"Stimmbruch". Josef Kainz als Exponent einer sprechdramaturgischen Zäsur


Hausarbeit, 2014

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Stimme und Sprache im theaterästhetischen Diskurs des 19. Jahrhunderts
2.1 Zur Etablierung einer dichterischen Vortragskultur
2.2 Sprachphilosophische und deklamationstheoretische Positionen
2.3 Perspektiven der Rolleninterpretation in der Weimarer Klassik

III. Theater-Stimmen um 1900: Sprechideale und dramaturgische Funktionsmuster
3.1 Sprachkritik im Bildungsbürgertum
3.2 Die Emanzipation vom Text
3.3 Pathetisches Sprechen: Analogien zur Musik
3.4 Stilistische Prämissen – ein Resümee

IV. „Im Raum des Exzesses“ – zur Sprechkunst Josef Kainz‘
4.1 Sprechstilistisches Profil
4.2 Rezeptionsästhetische Perspektiven

V. Schlussbetrachtung

VI. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Wie das letzte Geheimnis, einen furchtbaren Schatz, aus dem alle Rätsel strahlen, ein Sakrament der menschlichen Verborgenheiten, hält er das Böse mit ausgestreckten Armen empor. Und sein Mund, wie die Hölle glühend, speit Eis aus. Kochendes Eis. Das ist das Wort für seine Darstellung des Bösen. Kochend ausgeworfen, aber Eis. Das klingt absurd, wenn man es sagt.[1]

Unzweifelhaft artikuliert das Oxymoron hier eine Illusion − markiert es das Innovative, das Faszinierende am Wirken Josef Kainz‘. Mit seiner revolutionär expressionistischen Sprechstilistik erlangte der 1858 geborene und 1910 verstorbene österreichische Schauspieler und Vortragskünstler rasch transnationale Berühmtheit und avancierte somit zur künstlerischen Leitfigur eines theaterästhetischen Epochenumbruchs[2], dem der zeitgenös-sische Kritiker und Regisseur Otto Brahm ein sogar destruktives Moment zuschrieb – sein Urteil: „Genie sein heißt: Zerstörer sein. Mit ihm, dem Genie Josef Kainz, beginnt die große Zerstörung, die große Erneuerung der deutschen Darstellungskunst.“[3]

Aus dem methodischen Betrachtungsfeld der Theaterhistoriographie heraus erscheint es hierbei von besonderem Interesse, die veränderten Wahrnehmungsstrukturen und Wirkungsbedingungen dieses scheinbar sehr radikalen Paradigmenwechsels nachzuvoll-ziehen: Welche neuen Funktionsmuster lassen sich für die Stimme im Theater um 1900 hiernach formulieren? Inwiefern spiegeln sich diese in Kainz‘ Sprechkunst wider und nach welchen ästhetischen Prinzipien und Wirkungsstrategien ist sein Sprechen angelegt? – Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, das Wirken Josef Kainz‘ mit seinen neuen sprechästhetischen Modifikationen genauer in den Blick zu nehmen und diese im Hinblick auf ihr stilbildendes und stilprägendes Potenzial für den Epochenumbruch hin zu kontextualisieren. Zudem soll dabei ein Verständnis dafür entwickelt werden, nach welchen diskursiven Maßstäben Stimm- und Sprechideale konstruiert werden und in welchem Maße sie insbesondere geistes- und kulturgeschichtlichen Wandlungsprozessen unterworfen sind. Nach einer einführenden Darstellung zentraler sprachphilosophischer Postulate des 19. Jahrhunderts sowie der Beziehung von Stimme und Sprache in der Interpretationstradition der klassizistischen Dramatik stellt die Arbeit die entscheidenden sprechstilistischen Prämissen der Jahrhundertwende vor, in deren Kontext Kainz‘ Sprechkunst stand. Sie schließt mit einem konkreten Blick auf seine Vortragspraxis: In der analytischen Auseinandersetzung mit ausgewählten Quellen zu seiner Rezeption sollen die wirkungsästhetischen Dimensionen seiner Sprechstimme präzisiert und hierbei mögliche Rückbezüge auf die epochenspezifische Sprechstilistik angestellt werden.

II. Stimme und Sprache im theaterästhetischen Diskurs des 19. Jahrhunderts

Eine ausführliche Betrachtung von Stimm- und Sprechtechniken des 19. Jahrhunderts, ihrer unzähligen methodischen Abhandlungen sowie ihren immanenten Konvergenzen und Widersprüchen kann an dieser Stelle wohl gemerkt nicht geschehen. Nichtsdestotrotz möchte ich im Folgenden zentrale historische Voraussetzungen und diskursprägende Phänomene nachskizzieren, die das philosophische und mediale Verhältnis zwischen Stimme und Sprache von der Aufklärung bis zu den Darstellungsidealen des klassizistischen Theaters neu formulierten.

2.1 Zur Etablierung einer dichterischen Vortragskultur

Die Charakteristik öffentlichen Sprechens, gleich in welchem Rahmen sie stattfand, nahm bis ins späte 18. Jahrhundert in Lehre, Praxis und Rezeption noch immer Bezug auf die Traditionslinien der antiken Rhetorik − verpflichteten sich ihre Strategien doch nach wie vor der politischen Lenkung und der Überzeugung der zuhauf analphabetischen und ungebildeten Massen. Als tragendes Element der Rede verhielt sich die Stimme damit weiterhin streng nach den tradierten Sprech-Postulaten und blieb bezüglich ihrer Gestaltungs- und Wirkungspotenziale unreflektiert.[4]

Im Kontext der rationalistischen Strömungen der Aufklärung und einer damit einhergehenden Popularisierung deutschsprachiger Literatur, u.a. durch Goethe, Lessing und Klopstock, erfuhren rhetorische Praktiken schließlich einen grundlegend neuen Status im kulturellen Wertesystem. Begründet durch die sog. ‚Sprechkunstbewegung‘ entstand mit dem lauten Vorlesen ‚eine neue Form der öffentlichen Präsentation von Dichtung‘ – die Deklamation – als ‚eigene performative Gattung‘, die je nach künstlerischer Ausbildung des Vortragenden allerdings noch stilistisch stark differierte.[5] Die Deklamationskunst verstand sich schnell als eine eigenständige und allgemein akzeptierte gesellschaftliche Praxis, womit zwar nicht primär dem Medium Stimme, dennoch aber dem sie umgebenden Rahmen eine ästhetische Aufwertung zugeschrieben wurde: Die Deklamation an sich fungierte ihrerseits als Medium – als ein, so Meyer-Kalkus, ‚Medium ästhetischer Gemeinschaft‘.[6] „Von da aus [wurde sie] zum notwendigen Bestandteil des Ausdrucks von Ideen und Empfindungen charakterisiert, ‚bloße Sprache‘ dagegen als etwas, ‚dem in Wirklichkeit nichts [entsprach]‘.“[7] Somit etablierte sich diese Form des künstlerischen Sprechens schnell als ein Forum für Debatten politischen und gesellschaftskritischen Inhalts, was in öffentlichen Kontexten in dieser Art und Weise bis dato nicht möglich war.[8]

Fernab der Ausbildung rationalistischer Erkenntnisprozesse sah man in der neuen Vortragspraxis gleichwohl explizit didaktische Potenziale zur Alphabetisierung der Bevölkerung. In der Rezeption der gesprochenen Dichtung, gewissermaßen zu verstehen als ‚Vergegenwärtigung‘ eines bereits über die Augenlektüre bekannten Textes, vollzog sich eine in kollektivem Kreise stattfindende Bewusstwerdung der eigenen kulturellen Identität. Hierin bestand gleichermaßen die Innovation der ‚neueren Sprechkunst‘, die sich − bedingt durch eine bereits präformulierte Rezeptionsweise − von den dichterischen Vortragsformen des Mittelalters abhob, bei denen die bloße Unterhaltung eines zumeist leseunkundigen Publikums im Vordergrund stand.[9] Man nahm das deutsche Sprachgut, die eigene Muttersprache, in ihrer reinen, gesprochenen Form nunmehr als ein zentrales Mittel der sozialen Identifikation und kulturellen Repräsentation wahr. So erreichten die neu konzipierten Vortragspraktiken in unterschiedlichster dispositiver Ausprägung einen hohen Status zur Vermittlung und Verwirklichung der aufklärerischen Postulate als auch zur Pflege der deutschen Hochsprache. In schulischen und häuslich-privaten Kontexten waren sie fürderhin ebenso präsent wie im explizit künstlerischen Milieu des Theaters.[10]

Angesichts dieser soziokulturellen Entwicklungen festigte sich entsprechend ein bürgerliches Bildungsideal, das dem performativen Rahmen des Dichtungsvortrags ein ungemein hohes Maß an sprachdidaktischer Effektivität und ästhetischer Produktivität zuschrieb: „Erst als gesprochene wurde Dichtung sozial […], wurde sie zum Laboratorium der Verfeinerung von Sprache und Kultur, der Modellierung der Affekte, Sitten und Gesinnungen.“[11]

2.2 Sprachphilosophische und deklamationstheoretische Positionen

Mit der bildungspolitischen Strahlkraft der Sprechkunstbewegung einhergehend, vollzog sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine außerordentliche Blüte der sprachlichen und kulturellen Umgangsformen und des intellektuellen Austauschs. Durch das in gehobenen Kreisen aufstrebende Bewusstsein für Sprachpflege, die nunmehr gemäß den puristischen Ansprüchen einer ‚reinen deutschen Mundart‘ im Sinne Goethes praktiziert wurde, entwickelten sich Tendenzen, die Reinheit der Sprache in ihrer performativen Ausstellung auch als einen kulturellen und sozialen Identitätsmarker für die Abgrenzung zu anderen Nationalkulturen Europas aufzufassen. Fruchtbaren Boden fand diese Geisteshaltung u.a. darin, dass an den meisten deutschen Höfen immer noch französische Stil- und Verhaltensformen präsent waren, mit deren hegemonialer Dogmatik Goethe, Hegel und Kant brechen wollten.[12]

Jedoch zielten die Verfeinerungen des Sprachbewusstseins nicht allein auf eine Instrumentalisierung in nationalpolitischen Diskursen ab. Sie standen ebenso im Kontext von Bemühungen, das gehobene Sprechen in seiner stilistischen und klangphänomenologischen Spezifik für zeitgenössische Aufführungskonzepte fruchtbar zu machen. „Seit 1770 florierten Bücher und Abhandlungen über das Vorlesen, Deklamieren, Rezitieren und Schauspielen.“[13] In erster Instanz von Goethes Rhetorik-Kritik angetrieben, fand man sich im Bemühen wieder, die unterschiedlichen Vortragsarten begrifflich-analytisch auszudifferenzieren, ungleich der Tatsache, dass die meisten dieser Praktiken in ihrer je eigenen Form bereits lange existierten.[14]

Während das Vorlesen dem Text mit den Augen folgt[e] und die verschiedenen Rollen nur mit leichten Modulationen der Stimme in Mittellage andeutet[e] (was das Rezitieren nach Goethe um ein weniges steigert, ohne sich allerdings vom Text ganz zu lösen), setzt[e] die Deklamation nicht nur das auswendige Sprechen voraus, sondern auch ansatzweise eine Verwandlung in die dargestellte Rolle, die Andeutung eines Rollenwechsels.[15]

Diese Art der Differenzierung erschien manchen Zeitgenossen jedoch problematisch und in gewisser Weise missverständlich, schließlich vermied sie eine terminologische Grenzziehung zum Schauspiel-Begriff, die u.a. von Kerndörrfer geleistet wurde: So müsse nach ihm das Deklamieren weiterhin eine ausdrücklich eigene Gattung des Sprechens darstellen. Es sei zwar durch den auswendigen und affektisch bewegten Vortrag von Dichtung charakterisiert, dennoch seien von der Deklamation immer noch jegliche Prozesse von Einfühlung und illusionsstiftender Rollenkonstruktion auszuschließen.[16]

[...]


[1] Bahr, Hermann (2010): Josef Kainz, S. 149, der Erstauflage (1906) folgend.

[2] Vgl. Nöther, Matthias (2008): Als Bürger leben, als Halbgott sprechen, S. 310f.

[3] Kindermann, Heinz (1968): Theatergeschichte Europas, Bd. VIII, S. 95, zit. n. Otto Brahm [Referenz unklar].

[4] Vgl. Meyer-Kalkus, Reinhart (2001): Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 223f.

[5] Vgl. Meyer-Kalkus, Reinhart (2004): „Literatur für Stimme und Ohr.“ In: Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium, S. 174: Als kulturpessimistischen Gegenpol wurde das stille, einsame Lesen als durchweg „asoziale Rezeptionsform“ empfunden.

[6] Vgl. ebd.

[7] Göttert, Karl-Heinz (1998): Geschichte der Stimme, S. 385.

[8] Vgl. Meyer-Kalkus (2004): S. 174.

[9] Vgl. ebd., S. 173.

[10] Vgl. Kühn, Ulrich (2001): Sprech-Ton-Kunst, S. 39f.

[11] Meyer-Kalkus (2001): S. 225.

[12] Vgl. Meyer-Kalkus (2001): S. 225ff.

[13] Meyer-Kalkus (2004): S. 173.

[14] Vgl. ebd.

[15] Meyer-Kalkus (2001): S. 236.

[16] Vgl. ebd., S. 233.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
"Stimmbruch". Josef Kainz als Exponent einer sprechdramaturgischen Zäsur
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Institut für Theater- und Medienwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
20
Katalognummer
V275409
ISBN (eBook)
9783656681564
ISBN (Buch)
9783656681519
Dateigröße
468 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
stimmbruch, josef, kainz, exponent, zäsur
Arbeit zitieren
Tim Bornkessel (Autor:in), 2014, "Stimmbruch". Josef Kainz als Exponent einer sprechdramaturgischen Zäsur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275409

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