Das Zusammenspiel von Verbalem und Visuellem in der Übersetzung von Bilderbüchern


Masterarbeit, 2012

115 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSANGABE

Einleitung

1. Sind Bilderbücher literarische Werke?
1.1. Definition von Kinderliteratur
1.2. Geschichte des Bilderbuches im französisch- und deutschsprachigen Raum
1.3. Charakteristische Merkmale kinderliterarischer Bilderbücher

2. Translationstheoretische Ansätze in der Untersuchung von Kinderliteratur
2.1. Der übersetzungstheoretische Ansatz von Juliane House
2.2. Göte Klingberg
2.3. Kinderliterarisches Übersetzen aus Sicht der Polysystemtheorie
2.4. Riita Oittinens Konzept des Übersetzens für Kinder
2.5. Emer O’Sullivans Konzept des impliziten Übersetzers

3. Analyse deutscher Übersetzungen von französischen Bilderbüchern
3.1. König Babar – Das Werk von Jean und Laurent de Brunhoff
3.1.1. Die Geschichte von Babar, dem kleinen Elefanten
3.1.2. Übersetzungsanalyse der Bilderbücher von Jean de Brunhoff
3.1.3. Das Wort-Bild Verhältnis im Werk von Jean de Brunhoff
3.1.4. Übersetzungsanalyse der Fortsetzungsgeschichte von Laurent de Brunhoff
3.1.4.1. Babar auf der Vogelinsel
3.1.4.2. Mit Babar im Museum
3.2. Die Bilderbücher von Anne Herbauts
3.2.1. Was macht der Mond in der Nacht?
3.2.2. Die Stunde des Herrn Blau
3.2.3. Das Haus zwischen Himmel und Meer

Zusammenfassung

Bibliografie

Glossar

Namensindex

EINLEITUNG

Bilderbücher nehmen in der Welt der Kinder einen immer größeren Platz ein. Schon vom Säuglingsalter an begleiten sie Kinder, zum Beispiel als Plastikbücher beim Baden, als Fühlbücher, in denen Bilder nicht nur betrachtet, sondern durch verschiedene Materialien auch betastet werden können, oder als Pop-up Bücher, bei denen sich beim Öffnen der Seiten dreidimensionale Objekte entfalten. Auch die herkömmlichen Bilderbücher erscheinen in einer zunehmenden Vielfalt. Die Spannbreite reicht vom einfachen Bilderbuch ohne Text mit dicken Kartonseiten bis hin zum kunstvollen Bilderbuch, in dem Text und Illustration auf komplexe Weise eine Geschichte erzählen. Doch nicht nur in seiner äußeren Erscheinungsform sondern auch inhaltlich zeichnet sich das Bilderbuch durch ein großes Spektrum aus. Zu fast jedem Thema gibt es mittlerweile bebilderte Sachbücher und im fiktionalen Bereich werden angefangen von den klassischen Geschichten bis hin zu ganz aktuellen Themen, wie zum Beispiel Trennung der Eltern, Bilderbücher verfasst.

Bilderbücher spielen also einerseits eine große Rolle für Kinder und ermöglichen ihnen unter anderem die ersten Erfahrungen mit Literatur, andererseits nehmen sie im literarischen Bereich eine sehr untergeordnete Rolle ein. Lange Zeit wurden Bilderbücher überhaupt nicht als Literatur wahrgenommen, erst seit kurzem wird ihnen auch von wissenschaftlicher Seite mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Zunehmend wird auch der künstlerische Wert der besonderen Weise von Verknüpfung von Bild und Text im Bilderbuch gesehen. Dieser Entwicklung steht allerdings eine sehr erfolgreiche Kommerzialisierung von Bilderbüchern gegenüber, die ganz klar der Massenproduktion den Vorrang gegenüber qualitätsvoller Kinderliteratur gibt.

Im Unterschied nämlich zu den Büchern für Jugendliche und Erwachsene, die vielleicht früher oder später nur mehr als iBook zur Verfügung stehen könnten, ist ein Bilderbuch nicht auf diese Weise ersetzbar. Das Kind braucht seine konkrete Erscheinungsform, will es angreifen, in den Mund nehmen oder daran riechen können, würde es oft auch gern zerreißen oder selbst bemalen, wenn es die Erwachsenen nicht daran hindern würden; es muss es also konkret in Händen halten, um es zu begreifen. Gleichzeitig haben das Format des Buches, die äußere Gestaltungsform oder das Umblättern auf die nächste Seite beim Bilderbuch einen konkreten Einfluss auf den Inhalt und können deshalb nicht einfach weggelassen werden.

Thema der vorliegenden Masterarbeit ist es nun herauszufinden, welchen Einfluss die besonderen gestalterischen Mittel von Bilderbüchern auf ihre Übersetzung haben. Ausgehend von einer Definition von Kinderliteratur und einem kurzen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung von Bilderbüchern werden die besonderen Merkmale von Bilderbüchern aufgezeigt. Im Weiteren werden unterschiedliche translationstheoretische Ansätze vorgestellt und dann anhand des Beispiels der Übersetzung von Babar dem kleinen Elefanten aus dem Französischen ins Deutsche eine Übersetzungsanalyse durchgeführt. Diese Analyse basiert einerseits auf der historischen Entwicklung der Geschichte von Babar, die in den 30er-Jahren von Jean de Brunhoff erfunden wurde und bis heute von seinem Sohn, Laurent de Brunhoff, weitergeschrieben wird. Andererseits wird der klassischen Form der Bücher von Babar eine modernere Art von Bilderbüchern, nämlich die von Anne Herbauts, gegenübergestellt. So spielt in der Analyse zum einen der zeitliche Faktor – wie haben sich die Bilderbücher und entsprechend auch deren Übersetzung im Laufe der Zeit verändert? – und zum anderen die speziellen textlichen und formalen Merkmale von Bilderbüchern eine Rolle. Im Besonderen soll auch ein Augenmerk auf das Verhältnis zwischen Text und Bild gelegt werden.

Die vorliegende Arbeit setzt sich fast ausschließlich mit fiktionalen Bilderbüchern auseinander, die anhand von Text und Illustration eine Geschichte erzählen wollen, bei denen also die Geschichte im Vordergrund steht und weniger Sachinformationen oder pädagogische Aspekte. Dies ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt aus der ganzen Vielfalt von Bilderbüchern.

Ein weiterer Gesichtspunkt ist auch der literarische Wert der untersuchten Bilderbücher. Wieweit sind es künstlerische Werke oder einfache Bücher für Kinder? Muss dies ein Gegensatz sein? Oder sind Bilderbücher eben eine besondere Kunstform? So wie der berühmte amerikanische Bilderbuchautor und Illustrator, Maurice Sendak, meint : “Some adults look at [Ungerer's] work, then rush to drag out the bromide that explains how easy it is to make a picture book: ‘Just a handful of sentences and a lot of blazing pictures.’ These critics fail to see that a successful picture book is a visual poem.” (Sendak in Caledcott & Co.: Notes on Books and Pictures (Farrar, Straus/Michael di Capua, 1990).

1. SIND BILDERBÜCHER LITERARISCHE WERKE?

1.1. Definition von Kinderliteratur

Die Kinder- und Jugendliteratur nimmt heutzutage im literarischen Betrieb, wo sich eigene Messen, Verlage, Jugendliteraturpreise und andere Institutionen herausgebildet haben, einen wichtigen Platz ein. Gleichzeitig ist jedoch der Status von Kinder- und Jugendliteratur immer noch umstritten. Vor allem im wissenschaftlichen Bereich gibt es zwar einige Ansätze zur Erforschung von Kinder- und Jugendliteratur die Frage, ob sie Teil der Allgemeinliteratur oder ganz ein eigener Bereich ist, bleibt aber nach wie vor offen.

So wie der Begriff Literatur mehrdeutig ist, gibt es auch bei der Definition von Kinderliteratur mehrere Herangehensweisen. Im Metzler Lexikon wird Literatur nach unterschiedlichen Gesichtspunkten definiert. Entsprechend der etymologischen Bedeutung (lat. littera = Buchstabe) ist Literatur die Gesamtheit des Geschriebenen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist Literatur der Gegenstand der Literaturwissenschaft. Hier ist die genauere Begriffsbestimmung von der jeweiligen Theorie abhängig. Literatur kann aber auch als die Gesamtheit aller Texte von bestimmtem Wert definiert werden. (vgl. Burdorf u.a. 2007, 445) In einer weiteren Definition von Literatur werden auch mündliche Texte einbezogen: „ Literatur ist seit dem 19. Jahrhundert der Bereich aller mündlich (etwa durch Versformen und Rhythmus) oder schriftlich fixierten sprachlichen Zeugnisse.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Literatur, eingesehen am: 27.11.2011) Literatur wird also im weiteren Sinn als Oberbegriff gesehen, der nach verschiedenen Kategorien unterteilt werden kann, im engeren Sinn aber als Hochliteratur im Gegensatz zur Trivialliteratur bzw. zur Fachliteratur. Dementsprechend wird Kinder- und Jugendliteratur einerseits als Unterkategorie der Allgemeinliteratur betrachtet, andererseits wird aber ihr Status als Teil der Hochliteratur nach wie vor in Frage gestellt.

Gleichzeitig wird jedoch Kinderliteratur als relativ eigenständiges System gesehen, das ebenso nach Sprachen, Inhalten, literarischen Gattungen, Fiktionalität und Niveau differenziert werden kann. Hans-Heino Ewers spricht zum einen von Kinder- und Jugendlektüre, damit ist die „von Kindern und Jugendlichen tatsächlich konsumierte Literatur“ (Ewers 2000, 16) gemeint und zum anderen von intentionaler Kinderliteratur, „das, was Kindern und Jugendlichen seitens der Erwachsenen als Lektüre zugedacht und zugeteilt wird.“ (Ewers 2000, 17).

Aber eigentlich unterscheidet sich die Kinderliteratur von der Literatur für Erwachsene nicht so sehr durch die Adressierung, sondern vielmehr durch bestimmte charakteristische Merkmale. „Die Unterschiede werden vor allem in der Bestimmung des Gegenstands, in der Asymmetrie der Kommunikation zwischen den an der Handlung Beteiligten und in der Zugehörigkeit der Kinderliteratur zu zwei Systemen, dem literarischen und dem pädagogischen, gesehen.“ (O’Sullivan 2000, 111)

Die doppelte Zugehörigkeit der Kinderliteratur zum literarischen und zum pädagogischen System kann schon bei den frühesten kinderliterarischen Werken, wie den Contes des Charles Perrault, der seine Erzählungen sowohl zur Unterhaltung als auch zur moralischen Unterweisung schrieb, beobachtet werden. Auch die Brüder Grimm passten ihre gesammelten Märchen einem kindlichen Publikum an und gaben ihnen z.T. eine christlich-erzieherische Funktion, doch anders als bei ihrem Namensvetter Albert Ludwig Grimm, bei dessen Geschichten die pädagogische Legitimation im Vordergrund stand, versuchten die Brüder Grimm eine „neue Balance zwischen pädagogischer Funktionalität und literarischer ‚Funktionslosigkeit‘“ (O’Sullivan 2000, 113) zu schaffen.

Kinderliteratur hat also einerseits die Aufgabe, die Heranwachsenden in die Gesellschaft einzuführen und ihnen deren Normen und Werte zu vermitteln, andererseits soll sie als Einstiegsliteratur aber auch Kinder für die Ästhetik und die Formen der Literatur sensibilisieren. Ewers (1995a, 15) nennt dies die „literarästhetische Bildungsfunktion“. Während in der Allgemeinliteratur zwischen literarisch und nicht literarisch im Sinne von literarisch anspruchsvoll oder eben nicht anspruchsvoll unterschieden wird, kommt in der Kinderliteratur noch das Kriterium der „pädagogischen Angemessenheit“ (O’Sullivan 2000, 112) hinzu.

In der heutigen Vielfalt der Kinderliteratur wird zwischen der dezidiert pädagogischen Schullektüre und im Gegensatz dazu der Privatlektüre unterschieden. Jedoch auch die Privatlektüre hat eine erzieherische Funktion und wird deshalb je nach ihrem positiven bzw. negativen Einfluss beurteilt. Dementsprechend spricht man von sanktionierter, d.h. einer den Wertvorstellungen der Pädagogen entsprechenden, und nicht sanktionierter, sprich einer rein kommerziellen Kinderliteratur.

Eine weitere Besonderheit der Kinderliteratur ist die Asymmetrie der kinderliterarischen Kommunikation. Das heißt, dass die Literatur, die an Kinder adressiert ist, von Erwachsenen geschrieben, verlegt, ausgesucht und bewertet wird. Folglich muss die Distanz zwischen erwachsener Autorenschaft und kindlicher Rezeption überwunden werden. Themen, Inhalte und Form müssen an die kindliche Leserschaft sowie an die kindliche Aufnahmefähigkeit und den Entwicklungsstand angepasst werden. Diese Adaptionen werden meist nicht für jeden Einzelfall ausgedacht, sondern es entwickeln sich Adaptionsstrategien, die sich verallgemeinern und automatisieren. Maria Lypp hat dazu den Begriff des kinderliterarischen Codes eingeführt. „Ein epochaler kinder- und jugendliterarischer Code beinhaltet dann die Gesamtheit der auf den verschiedenen Ebenen getroffenen Selektionen aus dem gegebenen literarischen Symbolsystem wie die Gesamtheit der Modifikationen dieses Systems, soweit sie aus Rücksicht auf den kindlichen und jugendlichen Leser getroffen worden sind…“ (Ewers 2000, 229)

Jedoch genau diese Art der Adaption wird oft zum Streitpunkt. Was kann Kindern zugemutet werden und was nicht? Wieweit wird diese Anpassung als ein Herablassen auf ein kindliches Niveau oder ein Einfühlen in die kindliche Erlebenswelt gesehen? „Der ‚späte Aufklärer‘ Erich Kästner, der eine ‚kindgerechte‘ Schreibweise meisterhaft beherrschte, hatte nichts als Verachtung für die, die für Kinder „in Kniebeuge schreiben“ (Kästner, 1953, 188)“ (O’Sullivan 2000, 118) Auch in Übersetzungen von Kinderliteratur spiegelt sich wieder, wie unterschiedlich die Einschätzung der kindlichen Rezeptionsfähigkeit und der „Kindgemäßheit“ sein kann.

Wie schon gesagt, zeichnet sich Kinderliteratur dadurch aus, dass sie in erster Linie an Kinder adressiert ist. Doch sind Erwachsene, sei es als Vorleser oder Vermittler, immer auch in die Rezeption von Kinderliteratur eingebunden. Dementsprechend werden auch die Erwachsenen von den Kinderbuchautoren angesprochen. Während dies in den Anfängen der Kinderliteratur vor allem in Form von Vor- oder Nachworten geschah, in denen man den Erziehungswert des Werkes betonte, wie z.B. Charles Perrault, der seinen Märchen jeweils eine Moralité anschloss, in der er den erzieherischen Aspekt der Geschichte darlegte, werden in der modernen Kinderliteratur die erwachsenen Vermittler auf subtilere Art, sei es über die Wahl bestimmter Themen oder über das Einflechten von Anspielungen auf gesellschaftliche Phänomene, angesprochen.

Zohar Shavit hat diesbezüglich das Konzept der doppelten Adressiertheit geschaffen und sieht den Grund für die Einbeziehung des erwachsenen Lesers darin, der Kinderliteratur im allgemeinen Literatursystem Akzeptanz zu verleihen. Ewers hingegen unterscheidet genauer zwischen einfach adressierter Kinderliteratur, bei der Erwachsene nur die Rolle des Vermittlers oder Vorlesers einnehmen, oder „doppelsinniger Kinder- und Jugendliteratur“ (Ewers 2000, 125), die implizit auch an den erwachsenen Leser adressiert ist. Als Beispiel hierfür nennt er E.T.A. Hoffmanns Märchen Nußknacker und Mausekönig.

Abgesehen von seiner Rolle als Vorleser kann der Erwachsene jedoch auch selbst die Position des kindlichen Adressaten einnehmen, entweder indem er auf regressive Art sich für die Dauer des Lesens in seine Kindheit zurückversetzt fühlt oder sich auf nostalgische Weise an seine Kindheit zurückerinnert. Andererseits kann er sich aber auch mit dem Autor identifizieren und die Stellung eines Erzähler-Ersatzes einnehmen oder sich als Beobachter zwischen Erzähler und Leser sehen. (vgl. O’Sullivan 2000, 127/128)

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass der Status der Kinderliteratur von mehreren Faktoren abhängig ist; einerseits von der Beschaffenheit des Textes selbst, andererseits aber auch von der Bewertung von Kindheit und davon, ob er vom pädagogischen oder vom literarischen Standpunkt aus bestimmt wird. Grundsätzlich wird der Status von Kinderliteratur aber immer von den Erwachsenen festgelegt die Kinder, die eigentlichen Adressaten, beurteilen Kinderliteratur ausschließlich nach ihrem Unterhaltungswert. Für sie sind Fragen nach dem pädagogischen oder literarischen Wert eines Buches oder nach dem Status eines bestimmten Autors völlig irrelevant.

Obwohl Kinderliteratur unsere ersten literarischen Erfahrungen prägt, hat sie im allgemeinliterarischen System nach wie vor nur einen geringen Status. Dies mag wohl auch daher kommen, dass in der Kinderliteratur kaum zwischen anspruchsvoller und trivialer Literatur unterschieden wird. O’Sullivan (2000, 131) schreibt hierzu: „Kinderliteratur ist zu einem erheblichen Teil Gebrauchsliteratur; vor allem die für die jüngsten Leser verfaßten Texte haben gelegenheitsliterarischen Charakter. Da die Literaturkritik ihre Maßstäbe an den Regeln der am höchsten angesehenen und bewerteten Textpraxis ausrichtet, sind Statusgewinne für die Kinderliteratur „nur durch zunehmende ‚Literarisierung‘ zu erzielen“ (Ewers, 1990, 86)“.

1.2. Geschichte des Bilderbuches im französisch- und deutschsprachigen Raum

Die Anfänge einer Literatur, die sich explizit an Kinder richtet, gehen auf das Ende des 17./Anfang des 18. Jahrhunderts zurück, doch vor allem in der Zeit der Aufklärung entwickelt sich dann eine eigene Kinder- und Jugendliteratur.

Am Beispiel der Märchen ist gut sichtbar, wie aus ursprünglich mündlich weitergegeben Volkserzählungen Geschichten für Kinder entstehen. 1697 veröffentlichte Charles Perrault seine Histoires ou Contes du temps passé avec des moralités und löste damit in Frankreich einen wahren Boom an Märchenerzählungen aus. Etwas später, Anfang des 19. Jahrhunderts, ging diese Entwicklung auch auf Deutschland über und 1812 erschienen die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Die Märchen, die ursprünglich für ein erwachsenes Publikum gedacht waren, wurden nun so angepasst, dass sie zu lehrreichen aber vor allem auch unterhaltsamen Geschichten für Kinder wurden. Obwohl bei den Märchen ganz klar die Geschichte im Mittelpunkt steht, wurde ihre Beliebtheit später auch durch Illustrationen, wie z.B. die Zeichnungen von Gustave Doré, mitgeprägt.

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(http://www.maerchenatlas.de/miszellaneen/illustratoren/gustave-dore/, eingesehen am: 8.12.2011)

Um diese Erzählungen allen, auch den weniger gebildeten Schichten, zugänglich zu machen, entstanden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bilderbögen. Diese waren auf billigem Papier gedruckte Einblattdrucke, die die Märchen nicht nur anhand des Textes, sondern auch mit Hilfe einer Abfolge von Illustrationen erzählten.

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(http://shop.billerantik.de/products/Maerchen- Bilderboegen/Maerchen/ ASCHENBROeDEL-ASCHENPUTTEL-CINDERELLA-SCHUH-MAeRCHEN-18-.html , eingesehen am: 8.12.2011)

Außer zur Illustration von Märchen entstanden Bilderbögen vor allem zu pädagogischen Zwecken. Sie wurden unter anderem in Schulen zur Wissensvermittlung und zur Alphabetisierung verwendet. In Deutschland waren vor allem die Städte Neuruppin, München und Augsburg für die Produktion von Bilderbögen bekannt, während in Frankreich die Stadt Épinal als Hauptverlagsort von Bilderbögen galt.

Bildung war ein zentrales Thema der Aufklärung und sollte nicht nur einer exklusiven höheren Schicht vorbehalten bleiben, sondern auch Angehörigen niederer Schichten ermöglicht werden. Gleichzeitig wurde die Erziehung der Kinder und die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht zu einem wichtigen Anliegen. Bilder-Sachbücher sollten zur Verbreitung von Wissen beitragen, und so enstanden 1658 der Orbis sensualium pictus des tschechischen Theologen Johann Amos Comenius, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, und das Bilderbuch für Kinder von Friedrich Justin Bertuch, das zwischen 1790 und 1830 in monatlichen Ausgaben erschien.

Doch erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich das Bilderbuch in der Form, wie wir es heute kennen. Zu Weihnachten 1844 verfasste der deutsche Psychiater Heinrich Hoffmann den Struwwelpeter, da er für seinen Sohn sonst kein passendes Kinderbuch finden konnte und die bestehende Kinderliteratur für ihn zu wenig Niveau hatte. Der Struwwelpeter wurde über viele Jahrzehnte zum großen Erfolg in der deutschen Kinderliteratur, doch aus heutiger Sicht wird er oft als zu autoritär und brutal angesehen. Er wurde auch ins Französische übersetzt, hatte aber in Frankreich als Pierre l’Ebouriffé weit weniger Erfolg. Gleichzeitig scheint er von der psychatrischen Sichtweise seines Autors beeinflusst zu sein, so werden die Charaktere aus dem Struwwelpeter in der heutigen Kinderpsychiatrie oft als Beispiel für Diagnosebilder herangezogen, wie etwa der Zappelphilipp als hyperaktives Kind. So moralistisch die Geschichten des Struwwelpeters auch sind, so revolutionär waren seine Illustrationen für die damalige Zeit . „Heinrich Hoffmann brach mit den Konventionen der Bilderbuchgestaltung und zeichnete unnaturalistische Szenen, mit unrealistischen Proportionen und nutzte die Möglichkeiten der karikaturistischen Darstellung, er spielte mit Farben, ließ Hintergründe weg und integrierte erstmals die Schrift in das Bild.“ (Müller 2007, 10)

Vielmehr noch durch Karikaturen dargestellt wurde die Geschichte von Max und Moritz, die Wilhelm Busch 1865 veröffentlichte. Ähnlich wie der Struwwelpeter ist auch sie in Reimen verfasst. Wenn die Missetaten von Max und Moritz auch humoristischer beschrieben werden, so ist jedoch ihr Ende fast noch grausamer als jenes der Protagonisten von Hoffmann.

Der technische Fortschritt im Buchdruck erlaubte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Herausgabe von schönen, großformatigen Bilderbüchern. In Frankreich wurden zu dieser Zeit Kinderbuchklassiker, wie z.B. Robinson Crusoe, Kinderliederbücher, Märchen und Fabeln von berühmten Künstlern wie dem schon erwähnten Gustave Doré, J.J. Grandville oder Maurice Boutet de Monvel illustriert. Die schönen, kunstvollen Bücher waren jedoch sehr teuer und deshalb nur für eine bestimmte gesellschaftliche Schicht erschwinglich.

Gleichzeitig wurden zu aufwendig gestaltete Bilderbücher als nicht kindgemäß kritisiert. So stellte der deutsche Kunsthistoriker Konrad von Lange 1893 in seinem Werk Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend fest, dass Bilderbücher sehr einfach gestaltet sein sollten. Aufgrund von falschen Annahmen über die kindliche Rezeptionsfähigkeit forderte er einen Bilderbuchstil mit deutlichen Umrissen, ruhigen Farben, keinen komplizierten perspektivischen Verkürzungen, sondern flächenhaften Darstellungen. „Seine [Meggendorfers] Bilder sind einfach, nicht zu klein im Maßstab, wirksam kolorirt, ohne viele Verkürzungen gezeichnet, meistens friesartig angeordnet. Weder Text noch Illustrationen sind besonders geistreich, das ist aber auch für den Zweck, den sie erfüllen sollen, nicht nötig.“ (von Lange 1893, 47)

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstand dann eine völlig neue Art von Bilderbüchern. Durch den Einfluss des Jugendstils und der Kunsterziehungsbewegung, die als Teil der Reformpädagogik des beginnenden 20. Jahrhunderts den freien künstlerischen Ausdruck als wichtiges Mittel in der Bildung sah, wurden Bilderbücher plötzlich zu einer Kunstform. „Der ästhetische Reformationsprozeß der Jahrhundertwende hob aber nicht nur den Wert des illustrierten Buches, sondern löste auch die Infragestellung des bislang üblichen Realismus der Bilder in Bilderbüchern aus. D.h., die Illustration war nicht länger mehr ungefragt dem Text als zusätzliches Beiwerk subordiniert, sondern begann, Eigenwert zu beanspruchen.“ (Trummer 1997, 172) Es veränderte sich also das Verhältnis zwischen Bild und Text, und das Bilderbuch wurde zu einem ganzheitlichen Kunstwerk.

Eine ähnliche Entwicklung passierte während der Zwischenkriegszeit in Frankreich, in der die Illustrationen der Bilderbücher, die sich an den zeitgenössischen Kunstrichtungen orientierten, in den Vordergrund traten. Ein Beispiel dafür ist das Buch Macao et Cosmage ou l’expérience du bonheur von Edy Legrand. Das Buch erzählt die Geschichte von Macao, einem weißen Mann, und Cosmage, einer schwarzen Frau, die auf einer paradiesischen Insel leben, abgeschirmt von der Zivilisation. Doch eines Tages werden sie von einer Schiffsmannschaft entdeckt und die Insel wird zugleich zivilisiert und zerstört. Während der Kapitän Macao erklärt, dass das Glück in der Arbeit und im Schaffen liegt, macht sich letzterer mit Cosmage auf den Weg, um ein neues Paradies zu suchen. Die Geschichte wird von Bild und Text gemeinsam erzählt, das heißt, dass die Trennung zwischen Bild und Text manchmal verschwimmt, der Text ist Teil des Bildes oder wird von Ornamenten geschmückt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(http://www.fulltable.com/vts/aoi/l/legrand/mc.htm, eingesehen am: 8.12.2011)

Doch diese Entwicklung wurde nicht nur positiv gesehen, so kritisierte Thérèse Latzarus, die als erste die Geschichte der französischen Kinderliteratur untersuchte, das Buch folgendermaßen : „Que le livre pour enfants devienne le livre des collectionneurs, c’est dire nettement qu’on ne le considère plus comme un instrument d‘éducation et d’instruction…“ ( zit. nach Diament 2008, 29). Sie befürchtete also, dass aus dem Bilderbuch statt einem erzieherischen Mittel für Kinder immer mehr ein Gegenstand für bibliophile Sammler wird.

In den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts kehrte sich dann die Entwicklung wieder um, die Darstellungen in den Bilderbüchern wurden wieder naiver, die Themen wieder „kindgemäßer“ und die Illustrationen wurden auf ihren angestammten Platz, nämlich getrennt vom Text zu dessen Untermalung, zurückverwiesen. Im deutschsprachigen Raum wurden zu dieser Zeit unter anderen die Kinderbüchlein im Kleinformat der österreichischen Illustratorin und Kinderbuchautorin Ida Bohatta-Morpurgo bekannt. Sie stellte religiöse Themen dar und zeichntete vor allem auch Elfen- und Wichtelmotive. Ihre Büchlein waren ein großer Erfolg und wurden in 13 Sprachen übersetzt.

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(http://polarbearstale.blogspot.com/2011/03/ida-bohatta-1900-1992.html, eingesehen am: 8.12.2011)

In Frankreich hingegen eroberte zu dieser Zeit die Geschichte eines Elefanten die Kinderbuchwelt. Ähnlich wie Heinrich Hoffmann verfasste auch Jean de Brunhoff die Geschichte von Babar dem kleinen Elefanten zuerst für seine Kinder. Er schrieb die Gute-Nacht Geschichten seiner Frau auf, illustrierte sie und machte aus dem Elefanten Babar den ersten tierischen Protagonisten eines Bilderbuches. Das Buch war sofort ein großer Erfolg, aber aufgrund seines frühzeitigen Todes konnte Jean de Brunhoff nur sieben Bücher verfassen. Jedoch sein Sohn Laurent de Brunhoff setzt sein Werk bis zum heutigen Tage fort, und so lebt Babar nicht nur in der Bilderbuchreihe weiter, sondern wurde auch zum Fernsehhelden. Als solcher ist er in ganz Europa, aber vor allem auch in den USA bekannt, wo Laurent de Brunhoff mittlerweile lebt.

Nach dem 2. Weltkrieg gab es im deutschsprachigen Raum vorerst keine großen Neuerungen, was die Gestaltung und Thematik von Bilderbüchern angeht. Man setzte vor allem auf klassische Geschichten und Motive, und auch die Illustrationen orientierten sich mehr an der Vergangenheit, als neue Initiative zu zeigen.

In Frankreich begründete Paul Faucher die Bilderbuchreihe Père Castor, die klassische Erzählungen, Märchenstoffe aber auch neuere Geschichten französischer Kinderbuchautoren speziell für jüngere Kinder zugänglich machte. Die Bilderbücher wurden zum großen Erfolg und werden auch heutzutage immer wieder neu verlegt. Außerdem gibt es mittlerweile eine sehr populäre Zeichentrickserie, in der Père Castor seine Geschichten erzählt.

Die große Revolution in der Entwicklung des Bilderbuches passierte dann in den 60er- und vor allem 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, ausgelöst durch die gesellschaftlichen Entwicklungen, die auch eine andere Art der Pädagogik bzw. die sogenannte Anti-Pädagogik zur Folge hatten, den Einfluss der Massenmedien und der zunehmenden Internationalisierung bzw. Amerikanisierung. Sowohl in der Auswahl der Themen als auch der stilistischen Mittel wurden völlig neue Wege beschritten. Gegenüber den phantastischen Erzählungen traten alltagsbezogene Geschichten, die auch Probleme wie z.B. Tod oder Familienprobleme thematisieren, in den Vordergrund. Die traditionellen Illustrationen, meist in Pastellfarben gehalten, wurden von einer stilistischen Vielfalt, in der auch plakative Farben, groteske Darstellungen, Karikaturen und eine Vermischung von Bild und Text erlaubt sind, abgelöst.

So werden nun Bilderdbücher nicht mehr in erster Linie als Modellgeschichten für brave Kinder gesehen, sondern es wird vielmehr auf die Erlebenswelt der Kinder eingegangen. Gefühle, wie z.B. Aggression, oder kindliche Identifikationssuche werden thematisiert. Ein vielzitiertes Beispiel ist das Werk des US-Amerikaners Maurice Sendak Where the wild things are (1963) , auf Deutsch: Wo die wilden Kerle wohnen oder im Französischen: Max et les maximonstres, das auch im europäischen Raum einen großen Erfolg feierte. Die Geschichte erzählt vom kleinen Max, der nach einem Streit mit seiner Mutter in die Welt der wilden Kerle kommt, und zeigt auf, wie er dann auch wieder von dort zurückkehren kann. Es geht also nicht mehr um Belehrung und Bestrafung von falschem Verhalten, sondern um Einfühlung und Aufzeigen von Lösungsstrategien. Auch die gestalterische Umsetzung der Geschichte weist neue Tendenzen auf. Der Text wird eher knapp gehalten, und die Illustrationen mit ihren beeindruckenden Darstellungen treten in den Vordergrund. Der Text ist so aufgebaut, dass das Vorlesen und Umblättern in seine Gestaltung einbezogen werden.

Ein anderes bezeichnendes Beispiel ist Das kleine Ich bin Ich (1972) der österreichischen Autorin Mira Lobe mit Illustrationen von Susi Weigel, das beschreibt, wie ein kleines Phantasietier auf der Suche nach seinem Selbst Gefühle von Anderssein durchlebt und nach langem Hin und Her sein Selbst und Selbstvertrauen findet. Die Andersartigkeit des kleinen Ich bin Ich wird nicht nur durch den sich wiederholenden Reim, mit dem das kleine Tier bei den anderen Tieren nachfragt, wer es sei, ausgedrückt, sondern auch durch seine Darstellung als Stoffcollagen-Tier, das sich vom gezeichneten Hintergrund abhebt. Auch hier wird das Umblättern einbezogen, indem der Text so platziert wird, dass er die Spannung für die nächste Seite aufbaut. Am Ende des Buches gibt es eine Bastelanleitung für das kleine Ich bin Ich, um die Geschichte in das eigene Spiel zu übertragen. „Mit diesem Realitätswechsel war der Zusammenhang von Sprache und Bild im Bilderbuch paradigmatisch in Richtung einer tatsächlichen Spielerfahrung ausgedehnt und ein neuer Weg in der Lesekultur beschritten.“ (Trummer 1997, 176)

Doch die formalen Änderungen gehen noch weiter. Es gibt Bilderbücher in den unterschiedlichsten Formaten. Die kleine Raupe Nimmersatt (1972) von Eric Carle frisst sich nicht nur durch sämtliche Lebensmittel, sondern macht auch konkrete Löcher in die Buchseiten. In anderen Büchern werden Seiten zum Aufklappen sowie Dinge, die bewegt oder befühlt werden können, eingebaut. Auf diese Weise wird das Bilderbuch auf verschiedenen Sinnesebenen erfassbar und die Rezeption mit dem Spiel verknüpft.

Die Illustrationen von Bilderbüchern lassen auch zunehmend abstrakte Darstellungen zu. Ein erstes Beispiel dafür ist das Buch Das kleine Blau und das kleine Gelb (1962) des amerikanisch-italienischen Autors Leo Lionni, das die Geschichte einer Freundschaft anhand von zwei Farbklecksen erzählt. Doch erst in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts setzt sich dann die abstrakte Darstellung richtig durch und bricht mit dem bisherigen Realismusprinzip in der Kinderbuchdarstellung. Im Buch Klicketick (1990) von Christine Nöstlinger, in dem es um Trennung und Wiedervereinigung eines Elternpaares geht, stellt die Illustratorin, Barbara Waldschütz, die Personen in geometrischen Formen und Farbentsprechungen dar. Umgekehrt werden im Buch von Mira Lobe Das fliegt und flattert, das knistert und knattert (1991) geometrische Elemente personifiziert.

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(http://www.amazon.de/Klicketick-Ein-Bilderbuch-Kleinen-Gro%C3%9Fen/dp/3900763577, eingesehen am: 9.12.2011)

(http://www.miralobe.at/buecher/fliegt_und_flattert.htm, eingesehen am: 9.12.2011)

Ein weiterer Aspekt in der Entwicklung ist die zunehmende Kommerzialisierung des Bilderbuches, die oft über die Adaptierung des Buches für Film und Fernsehen passiert. Umgekehrt haben diese Medien auch Einfluss auf die bildnerische Gestaltung von Bilderbüchern. Viele Verlage bauen auf Bilderbuchreihen, wie z.B. die französische Bilderbuchreihe Martine von Gilbert Delahaye und Marcel Malier. Der Erfolg beruht zumeist auf einer idealisierten Darstellung der Welt.

Je vielfältiger das Angebot an Bilderbüchern auf dem Buchmarkt wird, umso mehr öffnet sich die Schere zwischen niveauvollen Bilderbüchern und billigen Massenproduktionen. Der Tendenz der zunehmenden Literarisierung und experimentellen Gestaltung von Bilderbüchern steht eine Einschränkung durch kommerzielle Interessen gegenüber. Dies zeigt sich unter anderem auch in der Übersetzung von Bilderbüchern, die immer mehr durch internationale Koproduktionen und Amerikanisierung geprägt wird.

1.3. Charakteristische Merkmale kinderliterarischer Bilderbücher

Aufgrund der großen Vielfalt von Bilderbüchern ist eine klare Abgrenzung zu Gebrauchsgrafik, Comics oder anderen Buchillustrationen schwierig. Thiele (2003, 71) geht von der Definition Grünewalds (1991) aus und beschreibt Bilderbücher als „eine spezielle Untergattung der Kinderliteratur, die in der Regel 30 Buchseiten nicht überschreitet und sich durch eine enge Wechselbeziehung von Bild und Text auszeichnet.“ Die Adressaten von Bilderbüchern sind vor allem Kleinkinder, die noch nicht lesen können oder dabei sind, das Lesen zu erlernen, weshalb den Bildern eine bedeutende Rolle zukommt.

Wenn auch in letzter Zeit die Entwicklung von kunstvollen Bilderbüchern, die sich mehr an Erwachsene richten, zugenommen hat, so bleibt es jedoch wichtig, entwicklungspsychologische Aspekte einzubeziehen, um sich in die Erlebenswelt von Kleinkindern einfühlen zu können. Thiele (2003, 72) meint hierzu: „Dieses Plädoyer für eine am Kind orientierte Bilderbuchkultur ist nicht zu verwechseln mit der alten Forderung nach Kindegemäßheit, die häufig erhoben wird, um neue und experimentelle Ansätze im Bilderbuch abzuwehren und eine bewusst einfache Bild- und Textform einzuklagen.“ Es geht also nicht darum, eine einheitliche formale Regelung für Bilderbücher zu schaffen und damit künstlerische Initiativen auszuschalten, sondern darum, von der Erwachsenenebene aus auf das kindliche Fühlen und Denken einzugehen. Kindern können also sehr wohl unterschiedliche künstlerische Stile als auch offenere Erzählformen zugemutet werden.

Eine Einteilung von Bilderbüchern kann nach unterschiedlichen Aspekten vorgenommen werden. Inhaltich würde man zwischen erzählenden Bilderbüchern, Märchenbilderbüchern, Sachbilderbüchern und Spielbilderbüchern unterscheiden.

Es kann jedoch auch je nach bildnerischem Stil oder nach dem Verhältnis zwischen Bild und Text differenziert werden. Die Stilrichtungen der Illustrationen in Bilderbüchern werden in einen grafischen Stil, malerischen Stil, Karikatur, Fotorealismus, Abstraktion und Collage unterteilt. Während beim grafischen Stil die Linie im Vordergrund steht und die skizzenhaften Zeichnungen meist nur mit blassen Farben unterlegt werden, zeichnet sich der malerische Stil durch eine weniger detaillierte und dafür flächigere Darstellung aus, in der dem Spiel mit den Farben eine bedeutende Rolle zukommt. Als Beispiele möchte ich Illustrationen einerseits aus dem Buch Opas Engel (2004) von Jutta Bauer und andererseits aus dem Buch Das Haus zwischen Himmel und Meer (2000) von Anne Herbauts gegenüberstellen.

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(http://www.aerzteblatt.de/archiv/38784/Der-Tod-im-Bilderbuch-Tut-sterben-weh, eingesehen am: 10.12.2011)

(http://www.mediatheque-carros.fr/opacwebaloes/index.aspx?idpage=483, eingesehen am 10.12.2011)

Andere Bilderbücher werden durch karikaturistische Zeichnungen, die auf der Reduzierung und Übertreibung wesentlicher, typisierender Merkmale basieren, gekennzeichnet. Im Gegensatz zum Fotorealismus, der durch ein möglichst genaues fotografisches Abbild einen hohen Illusionsgrad erzielen will, kehrt man sich in der Abstraktion ganz von einer figurativen Darstellung ab. Ein Beispiel dafür ist das schon erwähnte Werk von Leo Lionni Das kleine Blau und das kleine Gelb. Als Collage werden Bilder aus gerissenem Papier oder Stoffresten, wie etwa beim Kleinen Ich bin Ich, bezeichnet.

Die meisten Bilderbücher sind monoszenisch aufgebaut, das heißt, dass pro Seite ein Bild eine Szene darstellt. Es gibt jedoch auch pluriszenische Bilderbücher, die in einem Bild mehrere Szenen gleichzeitig darstellen, indem sie diese aneinanderreihen oder ineinander verweben. Ein Beispiel dafür sind die Bücher von Ali Mitgutsch, die ohne Text rein auf der Basis von bildlichen Darstellungen auf großformatigen Doppelseiten viele kleine Alltagsszenen miteinander vereinen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(aus: Bei uns im Dorf (1994) - http://relevant.at/kultur/literatur/39738/so-ein-gewimmel-ali-mitgutsch-75-jahre-alt.story, eingesehen am: 10.12.2011)

In den meisten Fällen fügen sich jedoch in Bilderbüchern Bild und Text in einem bestimmten Verhältnis zusammen. Häufig besteht eine Parallelität zwischen Bild und Text, das bedeutet, dass die Illustrationen den Inhalt des Textes unterstützen. Während der Text den Handlungsablauf erzählt, beschreiben die Bilder bestimmte Handlungsmomente. Dabei können sie unterschiedliche Funktionen erfüllen, wie etwa eine rein ästhetische, aber auch eine erklärende, interpretierende oder unterhaltende Funktion.

Bild und Text können sich jedoch auch kontrapunktisch zueinander verhalten. Hier werden die Illustrationen mit Absicht dem Inhalt des Textes entgegengesetzt, um Irritation oder Komik hervorzurufen. Ein Beispiel dafür ist das Buch Maman était petite avant d’être grande (1999)/ Als Mama noch ein braves Mädchen war (2001). Auf der einen Seite erzählt der Text von Valérie Larrondo, wie brav und artig die Mutter als kleines Kind war, doch auf der anderen Seite zeigen die Illustrationen von Claudine Desmarteau genau das Gegenteil, indem sie die Mutter darstellen, wie sie als kleines Mädchen in der Nase bohrt und viele Dummheiten macht. So wird der Inhalt des Textes durch die Illustrationen auf ironische Weise in Frage gestellt.

Eine dritte Möglichkeit besteht darin, dass Bild und Text sich in der Erzählung der Geschichte abwechseln, also einen geflochtenen Zopf bilden, wo einmal der Textstrang und einmal die Illustration den Inhalt vermitteln. Hier sind beide Komponenten notwendig, um den Inhalt des Buches zu verstehen. Zum Beispiel erzählt Pat Hutchins in Rosie’s Walk (1968) die Geschichte der lustigen Henne Rosie, die unbekümmert über den Bauernhof spaziert. Der Fuchs aber, der hinter jedem Busch auf Rosie lauert, wird im Text überhaupt nicht erwähnt, sondern ist nur auf den Bildern zu sehen. Auf diese Weise entsteht eine besondere Art der Spannung.

Bilderbücher werden jedoch nicht ausschließlich durch das Verhältnis zwischen Bild und Text charakterisiert, sondern auch durch bestimmte sprachliche Merkmale. So sind sie meist in einer sehr einfachen Sprache geschrieben, die für Kinder verständlich sein soll. Dies heißt aber nicht, dass nicht auch literarische Stilmittel, wie zum Beispiel Reime, sprachliche Bilder und Symbole vorkommen. Gleichzeitig spielt in Bilderbüchern auch die Sprachmelodie eine große Rolle. Da Bilderbücher eben oft vorgelesen werden, will man damit eine gute Lesbarkeit und eine bestimmte Wirkung auf die Kinder erzielen. So ist die Sprache der Bilderbücher durch eine gewisse Mündlichkeit geprägt, die zum Teil auch Kindersprache, einfache Reime und lautmalerische Elemente einbezieht.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Bilderbücher durch ihr besonderes Format, ihr Layout, durch eine einfache Sprache, geprägt von einer gewissen Mündlichkeit, ihre Art der Illustration und durch ihr Verhältnis zwischen Bild und Text gekennzeichnet sind. Aufgrund der großen Vielfalt ist die Einteilung von Bilderbüchern schwierig, da sich verschiedene Tendenzen, zum Beispiel in der Art der Illustration oder auch im Text-Bild Verhältnis, oft vermischen. Schließlich geht es aber in der Übersetzung von Bilderbüchern ja nicht in erster Linie darum, diese zu kategorisieren, sondern charakteristische Merkmale zu erkennen, um den Inhalt analysieren zu können.

2. TRANSLATIONSTHEORETISCHE ANSÄTZE IN DER UNTERSUCHUNG VON KINDERLITERATUR

In der relativ jungen Geschichte der Translationswissenschaft haben sich unterschiedliche Richtungen herausgebildet, die einmal mehr die Treue zum Original oder mehr die Wirkung auf den Leser der Zielkultur in den Vordergrund stellen. Während produktionsorientierte Ansätze die Äquivalenz zwischen Ausgangs- und Zieltext als Basis für eine korrekte Übersetzung sehen, haben sich andere Theorien vom Original befreit und sehen den Zweck der Übersetzung als „Maß aller Dinge“, wie die Skopostheorie von Hans Vermeer. Diesen unterschiedlichen und oft entgegengesetzten Richtungen gemeinsam ist jedoch, dass sie präskriptiv ausgerichtet sind. Demgegenüber gibt es aber auch Ansätze, die auf deskriptive Weise historisch-kulturelle Aspekte in den Mittelpunkt stellen, wie die Manipulation School von Theo Hermanns, die Polysystemtheorie von Itamar Even-Zohar und der Göttinger Sonderforschungsbereich Die literarische Übersetzung.

Diese unterschiedlichen theoretischen Ansätze spiegeln sich auch in der Untersuchung von kinderliterarischen Übersetzungen wieder, soweit sie sich überhaupt mit Kinderliteratur auseinandersetzen. Prinzipiell ist es so, dass es zwar vereinzelte Untersuchungen, aber keine umfassende Theorie zur Übersetzung von Kinderliteratur gibt. Sei es aufgrund des Status von Kinderliteratur oder aufgrund ihrer besonderen Merkmale, eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung wird entweder als nicht legitim betrachtet oder einfach ausgelassen. Ersteres wird damit begründet, dass in der Kinderliteratur die Grenze zwischen Übersetzung und anderen textbearbeitenden Adaptionen fließend sei und diese deshalb nicht den maßgeblichen Äquivalenzforderungen entsprechen (vgl. O’Sullivan 2000, 178/179). Letzteres Argument betont zwar die besonderen Charakteristika von Kinderliteratur, nimmt diese jedoch nicht als Voraussetzung für eine eigene wissenschaftliche Betrachtung. So nennt Katharina Reiß im Rahmen ihrer Texttypentheorie zwar folgende Faktoren, die bei der Untersuchung von Kinderliteratur beachtet werden müssen,

1. „die […] Asymmetrie des gesamten Übersetzungsprozesses: […] Erwachsene übersetzen das von Erwachsenen Geschriebene für Kinder und Jugendliche“ (Reiß, 1982, 7);
2. die Vermittlerinstanzen, die Druck auf den Übersetzer ausüben, Tabus zu beachten oder pädagogische Prinzipien zu achten (vgl.ibd., 8) und
3. „die noch eingeschränkte Weltkenntnis und Lebenserfahrung der Kinder und Jugendlichen“ (ibd.). (zit. nach O’Sullivan 2000, 180) setzt sich dann aber nicht weiter mit der Übersetzung von Kinderliteratur auseinander.

Wieweit ist nun aber eine eigenständige Untersuchung von Kinderliteratur erstrebenswert und unter welchen Voraussetzungen? Zum einen ist natürlich in der Analyse der Übersetzung von Kinderliteratur die Unterscheidung zwischen verschiedenen Textformen, vor allem zwischen Sachtexten und literarischen Texten, genauso wichtig wie in der translationswissenschaftlichen Forschung allgemein. So schreibt O’Sullivan (2000, 190): „Danach wären Übersetzer ‚literarischer‘ Ausgangstexte den Texten und deren Autoren gegenüber erst dann treu bzw. loyal, wenn die ästhetische Dimension ebenso wie die Mitteilungssituation in der Übersetzung zum Tragen käme. In einer solchen funktionalistischen Theorie könnte und müsste z.B. differenziert werden zwischen Texten mit ästhetischem Anspruch, solchen, die sich nach dem Grad der sprachlichen Schwierigkeit definieren lassen und Alphabetisierungsfunktion besitzen (z.B. bei Leselern- und Erstlesebüchern) und bei denen in Anbetracht des beschränkten Lexikons der Zielleser die Funktion der Verständlichkeit vorherrschend ist, und Texten, in denen Inhalte über die Form gestellt werden, wie z.B. bei Sachbüchern.“ In der Untersuchung von kinderliterarischen Texten, auf die sich die vorliegende Arbeit beschränkt, ist die besondere Ontologie literarischer Texte genauso zu beachten wie in der allgemeinen Literatur. Das heißt, dass im Unterschied zu Sachtexten fiktionale Texte nicht referentiell sind, sprich deren Wahrheitsgehalt nicht in der Realität überprüft werden kann, und dass sie einen ästhetischen Charakter haben. Dies bedeutet, dass die Form eines literarischen Werkes genauso viel Aussagecharakter wie der Inhalt hat und der Autor ganz bewusst stilistische Mittel wählt, um damit etwas Bestimmtes auszudrücken. Die formalen Merkmale sind somit gleichermaßen Sinnträger wie der Inhalt selbst und müssen dementsprechend übertragen werden. (vgl. Greiner 2004, 15 ff)

Gleichzeitig muss jedoch zwischen allgemein literarischen und kinderliterarischen Texten aufgrund der schon genannten Asymmetrie zwischen dem Verfassen des Textes durch Erwachsene und der kindlichen Rezeption sowie der doppelten Zugehörigkeit zum pädagogischen und literarischen System auch in Bezug auf ihre Übersetzungspraxis unterschieden werden. Bei der theoretischen Betrachtung der Übersetzung von Bilderbüchern müssen insbesondere die sowohl stilistische als auch inhaltliche Funktion der Illustration sowie deren Verhältnis zum Text zusätzlich beachtet werden.

Obwohl es, wie schon gesagt, keine umfassende Theorie zur Übersetzung von Kinderliteratur und noch weniger zur Übersetzung von Bilderbüchern gibt, haben sich einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit dieser Thematik auseinandergesetzt, die im Folgenden genauer betrachtet werden sollen. Juliane House hat im Rahmen ihres Konzeptes eines „overt versus covert Übersetzens“ zum Beispiel auch kinderliterarische Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche untersucht. Der schwedische Literaturwissenschaftler Göte Klingberg setzte sich in seinem Buch Children’s Fiction in the Hands of the Translators (1986) auf einer praxisnahen Ebene mit Übersetzungsproblemen von Kinderliteratur auseinander. Basierend auf der Polysystemtheorie untersuchten vor allem Zohar Shavit und Basmat Even-Zohar die Funktion von kinderliterarischen Übersetzungen ins Hebräische; am umfangreichsten behandelte die Finnin Riitta Oittinen die Thematik des kinderliterarischen Übersetzens und insbesondere auch des Übersetzens von Bilderbüchern. In ihrem Buch Kinderliterarische Komparatistik geht die Professorin für Englische Literaturwissenschaft Emer O’Sullivan auf die Übersetzungsprobleme bei Kinderbüchern ein und nimmt das Konzept des impliziten Übersetzers auf.

2.1. Der übersetzungstheoretische Ansatz von Juliane House

In der alten Tradition der Gegenüberstellung von verfremdender und einbürgender Übersetzung unterscheidet auch Juliane House zwischen overt/offener bzw. covert/ verdeckter Übersetzung. Sie geht jedoch noch einen Schritt weiter und definiert die zwei Arten von Übersetzung aufgrund ihrer unterschiedlichen Form von Äquivalenz, die sie in systematischen Übersetzungsanalysen auf vier Ebenen, nämlich der Funktionsäquivalenz des einzelnen Textes (individual textual function), dem Sprachregister (register), dem Genre (genre) und der sprachlichen Ebene des Textes (language/text), untersucht. Dementsprechend bedeutet Äquivalenz bei der offenen Übersetzung „maximaler Erhalt […] des Originals und eine bewusste Analogie des Ensembles der sprachlichen Formen, Gleichheit als Kopie des Originals im neuen Gewand. Diese Gleichheit bei offener Übersetzung bedeutet aber zugleich auch Ferne, Unnahbarkeit, Abwesenheit der Möglichkeit ‚echter‘ Funktionsäquivalenz oder des Direkt-Angesprochenseins des Adressaten. Die ‚Gleichheit‘ bezieht sich auf den Text, nicht auf die Reaktion des Adressaten.“ (House 2007, 12) Bei der verdeckten Übersetzung hingegen bezieht sich die Äquivalenz nicht auf die textuelle Ebene, noch auf Sprachregister und Genre, sondern vielmehr auf die Reaktion des Lesers. So schreibt House (2007, 19): „Um […] die für verdeckte Übersetzung nötige Beachtung der Erwartungsnormen der neuen Adressaten zu bewerkstelligen, muss der Übersetzer ein äquivalentes sprachliches Ereignis kreieren, d.h. die Übersetzung muss sich in einer neuen Diskurswelt, einem neuen Frame entfalten, ohne dass die Diskurswelt, in der sich das Original entfaltet, ko-aktiviert wird.“ Die verdeckte Übersetzung soll sich also möglichst unerkannt als Übersetzung in die Zielkultur einfügen, und um dies zu erreichen, muss der Übersetzer kulturelle Filter einsetzen. Juliane House unterscheidet aber sehr wohl zwischen Übersetzung und anderen Formen von Textbearbeitung. So schreibt sie (House 2001, 252): „This distinction is important in view of recent widespread attempts to indiscriminately view intentionally non-equivalent “versions” as translations – even though the new text may have a function different from the original text’s function. Producing a version results from a deliberate turning away from the original, a reevaluation and often renunciation of the original.” Während sich also auch eine verdeckte Übersetzung am Original orientiert, indem sie die gleiche Wirkung in einer anderen Kultur erzielen will, nehmen andere Arten von Textadaptierungen das Original nur zum Anlass, etwas Neues zu schaffen, indem sie den Sinn des Originals bewusst abändern, sei es um ihn zu kritisieren oder um ihn in ein neues Licht zu stellen.

Vor allem in Bezug auf literarisches Übersetzen sieht House die offene Übersetzung als die entsprechende Form. Ihre Theorie ist zwar nicht speziell auf Kinderliteratur ausgerichtet, doch hat sie diese unter anderem auf der Basis von systematischen linguistischen Untersuchungen von kinderliterarischen Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche belegt. Dort hat sie festgestellt, dass den originalen Kinderbüchern meist nicht die nötige Anerkennung entgegengebracht wird und sie eher verdeckt übersetzt werden. „However, given that one of the goals of children’s literature is to help children understand and appreciate the cultural diversity of the world, one wonders whether original children’s texts ought not be treated with more respect, i.e. be translated overtly rather than covertly.” (House 2004, 684)

House nennt dazu einige Beispiele aus den Übersetzungen der Kinderbücher von Astrid Lindgren. So kommt in einem Buch Lindgrens ein Mädchen vor, das schneller wachsen möchte, und sich deshalb bei Regen in einen Misthaufen stellt. Nun wollte der amerikanische Übersetzer aus dem Misthaufen einen Haufen welker Blätter machen, worüber sich Astrid Lindgren natürlich beschwerte, da so die Logik des kleinen Mädchens und die damit verbundene Ironie verloren geht. Hier konnte sich Lindgren erfolgreich durchsetzen, in einem anderen Fall kündigte sie jedoch einen Vertrag mit dem französischen Verlag Hachette auf, der aus der wilden Pipi Langstrumpf ein höfliches kleines Mädchen machen wollte, dass statt einem Pferd nur ein Pony hochheben kann. House nennt als Gründe für eine verdeckte Übersetzungspraxis bei Kinderbüchern moralisch-pädagogische Absichten, aber auch die Unterschätzung der kindlichen Rezeptionsfähigkeit. Sie meint (2004, 685): „Adults often underestimate the child, and this underestimation is reflected in adults‘childish (not childlike) attitudes, which lead to sentimentalizations of matter-of-fact texts, such as Astrid Lindgren’s.” Ein weiterer Grund für verdecktes Übersetzen kann auch die unterschiedliche Tradition von Kinderliteratur in der Ausgangs- und Zielkultur sein. So wird zum Beispiel im deutschen Sprachraum genauer zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur unterschieden als in der anglo-amerikanischen Kultur, wo es viel Kinderliteratur gibt, die von großen klassischen Autoren geschrieben wurde und sich gleichzeitig an den erwachsenen Leser richtet.

Juliane House ihrerseits untersucht die deutschen Übersetzungen englischer Kinderbücher nicht so sehr hinsichtlich kultureller Unterschiede, sondern mehr auf einer linguistischen Basis. Nichtsdestoweniger sieht sie auch in dieser Hinsicht drei Ebenen als Rahmen für die Übersetzungsanalyse, nämlich the level of language, wo es um Unterschiede in den beiden sprachlichen Systemen geht, the level of society, der den unterschiedlichen Sprachgebrauch betrifft, und the level of the individual, der die individuelle Einstellung und Zielsetzung des Übersetzers widerspiegelt. (vgl. House 2004, 688) Zum anderen stellt sie vier Parameter auf, um die Abweichungen in der Übersetzung einzuordnen, und zwar: directness versus indirectness, reliance on verbal routines versus ad-hoc formulation, focus on content versus focus on adressees und expliciteness versus implicitness.

So gibt es Beispiele aus dem Buch A Bear called Paddington von M. Bond, zu Deutsch: Paddington unser kleiner Bär, die zeigen, dass die im Englischen indirekte und höfliche Ausdrucksweise im Deutschen vernachlässigt wird (zit. nach House 2004, 689/690):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Sowohl das erste Beispiel, bei dem der Grund für das Verhalten des Bären und das Wort höflich einfach weggelassen wird, als auch das zweite Beispiel, wo, wenn es im Englischen auch keine Unterscheidung zwischen Du und Sie gibt, aufgrund der Anrede Mr. Brown ein Sie im Deutschen angebrachter wäre, entsprechen nicht dem höflichen Ton des Originals. Nun hat der Autor aber bewusst einen höflich-erwachsenen Ton gewählt, der im Gegensatz zum kleinen Bären steht, da sich daraus eine ganz bestimmte Ironie ergibt. Diese geht durch die größere Direktheit in der deutschen Version verloren.

Die im Englischen häufig vorkommenden Sprach- bzw. Höflichkeitsformeln werden in der deutschen Übersetzung entweder ganz ausgelassen oder sie werden durch Ad-hoc Formulierungen ersetzt, wie im folgenden Beispiel aus Henry Wilsons Buch Do Goldfish Play the Violin? (Kann ein Goldfisch Geige spielen?) (zit. nach House 2004, 692):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Jeremy, der Timothy nur ungern auf seine Party einlädt, drückt dies im Englischen durch das I’ll be very pleased auf eine sehr ironische Weise aus. Die Höflichkeitsformel wird zum Sprachwitz, der in der deutschen Übersetzung nicht wiedergegeben wird.

[...]

Ende der Leseprobe aus 115 Seiten

Details

Titel
Das Zusammenspiel von Verbalem und Visuellem in der Übersetzung von Bilderbüchern
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck  (Institut für Translationswisssenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
115
Katalognummer
V276525
ISBN (eBook)
9783656696445
ISBN (Buch)
9783656698067
Dateigröße
3422 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
zusammenspiel, verbalem, visuellem, übersetzung, bilderbüchern
Arbeit zitieren
Elisabeth Pedrini (Autor:in), 2012, Das Zusammenspiel von Verbalem und Visuellem in der Übersetzung von Bilderbüchern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/276525

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