Auf der Suche nach den Zeitpunkten

Ein Kommentar zur zeitgenössischen Philosophie der Zeit


Essay, 2014

27 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Was sind Zeitpunkte?

2 Wo gibt es Zeitpunkte?

3. Wo gibt es Zeitpunkte?
3.1. Der Termin in Gesellschaft und Historie
3.2. Zeitpunkte in der Physik

4 Metaphysik und Symphysik der Zeit

5 Konklusion

7 Bibliographie

1. Introduktion

Die kontemporäre Philosophie der Zeit spaltet sich in zwei große Theorie-Blöcke, die auf McTaggarts Gedanken in „The Unreality of Time" von 1908 zurückgehen. Seither vertreten Philosophen entweder eine statische oder eine dynamische Auffassung von Zeit, wobei zahlreiche Spielarten unter den jeweiligen Superkategorien existieren. Da sich die Debatte aber größtenteils im anglo-amerikanischen Raum ereignet, finden phänomenologische Einflüsse kaum Eingang und die Diskussion scheint hermetisch abgeschlossen und metaphysisch eigen. Das sterile Nebeneinander von Analytischer und Kontinentaleuropäischer Philosophie ist sicher in ihren unterschiedlichen Traditionen zu sehen, jedoch täte eine gegenseitige Befruchtung dem Fortgang der Disziplinen keinen Abbruch; im Gegenteil wäre sie eine Wohltat um der Sache willen, denn der aktuelle Disput des Phänomens der Zeit fußt auf einer heiklen Annahme: dem Zeitpunkt.

Um dem Rätsel „Zeit" adäquat begegnen zu können, müssen wir die Erkenntnisse verschiedener Wissenschaftsbereiche mitberücksichtigen. Dabei sind nicht nur Psychologie und Physik von entscheidender Bedeutung, sondern auch Soziologie, Geschichtswissenschaften und jenes Gebiet der Philosophie, was von anglophonen Denkern oft abschätzig als kontinental bezeichnet wird, weil sie sich alle gleichermaßen mit dem Begriff von „Zeit" beschäftigen.

Der folgende Essay hat also zwei Beweggründe. Erstens möchte er allgemein die Feststellungen anderer Fachrichtungen in den Diskurs hineinbringen. Und zweitens möchte er besonders anhand der Kritik des Zeitpunktes in der Metaphysik die Kontroverse zwischen A-Theorie und B-Theorie verschieben. Eine ausführliche Studie zeigt, dass die Konzeption von Zeit als punkthaft in der Welt, die wir bevölkern, keinen konsistenten Widerhall erfährt. Das lässt sich, wie ich glaube, sowohl logisch als auch historisch-kulturell eindeutig zeigen. Wenn dies aber korrekt ist, dann hat es weitreichende Folgen für unser Nachdenken über Zeit in der gegenwärtigen Philosophie.

2. Was sind Zeitpunkte?

Bevor wir mit der Kritik beginnen, müssen wir aber zunächst ein Verständnis für den Zeitpunkt aufbringen und fragen, was genau wir in der Metaphysik darunter verstehen.

Als das Schisma in der Beschäftigung mit der Zeit auftat, sprach man bereits von Zeit als Punkten, als klar verortbare Positionen in einer Linie. McTaggart nennt sie Momente. Dabei ist eine ganze Pluralität von Ereignissen („events") innerhalb dieser Linie zu finden. Das englische Wort „event" lässt sich nun auch mit „Ergebnis" oder „Begebenheit" übersetzen und in der Folge spricht man hier oft von Zuständen („states"). Diese Sichtweise scheint sich an die naturwissenschaftliche anzuschließen, nach der im Mikrokosmos in verschiedenen Zeiten verschiedene Beobachtungen gemacht werden, die deutlich voneinander unterschieden und mithilfe der Zeitskala gemessen werden können. Neuere Philosophen sprechen daher immer wieder von Punkten oder von Ereignissen/Zuständen zu einer Zeit t, welche numerisch aufgelistet werden können.[1] Die resultierende Serie von Zeiteinheiten ist wesentlich zeitlos. Man bezeichnet die Vertreter solcher Vorstellung deshalb auch als Reduktionisten.

Abgesehen davon, dass auch der A-Theoretiker zuweilen mit Zeitpunkten arbeitet[2], stützt sich die reduktionistische B-Theorie entscheidend auf sie. Für diese Theorie treten Zeiten im Verhältnis von früher-als oder später-als auf - Zeitpunkte sind demnach in einen absoluten Bezugsrahmen gesetzt, wo sie eindeutig ihren Ort haben. Auf diese Weise erscheint das Gefüge objektiv und unabhängig von jedwedem Bewusstsein. Folgt man dem Reduktionismus, so ist das Bewusstsein ferner für die Illusion des Zeitflusses verantwortlich.

Die Rede von den Zeitpunkten konzentriert sich also in der Überzeugung, dass man diese entlang eines Strahls aufzeichnen könnte. Jede Einheit ist unausgedehnt und positionell exakt lokalisierbar. Die Lokalisation geschieht durch die Relation des „früher- bzw. später-als", wobei die Möglichkeit der absoluten Gleichzeitigkeit dann besteht, wenn zweierlei Zustände/Ereignisse zum selben Zeitpunkt t0 existieren. Die B-Theorie vertritt einen Eternalismus im Bezug auf Zeit, was bedeutet, dass für sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denselben ontologischen Status besitzen. Die Topologie der Zeit wird daneben weniger oft besprochen. So müssen die Zeitpunkte von ihren Nachbarn vollständig isoliert sein, da sich sonst jener Fluss ergäbe, den man mit dieser Position rigoros ablehnt.[3]

Im Folgenden werden wir versuchen zu sehen (nachdem nun geklärt ist, was wir unter Zeitpunkten zunächst einmal zu denken haben), wo man solchen Zeitpunkten in anderen Wissenschaften begegnet und welche Bedeutung sie dort besitzen.

3. Wo gibt es Zeitpunkte?

Im Interesse der besseren Übersicht teilt sich dieses Kapitel in zwei Unterkapitel. Ersteres wird sich mit Fragen der Gesellschaft, Kultur und Geschichte auseinandersetzen. Verständlicherweise kann dabei im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht auf alle Details eingegangen werden, vielmehr muss es sich vor allem darum drehen, die Grundeinsichten der jeweiligen Disziplinen zu erfassen. Ebenso wird zweiteres nur die wesentlichen Aspekte der Physik der Zeit abdecken können. Insgesamt soll jedoch ein Konstruktivismus im Bezug auf Zeit- und Zeitpunkte aufgedeckt werden. Mit Konstruktivismus ist hier jener Mechanismus gemeint, der den Zeitpunkt als eine Erfindung des Menschen entdeckt, eine nützliche zugegebenermaßen, doch eine künstliche, die sich streng genommen nicht in der Welt wiederfindet.

a. Der Termin in Gesellschaft und Historie

Wenn wir mit einer präphilosophischen Einstellung an den Begriff „Zeitpunkt" herangehen, dann platzieren wir in oft in den Kontext des Verhörs oder der Autopsie. Hier schwingt also eine Genauigkeit mit, die wir im Alltag häufiger durch Begriffe wie den des Moments oder Termins ausdehnen. Arrangiert man mit Freunden ein Treffen, so wird in den Kalender ein festgeschriebenes Datum und meist eine recht präzise Uhrzeit eingetragen, wobei de facto allerdings ein gewisser, stillschweigend akzeptierter Varianzbereich mitgedacht ist. Kein Freund würde sich lautstark beschweren, wenn er zwei Minuten hätte warten müssen - in der Tat ist der Termin in seiner etymologischen Bedeutung ein Grenzzeichen, ein Ende (lat. terminus: Ende, Grenze), bei dem aber zugleich eine mehr oder weniger konkrete Zukunft, ein Land dahinter mitgemeint ist. Normalerweise freut man sich, wenn man den Freund gewahrt, und geht sogleich zur gemeinsam geplanten Tätigkeit über. Der Termin hat also nicht nur einen Punkt zum Inhalt, sondern bezieht sich gleichermaßen und eigentlich auf eine Zeitspanne. Man nimmt seinen Arzttermin nicht um der exakten Uhrzeit, etwa weil dann ein magisches Wunder geschieht, doch um der Zeit willen wahr, in welcher der Arzt sich der Diagnose oder Behandlung widmet Verhör und Autopsie eruieren im Gegenteil die Zeit im Hinblick auf das Ziel, weitere Geschehnisse, die sich gleichzeitig ereignet haben, zu bestimmen. Dabei wird der Platzhalter „zur Tatzeit" im Laufe der Ermittlung mit allen nötigen Informationen (Zurechnungsfähigkeit des Täters. Emotionale Erregung der Beteiligten. Motive. Tatwaffe. Lichtverhältnisse.) gefüllt, um den Täter zu fassen. Es wird also ein Narrativ ausgebildet, damit zeitlichen Umstände wahrnehmbar werden, denn ohne ein Narrativ wird auch die Zeit bedeutungslos.

Nun bleibt aber die Zeitwahrnehmung nicht immer konstant. Der Amerikanische Psychologe William James weist darauf hin, dass unsere Konzeption von längeren Zeiträumen, wie der Stunde, des Tags, des Jahres etc., bloß symbolisch ist. Unsere Wahrnehmung von Zeit bewegt sich in der Größenordnung von Sekunden, vielleicht bis zu einer Minute. Für alle Messungen, die darüber hinaus gehen, benötigen wir Uhren, d.h. unser Gefühl von Zeit bildet dann nicht mehr exakt die Wirklichkeit ab, sondern ist der Straffung und Streckung unterworfen. Aber auch wenn kleinere Zeitspannen im Spiel sind, ist von Objektivität nicht zu sprechen. So hören wir ein Signal relativ zu einem anderen als lang oder kurz, je nachdem ob das vorangegangene länger oder kürzer als das zu bewertende erklang.[4] Wie wir persönlich erfahren, scheint die Zeit diachron zu verstreichen: wir nehmen differierende Zeiten wahr, sobald wir mehr als einen Bezugsrahmen zur Verfügung haben.[5] Wir orientieren uns an verschiedenen Kreislaufsystemen - die Umlaufzeit der Erde um die Sonne, der Erde um sich selbst etc. - und die mechanische Uhr ist eine Erfindung des ausgehenden Mittelalters. Der Psychoanalytiker Erich Fromm weist in seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit" darauf hin, dass die Erfindung der mechanistischen Uhr in Zusammenhang mit unserem modernen Zeitbegriff steht. Wie auch andere Autoren macht er die Ökonomisierung des Lebens im allgemeinen und die akribische Überwachung der Zeit im besonderen dafür verantwortlich.[6]

In der Soziologie vertritt Hartmut Rosa in zahlreichen Publikationen die These, dass die heute gelebte Moderne nur verständlich wird, wenn man die grundlegende Veränderung der Zeitstruktur in der Gesellschaft begreift. Die Technisierung unserer Lebenswelt korreliert mit einer enormen Beschleunigung der Zeit.[7] Die meisten Menschen antworten auf die Frage, wie es ihnen geht, mit einem in der Hauptsache dem folgenden ähnelnden Satz: „Ganz gut, aber im Moment ist es etwas stressig." Darin zeigt sich, wie sehr unser Lebensgefühl im 21. Jahrhundert von der Zeitknappheit bestimmt ist und das scheint mittlerweile fast eine Plattitüde zu sein. Die Beschleunigung der Zeit mit dem Anbrechen der modernen Welt ist dabei schon früh erkannt und oft mit dem Aufkommen des Films in Verbindung gebracht worden. So schreibt der Schriftsteller Yvan Goll 1920 in einer Veröffentlichung: „Wir stehen in einem neuen Zeitalter, dem der Bewegung ... Basis für alle neue kommende Kunst ist das Kino. Niemand wird mehr ohne die neue Bewegung auskommen, denn wir rotieren alle in einer anderen Geschwindigkeit als bisher."[8] Damit bezieht er sich nicht nur auf die Gesellschaft, sondern auch auf die verschiedenen Kunstformen, wie die Literatur und das Drama. Als Unterhaltungsform ist der Film wohl die populärste. Und gerade der Film ist mit seiner Bildökonomie und Prädilektion zur Bewegung tief mit dem Wandel der Zeit verquickt. Abgesehen von den Auswirkungen die ein solcher Wandel in der Zeitwahrnehmung aber herbeiführt, ist damit klar, dass hier die Konstruktion von Zeit deutlich sichtbar wird. Zeit als beschleunigte Zeit ist gesellschaftlich konstruiert und evolviert, sie war keineswegs seit jeher als derart schnell wahrgenommen worden. Der Mensch des Paläolithikum, um ein Beispiel zu nennen, denkt in Kategorien von Jetzt/Nicht-Jetzt und besitzt ein okkasionales Zeitbewusstsein.[9] Dass aber Änderungen nicht nur historisch­epochal beobachtet werden können, sondern auch intertemporal eine große Relevanz besitzen, ist ein Gedanke, der in der Literatur ständig wieder auftaucht. So spricht bereits Ernst Bloch von der Ungleichzeitigkeit von Produktionsverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft und bringt sie an einer Stelle mit der Möglichkeit des Nazi-Regimes in Verbindung.[10]

Der Anthropologe Christoph Wulf artikuliert sich ebenso zu einer Ungleichzeitigkeit und differenziert diese in ihrer Gleichzeitigkeit aus. Er erfasst damit letztlich nur die Konsequenz aus den Beobachtungen James Williams, die dort ohnehin schon angelegt ist. Wenn jedes Subjekt seine eigenen Wahrnehmungen von Zeit hat, so muss automatisch folgen, dass jedes seine eigenen Vergleiche zieht. Es ergibt sich eine „Pluralität der Zeiten". Sie ist oft unüberwindbar und nur unter bestimmten Bedingungen vorübergehend auszuschalten. Zu solchen Erfahrungen der Diachronie ergreift auch Levinas das Wort, wenn er im Anderen den Störenfried der Synchronie begreift. Diachronie lässt sich für ihn nämlich nur in Gegensatz zur Synchronie denken, welche sich beide im Gespräch vollziehen. Das Gespräch aber hat eine ethische Funktion und ist Sprechen-Lassen des Antlitzes[11]. Nun muss sich allerdings die Sprache zwangsläufig einer Ontologie bedienen (was in der Linguistik zum Beispiel mit dem Begriff der Präsupposition handhabbar gemacht wird) und vom Antlitz sprechen, als ob dieses vor-stellbar wäre, als ob es objektivierbar wäre. Das Antlitz existiert aber auch außerhalb des Gesprächs-Kontextes und wird daher notwendigerweise in die Synchronie des Ich einbrechen, um sich geltend zu machen.[12] Die Zeit ist also das Verhältnis zum Anderen. In der menschlichen Kultur ist somit, wenn wir Levinas und Wulf folgen wollen, diese „Pluralität der Zeiten" immer schon gegeben. Wulf prägt zudem das Konzept der „sterbenden Zeit" und verweist dabei auf die Begrenztheit allen Lebens und aller Prozesse und auf die Irreversibilität der Geschehnisse.[13]

Zeit wird in den Disziplinen Psychologie, Soziologie und Anthropologie also immer bezüglich ihrer menschlichen Komponente betrachtet. Ob eine Zeit lang oder kurz ist, beschleunigt oder verlangsamt, hängt mit dem jeweiligen kulturell-gesellschaftlichen Kontext zusammen, in der wir nach ihr fragen. Nun hat aber die Zeit auch in der Historie eine tragende Bedeutung. Und gerade hier scheint das Jahr, ja der Zeitpunkt eine wichtige Rolle zu spielen. Ist das denn so?

Mit der durch Christoph Cellarius vorgestellten Periodisierung beginnen im 18. Jahrhundert die modernen Geschichtswissenschaften. Seither wird von Epochen und Zeitaltern gesprochen, wobei für das Verstehen von Geschichte das Taktgefühl wesentlich ins Gewicht fällt, wie Hans-Georg Gadamer herausstellt.[14]

[...]


[1] Vgl. Frischhut 2012, Paul, Perry, Sider, Skow. Mellor spricht auch von „dates".

[2] Zum Beispiel Crisp.

[3] Siehe dazu Fischhut 2012,1.3 - die ausführliche Diskussion folgt im Hauptteil dieser Arbeit.

[4] James, Chapt. XV

[5] Das zeigt sich bereits im Sprichwort: „Ein Mann mit einer Uhr weiß, welche Zeit ist. Ein Mann mit zweien ist sich niemals sicher." (s. Falk, 54)

[6] Fromm, S.48; vgl. auch Falk, Chapt. 3 &4

[7] Vgl. Rosa, Kap. 4&5

[8] Goll, Yvan: Das Kinodram, S.24f

[9] Vgl. Rammstedt

[10] Vgl. Bloch, Erbschaft dieser Zeit

[11] Das Antlitz erhält bei Levinas eine entscheidende Bedeutung.

[12] Vgl. Wulf S. 107 und Levinas, besonders auch Ludwig Wenzlers Nachwort S.84-89

[13] Wulf, S. 123-25

[14] Hermeneutik I, S. 11, 20f, vgl. auch Hermeneutik II, S.40

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Auf der Suche nach den Zeitpunkten
Untertitel
Ein Kommentar zur zeitgenössischen Philosophie der Zeit
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Note
2,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
27
Katalognummer
V278997
ISBN (eBook)
9783656728498
ISBN (Buch)
9783656728467
Dateigröße
517 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
suche, zeitpunkten, kommentar, philosophie, zeit
Arbeit zitieren
Jari Niesner (Autor:in), 2014, Auf der Suche nach den Zeitpunkten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/278997

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