Tolerierung von Minderheitsregierungen

War das "policy-seeking" für die PDS in Sachsen-Anhalt ausschlaggebend für die Tolerierung der Minderheitsregierungen unter Ministerpräsident Reinhard Höppner (1994-2002)?


Hausarbeit, 2014

41 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorieteil
2.1 Drei Typen von Minderheitsregierungen
2.2 Das „Magdeburger Modell“
2.3 Erklärungsansätze der Koaltionstheorien
2.4 „policy-seeking“-Ansatz, aber keine Koalition?
2.5 Hypothese

3. Empirischer Teil
3.1 Operationalisierung
3.1.1 Die Vergleichstabellen
3.1.2 Auswertung der Vergleichstabellen
3.2 Analyse der Auswertungsergebnisse
3.3 Zusammenfassung
3.3.1 Diskussion der Ergebnisse
3.3.2 Verfikation/ Falsifikation der Hypothese

4. Resümee

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

In meiner Hausarbeit beschäftige ich mich mit den Minderheitsregierungen in Sachsen­Anhalt, die dort von 1994-2002 amtierten. Dabei liegt mein Fokus auf der Tolerierung dieser Regierungen durch die PDS. Die Bedeutung dieses Themas wird insbesondere durch seine Aktualität deutlich. So wurde in den deutschen Medien sowie in der Wissen­schaft zuletzt häufig nach Alternativen zu den klassischen Koalitionsmodellen gefahn­det, so auch zur Bundestagswahl 2013. Zentrale Aspekte waren hierbei auch die mög­liche Bildung einer Minderheitsregierung und eine Regierungsbeteiligung der Partei Die Linke., der PDS-Nachfolgepartei. Somit zwei Themen, die auch Inhalt dieser Hausar­beit sind und die sie gewissermaßen vereint. Denn die Kooperation der PDS mit den Minderheitsregierungen glich einer indirekten Regierungsbeteiligung, die den Fortbe­stand der Regierungen über zwei Legislaturperioden hinweg sicher stellte und somit der PDS eine bedeutende Rolle zuschrieb. Diese Konstellation führte mich zu der Frage, warum die PDS dieses Modell akzeptierte, anstatt aus einer klassischen Oppositions­rolle heraus die Regierung zu kontrollieren und ihr Wirken zu hinterfragen? Bei meiner Recherche setzte ich mich genauer mit dieser sowie weiteren Minderheitsregierungen in Deutschland auseinander und verschaffte mir zudem ein Bild über mögliche theore­tische Ansätze, wie den zentralen Koalitionstheorien. Daraus entwickelte ich dann ein Konzept für die Forschungsarbeit und entschied mich, meine Analyse auf folgende For­schungsfrage zu beziehen: War das "policy-seeking" für die PDS in Sachsen-Anhalt ausschlaggebender Faktor für das Tolerieren einer Minderheitsregierung im Gegensatz zum Einnehmen der führenden Oppositionsrolle? Da ich von einer ideologischen Nähe der PDS zu den jeweiligen Minderheitsregierungen ausgehe, wird der „policy-seeking“- Ansatz also die zentrale Theorie sein, mit der das Eingehen des Tolerierungsmodells durch die PDS analysiert wird.

Bei der Beantwortung der Frage soll wie folgt verfahren werden: Zunächst wird ein Überblick über das Regierungsformat „Minderheitsregierung“ und dessen Vorkommen in Deutschland gegeben, um anschließend das Fallbeispiel vorzustellen. Danach werden koalitionstheoretische Erklärungsansätze wiedergegeben und die Wahl des „policy- seeking“-Ansatzes erläutert. Die Operationalisierung dieses Ansatzes geschieht dann durch die vergleichende Analyse von Wahlprogrammen für beide Landtagswahlen. Nach Abschluss der Analyse werden die Forschungsergebnisse diskutiert, die Methode bewertet und ein Fazit gezogen.

2. Theorieteil

Das Vorkommen von Minderheitsregierungen ist schon seit einigen Jahren Gegenstand der politikwissenschaftlichen sowie der staatsrechtlichen Forschung. So gingen Staatsrechtler in Bezug auf die Verfassung der Bundesrepublik und die jeweiligen Länderverfassungen meist darauf ein, dass diese Rechtsgrundlagen generell Mehrheitsregierungen bevorzugen würden, und untersuchten ausgehend davon, ob die Bildung von Minderheitsregierungen dennoch rechtlich legitimiert oder sogar unterstützt wird (Finkelnburg 1982; Herzog 1983; Puhl 1986). Politikwissenschaftler hingegen beschäftigen sich auf diesem Forschungsfeld meist mit anderen Nationen, in denen Minderheitsregierungen regelmäßiger vorkommen - beispielsweise mit Kanada (Bourgault 2011) oder skandinavischen Ländern wie Dänemark (Preker & Haas 2012). Mittlerweile hat man sich aber auch mit Minderheitsregierungen in Deutschland auseinandergesetzt - darunter zum Beispiel einer der aktuellsten Fälle, die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen (Switek 2011) und auch das Fallbeispiel dieser Arbeit war mehrfach Forschungsgegenstand (Fürnberg & Schnapp 2008; Thomas 2003). Insbesondere der Sozialwissenschaftler Dr. Stephan Klecha wird in diesem Zusammenhang sehr häufig zitiert; so finden sich von ihm auch interdisziplinäre Untersuchungen zum Thema, die die staatsrechtliche wie die politikwissenschaftliche Sicht mit einbeziehen (Klecha 2010). Klecha hat zudem drei verschiedene Typen von Minderheitsregierungen identifiziert, an denen sich auch meine Definition von Minderheitsregierungen im folgenden Kapitel orientieren soll.

2.1 Drei Typen von Minderheitsregierungen

Minderheitsregierungen sind ein Regierungsformat, in dem sich die regierende Partei oder die regierenden Parteien nicht auf eine Parlamentsmehrheit stützen können. Sie benötigen unter anderem bei Abstimmungen die Untersützung einer oder mehrerer Oppositionsparteien, um eine Mehrheit erzielen zu können. Dieses Format steht dem, in Deutschland üblicheren, Format der Mehrheitsregierung gegenüber. Dabei können der Auslöser und die Zusammensetzung von Minderheitsregierungen sehr verschieden sein - Klecha spricht in diesem Zusammenhang vom „Oberbegriff" (2013: 281) Minderheitsregierung, der „nicht nur ein einziges Regierungsformat umfasst" (2013: 281). So lassen sich die bisher vorgekommenen Minderheitsregierungen in Deutschland nach der Motivation ihrer Bildung, den wahltechnischen Begleitumständen (Klecha 2010: 209), der Bestehensdauer, den beteiligten Parteien oder ähnlichen Faktoren auf- teilen. Eine etwas kompaktere Klassifizierung nimmt Klecha (2013) vor, wenn er von „Minderheitsregierungen als Ausnahme“ (281), „Geschäftsführenden Minderheits­regierungen“ (282) und „Originären Minderheitsregierungen“ (285) spricht. Zur ersten Kategorie gehören Fälle, in denen Regierungen ihre Mehrheit verloren haben, weil eine Partei einer Mehrheitskoalition die Zusammenarbeit aufkündigte oder weil einzelne Abgeordnete die Seiten wechselten und sich der Opposition anschlossen. Die verblie­benen Mitglieder der Regierung führen die Geschäfte und Verwaltungsaufgaben dann ohne Parlamentsmehrheit, also de facto als Minderheitsregierung, weiter, bis es zu Neu­wahlen kommt. Somit ist dieser Typ von Minderheitsregierungen meist auf einen kurzen Zeitraum begrenzt (Klecha 2013: 282).

Nach ähnlichem Muster lassen sich auch die geschäftsführenden Minderheitsregie­rungen beschreiben: Auch hier trägt diese Regierung in erster Linie Sorge dafür, dass die Verwaltung ohne Einschränkungen weiter arbeitet und das Tagesgeschäft erledigt wird - sie führt also, wie der Name schon sagt, die Geschäfte weiter. Ihre Regierungszeit ist ebenso meist recht kurz, nur der Zeitpunkt ihrer Bildung unter­scheidet sie von der Minderheitsregierung als Ausnahme. Denn geschäftsführende Minderheitsregierungen enstehen nach Parlamentswahlen, wenn die bisherige Regie­rung durch die Wahlen ihre Mehrheit verloren hat und nur noch bis zu einer neuen Regierungsbildung im Amt bleibt. Eine längere Amtszeit kommt also nur vor, wenn „sich die Koalitionsverhandlungen hinziehen oder bestimmte prozessuale Abfolgen erst eine spätere Regierungsbildung zulassen“ (Klecha 2013: 282). Generell ist eine solche Minderheitsregierung aber mehr mit ihrer eigenen Abwicklung beschäftigt, sodass es in ihrer Regierungszeit nicht mehr den Versuch gibt, bedeutende politische Inhalte zu verwirklichen. Aber auch geschäftsführende Minderheitsregierungen können, je nach Vorgaben der Landesverfassung, gezwungen sein, über einen längeren Zeitraum zu amtieren, falls der Wahlausgang zu keiner eindeutigen Mehrheitsverteilung im Parla­ment führt. Die im Amt verleibende Regierung profitiert dabei zumeist von diesem Zu­stand: Die an länger bestehenden geschäftsführenden Minderheitsregierungen (siehe Abbildung 1) beteiligten Parteien verloren nie ihre Regierungsverantwortung während der laufenden Legislaturperiode, auch wenn es, wie in den meisten Fällen, zu Neu­wahlen kam. Klecha deutet dieses Phänomen so, dass der Wähler seinen Auftrag an die Opposition, eine neue Regierung zu bilden, nicht als ausgeführt versteht und ihr das Vertrauen somit wieder entzieht und der amtierenden Regierung gewissermaßen zurück­gibt. Er spricht somit dem eigentlich abgewählten Ministerpräsidenten wieder seinen Amtsbonus zu, der ihm bei etwaigen „vorgezogenen Neuwahlen einen strategischen Vorteil“ (Klecha 2013: 284) verschafft (Klecha 2013: 282-284).

Tabelle I: Geschäfts führende Minderheitsregierungen mil längerer Verweildauer

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Geschäftsführende Minderheitsregierungen mit längerer Verweildauer (Klecha 2013: 283)

Zur Bildung des dritten Typs von Minderheitsregierungen, den „Originären Minder­heitsregierungen“ (Klecha 2013: 285), trug in Deutschland in zwei Fällen[1] das zuletzt beschriebene Phänomen bei: Um den Wählerwillen trotz unklarer Mehrheitsverhältnisse umsetzen zu können und den amtierenden Ministerpräsidenten abzusetzen, bildete die stärkste Oppositionspartei absichtlich eine Minderheitsregierung. Aber auch in weiteren Fällen kam es zur Bildung originärer Minderheitsregierungen (siehe Abbildung 2).

Beim bewussten Eingehen einer Minderheitsregierung ist für die beteiligten Parteien im Vorhinein klar, dass sie zur Wahl ihrer Ministerpräsidentin/ihres Ministerpräsidenten und zum Durchbringen von Gesetzesvorschlägen sowie des Haushalts Untersützung aus den Oppositionsfraktionen benötigen. Je nach der Zählweise von Enthaltungen kann die Enthaltung einer Oppositionsfraktion oder einiger ihrer Mitglieder dafür schon ausreichen. Um dabei jedoch eine gewisse Regierungsstabilität zu wahren, muss die Regierungsfraktion dieses Abstimmungsverhalten möglichst im Vorhinein vereinbaren. Hierzu gibt es beispielsweise die Möglichkeit eines Tolerierungsmodells, wie es auch in dieser Arbeit untersucht wird. Bei diesem Modell gibt es eine Zusammenarbeit mit nur einer der Oppositionsfraktionen, die möglicherweise fest vereinbart oder sogar vertrag­lich festgehalten wird. Eine andere Möglichkeit wäre das Regieren mit wechselnden Mehrheiten, dabei sucht die Regierung je nach Inhalt einen Partner aus der Opposition, der dann das Gesetzesvorhaben o.ä. mitträgt . Dies erfordert natürlich auch ein Zugehen auf die Opposition und die Kompromissbereitschaft der Regierungsfraktion. Zugleich muss sich eine Regierung ohne Mehrheit im Parlament aber auch eng an ihren Zielen und Plänen messen lassen und einen nicht zu wechselhaften Stil fahren, um nicht das Vertrauen einer tolerierenden oder kooperierenden Oppositionsfraktion zu verletzen (Klecha 2013: 286).

Demnach wirken diese Minderheitsregierungen wie ein fragiles Gebilde, das bei längerem Entzug der Mitarbeit durch die Opposition schnell einstürzen kann. Wenn es zu dieser scheinbar ausweglosen Situation kommt und zum Beispiel Neuwahlen ausgerufen werden, schadet dies aber nicht grundsätzlich der/den an der Minder­heitsregierung beteiligten Partei/en, so Klecha (2013: 287). Denn die Oppositions­parteien besitzen nicht den Amtsbonus, eventuell wird ihnen sogar zur Last gelegt, dass sie eine Regierung durch Beenden der Kooperation haben scheitern lassen, oder eine Oppositionspartei muss bei Neuwahlen um ihren erneuten Einzug ins Parlament bangen und verbleibt daher lieber in einem Tolerierungsmodell. (Klecha 2013: 285-287). Das Führen einer originären Minderheitsregierung lässt sich also nicht nur, wie bei den beiden anderen Typen, auf die administrativen Tätigkeiten beschränken, sondern fordert umso mehr taktisches Handeln und einen sehr feinfühligen, wenn auch selbstbewussten Regierungsstil - Ausruhen auf einer Parlamentsmehrheit ist hier nicht (mehr) möglich.

Tabelle 2: Originäre .Minderheitsregierungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Originäre Minderheitsregierungen (Klecha 2013: 285)

2 Siehe 2.3: 1994 tolerierte die PDS die Minderheitsregierung ohne genaue vorherige Abkommen (Höppner 2003:20); 1998 wurde die Zusammenarbeit dann fester vereinbart und nahm fast koalitionäre Züge an (Höppner 2003: 129ff.). In NRW arbeitete Rot-Grün mit dem Konzept der wechselnden Mehrheiten (Müller; Stecker 2012).

2.2 Das „Magdeburger Modell“

Im letzten Abschnitt wurde mit den Minderheitsregierungen in Sachsen-Anhalt bereits der Forschungsgegenstand dieser Arbeit erwähnt. Unter allen originären Minderheits­regierungen, aber auch generell unter allen Landesregierungen, die in den deutschen Bundesländern bisher gebildet wurden, stechen diese Regierungen hervor. Denn in Sachsen-Anhalt kam es zur ersten Minderheitsregierung in Deutschland, die eine ge­samte Legislaturperiode Bestand hatte (Klecha 2010: 12). Und dieses Regierungsformat hielt sogar noch eine zweite Legislaturperiode durch. Aufgrund dieser Einzigartigkeit wurde der Regierung ein Modellcharakter zugesprochen, weswegen sie heute häufig auch als „Magdeburger Modell“ bezeichnet wird.

Das Wahlergebnis 1994 ließ keine einfache Regierungsbildung zu: Die zuvor regiernde Koalition aus CDU und FDP konnte aufgrund des verpassten Einzugs der Liberalen in den Landtag nicht weiterregieren, aber auch SPD und B90/Grüne erzielten keine Regie­rungsmehrheit. Da eine Koalition mit der PDS, aufgrund derer DDR-Vergangenheit, von SPD-Seite ausgeschlossen wurde (Höppner 2003: 18-19) und auch die CDU generell keine Koalitionen mit der PDS einging, blieb die Große Koaltion aus CDU und SPD rechnerisch die einzig mögliche Koalition (siehe Abbildung 3).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Landtagswahl 1994. Parteienstimmenanteile in % - Land Sachsen-Anhalt insgesamt, Endgültiges Ergebnis (Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt 2006)

Im Zuge der anstehenden Bundestagswahl wollte die SPD aber einen Erfolg verbuchen und einen CDU-Ministerpräsidenten ablösen (Klecha 2010: 186). Somit wurde die Bil­dung einer Minderheitsregierung von SPD und Grünen angestrebt. Diese benötigte für die Wahl des SPD-Spitzenkandidaten Höppner zum Ministerpräsidenten allerdings die Unterstützung der PDS-Fraktion. Da eine formale Zusammenarbeit aber wie erwähnt ausgeschlossen war, vertrauten SPD und Grüne, ohne weitere Absprachen zu tätigen, den Signalen, die die PDS im Vorfeld der Wahl ausgesendet hatte, eine rot-grüne Landesregierung zu untersützen (Höppner 2003: 19-21). Zwar scheiterte Höppner in den ersten beiden Wahlgängen, in denen eine absolute Mehrheit erforderlich war, im dritten Wahlgang erlangte er dann jedoch die einfache Mehrheit, da die PDS-Fraktion ihn nun nicht mehr nur stillschweigend durch Enthaltung sondern direkt, durch die genaue Anzahl an Ja-Stimmen, die er zu seiner Wahl benötigte, untersützte. Dank der Regelungen in der Landesverfassung und der PDS-Untersützung konnte die rot-grüne Koalition also ohne eigene Parlamentsmehrheit regieren und schaffte es, dies auch die komplette Legislaturperiode fortzuführen (Höppner 2003: 30-33).

Die darauffolgende Landtagswahl schaffte erneut keine klaren Mehrheitsverhältnisse:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die SPD hatte trotz anders lautender Voraussagen die absolute Mehrheit der Stimm­anteile verpasst, da überraschend die DVU in den Magdeburger Landtag einzog. Zugleich scheiterten die Grünen an der 5%-Hürde zum Einzug in den Landtag. Erneut unter dem Einfluss der anstehenden Bundestagswahl, wurde bei der SPD nach mög­lichen Regierungsoptionen gesucht: Eine Koalition mit der PDS wurde von der Bundes­partei weiterhin ausgeschlossen, da man durch diese Entscheidung zu große Stimmver­luste für Kanzlerkandidat Schröder befürchtete und lieber die ungeliebte Lösung einer Großen Koalition akzeptierte, immerhin unter SPD-Führung. Nachdem die Gespräche mit der CDU aber sehr enttäuschend anliefen und die SPD-Landesparteimitglieder eine Große Koalition größtenteils ablehnten, entschied sich der erneute Spitzenkandidat Höppner gegen den Kurs der Bundespartei und bildete wieder eine Minderheitsre­gierung, die sich von der PDS tolerieren ließ (Höppner 2003: 92-108). Dabei gab es erneut keine formale Vereinbarung zwischen den beiden Parteien. Zunächst versuchte die SPD-Fraktion auch mit wechselnden Mehrheiten zu regieren, diese Taktik war jedoch nicht erfolgreich und so musste die Regierung einige Abstimmungsniederlagen

zu Beginn der Legislaturperiode einstecken. Als Lehre daraus wurde dann die Zusam­menarbeit mit der PDS-Fraktion intensiviert und nahm schon fast koalitionäre Züge an - zum Beispiel durch regelmäßige gemeinsame Sitzungen oder Arbeitsgruppen. Trotz aufkommenden Gegenwindes aus beiden Fraktionen schaffte es Reinhard Höppner er­neut, die gesamte Legislaturperiode als Ministerpräsident einer Minderheitsregierung zu überstehen (Klecha 2010: 189-190), bevor er schließlich bei der Landtagswahl 2002 abgewählt wurde.

2.3 Erklärungsansätze der Koaltionstheorien

In der Politikwissenschaft gibt es drei zentrale Ansätze, um die Entstehung von Koali­tionen zu erklären: „office-seeking“, „policy-seeking“ und „vote-seeking“ (Buzogány/ Kropp 2013). Parteien legen bei der Wahl einer Koalition also entweder Wert darauf, dass sie möglichst viele Regierungsämter besetzen können, oder dass sie dem Koali­tionspartner inhaltlich so nahe stehen, dass sie möglichst viele politische Inhalte um­setzen können. Oder aber eine Partei geht eine bestimmte Koalition ein, weil sie sich von dieser Entscheidung den geringsten Stimmenverlust bei der nächsten Wahl erhofft. Da es bei dem vorliegenden Beispiel jedoch lediglich um die Tolerierung einer Minder­heitsregierung geht, fällt der „office-seeking“-Ansatz hier raus. So hatte die PDS, da sie nicht direkt an der Regierungskoaltion beteiligt war, keine Möglichkeit Ämter zu besetzen. Der „vote-seeking“-Ansatz wäre, auch wenn es sich theoretisch nicht um eine Koalition handelt, sicherlich ein möglicher Erklärungsansatz, soll aber hier ebenfalls vernachlässigt werden, um im vorgegebenen Rahmen dieser Arbeit zu bleiben.

Wie die Forschungsfrage schon verrät, soll also mit dem „policy-seeking“-Ansatz erklärt werden, warum es zu dem Tolerierungsmodell in Sachsen-Anhalt kam. Die oben formulierte Grundanahme dieses Ansatzes legt De Swaan so aus, dass eine Partei der Koalition beitritt, in der sie die politischen Inhalte („policies“) erwartet, die ihren eigenen am nächsten stehen (1973: 88). Somit charakterisiere die Parteien nicht mehr nur ihr Gewicht, also die Anzahl der Stimmen, sondern auch „some expression that indicates their location in a space of policy preferences“ (De Swaan 1973: 68). Zur Vereinfachung geht er davon aus, dass dieser Raum eindimensional ist. Es entsteht also eine Skala, auf der man die politische Position einer Partei „links“ oder „rechts“ einer anderen Parteiposition oder aber anknüpfend an diese Position einordnen kann (De Swaan 1973: 89). Die ideologische Nähe, die De Swaan als Faktor für eine erolgreiche Koalition festlegt, lässt sich durch diese Skala also überprüfen. Vertieft wird dieser Ansatz von Leiserson: Es sei davon auszugehen, dass eine Partei aus allen ihr möglichen Koalitionen die auswählt, bei der die ideologische Entfernung auf der Skala am geringsten ist, und alle anderen Koalitionen ausschließt („Minimal range theory“, Leiserson 1968, zitiert nach de Swaan 1973: 71).

Strom/Müller fassen diese Forschungsansätze etwas vorsichtiger zusammen und beziehen dabei auch mehrdimensionale Räume ein, in denen die „policy preferences“ liegen: „parties seek to minimize the policy range between themselves and their partners.“ (1999: 8).

2.4 „policy - seeking“- Ansatz, aber keine Koalition?

Der „policy-seeking“-Ansatz gehört also zu den zentralen Koalitionstheorien: Er wurde zur Erklärung von Koalitionen entwickelt, zu denen man nicht direkt ein Tolerierungs­modell, wie das zu untersuchende, zählen würde. So schließt beispielsweise auch Leiserson in seiner „minimal range theory“ Minderheitsregierungen aus seiner Betrach­tung aus und berücksichtigt nur „winning coalitions“ (zitiert nach De Swaan 1973: 71). Dennoch entschied ich mich, diesen Ansatz zur Analyse einer Minderheitsregierung beziehungsweise deren Tolerierung anzuwenden, weil ich erwarte, dass sich das Ein­gehen dieses Regierungmodells nicht zuletzt mit der Aussicht auf Umsetzung eigener politischer Inhalte erklären lässt. Somit muss ich die Theorie, wie sie einige Wissen­schaftler sehen, erweitern, um sie auch auf den Analysegegenstand beziehen zu können. Dies legitimiert in erster Linie die Ausprägung des Tolerierungsmodels in Sachsen­Anhalt: In der ersten Legislaturperiode trug die PDS ohne jegliche direkte Regierungs­beteiligung die Politik der rot-grünen Minderheitsregierung mit. Die PDS konnte sich dabei auf den rot-grünen Koaltionsvertrag stützen (Klecha 2010: 189) und ließ zum Bei­spiel Gesetzesvorhaben der Regierung im Landtag, durch „passive Tolerierung“ (Klecha 2010: 187), passieren. Im Abstimmungsverhalten trug diese Kooperation also koali­tionsähnliche Züge. In der zweiten Legislaturperiode wollte die SPD zunächst mit wechselnden Mehrheiten regieren, was wie erwähnt scheiterte (siehe 2.2). Dadurch wurde erneut die Zusammenarbeit mit der Linkspartei fokussiert, die sich diesmal aller­dings, weil ein förmlicher Koalitionsvertrag als inhaltliche Basis fehlte, als weitaus komplizierter darstellte (Klecha 2010: 189). Daraufhin wurde die Zusammenarbeit noch einmal erweitert und beispielsweise gemeinsame Arbeitsgruppen gebildet (siehe 2.2).

3 Da die vereinfachte eindimensionale Darstellung nicht immer realistisch war, ging die Forschung später auch von „mehrdimensionalen ,policy space[s]'" (Buzogány/Kropp 2013: 263) aus.

Dadurch wirkt die Kooperation von SPD und PDS in der zweiten Legislaturperiode Höppners noch viel mehr wie eine Koaltion, zu der weiterhin lediglich die direkte Regierungsbeteiligung der PDS durch das Stellen von Ministern fehlte.

Diese Faktoren machen also die koalitionsähnliche Struktur des Regierungsmodells in Sachsen-Anhalt deutlich, die die Ausweitung des „policy-seeking“-Ansatzes auf Minderheitsregierungen, zumindest im vorliegenden Fall, legitimiert. Deshalb werde ich die policy-Positionen der beteiligten Parteien miteinander vergleichen, um darzustellen, warum die PDS die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung der klassischen Oppositionsrolle gegenüber einer CDU-geführten Regierung (1994) beziehungsweise einer Regierung mit CDU-Beteiligung (1998) vorzog. Denn durch den Auschluss einer „richtigen“ rot-roten Koalition von SPD-Seite, wäre dies nach beiden Wahlen die Alter­native gewesen. Der Vergleich wird zwischen den politischen Inhalten der PDS und dem rot-grünen Koalitionsvertrag (1994) beziehungsweise dem SPD-Wahlprogramm (1998) gezogen sowie zwischen den PDS-Inhalten und denen der CDU für beide Wahlen.

2.5 Hypothese

Die ideologische Nähe von Parteien ist also eine Erklärungsmöglichkeit für deren Zusammenschluss in einer Koalition oder, wie im Fallbeispiel, für eine unverbindlichere Zusammenarbeit. Ob das „policy-seeking“ ausschlaggebender Faktor für die PDS in Sachsen-Anhalt war, eine solche Zusammenarbeit einzugehen, soll die vorliegende Arbeit herausfinden. In der Beantwortung der Forschungsfrage gehe ich davon aus, Belege für diesen Ansatz zu finden. Demnach stelle ich folgende Hypothese auf: „Ich nehme an, dass die PDS die beiden Minderheitsregierungen aufgrund des "policy- seekings" tolerierte, also in diesem Regierungsmodell eher Möglichkeiten sah, ihre politischen Inhalte umzusetzen, als in der Opposition.“ Der folgende empirische Teil soll nun Aufschluss darüber geben, ob diese Hypothese verifiziert, modifiziert oder aber falsifiziert werden muss.

3. Empirischer Teil

Im Folgenden wird nun der vorgestellte Forschungsansatz des „policy-seekings“ operationalisert und auf das Fallbeispiel angewendet. Durch Vergleichstabellen werden politische Inhalte der beteiligten Parteien gegenübergestellt, ausgewertet und analysiert. Anschließend werden die Analyseergebnisse zusammengefasst und diskutiert sowie die zuvor aufgestellte Hypothese in Hinblick auf die Ergebnisse bewertet.

[...]


[1] Siehe Abbildung 2: 1994 bildete die SPD zusammen mit den Grünen in Sachsen-Anhalt eine originäre Minderheitsregierung, die von der PDS-Fraktion im Landtag geduldet wurde, um zu verhindern, dass die vom Wähler eigentlich abgestrafte CDU wieder den Ministerpräsidenten stellen konnte. Im aktuellsten Fall bildete 2010 Hannerlore Kraft (SPD) in Nordrhein-Westfalen ebenso zusammen mit den Grünen eine Minderheitsregierung - aus denselben Gründen, allerdings ohne feste Tolerierung durch nur eine Oppositionspartei.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Tolerierung von Minderheitsregierungen
Untertitel
War das "policy-seeking" für die PDS in Sachsen-Anhalt ausschlaggebend für die Tolerierung der Minderheitsregierungen unter Ministerpräsident Reinhard Höppner (1994-2002)?
Hochschule
Universität Bremen  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
41
Katalognummer
V274699
ISBN (eBook)
9783656676065
ISBN (Buch)
9783656676096
Dateigröße
732 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Minderheitsregierung, policy seeking, Höppner, Magdeburger Modell, Politikwissenschaft, Hausarbeit, Uni Bremen, Koalitionstheorie, minority government, regierungsformat, regierungsform deutschland
Arbeit zitieren
Joschka Frech (Autor:in), 2014, Tolerierung von Minderheitsregierungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274699

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