Der mit der Kunkeltaube. Über Werwölfe, Wald- und Wiedergänger anhand eines Nachlassgedichtes von Paul Celan


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2014

36 Seiten


Leseprobe


Ein Brief von Paul Celan an Ernst Jünger erregte 2005 die Gemüter. Der 1951 noch unbekannte deutschsprachige Dichter hatte aus Paris dem prominenten deutschnationalen „Anarchen“ in Wilflingen geschrieben und ihm eine Auswahl seiner Gedichte vorgelegt. Bei seinen Forschungen im Jünger-Archiv hat der Publizist Tobias Wimbauer den Brief entdeckt und in der Frankfurter Allgemeine Zeitung wirkungsgerecht unter dem Titel „In Dankbarkeit und Verehrung“ publiziert. So lautet nämlich die Abschiedsformel dieses Briefes vom 11. Juni 1951, in dem Celan um Jüngers Aufmerksamkeit und Unterstützung wirbt.[1] Anhand des Briefes widersprach Wimbauer der Auffassung, Celan habe mit Jünger „Probleme“ gehabt und sein Verhalten im Krieg missbilligt. Ähnliche „Mutmaßungen“ des Celan-Biographen John Felstiner und der Celan-Editorin Barbara Wiedemann fand Wimbauer nun durch diesen Brief ausgeräumt. Vielmehr habe sich Ernst Jünger zu Zeiten des Dritten Reiches untadelig verhalten und Celan habe es vermutlich ihm zu verdanken, dass die Deutsche Verlagsanstalt 1952 „Mohn und Gedächtnis“ gedruckt hat. „Hilfe kommt aus Wilflingen“, lautet denn auch der Untertitel des Artikels.[2] Damit löste Wimbauer eine heftige Debatte aus, die hauptsächlich in der FAZ ausgetragen wurde. Schon die Tatsache dieses Briefes und seine Auslegung durch Wimbauer schien Celans Unversöhnlichkeit gegenüber Personen vom Schlage Ernst Jüngers in Frage zu stellen. Der französische Altphilologe und Celan-Forscher Jean Bollack reagierte mit einer überraschenden Interpretation des Briefes. In einem akribischen Maskenspiel habe Celan „alles, aber auch wirklich alles gesagt, was ihn von Ernst Jünger trennt“, um auf diese Weise dessen eventuelle Unterstützung anzunehmen, ohne zu lügen.[3] Auch Theo Buck, der mit Bollacks Interpretation hart ins Gericht geht, hat sich in einer Studie ausführlich mit den Hintergründen des Briefes auseinandergesetzt und einiges ins rechte Licht gerückt.[4] Andere wiederum lesen den Brief Celans als eine Art Persilschein für Ernst Jünger: wäre dieser tatsächlich ein Antisemit und Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen, so würde ihm doch nie ein Paul Celan diesen Brief schreiben können! Wolfgang Emmerich zum Beispiel, der es als Autor einer erfolgreichen Monographie über Paul Celan besser hätte wissen müssen, reagierte auf Celans Brief an Jünger mit folgender Erklärung: „Celan wußte wohl zu unterscheiden zwischen Männern der politischen Rechten, die keine Antisemiten waren (wie Jünger), und Nazis (ergo Antisemiten).“[5] Davon stimmt freilich nur, dass 1951 Ernst Jünger kein Antisemit gewesen sein wollte. Joachim Seyppel brachte es ein gutes Stück weiter mit seiner Feststellung, der Brief sei gewiss ein „Kanossagang“ des Autors der „Todesfuge“, zu dem ihn „Jüngers hohe Form der Intellektualität, seine Überlegenheit im Reich des Geistes“ veranlagt haben mag.[6] Ein Jude, dem während des Dritten Reiches bis auf das nackte Überleben wenig erspart blieb, übe Seyppel zufolge den Kanossagang zu einem Autor, der sich nicht nur als Wehrmachtsoffizier für das Dritte Reich verdienstlich gemacht hatte. Celan habe sich an einen ihm Ebenbürtigen wenden wollen, so wie sich Schiller an Goethe gewandt habe – stellt ferner Seyppel fest. Celan als ein neuer Schiller und Jünger als ein neuer Goethe – der Vergleich ist beeindruckend. Vorbei die Zeiten, als der Jude „überhaupt in nichts, was das deutsche Leben anbetrifft, weder im Guten noch im Bösen, eine schöpferische Rolle spielen kann“ – Originalton Ernst Jünger 1930, als sich seine „Überlegenheit im Reich des Geistes“ besonders reichhaltig manifestiert zu haben scheint.[7]

Wie man heute Celans nachgelassenem Briefwechsel entnehmen kann, erfolgte sein Schreiben an Jünger auf Initiative des Wiener Freundes Klaus Demus. Nach der Enttäuschung durch den mangelhaften Druck seines ersten Gedichtbands Der Sand aus den Urnen (Wien 1948) bemüht sich Celan in Paris ziemlich aussichtslos um einen neuen Verleger. In seinem Brief vom 2. September 1950 schlägt ihm Demus vor, sich in dieser Angelegenheit an Ernst Jünger um Unterstützung zu wenden. Wahrscheinlich hat Celan sehr zurückhaltend darauf reagiert, worauf Demus mit einem erneuten Vorschlag kommt: er will es seinem Freund leichter machen und die heikle Bittschrift auf sich nehmen: „Ich würde ihm gerne schreiben und dabei auch – sogar hauptsächlich – von Dir sprechen, und Du sollst ihm Dein Manuskript schicken.“ (PC/KND, 34f.) Demus will erfahren haben, dass sich Jünger bereits erfolgreich für einen österreichischen Dichter eingesetzt habe, in Deutschland verlegt zu werden, und was ihn besonders zu ermutigen scheint, ist die Person dieses Dichters: „Denk Dir – es hat sich um H. Hakel gehandelt!!“ Der Dichter Hermann Hakel ist, was Demus unerwähnt lässt, jüdischer Herkunft. Celan reagiert auch auf diesen Vorschlag nicht, und am 17. Dezember 1950 drängt ihn Demus erneut: will denn Celan wirklich nicht für seine Manuskripte etwas bei Jünger versuchen? Auch Ingeborg Bachmann ermuntert Celan zu diesem Schritt: sie glaube, schreibt sie ihm aus Wien, dass es kein Fehler wäre, durch Jünger etwas in Gang zu bringen.[8] Im Mai 1951 gibt Celan sein Zögern auf und lässt Demus wissen, er habe Jüngers Adresse ermittelt; wenn Demus möchte, könne er ihm nun seinen Brief schicken. (PC/KND, 60) Es ist ein merkwürdiger Brief, der am 18. Mai 1951 aus Wien an Jünger ging, und damit ist nicht nur das überschwängliche Pathos des damals 24-jährigen Klaus Demus gemeint. Es ist die Art, wie er seinen Freund präsentiert, den Jünger aus tiefster existentieller Not retten soll, indem er einen Verleger für ihn findet: „Niemand kennt seinen Namen: Paul Celan. 1920 als Deutscher in Rumänien geboren, nach Paris geflüchtet, wo er seit drei Jahren lebt, studiert, mühsam sein Brot verdient, dichtet.“[9] Und anschließend fasst Demus das Elend seines Freundes im folgenden Satz zusammen: „Seine Eltern kamen im Krieg um, seine Braut[10] ist für ihn tot, er ist ganz allein.“ In seinem Brief an Celan findet es Demus ein hoffnungsvolles Zeichen, dass Ernst Jünger dem österreichischen Dichter jüdischer Herkunft Hermann Hakel geholfen haben soll; in seinem Brief an Jünger hingegen kaschiert er die jüdische Herkunft Paul Celans und auch die Tatsache, dass seine Eltern als Juden umgebracht wurden. Wusste Demus wirklich nicht von der jüdischen Herkunft seines Freundes?[11] Oder schien es ihm Jünger gegenüber ratsamer, diese unerwähnt zu lassen? Man kann heute nur darüber spekulieren; Tatsache ist jedenfalls, dass man in biographischen Notizen und Interviews aus dieser Zeit krampfhaft vermied, Celans jüdische Herkunft auch nur zu erwähnen – selbst dann, wenn die Todesfuge besprochen wurde.[12] Celan selber schien daran keinen Anstoß zu nehmen; seinem Selbstverständnis nach war er ein Jude und er war ein deutscher Dichter, also ein Deutscher.

II

Was Ernst Jünger von solchen Deutschen hielt, kann man in seinem Artikel „Über Nationalismus und Judenfrage“ nachlesen. Es handelt sich um Jüngers Beitrag für eine Sondernummer der Zeitschrift „Süddeutsche Monatshefte“, die 1930 mit dem Titel „Die Judenfrage“ aufmachte und eine breite Palette von Artikeln, auch prominenter jüdischer Autoren, zum Thema brachte.[13] Darin rügt Ernst Jünger zunächst den überlieferten Antisemitismus in Deutschland als ein spätes und schwächliches Kind der feudalen Welt. In seiner Hilflosigkeit halte es dieser Antisemitismus höchstens für einen Schönheitsfehler, „den Juden“ in repräsentativen Stellungen auftauchen zu sehen. Ferner beklagt Jünger den Mangel an Folgerichtigkeit und Instinktsicherheit, der dem Antisemitismus der nationalen Bewegungen anhafte; aus diesem Mangel heraus werde nämlich „der Stoß gegen den Juden zwar oft unter großem Aufwand, aber immer viel zu flach angesetzt, um wirksam zu sein.“ Seine Hoffnung setzt Jünger auf den „Willen zur Gestalt“, der sich in Deutschland geltend mache. Am Ende dieses Gestaltungswillen stehe „die Gestalt des Deutschen Reiches als einer auf ihren eigentümlichen Wurzeln ruhenden Macht“. Nun habe aber auch der Jude dank des Liberalismus eine Gestalt gewonnen, nämlich die Gestalt des „Zivilisationsjuden“. In dieser Gestalt habe sich der Jude quasi unsichtbar gemacht, indem er einen Deutschen mimt und für die emporkommende Gestalt des Deutschen gefährlich, ansteckend und zerstörend wirken könne. Die feinste und geschickteste Wirksamkeit des Zivilisationsjuden laufe auf die ununterbrochene Führung des Nachweises hinaus, dass es den Juden gar nicht gebe. Daher sei die wirksamste Waffe gegen diesen „Meister aller Masken“, ihn zu sehen. Die Quintessenz dieser Überlegungen lautet:

Die Erkenntnis und Verwirklichung der eigentümlichen deutschen Gestalt scheidet die Gestalt des Juden ebenso sichtbar und deutlich von sich ab, wie das klare und unbewegte Wasser das Öl als eine besondere Schicht sichtbar macht. (…) Der Zivilisationsjude klammert sich in seiner Masse noch an den Liberalismus an, dem er ja nicht weniger als alles verdankt. (…) Die wirksamste Waffe gegen ihn, den Meister aller Masken, ist, ihn zu sehen. Im gleichen Maße jedoch, in dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt, wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbarer werden, und er wird sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein.

Es scheint, als würde Jünger den Stab nur über den „Zivilisationsjuden“ brechen. Damit ist der assimilierte deutsche Jude gemeint, der ein Deutscher sein will oder es zu sein vorgibt und der sich daher als Jude – eben in der Gestalt des „Zivilisationsjuden“ – unsichtbar gemacht hat. In dieser Gestalt werde aber der Jude gleichsam ein Ölfleck aus der „eigentümlichen deutschen Gestalt“ herausgeschieden werden. Als Jude allerdings, der diese Gestalt nicht angenommen hat, darf er in Deutschland sein. Dass man einige Jahre später mit der Verwirklichung der „eigentümlichen deutschen Gestalt“ im Dritten Reich den Juden in welcher Gestalt auch immer dem Nichtsein zuführte – das kann man Jünger freilich nicht anrechnen, er war ja bekanntlich kein Nazi.[14]

Hätte Paul Celan diesen Aufsatz gelesen – meint Theo Buck – wäre sein Brief mit Sicherheit ungeschrieben geblieben. Ob diese Annahme stimmt? So unbekannt war Jüngers berüchtigte Aufsatz auch damals nicht, und nichts spricht dagegen, dass ihm Celan gerade deshalb diesen besonderen Brief geschrieben hat. Hat er doch auch mit Martin Heidegger das Gespräch gesucht, obgleich dieser im Unterschied zu Jünger auch noch Mitglied der NSDAP war. Dabei „würgt“ Celan an seinem Brief an Jünger, wie er später am Gespräch mit Heidegger „würgt“.[15] Er will auch nicht verbergen, welche Mühe und Selbstüberwindung ihm dieser Brief bedeutet: „So geriet ich jedes Mal ins Stocken, wenn ich mich zu den Worten vortastete, die ich meinen Gedichten vorausschicken musste (…)“. Und was dieses Stocken verursacht, steht im vorangehenden Satz, der lautet:

Auf vielerlei Wegen habe ich zu Ihrer Welt hinübergedacht und Ihnen zu begegnen versucht – aber das Zeichen, unter das ich mich stellte, schien mir nicht recht zu denjenigen zu gehören, die es vermocht hätten, Ihr Auge auch für die Gestalt unter ihm zu gewinnen.

Was Celan damit sagt ist allerdings interpretationsbedürftig. Auch er spricht von Gestalt. Im Unterschied zu Jünger, bei dem die Gestalt anstelle des (bürgerlichen) Individuums getreten ist, verwendet er diesen in Philosophie und Ästhetik strapazierten Begriff meistens, wenn er sein Selbstverständnis als Dichter zu verdeutlichen sucht. Hier geht es aber um mehr. Er, Paul Celan, habe sich unter ein Zeichen gestellt, und dieses scheine ihm nicht zu denjenigen zu gehören, die Jüngers Auge auch für die Gestalt unter diesem Zeichen gewinnen könnten. Was könnte sich Jünger bei diesem Satz gedacht haben, mit dem ihm ein unbekannter deutscher Dichter jüdischer Herkunft, also ein „Zivilisationsjude“, subtil und unerbittlich sein Verdikt über die Gestalt des Zivilisationsjuden vor Augen führt? Das Zeichen, unter das sich Celan gestellt habe, sei „das des dichtenden Juden deutscher Sprache nach dem Holocaust“, meint Theo Buck.[16] Das klingt zwar plausibel, erklärt uns aber nicht, was dann die Gestalt unter diesem Zeichen wäre. Man kann diese Briefstelle auch anders lesen, nämlich als Verweis auf den Brief von Klaus Demus an Jünger, in dem er seinen Freund Celan als einen deutschen Dichter, ja, als einen neuen Hölderlin vorstellt, und als Verweis auf Jüngers Artikel „Über Nationalismus und Judenfrage“, in dem Jünger den Juden als Gestalt wahrnimmt. Celan steht unter dem Zeichen des Dichters in der Gestalt des Juden – wohlgemerkt des „Zivilisationsjuden“, der sich Jünger zufolge in dieser Gestalt als Jude unsichtbar gemacht hat. Daher erwartet Celan nicht, Jüngers Auge auch für die Gestalt unter diesem Zeichen gewinnen zu können. So gelesen ist diese Briefstelle der blanke Hohn auf den auch sprachlich ungeheuerlichen Antisemitismus Ernst Jüngers, den er später vehement geleugnet hat.

Der Gedanke, man nehme ihn nicht als Persönlichkeit und Individuum wahr, hielt Celan einige Jahre später in einem Aphorismus fest: „Noch die »Besten« wollen den Juden (der ja nichts anders als eine Gestalt des Menschlichen, aber immerhin eine Gestalt ist) als Person, als Subjekt nicht wahrhaben […].“ (Mikrolithen 31) Denselben Gedanken gab er nahezu gleichlautend in einem Brief an Peter Szondi vom 11. August 1961 weiter: „Sie sind, wie ich, Jude, und so kann ich hier über manches hinweggehen und, in diesem Zusammenhang, einen Gedanken äußern, der mir weiß Gott nicht frei in der Luft zu schweben scheint: Noch von den »Besten« wird der Jude – und das ist ja nichts als eine Gestalt des Menschlichen, aber immerhin eine Gestalt – nur allzu gerne als Subjekt aufgehoben und zum Objekt bzw. »Sujet« pervertiert.“[17] In einem Brief an Gottfried Bermann Fischer vom 14. Dezember 1963 stellt er eine Entwicklung in Deutschland fest, die er mit Besorgtheit verfolge: „Dazu gehört, auf der ‚Linken’, ein gewisser ‚liberaler’ Antisemitismus, der es sich, diesmal (auch diesmal!) nicht ohne Mithilfe von Juden bzw. ‚Juden’, zum Ziel gesetzt hat, das Jüdische – also eine der Gestalten des Menschlichen, aber immerhin eine Gestalt! – auf dem Wege der Absorption, Bevormundung usw. zu beseitigen.“[18] Celan will eben als Subjekt, d. h. hier schlicht als „Mensch“, wie es mehrmals emphatisch bei ihm heißt, wahrgenommen werden, und nicht als Objekt, Sujet oder Repräsentant des „Jüdischen“. Der Jude, will man ihn schon als Gestalt wahrnehmen, ist nichts anders als eine Gestalt des Menschlichen. Eben diese Fähigkeit und Bereitschaft, den Juden wahrzunehmen, mutet er Jünger nicht zu. Im engen Zusammenhang mit diesem Gedanken und mit seiner Auffassung, dass die Dichtung der Ort des Einmaligen und Individuellen ist, definiert Celan die Dichtung als „Gestalt gewordene Sprache eines Einzelnen“, eine Gestalt, die freigesetzt worden sei „unter dem Zeichen einer radikalen und sich der von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation“. (Mikrolithen 197, PCM 9 u. 215) Zwei Inhalte von Gestalt stehen sich somit gegenüber: die sich herausbildende „eigentümliche deutsche Gestalt“, die Jünger zufolge die Gestalt des „Zivilisationsjuden“ sichtbar mache, um diesem den Wahn auszutreiben, jemals Deutscher sein zu können, und die Gestalt gewordene Sprache eines Einzelnen, wie Celan seine Dichtung versteht. Dieser Einzelne, der die Gestalt gewordene Sprache hervorgebracht hat, ist selber freilich keine Gestalt, weder des „Deutschen“, noch des „Jüdischen“ und schon gar nicht des „Zivilisationsjuden“; er ist ein Individuum, ein Ich, das unter dem Zeichen einer radikalen Individuation steht und ihr in seiner Dichtung Gestalt verleiht. Auch so ließe sich der verklausulierte Satz interpretieren, in dem Celan zu erklären versucht, was ihn zögern lässt, Jünger seine Gedichte vorzulegen. Tatsächlich erklärt er ihm mit diesem Satz, was sie voneinander trennt: das nämlich, was die eigentümliche deutsche Gestalt in der Person von Ernst Jünger von der Gestalt unter dem Zeichen einer radikalen Individuation in der Person von Paul Celan trennt. Und warum nicht auch noch das, was den dem Anarchismus zugeneigten Paul Celan vom „Anarchen“ trennt, als der sich Ernst Jünger zu stilisieren pflegte.[19]

[...]


[1] Tobias Wimbauer: „In Dankbarkeit und Verehrung.“ In: FAZ vom 8. Januar 2005, S. 33.

[2] In Wirklichkeit hat am 7. August 1951 Ernst Jünger über seinen Sekretär Armin Mohler das Manuskript zurücksenden und Celan wissen lassen, dass er sich für ihn nicht einsetzen könne. Vgl. Detlev Schöttker: „Postalische Jagden. Ernst Jüngers Präsenz in der deutschen Literatur und Publizistik nach 1945“, in: Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund, Marbach a. N., 2010, S. 221-247.

[3] „Celans Maskenspiel“, in FAZ vom 14. Januar 2005, S. 31. Der Titel bringt treffend Ernst Jüngers antisemitische Qualifizierung „des Juden“ als „Meister aller Masken“ in Erinnerung.

[4] Theo Buck: Celan schreibt an Jünger. Zu einem Brief und den Reaktionen, die er auslöste. Celan-Studien VII, Aachen 2005.

[5] FAZ vom 22. Januar 2005, S. 9.

[6] FAZ vom 27. Januar 2005, S. 37.

[7] S. Anm. 13.

[8] Ingeborg Bachmann – Paul Celan: Herzzeit. Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Hg. v. Bertrand Badiou, Hans Holler, Andrea Stoll u. Barbara Wiedemann, Ffm. 2008, S. 21. (Hervorhebung von mir-GC)

[9] Detlev Schöttker u. Anja S. Hübner (Hg.): Im Haus der Briefe. Autoren schreiben Ernst Jünger (1945-1991), marbacher schriften, neue folge 8, Göttingen 2010, S. 48f. Der Band enthält auf S. 49f. auch den Brief Paul Celans an Ernst Jünger vom 11. Juni 1951nach seiner Erstveröffentlichung in der FAZ vom 8. Januar 2005.

[10] Gemeint ist wohl Ingeborg Bachmann nach dem kurz davor gescheiterten Versuch eines Zusammenlebens mit Celan in Paris.

[11] Wie Joachim Seng in seinem Kommentar zum Brief 5 berichtet, habe Demus nach eigener Auskunft 1949 noch nichts über Celans Herkunft und über die Ermordung seiner Eltern gewusst. (PC/KND, 510) Das ist erstaunlich. Selber ein Dichter, war Demus fasziniert und ergriffen von den frühen Gedichten seines Freundes, wozu schon Todesfuge und In Aegypten zählten. Wie hat er sie dann verstanden?

[12] So stellte ihn Rolf Schroers in seiner Rundfunksendung „Der Dichter und sein Werk: Paul Celan“ (Hessischer Rundfunk, 11. 3. 1953) als einen deutschen Lyriker aus der Bukowina mit österreichischen Eltern vor, dem der zweite Weltkrieg furchtbare Erfahrungen brachte. (RF 417). Paul Schallück vermerkt in seinem Artikel „Schwarze Milch der Frühe“ (FAZ 25. 4. 1953) lediglich, Celan sei in der Bukowina geboren und habe seine beiden Eltern auf grausame Weise verloren. Karl Schwedhelm verschweigt in seinem Interview mit Paul Celan (Süddeutscher Rundfunk, 15. 6. 1954) sehr dezent die jüdische Herkunft seines Gesprächspartners, über die er informiert war, und präsentiert ihn den Hörern als einen in Rumänien in einer deutschsprachigen Umgebung geborenen Dichter, der, nachdem ihm ein schweres Schicksal die Eltern genommen habe, über Wien nach Paris übersiedelt sei. (PCM 198) Hiermit reproduziert Schwedhelm eine zeittypische rhetorische Figur: Die Täterschaft wird dem Schicksal zugeschrieben, damit über die Täter geschwiegen wird.

[13] Ernst Jünger: „Über Nationalismus und Judenfrage“, in: Süddeutsche Monatshefte 9/1930, S. 843-845.

[14] In seinem Gespräch mit Ernst Jünger, erschienen in der „Zeit“ am 8. Dezember 1989, berichtet André Müller: „Antisemitische Äußerungen, so erklärte mir Jünger, könne es nicht von ihm geben, das wäre mit seinem Naturell nicht vereinbar: ‚Ich habe nur festgestellt, daß sich die Deutschen und die Juden auf eine Weise entfremdet hatten, daß es besser gewesen wäre, sie wären auseinandergegangen.’ Ich fragte ihn, wie er sich das vorgestellt habe. Er antwortete: ‚Die Juden hätten auswandern können. Das wäre sicher zu ihrem Vorteil gewesen.’“ Dass er besagte Entfremdung selber tatkräftig vorangetrieben hat, lässt Jünger freilich unerwähnt.

[15] "Seit ein Gespräch wir sind, / an dem / wir würgen, / an dem ich würge", lautet ein Gedichtsfragment zu „Todtnauberg“. In: HKA 9.2, S. 107.

[16] Theo Buck (a. a. O.), S. 26.

[17] Paul Celan- Peter Szondi- Briefwechsel. Mit Briefen von Gisèle Celan-Lestrange an Peter Szondi und Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Peter Szondi und Jean und Mayotte Bollack. Hg. v. Christoph König, Ffm 2005, S. 40. (Hervorhebungen des Autors)

[18] In: Paul Celan. Hg von Werner Hamacher und Winfried Menninghaus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S.22.

[19] Als einer „auch mit den Schriften Peter Kropotkins und Gustav Landauers Aufgewachsenen“ bezeichnet sich Celan in seiner Büchner-Preis-Rede (PCM, S. 3) und in mehreren Nachlassfragmenten.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Der mit der Kunkeltaube. Über Werwölfe, Wald- und Wiedergänger anhand eines Nachlassgedichtes von Paul Celan
Autor
Jahr
2014
Seiten
36
Katalognummer
V275497
ISBN (eBook)
9783656684329
ISBN (Buch)
9783656684657
Dateigröße
528 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kunkeltaube, über, werwölfe, wald-, widergänger, nachlassgedichtes, paul, celan
Arbeit zitieren
Germinal Civikov (Autor:in), 2014, Der mit der Kunkeltaube. Über Werwölfe, Wald- und Wiedergänger anhand eines Nachlassgedichtes von Paul Celan, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275497

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