Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2.0 Merkmale der Fiktion
2.1 Verben der inneren Vorgänge als Fiktionsträger
2.2 Der fiktionale Tempusgebrauch
3.0 Hesses Identifikation mit dem Erzähler
3.1 Analyse typischer Erzählsituationen
4.0 Die Zeit der Erzählung
4.1 Zeitraffung
4.2 Zeitdeckende Erzählung
4.4 Simultanität der Erzählung
5.0 Einteilung des dritten Kapitels
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Erzählstruktur in Hermann Hesses "Unterm Rad" wird von mir exemplarisch anhand des 3. Kapitels untersucht.
Ich werde versuchen, die grammatikalischen und stilistischen Methoden von Hesse aufzuzeigen und des weiteren ihre Funktion innerhalb des Kontextes zu analysieren.
Als Grundlage dient mir die Einführung von Jochen Vogt.[1] Ich gehe auf einzelne verwendete Erzähltechniken ein und belege sie mit Textbeispielen.
2.0 Merkmale der Fiktion
Hermann Hesses Erzählung hat einen starken autobiographischen Charakter. Sie reflektiert seine Jugenderlebnisse im Maulbronner Seminar, die Erinnerungen an seine Erziehung und an seine Pubertät.
DieAktionen und Erfahrungen der Hauptcharaktere Hans Giebenrath und Hermann Heilner gleichen teilweise denen von Hermann Hesse und seines Bruders Hans.
Wie läßt sich nun feststellen, daß die Erzählung kein empirisch nachzuweisender, historischer Erlebnisbericht ist ?
Der menschliche Verstand geht mit jedem fiktiven Text eine Art Vereinbarung ein: Die Geschichten beschreiben das, was der Wirklichkeit nicht entspricht, aber generell möglich sein könnte. Die Geschichte mit wirklich stattgefundenen Ereignissen zu vergleichen, ist nicht nötig. Es wird akzeptiert, daß sie nur innerhalb ihrer eigenen Welt existiert.[2] Die fiktive Geschichte findet nur statt durch ihre Erzählung, die wirkliche Geschichte ist davon unabhängig. Es ist dabei unerheblich, ob ein Teil der Geschichte wie in "Unterm Rad" wirklichen Tatsachen entspricht: In dem Kontext der Geschichte bleibt es reine Fiktion, es ist so niemals geschehen.[3]
Die Klassifizierung 'Erzählung' weist auf einen Erlebnisbericht oder eine fiktive Geschichte hin. Es ist daher unzureichend, den Leser auf fiktive Geschehnisse vorzubereiten.
2.1 Verben der inneren Vorgänge als Fiktionsträger
Ein Merkmal fiktiver Erzählungen sind die Verben innerer Vorgänge, die Verben des Wahrnehmens, Denkens und Empfindens.[4]
Symptomatisch dafür ist die Verwendung von Verben wie denken, fühlen, meinen, lieben, usw., die aus der Position des allwissenden Erzählers gemacht werden können. Dies muß sich allerdings nicht nur auf Verben reduzieren. Vielmehr sind Beschreibungen aller inneren Vorgänge gemeint. Dies wird deutlich, als Hans Giebenrath von Hermann Heilner geküßt wird:
"Ihm schlug das Herz in einer ganz ungewohnten Beklemmung. Dies Beisammensein im dunkeln Dorment und dieser plötzliche Kuß war etwas Abenteuerliches, Neues, vielleicht Gefährliches, es fiel ihm ein, wie entsetzlich es gewesen wäre, dabei ertappt zu werden, denn ein sicheres Gefühl ließ ihn wissen, daß dies Küssen den anderen noch lächerlicher und schandbarer vorkommen würde als vorher das Weinen. Sagen konnte er nichts, aber das Blut stieg ihm mächtig zu Kopf, und er wäre am liebsten davongelaufen."[5]
In einem Bericht müßte sich Hesse die Frage gefallen lassen, woher er diese Eindrücke von Hans Giebenrath wisse. Diese innere Eindrucksbeschreibung ist ein sicheres Indiz für eine fiktionale Geschichte, die in einem Erlebnisbericht so nicht vorkommen kann. Es ist nicht möglich, ohne weiteres von anderen Menschen sicher festzustellen, was in ihnen vorgeht. Der Leser ändert also seine Lesehaltung und erlebt die Geschichte weniger als Erlebnisbericht sondern als Fiktion.
2.2 Der fiktionale Tempusgebrauch
In der deutschsprachigen Literatur ist das Präteritum die am meisten vorkommende Tempusform. Dies gilt für stattgefundene Berichte (historisches Präteritum) als auch für die fiktionalen Geschichten (episches Präteritum).
Als Leser verspürt man jedoch einen wichtigen Unterschied. Berichte sind vergangen, historisch soundsoviel Jahre her und betreffen den Leser nicht direkt. Fiktive Geschichten vergegenwärtigen die Geschichte, als würde sie jetzt geschehen. Sie schaffen "die Illusion von Gegenwärtigkeit, ein Hier-und-Jetzt der Vorstellungskraft, das von der historisch-chronologischen Datierung des Erzählten unabhängig ist und sie gewissermaßen 'überlagert'".[6]
Innerhalb der Geschichte ist der Leser gespannt auf den Fortgang derselben. Obwohl sie durch das Präteritum in der Vergangenheit liegt, also längst geschehen sein sollte, geschieht sie für den Leser im Augenblick des Lesens - also in seiner Gegenwart. Es findet eine Überlagerung von zwei zeitlichen Bezugssystemen statt. Das eine ist an die Erzählperspektive gebunden, die die Handlung als Vergangenes dokumentiert, und das andere an die agierende Person innerhalb der Handlung.[7]
Dieses Paradoxon ist auf eine grammatikalische Besonderheit zurückzuführen, die nur in der fiktionalen Geschichte auftritt und in einem Bericht als unlogisch erscheinen würde: Geschehnisse, die in der Zukunft oder in der Gegenwart stattfinden, werden in der Vergangenheitsform dargestellt.
Beispiel: "Jetzt kam es fast alle Tage vor, daß Hermann (...) zu ihm herüberkam, ihm das Buch wegzog und ihn in Anspruch nahm."[8]
Deiktische Zeitadverbien wie "morgen", "jetzt", "bald", "heute" verbinden sich mit dem Präteritum. Wirklich stattgefundene Berichte würden hier das Präsens oder Futur verwenden.[9]
Geschehnisse, die innerhalb der fiktionalen Welt die Gegenwart (oder Zukunft) repräsentieren, werden also in der Zeitstufe Präteritum geschrieben. Innerhalb der Fiktion zurückliegende Ereignisse sind zwangsläufig noch eine Stufe weiter - in das Plusquamperfekt - zurückgesetzt:[10]
"Früher war er ein Mutterliebling gewesen, und jetzt (...) diente ihm der gefügige Freund als Tröster"[11]
Das Präsens wird zum großen Teil in der Fiktion nur noch als stilistisches Mittel verwendet. Eine gewisse Lebendigkeit und Erregtheit des Geschehens wird mit dem historischen Präsens als Element der Spannungssteigerung erreicht:
"Aber ein mit schwerer Karzer Bestrafter ist im Kloster für längere Zeit so gut wie gebrandmarkt. Man weiß, daß er von nun an besonders beobachtet wird und daß es gefährlich ist und einen schlechten Ruf einträgt, mit ihm Verkehr zu haben"[12]
Das gnomische Präsens stellt Dinge oder Sachverhalte dar, die nicht-fiktional, auf Dauer existent und allgemeine Wahrheiten sind. Es wäre verwunderlich, wenn es z.B. in einem Roman heißen würde: "Der Eiffelturm war in Paris". Ebensowenig kann man aus Hesses Sicht mit dem Maulbronner Kloster verfahren: Im ersten Abschnitt des 3. Kapitels wird es ausführlich in der Präsensform vorgestellt.[13]
[...]
[1] Vogt, Jochen. Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in die Erzähltechnik und Romantheorie. Opladen 1990.
[2] Vgl. Ebd.
[3] Vgl. Ebd.
[4] Ersteres ist eine Definition von Käte Hamburger, letzteres von Jochen Vogt. Vgl. Ebd.
[5] Hesse, Hermann. Unterm Rad. Frankfurt a.M. 1972.
[6] Vogt (1990). S. 29.
[7] Vgl. Ebd. S. 37.
[8] Hesse (1972). S. 74 Hervorhebung durch mich, TS
[9] Vgl. Vogt (1990).
[10] Vgl. Ebd.
[11] Hesse (1972).
[12] Hesse (1972).
[13] Vgl. Vogt (1990). S.31 und Hesse (1972) S. 53f.
- Arbeit zitieren
- Tankred Stachelhaus (Autor:in), 1994, Erzählstruktur und Erzählhaltung in Hermann Hesses ´Unterm Rad´ , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/2790
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