusstes und überlegtes Planen zu ermöglichen (Benner, 2000, S. 45). Dieses Planen ermöglicht ein effizientes und organisiertes Arbeiten. Sie haben noch nicht so eine schnelle und flexible Arbeitsweise wie erfahrene Pflegende, aber sie sind ihren Aufgaben gewachsen und werden mit den möglichen Anforderungen, die ihr Beruf an sie stellt, fertig (Benner, 2000, S. 46).

2.5.4 Stufe 4: Erfahrene Pflegende

Diese Stufe charakterisiert, dass erfahrene Pflegende Situationen als Ganzes wahrnehmen. Wahrnehmung wird hier als Schlüsselwort definiert. Bestimmte Situationen werden spontan entschieden, da sie auf der Grundlage von früheren Erfahrungen basieren. Sie haben einen anderen Blickwickel und können Entscheidungen aufgrund ihrer ganzheitlichen Auffassung leichter treffen. Erfahrene Pflegende können sich ein umfassendes Bild von der Situation verschaffen und sind in der Lage, Möglichkeiten auszuschließen und auf den Kern des Problems vorzustoßen (Benner, 2000, S. 47-48).

2.5.5 Stufe 5: Pflegeexpertin

Pflegeexperten können aufgrund ihres weitreichenden Erfahrungsschatzes jede Situation intuitiv erfassen und ohne großen Zeitaufwand direkt auf den Kern des Problems vorstoßen (Benner, 2000, S. 50). Jedoch ist es auch für Pflegeexperten von Bedeutung, Analysen durchzuführen, vor allem dann, wenn der Experte noch keine Erfahrung in der zu handelnden Situation gemacht hat (Benner, 2000, S. 52-53).

2.6 Angehörigenbetreuung

Nach George (2005) sind es die Beziehungen zu den Angehörigen, welche für die Lebensqualität der Patienten von Bedeutung sind (George, 2005). Zegelin (2005) beschreibt, dass das „Patientsein“ auf einer Intensivstation ohne Zweifel eine lebensbedrohliche Situation darstellt und darum ist die Anwesenheit vertrauter Menschen so lebenswichtig (Zegelin, 2005). George und George (2003) zeigen auf, welchen positiven Einfluss die Angehörigenintegration während des Krankenhausaufenthaltes des erkrankten Familienmitglieds haben kann. Familie bedeutet für einen Menschen oft Sicherheit, emotionale Verbundenheit und soziale Zugehörigkeit. Während des Intensivaufenthaltes in denen Angst, Hilfebedürftigkeit und Ungewissheit vorherrschen, stellen Angehörige eine große Unterstützung dar. Durch die Anwesenheit der Angehörigen wird die Lebensqualität der Patienten gesteigert, das Wohlbefinden erhöht und die Genesung gefördert (George, George, 2003). Fischer et al. (2008) haben Pflegepersonen über die Angehörigenintegration im Krankenhaus befragt. Die Pflegepersonen geben an, dass die Anwesenheit der Familie für den Patienten wichtig ist und für Wohlbefinden sorgt. Außerdem wird vom Pflegepersonal bestätigt, dass die Kommunikation der Weg zu einer vertrauensvollen Beziehung ist und dass die Unterstützung der Angehörigen ein Aufgabenbereich von Pflegepersonen ist. Die Pflegepersonen sehen es als ihre Verantwortung und ihre Kompetenz, Angehörigen adäquat zu informieren (Fischer et al., 2008).

2.6.1 Familien auf einer Intensivstation

Die Intensivstation ist ein Ort im Krankenhaus, an dem die heutige moderne Medizintechnologie zum vollen Einsatz kommt. In dieser High-Tech Umgebung müssen die Pflegepersonen und Ärzte die akute Versorgung und Stabilisierung eines akut erkrankten Menschen durchführen und gleichzeitig über ein fundiertes Wissen verfügen. Der daraus resultierende Schwerpunkt des Intensivpflegepersonals ist eindeutig bestimmt durch das Management dieser biophysiologischen Gesundheitskrise, in der selten Zeit und Raum für die Familienmitglieder bleibt (Gehring, 2001, S. 112). Wird durch bestimmte Ursachen eine Behandlung auf der Intensivstation notwendig, kann das eine existenzielle Bedrohung für Patienten und Angehörige sein. Diese Bedrohung wird nicht nur durch Beschwerden und Symptome der Krankheit selbst ausgelöst, sondern ist auch Folge der verunsichernden, beängstigenden, oft bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannten Situation auf der Intensivstation. Nach Kean (2010) ist für die Angehörigen eines der größten Probleme die Ungewissheit, die bei lebensbedrohlichen Erkrankungen besteht (Kean, 2010). Mit dieser Situation geht meist einher, dass der Patient zunächst bei der Aufnahme von seinen Angehörigen getrennt wird und auch später restriktive Regelungen der Besuchszeiten den Kontakt zu diesen Bezugspersonen erschweren (Metzing, 2003).

Eine Anzahl von Studien (Kuhlmann, 2004; Bijttebier et al., 2001) mit Familien von Intensivpatienten weisen auf unterschiedliche Bedürfnisse und Stressoren, die aus einer solchen Krisensituation heraus entstehen können, hin (Kuhlmann, 2004; Bijttebier et al., 2001). Ebenfalls wird belegt, dass Bezugspersonen als erstes Informationen erhalten sollen, wenn ihr Familienmitglied erkrankt (Kean, 2010, Freitas, 2007).

Zu Beginn einer lebensbedrohlichen Erkrankung und wenn nicht klar ist, ob das Familienmitglied überleben wird, durchleben Angehörige eine Zeit, die geprägt ist von Gefühlen der Hoffnung, Ängsten und Unsicherheiten (Rose, 1995). Für die erkrankten Familienmitglieder nehmen die Bezugspersonen eine unverzichtbare Rolle ein, denn es ist nicht nur der Patient, sondern die ganze Familie betroffen (Wright, Leahey, 2007).

Pochard et al. (2001) belegen, dass die Aufnahme von Intensivpatienten für die Familienmitglieder nicht nur ein akutes Stresserleben darstellt, sondern dass bei 72% der Angehörigen und sogar bei 84% der Ehepartner, Symptome von Angst und Depressionen auftreten (Pochard et al. 2001). Weitere Studien zeigen, dass die Familienmitglieder beim erkrankten Patienten einen positiven Einfluss auf die Genesung haben (Kuhlmann, 2004; Metzing, 2003; Bijttebier, 2001).

2.6.2 Bedürfnisse der Angehörigen eines Intensivpatienten

Im angloamerikanischen Raum hat sich bereits seit Ende der siebziger Jahre die Erhebung der Bedürfnisse von Familienmitgliedern mit einem lebensbedrohlich erkrankten Angehörigen auf einer Intensivstation, als ein Forschungsschwerpunkt abgezeichnet. Es wurde ein Einschätzungsinstrument CCFNI (Critical care needs family inventory = Erhebung der Bedürfnisse von Familien mit einem Angehörigen auf einer Intensivstation) von Molter (1979) entwickelt (Kuhlmann, 2002). Dieser Fragebogen umfasst 45 Bedürfnisse, die sich in folgende fünf Bedürfniskategorien einteilen lassen: „Unterstützung, Trost, Information, Nähe und Zuversicherung/Zuversicht“ (Kuhlmann, 2002). Kuhlmann (2002) hat in einer Literaturarbeit sieben Studien von unterschiedlichen Ländern (USA, Belgien und England) verglichen und dabei die Bedürfnisse von Angehörigen kritisch kranker Menschen betrachtet. Eine ausreichende Information, Nähe und Zusicherung sind die zentralen Bedürfnisse vieler Bezugspersonen. Die Familienmitglieder erwähnen, dass eine umfassende und realistische Information für bestimmte therapeutische und pflegerische Maßnahmen im Vordergrund steht. „Nähe“ heißt, dass die Angehörigen sich wünschen, ihr erkranktes Familienmitglied häufig besuchen zu können. „Zusicherung“ für Bezugspersonen bedeutet, Vermittlung von Hoffnung, Sicherheit in einer Atmosphäre von Ehrlichkeit, das Vertrauen und aber auch die Gewissheit, dass der Patient gut und umsorgend behandelt wird (Kuhlmann, 2002).

Nach Burhold (2010) spielen Trost und Unterstützung der Angehörigen eine große Rolle. Das Bedürfnis nach Nähe äußert sich während des Intensivaufenthaltes nicht nur darin, beim erkrankten Familienmitglied zu sein, sondern sich auch selbst Trost zu spenden und aktiv an der gesamten Situation und der Pflege teilzuhaben (Burhold, 2010).

Auch bei der Literaturstudie von Verhaeghe et al. (2005) werden 46 englischsprachige Publikationen im Rahmen dieser Thematik zusammengefasst.

Bei den meisten Untersuchungen wird ebenfalls das zuverlässige und ausgewertete Einschätzungsinstrument CCFNI (Critical care needs family inventory) verwendet.

Besendorfer (2002) stellt in ihrer qualitativen Studie mit sieben erzählenden Interviews die Erfahrungen von Intensivpatienten vor. Besonders bedeutsam dabei ist die nachträgliche Rekonstruktion des Erlebten durch die Patienten. Den interviewten Personen ist es offensichtlich sehr wichtig, dass sie, wenn sie sich nicht selbst erinnern können, über dritte Personen erfahren, was in dieser Zeit mit ihnen selbst und mit ihren Angehörigen geschehen ist. Bei dieser Rekonstruktion sind vertrauensvolle, glaubhafte Aussagen und Berichte von Angehörigen, Pflegenden und Ärzten hilfreich. Eine weitere Annahme, die aus den Interviews abgeleitet wird, ist, dass das Wiedererlangen der Orientierung und Erinnerung dieser Zeit, sich wahrscheinlich gemeinsam mit dem Krankheitserleben auf das Erleben von Pflege und Behandlung auswirkt (Besendorfer, 2002).

Wenn die erkrankten Personen grundsätzlich Vertrauen zu den Pflegenden und der Behandlung haben, können sie etwaige Irritationen des Vertrauens oder sogar Fehler in der Behandlung akzeptieren, nicht aber, wenn das Grundvertrauen fehlt. Das Vertrauen wird als „übergeordnetes Phänomen“ gesehen und hat an vielen konkreten Stellen einen entscheidenden Einfluss auf das Erleben der Patienten (Besendorfer, 2002).

2.6.3 Aufklärungs- und Informationsgespräche

Die Aufklärungsgespräche werden immer von den Ärzten durchgeführt, jedoch dürfen Pflegepersonen mit den Patienten über deren Prognose, Erkrankung und Therapie sprechen. Hier fließt die ganzheitliche Betreuung in den pflegerischen Alltag mit ein. Nach § 9 (1) GuKG (1997) haben Angehörige der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe „den betroffenen Patienten, Klienten oder pflegebedürftigen Menschen, deren gesetzlichen Vertretern oder Personen, die von den betroffenen Patienten, Klienten, oder pflegebedürftigen Menschen als auskunftsberechtigt benannt wurden, alle Auskünfte über die von ihnen gesetzten gesundheits- und krankenpflegerischen Maßnahmen zu erteilen“ (GuKG, 1997, S. 1283).

Die ärztliche Aufklärung darf an andere Berufsgruppen nicht weiter delegiert werden. Pflegepersonen übernehmen in den meisten Fällen eine Vermittlerrolle zwischen Arzt, Patient und Angehörigen (Wiesing et al., 2000). Wie der gesundheitliche Zustand des Patienten ist, verspüren die Angehörigen meist schon durch die nonverbale Kommunikation des Behandlungsteams. Daraus ergeben sich Unsicherheiten und es werden Fragen an die Pflegepersonen gestellt. Die Pflegepersonen sind in diesen Situationen kommunikativ gefordert, eine passende Antwort zu finden, die dem Patienten als auch den Angehörigen weiterhilft (Wiesing et al., 2000).

Nach Kuhlmann (2004) sollen Ärzte und Pflegekräfte eine gemeinsame Aufklärung anstreben, denn wenn beide Seiten wissen, welche Informationen die Angehörigen schon erhalten haben, lassen sich Unsicherheiten und Hilflosigkeit bei den Angehörigen reduzieren (Kuhlmann, 2004). Die Pflegepersonen haben selbstverständlich bei Informationen von Angehörigen die Datenschutzbestimmungen einzuhalten. Es geht nicht darum, den Angehörigen Diagnosen oder Untersuchungsergebnisse mitzuteilen. Das Pflegepersonal muss verstehen, dass ein „Nicht-Informieren“ Auswirkungen auf das Wohlbefinden des Patienten hat (Van Horn, Tesch, 2000).

2.6.4 Bedürfnis nach Information

Bijttebier et al. (2001) beschreiben in der Studie, dass die Angehörigen, vor allem in den ersten Stunden und Tagen nach der Aufnahme, ein hohes Bedürfnis nach ehrlichen und verständlichen Informationen über den gesundheitlichen Zustand des Patienten haben. Außerdem informieren sich die Angehörigen über die Prognose sowie über weitere Behandlungsmaßnahmen und möchten wissen, ob ihr Familienmitglied optimal betreut und versorgt wird (Bijttebier et al., 2001). Das Informationsbedürfnis seitens der Angehörigen wird sowohl verlangt als auch vom Pflegepersonal oftmals unterschätzt und gehört trotz seiner offensichtlichen Bedeutung für die Bezugspersonen, zu den am wenigsten erfüllten Bedürfnissen der Angehörigen (Bijttebier et al., 2001). Die Pflegepersonen können durch die Kommunikation mit den Angehörigen zusätzlich wichtige Informationen gewinnen, die ihnen bei der Pflege des Patienten helfen kann. (Bijttebier et al., 2001).

[...]

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Die Angehörigenbetreuung auf einer Intensivstation
Untertitel
„Das Bedürfnis nach Informationen“
Hochschule
UMIT Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik  (Institut für Pflegewissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
104
Katalognummer
V279577
ISBN (eBook)
9783656725008
ISBN (Buch)
9783656724957
Dateigröße
820 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Familie, Erleben, Intensivstation, Kommunikationsmöglichkeiten, Pflege, Pflegewissenschaft, Angst und Sorgen um den kranken, ihnen nahestehenden Menschen
Arbeit zitieren
Sandra Moritz (Autor:in), 2014, Die Angehörigenbetreuung auf einer Intensivstation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/279577

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