Rechtsnaturalismus und Interessenjurisprudenz. Ein Vergleich aus rechtstheoretischer Sicht


Seminararbeit, 2012

19 Seiten, Note: 16


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

B. Rechtsnaturalismus
I. Begriffserklärung und zeitgeschichtlicher Kontext
II. Der Naturalismus in der Rechtstheorie
1. Rechtssätze im sogenannten ethischen Naturalismus
2. Rechtsnaturalismus im strafrechtlichen Kontext
III. Gegner des Rechtsnaturalismus und deren Kritik

C. Interessenjurisprudenz
I. Begriffsklärung und zeitgeschichtlicher Kontext
II. Die Interessenjurisprudenz in der Rechtstheorie
1. genetische und produktive Interessenjurisprudenz
2. Methodologie und Gesetzesauslegung
3. Gesetzeslücken
III. Kritiker der Interessenjurisprudenz

D. Zusammenhang zwischen Rechtsnaturalismus und Interessenjurisprudenz

E. Wo stehen wir heute?

Literaturverzeichnis

A. Einleitung

Naturalismus und Interessenjurisprudenz sind nur zwei der wesentlichen Strömungen der deutschen Rechtswissenschaft in der Zeit vom ausgehenden 19. bis zu den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Diese Zeit ist insbesondere im damaligen Kaiserreich reich an bahnbrechenden Innovationen quer durch alle Bereiche der Wissenschaft. Im Bereich der Jurisprudenz steht dafür nur exemplarisch die Einführung des BGB als erste gesamtdeutsche Zivilrechtskodifikation.

Der Gang dieser Untersuchung soll zunächst die Begriffe „Rechtsnaturalismus“ und „Interessenjurisprudenz“ umreißen und sie sodann in ihren jeweiligen rechtstheoretischen Kontext stellen.

B. Rechtsnaturalismus

I. Begriffserklärung und zeitgeschichtlicher Kontext

Der Begriff des Naturalismus bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch zunächst eine Literaturgattung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Unter „Naturalismus“ wird des Weiteren im heutigen Wissenschaftsdiskurs die Vorstellung verstanden, dass jedes Phänomen grundsätzlich einer „natürlichen“ Erklärung zugänglich ist.[1] In der Jurisprudenz wird er eher selten gebraucht und findet vor allem Anwendung in der Rechtsdogmatik, um die Methodologie der deutschen Strafrechtswissenschaft während der Zeit des Deutschen Kaiserreichs zu kennzeichnen. Als wesentlicher Vertreter gilt der Jhering-Schüler und Rechtsprofessor Franz von Liszt.

Gemäß dem Rechtshistoriker Franz Wieacker handelt es sich beim juristischen Naturalismus um den Versuch einer Legitimation der Rechtsordnung durch die Begriffe „Ursachen“, „Zwecke“ und „Motive“, die in einer mechanistisch oder vitalistisch interpretierten Wirklichkeit die Grundlage des Rechts bilden.[2] Wieacker argumentiert, dass im zwanzigsten Jahrhundert viele Erklärungen ein kausales Antlitz tragen. Bezogen auf das Recht bedeutet dies, dass es sich „von nun nicht mehr aus einer über dem Recht stehenden Gerechtigkeitsidee legitimiert, sondern als Produkt von Mitteln und Zwecken der Wirklichkeit, die nicht mehr auf eine überwirkliche Gerechtigkeit bezogen ist.“[3]

Damit stellte sich der Rechtsnaturalismus den anderen Methodologien dieser Zeit entgegen. Auf der einen Seite steht dabei die sogenannte Konstruktions- oder Begriffsjurisprudenz, die im Wesentlichen auf den Arbeiten des deutschen Juristen Georg Friedrich Puchta beruht. Die Begriffsjurisprudenz basiert auf der Pandektistik und damit der Historischen Schule, die von Friedrich Carl von Savigny begründet wurde. Die Pandektenwissenschaft wiederum rekurriert auf die Anschauung des rechtswissenschaftlichen Positivismus, welcher die Rechtssätze und ihre Anwendung ausschließlich aus System, Begriffen und Lehrsätzen der Rechtswissenschaft ableitet, ohne außerjuristischen, etwa religiösen, sozialen oder wissenschaftlichen Wertungen und Zwecken rechtserzeugende oder rechtsändernde Kraft zuzugestehen.[4] Folglich bildet auch die Grundlage der Begriffsjurisprudenz die Anwendung logischer Methoden auf das Recht. Im Rahmen eines mathematisch-geometrisch Prozesses sollen Sätze und Begriffe in ein lückenloses und widerspruchsfreies System überführt werden. Juristische Entscheidungen ergehen sodann durch den Einsatz von Obersätzen, Definitionen und Subsumtionen. Rechtsschöpfung durch den Richter sah die Begriffsjurisprudenz nicht vor. Die Begründung dieser Überzeugung entnahm Savigny der Rechtslehre Kants, nach der die Rechtsordnung nicht Sittlichkeit ist, sondern diese erst ermöglicht und daher ein „selbständiges Daseyn“ hat.[5] Diese philosophische Fundierung ist später verblasste. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich die prinzipielle Vorstellung durchzusetzen, dass Recht eine Funktion der Wirklichkeit sei.[6]

Naturalistischen Tendenzen lassen sich daher häufig bei den Kritikern der Konstruktions- oder Begriffsjurisprudenz finden. Deren Vorwurf lautet, dass sie die Rechtsanwendung gegen die Wirklichkeit isoliert haben und den Begriff oder das formale Recht über das Leben stellen, anstatt das Recht dem Leben dienen zu lassen.[7]

Klärungsbedürftig bleibt indes noch, wer diese Entwicklung initiiert hat. Zum Teil wird Jhering als Begründer des juristischen Naturalismus gesehen.[8] Er ist es, der zuerst die Frage nach dem Zweck im Recht aufgeworfen hat.[9] Er selbst beantwortet diese Frage wie folgt: „[...] der Maßstab des Rechts ist nicht der absolute der Wahrheit, sondern der relative des Zweckes.“[10] Recht definiert er dann auch inhaltlich als die Form der durch die Zwangsgewalt des Staates beschafften Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft. Darin zeigt sich auch seine These vom „Recht im Spannungsfeld von Historismus, Positivismus und Naturalismus.“[11] Es nimmt daher nicht Wunder Rudolf von Jhering als Vorreiter dieser Methodologie einzuordnen. Die gegenteilige Auffassung sieht Jhering in der Tradition der Interessenjurisprudenz, die er zwar nicht mehr wesentlich mitprägen konnte, aber deren argumentative Basis er geliefert hat.

Dem Rechtsnaturalismus widmete sich sodann in der Folgezeit vor allem der Schüler Jherings Franz von Liszt. Seine Intention hat in der Überwindung der bis dato herrschenden sogenannten absoluten Straftheorien Kants und Hegels gelegen, wonach das Strafen vor allem der sittlichen Rache und Sühne dienen sollte. Die absolute Straftheorie fordert auch dann eine Pönalisierung, wenn das Täterverhalten an sich keiner Strafe bedürfte. So hat etwa Kant die Ansicht vertreten, dass, auch wenn sich Staat und Gesellschaft auflösten, noch „der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden müsse, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat“.[12]

Das Verdienst Liszts liegt in dem Versuch, die Straftat durch Erforschung der Ursachen des Verhaltens des Straftäters zu erklären. Seine Straftheorie ist geprägt vom typisch naturalistischen Zweckdenken. Demzufolge diente für Liszt der Strafvollzug auch nicht der Vergeltung, sondern der zweckgerichteten Spezialprävention.[13] Nicht ohne Grund steht der Name Liszt daher in engem Zusammenhang mit dem sogenannten „Marburger Programm“, einer spezialpräventiven Straftheorie, die Sicherung, Besserung und Abschreckung als ihre Maxime ansieht.[14] Mit diesem suchte Liszt die Legitimation des Strafrechts zu stärken. Selbiges sollte nicht allein durch Pönalisierung einer Handlung legitimiert sein, sondern darüber hinaus auch die Person des Täters im Blick haben. Dieser heute unter dem Topos der „Resozialisierung“ bekannte Gedanke, ist letztlich weitverbreitete Praxis im Strafvollzug geworden.[15] Die Spezialprävention zielt auf die tatsächliche Gefährlichkeit des Täters selbst ab und verfolgt damit eine empirisch-kriminologische Sicht.

II. Der Naturalismus in der Rechtstheorie

1. Rechtssätze im sogenannten ethischen Naturalismus

Charakteristisch für den Naturalismus sind in rechtstheoretischer Hinsicht, die Versuche, normative Ausdrücke wie „gut“ oder „gerecht“ durch empirisch-deskriptive Ausdrücke zu definieren.[16] Dieses Denkmodell wird als ethischer Naturalismus bezeichnet, der vom erkenntnistheoretischen Naturalimus zu trennen ist. Gleichzeitig haben die Vertreter des Rechtsnaturalismus aber erkannt, dass allein aus deskriptiven Sätzen nicht auf normative Sätze geschlossen werden kann. Das normative Urteil, z.B. ein Auto sei gut, könnte dann ersetzt werden durch eine Reihe von empirisch-deskriptiven Aussagen wie die, das Auto sei schnell, sicher, bequem, zuverlässig etc.

Die normative Aussage, ein Gerichtsurteil sei gerecht, ließe sich definieren durch Aussagen wie die, diese Urteil respektiere das Gesetz, suche die Interessen aller zu berücksichtigen, teile die Verfahrenskosten gleichmäßig oder stifte langfristig Frieden zwischen den Parteien des Rechtsstreits.[17] Wertungen sind, folgt man dem Naturalismus zwar ebenso gut zu begründen wie empirisch-deskriptive Aussagen, verlieren andererseits so aber jede eigenständige Bedeutung.

Die Begründung versagt außerdem gegenüber demjenigen, der bestimmte zur Definition angeführte empirisch-deskriptive Eigenschaften gerade nicht als positiv bewertet (es z.B. gar nicht so gut findet, dass Autos schnell fahren, oder auch nicht schätzt, dass gerichtliche Urteile die Interessen aller zu berücksichtigen suchen).[18] In diesem Zusammenhang entwickelte der deutsche Rechtsphilosoph Robert Alexy den metaethischen Naturalismus. Er bezeichnet jene Theorien als „naturalistisch“, in denen normative Bezeichnungen wie „gut“ oder „gesollt“ durch deskriptive Ausdrücke definiert werden.[19] So vertritt er die Auffassung, dass wenn möglich, die in normativen Sätzen vorkommenden normativen Ausdrücke durch deskriptive Ausdrücke ersetzt werden können. Folglich würde jeder normative Satz zu einem deskriptiven Satz. Dieser könnte sodann nach dem Verfahren der Naturwissenschaften und der empirischen Sozialwissenschaften überprüft werden. Schlußendlich könnte folgender Umkehrschluss daraus gezogen werden: Normative Sätze sind deskriptiven äquivalent. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft würde sich auf die Übersetzung normativer Ausdrücke in deskriptive beschränken.

[...]


[1] Hilgendorf, Rechtswissenschaft, Philosophie und Empirie, in: FS Lampe, S. 285.

[2] Hilgendorf, Naturalismus im Strafrecht, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 11, 2003, 84, 84.

[3] Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 562.

[4] Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 431.

[5] Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 431.

[6] Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 449.

[7] Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 449.

[8] Heck, Interessenjurisprudenz, S. 17.

[9] Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, S. 439.

[10] Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, S. 439.

[11] Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, S. 439.

[12] Kant, Rechtslehre, § 49.

[13] Ostendorf, Erläuterungen zu: Franz von Liszt,Von der Rache zur Zweckstrafe, S. 17.

[14] Ostendorf, Erläuterungen zu: Franz von Liszt,Von der Rache zur Zweckstrafe, S. 17.

[15] Vgl. grundlegend dazu Winfried Hassemers Werk „Warum Strafe sein muss“. Für ihn ist Strafen eine Form der "sozialen Kontrolle". Es legt also bestehende Normen fest und sanktioniert Normverletzungen nach fest gelegten Verfahren.

[16] Seelmann, Rechtsphilosophie, § 9, Rn. 12.

[17] Seelmann, Rechtsphilosophie, § 9, Rn. 12.

[18] Seelmann, Rechtsphilosophie, Rn. 12.

[19] Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 55.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Rechtsnaturalismus und Interessenjurisprudenz. Ein Vergleich aus rechtstheoretischer Sicht
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Privatrecht und Wirtschaftsrecht)
Veranstaltung
Rechtstheorie
Note
16
Autor
Jahr
2012
Seiten
19
Katalognummer
V279173
ISBN (eBook)
9783656731535
ISBN (Buch)
9783656741299
Dateigröße
559 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rechtsnaturalismus, interessenjurisprudenz, vergleich, sicht
Arbeit zitieren
Alexander Ihlefeldt (Autor:in), 2012, Rechtsnaturalismus und Interessenjurisprudenz. Ein Vergleich aus rechtstheoretischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/279173

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