Emanzipation in Wort, Schrift und Tat. Die zweite Welle der Frauenbewegung am Beispiel von Verena Stefans "Häutungen" und Christa Wolfs "Kassandra"


Bachelorarbeit, 2013

69 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Alles ist im Fluss
1.1 Übersicht über die vorliegende Arbeit
1.2 Literaturbericht

2 Aufbruch in eine neue Zeit
2.1 Als das Mädchen ein Mensch war
2.1.1 Liebende und Geliebte
2.1.2 „Handelnde“ und „Behandelte“
2.1.3 Mutter, Tochter und Schwester
2.2 Gesellschaftliche Konzeptionen innerhalb der Werke
2.2.1 Matriarchat versus Patriarchat
2.2.2 Macht versus Ohnmacht
2.2.3 Liebe versus Sexualität

3 Eine verschlüsselte Botschaft in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche?
3.1 Troia und Mykene als Übergangsgesellschaften
3.2 Aspekte des Widerstands
3.3 Kassandra und Häutungen als pazifistische Werke
3.4 Geschichtliche Hintergründe der Texte
3.5 Die Entdeckung des Ichs

4 Die Frauen und „ihre“ Sprache
4.1 Feministisch motivierter Sprachwandel im Zuge der Frauen-
bewegung
4.1.1 Weibliches Schreiben als neue Ausdrucksmöglichkeit
4.1.2 Umgang mit dem Mythos
4.2 Genus-Sexus-Konflikt und generisches Maskulinum
4.3 Exkurs: Ein Seitenblick auf Judith Butler

5 Gestalten auf einer Zeitengrenze
5.1 Veränderungen im 'System der Werte'
5.2 Die vielen Gesichter der Kassandra
5.3 "der Schrift nicht mächtig" - Oralität und Literalität

6 Resümee: Emanzipation als andauernder Prozess

7 Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur
7.3 Internetadressen

1 „Alles ist im Fluss“

1.1 Übersicht über die vorliegende Arbeit

Die vorliegende Arbeit zum Thema „Emanzipation in Wort, Schrift und Tat“ befasst sich mit zwei Texten von Autorinnen aus der Zeit der Neuen Frauenbewegung nach 1968. Beim ersten Text handelt es sich um das im Jahr 1975 erschienene Buch häutungen der Schweizer Autorin Verena Stefan.[2] Es enthält autobiografische Züge, Träume, Wünsche, Lebensrealitäten und Gedichte gleichermaßen. Das zweite Werk ist kassandra von Christa Wolf. In ihrer 1983 erschienenen Neuinterpretation des antiken Kassandra-Mythos setzt Wolf den Fokus auf die Frau als Protagonistin. Da in der Literatur vorrangig Männer sowohl als Protagonisten der Erzählungen als auch als Autoren, Verleger, Kritiker oder Buchhändler anzutreffen sind[3] und der allgemeine Literaturkanon doch zum größten Teil Texte umfasst, deren Autor ein Mann ist, stehen in dieser Arbeit bewusst zwei Werke von Frauen im Mittelpunkt.[4] Anhand dieser soll aufgezeigt werden, dass es immer schon Autorinnen gab, auch wenn sie nicht wahrgenommen wurden.[5] Dabei stellt sich die Frage, wie sehr die zunehmenden schreiberischen Tätigkeiten der Frauen in den 1970er und `80er Jahren (beispielsweise in den beiden Texten von Stefan und Wolf) mit der Emanzipationsbewegung und dem Geist der damaligen Zeit an sich verzahnt sind. Obwohl in unserer Zeit das Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Autoren seit den Anfängen weiblicher Autorenschaft deutlich abgenommen hat, ist auch heute noch die Rede vom „Skandal weiblicher Autorschaft“: Bezog sich dieser Begriff um 1800 noch auf ein erstes Eindringen der Frauen in das von Männern dominierte Schriftwesen, wird heute vielmehr eine Revision des (männlichen) Literaturkanons und der Epochenbegriffe angestrebt.[6][1]

In dieser Arbeit wird nun aus der Sicht von zwei beteiligten Autorinnen und Protagonistinnen der lange Weg der Emanzipation herausgearbeitet und versucht, die Parallelen zwischen der Darstellung von Welt in den Texten, von denen einer in der Antike und einer inmitten der Neuen Frauenbewegung (in Folge der 1968er Jahre) spielt, aufzugreifen. Es soll u. a. die Frage beantwortet werden, wie die Autorinnen der Literatur der Neuen Frauenbewegung Verena Stefan und Christa Wolf (als marginalisierte Schriftstellerinnen) mit ihren exemplarischen Werken Häutungen und Kassandra die (jahrhundertelange) Emanzipation der Frau in Wort, Schrift und Tat darstellen.

Die Arbeit beginnt in Kapitel 2 Als das Mädchen ein Mensch war mit einer Analyse der Rolle der, oftmals marginalisierten, aktiven (Liebende, „Handelnde“) und passiven (Geliebte, „Behandelte“) Frau, skizziert ihre (vorgesehene passive) Stellung innerhalb der Familie (2.1.3 Mutter, Tochter und Schwester) und anschließend innerhalb der Gesellschaft (2.2 Gesellschaftliche Konzeptionen innerhalb der Werke) und grenzt unter Punkt 2.2.1 Matriarchat versus Patriarchat die Begriffe Matriarchat und Patriarchat voneinander ab. Patriarchale Gesellschaften müssen sich nun mit Frauen auseinandersetzen, die das Wort ergreifen und „aufstehen“, um ihren Bedürfnissen und Wünschen nachzugehen. Dieser Schritt geht natürlich nicht ohne Umbrüche und Grenzüberschreitungen vonstatten. Gesellschaftlich und politisch muss ein Umschwung im Denken wie auch im Handeln erfolgen. Aus Übergangsgesellschaften (3.1 Troia und Mykene als Übergangsgesellschaften) haben sich neu definierte Ordnungen zu entwickeln. So werden in häutungen zeitgenössische Themen aufgegriffen (3.3 Verweigerung als Widerstand), kassandra beschäftigt sich zudem mit den großen politischen Themen Krieg und Pazifismus. Der trojanische Staat, voller Geheimnisse, Intrigen und Machtstreben (3.2 Intrigen als funktionale Handlungsstrategie), hört nicht auf eine Wahrsagerin, die das Ende bereits voraussieht: Das Schicksal Kassandras ist von vornherein besiegelt.

Die Autorin stellt sich die Frage: „Wer war Kassandra, ehe irgendeiner über sie schrieb?“[7] Stefans weibliches „Ich“, im Folgenden als Cloe betitelt,[8] versucht, sich radikal feministisch aus den Zwängen der Strukturen zu befreien, die sie einengen. Sie schließt sich einer Frauengruppe an, lernt, ihren eigenen Weg zu gehen und erlebt wahre Liebe nur gleichgeschlechtlich. Die Frau entdeckt sich selbst: 3.4 Die Entdeckung des Ichs. Sexualität und Liebe werden, wie bei Kassandra, zunächst getrennt (2.2.4 Liebe versus Sexualität). Nicht die Politik steht im Vordergrund, sondern die Entwicklung der Frau, bzw. das Verhältnis Mann/Frau. So ergibt sich die Frage: Welche gesellschaftlichen Veränderungen der dargestellten Ordnungen in den Texten gehen mit der Frauenbewegung einher?

Um die Stimme zu erheben, benötigen die beiden Frauen, ebenso wie die beiden Schriftstellerinnen, eine eigene, eine weibliche Sprache. Darauf geht Punkt 4 Die Frauen und „ihre“ Sprache genauer ein. Wolf und vor allem Stefan experimentieren mit der deutschen Sprache, suchen Grenzen und Abgrenzungen als neue Ausdrucksmöglichkeiten. Einmal wird ein alter Mythos umgedeutet (4.1.2 Umgang mit dem Mythos), das andere Mal tritt die Syntax zugunsten des Inhalts in den Hintergrund. Um die performative Kraft der Sprache zu verdeutlichen, folgt mit Punkt 4.3 Exkurs: Ein Seitenblick auf Judith Butler ein kleiner Exkurs zur amerikanischen Philosophin. Müssen Frauen also „ihre“ eigene Sprache finden? Sowohl Kassandra, als auch Cloe gelten als Gestalten auf einer Zeitengrenze (5 Gestalten auf einer Zeitengrenze), die es gewagt haben, radikal zu sein und zu handeln, aufzubrechen und für ihre Meinung einzustehen. Die einen betiteln sie als wilde „Weiber“, die anderen als Vorbilder oder Querdenkerinnen. Kassandra jedenfalls hat viele Gesichter, wie Punkt 5.2 Die vielen Gesichter der Kassandra aufzeigt. Dass sowohl Kassandra als auch Cloe, die Protagonistin in häutungen, die via mala der Häutung der Selbsterkenntnis beschreiten,[9] zeigt die folgende Arbeit auf. Kassandras Leben spielt sich zwischen zwei großen Katastrophen ab: Um 1500 v. Chr. fand ein großer Vulkanausbruch in Thera/Santorin statt und um 1200 v. Chr. geschah der Überfall der Dorer; dazwischen erlebte Kassandra mit dem Untergang Troias ihre persönliche Katastrophe (vgl. VK 142).

Einige Teile dieser Arbeit mögen den Eindruck erwecken, sie seien von der feministischen Literaturwissenschaft[10] beeinflusst. Dies trifft insofern zu, als dass hier sowohl ein besonderes Augenmerk auf die Belange der Frauen (innerhalb der behandelten Werke), als auch auf die Vorgehensweise der Autorinnen Christa Wolf und Verena Stefan gelegt wird. Feministische Literaturwissenschaft arbeitet parteilich[11] - im Sinne der Frauen, die in der allgemeinen Literaturwissenschaft jahrelang übergangen oder ignoriert wurden.[12] Eine Aufarbeitung dieses „Makels“ findet eigentlich erst seit der zweiten Welle der Frauenbewegung statt.[13] Welch wichtige Rolle Oralität und Literalität spielen, zeigt Punkt 5.3 "der Schrift nicht mächtig" - Oralität und Literalität, bevor ein kurzes Resümee (Punkt 6 Resümee: Emanzipation als andauernder Prozess) die Arbeit abrundet.

1.2 Literaturbericht

Christa Wolf zitiert in ihren Voraussetzungen einer Erzählung: kassandra sowohl diverse Historikerinnen[14] und Historiker als auch andere (antike) Schriftsteller, um die Geschichte über die Seherin Kassandra mit Quellen, Studien oder der griechischen Geschichte an sich zu untermauern und zu hinterfragen. Gleichzeitig gibt sie einen fundierten Einblick in ihre Überlegungen zur Entstehungsgeschichte des Werkes und lässt die Rezipientin bzw. den Rezipienten an der Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos teilhaben. Wolf liefert somit als Autorin von kassandra die wichtigste Sekundärliteratur zum Werk selbst.

Weitere hilfreiche Überlegungen stellt Evelyn Berger mit ihrem Werk antike mythologie im erzählwerk christa wolfs. kassandra und medea. stimmen zur Verfügung. Katherina Glau (christa wolfs „kassandra“ und aischylos' „orestie“. zur rezeption der griechischen tragödie in der deutschen literatur der gegenwart) und Dagmar Neblung (die gestalt der kassandra in der antiken literatur) widmen sich zudem verstärkt dem antiken Mythos. Für eine Auseinandersetzung mit Matriarchat und Patriarchat bietet sich Rainer Gerdzens und Klaus Wöhlers matriarchat und patriarchat in christa wolfs „kassandra“ an. Friedhelm Haas setzt sich in Christa Wolfs „kassandra“ als 'modellfall politischer erfahrung'. eine interpretation verstärkt mit der politischen Seite des Werks auseinander, während Stefanie Risse mit wahrnehmen und erkennen in christa wolfs erzählung „kassandra“ einen sehr guten und übersichtlichen Ein- und Überblick zum Werk liefert. Pak Schoro widmet sich in probleme der utopie bei christa wolf. überlegungen zu „kein ort. nirgends“ und „kassandra“ noch einmal verstärkt der Utopie von Christa Wolfs Schreiben.

So umfangreich die Sekundärliteratur für kassandra zur Verfügung steht, so wenige Nachschlagewerke gibt es für häutungen. In dieser Arbeit werden alle Thesen mit Zitaten aus dem Primärwerk untermauert. Einige Werke zur Stellung des Weiblichen an sich, wie Sylvia Bovenschens die imaginierte weiblichkeit. exemplarische untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen präsentationsformen des weiblichen oder Helen Fehervarys Aufsatz autorschaft, geschlechtsbewusstsein und öffentlichkeit liefern allgemeine Hinweise. Vor allem für die Darstellung der Frau als Autorin und als Beschriebene wurde die frauenliteraturgeschichte von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann, sowie skandalgeschichten. aspekte einer frauenliteraturgeschichte von Carola Hilmes herangezogen. die neue frauenbewegung in deutschland. abschied vom kleinen unterschied. eine quellensammlung von Ilse Lenz eignet sich insbesondere, um sich einen Überblick über die besagte zweite Welle der Frauenbewegung zu verschaffen.

Für sprachliche Aspekte und Besonderheiten einer feministischen Linguistik wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Aufsatz warum können schwedische männer krankenschwestern (sjuksköterskor) werden, deutsche aber nur krankenpfleger? zum einfluss sprachinterner und sprachexterner faktoren im deutschen und im schwedischen von Damaris Nübling, sowie Ingrid Samels einführung in die feministische sprachwissenschaft herangezogen. Des Weiteren trugen die Seminare feministische linguistik von Jana Müller und aspekte genderbezogener forschung am beispiel von frauenliteraturgeschichten von Dr. Erdmute Sylvester-Habenicht[15] an der Universität Passau im Sommersemester 2012 zum Verständnis bei.

2 Aufbruch in eine neue Zeit

Zu Beginn soll der Begriff der Neuen Frauenbewegung und ihr verfolgtes Ziel abgegrenzt werden: Ilse Lenz spricht nicht von einer Frauenbewegung, sondern von mehreren (z. B. Lesbenbewegung, Migrantinnenbewegung, Mütterbewegung etc.).[17] Sie definiert so die Neuen Frauenbewegungen als mobilisierende, kollektive Akteurinnen und Akteure. Dies impliziert, dass in diesen Zusammenschlüssen Menschen gemeinsam handeln, um geteilte Anliegen und Ziele zu verfolgen:[18][16]

„Die beteiligten Personen fordern angesichts einer öffentlichen formalen Rechtsgleichheit individuelle Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichheit und Solidarität und wirken auf einen grundlegenden Wandel der Geschlechterverhältnisse hin. Sie kritisieren die herrschenden geschlechtlichen Leitbilder, Normen und Diskurse und entwerfen und verwirklichen Alternativen, die zu neuen Leitbildern und Normen führen können.“[19]

Die zweite Welle der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren,[20] die mit den Neuen Frauenbewegungen gleichzusetzen ist, ist vor allem geprägt von der Diskussion über Lohn für Hausarbeit, von zahllosen Kampagnen über den Abtreibungsparagraphen § 218, von der Gründung diverser Frauengruppen[21] und natürlich, und in erster Linie – immer noch – von der Gleichstellung der Frau in Beruf und Politik.[22] Die Selbstorganisation und Machtbildung von Frauen in Kleingruppen und Netzwerken spielte dabei eine entscheidende Rolle, erläutert Lenz.[23] U. a. Alice Schwarzer und die von ihr gegründete Zeitschrift „Emma“ sind bekannt für diese Zeit.[24]

2.1 Als das Mädchen ein Mensch war

„Ihr [Christa Wolf; d. V.] geht es darum, in ihren mythologischen Werken Wege des Ausdrucks, der Überlieferung und der Interpretation aufzuzeigen, welche der Andersartigkeit der Frau Rechnung tragen und auch ihrer Stimme Gehör verschaffen sowie die Gründe darzustellen, warum diese Stimme seit Jahrtausenden überhört wurde.“[26][25]

Die Autorin versucht, mit ihrer Gestaltung der Geschichte, die „Geschichte weiblicher Geschichtslosigkeit“[27] zu kompensieren.

„[...] Christa Wolf geht davon aus, daß die Frau in der Geschichte nicht einfach nur fehlt, als ob sie nie dagewesen wäre; vielmehr läßt das Bewusstsein ihrer Ausgrenzung ein Gefühl des Verlustes aufkommen. Geschichte und Kultur bleiben unvollständig ohne die Stimme der Frau.“[28]

Ziel sei es also, der in der patriarchalen Gesellschaft zum Objekt degradierten Frau zu innerer und äußerer Autonomie zu verhelfen.[29]

Für Christa Wolf ist, und das zeigt sich auch immer wieder in ihren Werken, die Degradierung der Frau als untergeordnetes Wesen, also als Objekt, ein zentrales Thema, geht sie doch Recht in der Annahme, dass kein Geschlecht dem anderen unter- oder überlegen ist.[30] So sei es auch nicht die Aufgabe der Frauen, sich dem Mann anzupassen, sondern die Aufgabe der Männer, Frauen mit ihren Eigenschaften so zu akzeptieren, wie sie sind.[31] Bereits Simone de Beauvoir erkannte richtig: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt.“[32] „Frau-Sein ist für Beauvoir [also; d. V.] eine gesellschaftliche, nicht in erster Linie eine biologische Tatsache.“[33] Geschlecht wird als „doing gender“, d. h. als Ergebnis von sozialen Verhaltensnormen und performativen Akten, begriffen.[34]

Verena Stefan widmet sich in der Einleitung zu Rauh, wild und frei der Frage, was genau ein Mädchen (im Gegensatz zur Frau) ausmacht: Mädchen sind frei, wild, ungebärdet, unabhängig in ihrem Denken, entdecken alles neu, haben noch keine negativen Erfahrungen gemacht, wurden noch in keine Schublade gesteckt, sind lautstark und draufgängerisch.[35] Sie würden somit „aus dem Bauch heraus“ agieren. Erst mit dem Frau-Werden, dem vermeintlichen Sich-Anpassen, dem Einordnen in die (heteronormative) Gesellschaft werden die Mädchen gezwungen, ihre Zügellosigkeit fallen zu lassen, sich so zu verhalten wie es von ihnen erwartet wird und sich anzupassen. Das Mädchen war demnach ein freier Mensch, bevor es zur Frau wurde.[36] Diese Mädchen erinnern Stefan an eine andere „Kindheit“, nämlich an die Anfänge der Neuen Frauenbewegung:

„Damals haben wir uns einzelgängerisch und im Kollektiv bewegt. Viele haben aufgehört, sich auf einen Mann und die Welt der Männer zu beziehen. Viele sind lesbisch geworden, manche sind es geblieben. Viele Lesben sind dazugekommen, die schon immer lesbisch waren. Viele wußten nicht mehr, bin ich Fisch oder Fleisch. Alle Möglichkeiten standen offen, weil wir sagten, wir erfinden die Welt jetzt neu. Jede ist fähig auszurufen: Mein Bauch gehört mir! Wir erobern uns die Nacht zurück! […] Bevor wir feministische Parolen skandierten – und teilweise gleichzeitig –, existierten sie bereits in dichterischer Form, und es gab literarische Vorläuferinnen, von denen wir nichts wußten.“[37]

2.1.1 Liebende und Geliebte

Die heterosexuelle Beziehung Kassandras zu Aineias, im Mythos Sohn des Anchises und der Göttin Aphrodite und somit ein Held Troias,[38] schärft deren sinnliche Wahrnehmung, lässt sie lebendiger werden und sensibler auf die Außenwelt reagieren.[39] Ihre Beziehung ist keine Partnerschaft im klassischen Sinne, innerhalb derer man sich geborgen fühlen oder Ratschläge einholen kann. Die Stärke des Gefühls zu Aineias lässt Kassandra nur die Wirklichkeit erkennen und sich lebendig und wirklich fühlen.[40] Ihre Beziehungen zu Frauen wie Marpesa, eine Freundin und enge Vertraute Kassandras, die sich oft um deren Kinder kümmert, oder Penthesilea, die den kriegerischen Amazonen vorsteht, hingegen stellt Wolf nicht dezidiert als homosexuelle Liebesbeziehungen dar, schließt sie jedoch ebenso nicht als solche aus. Fest steht, dass die Frauen für Kassandra eine große Rolle spielen und sie psychisch wie physisch sehr bewegen.

Zwar spielen Männerbeziehungen und deren Wegfall in Häutungen eine wesentliche Rolle in Cloes Leben, doch hinsichtlich ihrer „Ich-Werdung“, und somit ihrer selbstbewussten Entwicklung zur unabhängigen Frau, dominieren Frauenbeziehungen.

„Frauenliebe und Freundinnenschaft gibt es schon in der Alten Frauenbewegung, doch erst die neue Frauenbewegung kultiviert die systematische, selbstkritische Reflexion aller Emotionen von und zwischen Frauen als politische Strategie (Selbsterfahrung).“[41]

Die erste Beziehung, die Cloe in Häutungen beschreibt, ist ihr Verhältnis zu Ines, mit der sie zur Schule gegangen ist. Zwar fiel bei einem ersten Gespräch zwischen den beiden das Wort ‚Homosexualität‘ nicht, doch macht Ines Cloe klar, sich nicht zu Männern hingezogen zu fühlen, weswegen sie fürchtet, nicht normal zu sein (H 11). Später ist auch die Rede von einer Trennung, als Cloe eine Beziehung mit ihrem ersten Mann eingegangen war: „meine fantasie hatte gelitten. Ines fand mich langweilig. wir trennten uns bald.“ (H 20) Die Beziehung zu einem Mann wird hier als Fantasie-Hemmer dargestellt. Die Frau verliert während dieser Verbindung ihr eigenständiges Denken, sie handelt unterwürfig, lächelt immerzu und erbittet die Zustimmung zu allem, was sie tut oder lässt (vgl. H 20), sie wird schwerfällig und handlungsunfähig (vgl. H 64). Dabei erwähnt Cloe auch, dass sie, wenn sie zornig oder handgreiflich gegenüber einem Mann werde, der ihr zu nahe tritt, als zickig und unverschämt beschrieben werde (vgl. H 20). Cloe stellt fest, dass Frauen meist mit einem Mann schlafen, weil sie sozial darauf angewiesen sind; zudem sei mit Männern über Sexualität[42] zu reden, generell sowieso kaum möglich (vgl. H 87).

Eine neue Liebe Cloes entsteht zu Nadjenka, die jedoch im Gegensatz zu Cloe (DDR) in der BRD, und somit räumlich distanziert von ihr, lebt (vgl. H 29, 43). Weil sie nicht alleine sein kann, ist Cloe auf der Suche nach einem „menschlichen mann“ (H 43), beginnt aber gleichzeitig Nadjenka zu küssen, da sie sich bei ihr „beherbergt“ fühlt; genau dieses Gefühl wünscht sie sich aber offensichtlich von einem Mann (vgl. H 43). Die beiden Frauen können lange Zeit aus Gründen der innerlichen und äußeren Distanz nicht zueinander finden, hängen jedoch sehr aneinander. Erst als Nadjenka ein Kind erwartet, erfährt ihre Beziehung ein einschneidendes Moment (vgl. H 52f.). Cloe sieht die Freundin in ihrem schwangeren Zustand als endgültig gefangen an, für Nadjenka ist das Kind „jemand, der mich zwingt zu leben“ und gleichzeitig ein Schutz vor dem Lesbisch-Sein (vgl. H 53).

Cloes Verhaltensweise an sich lässt eher auf Homosexualität schließen, sich aber gleichzeitig in keine konkrete „Schublade“ einordnen. Zu Frauen fühlt sie sich in jeder Hinsicht mehr hingezogen als zu Männern, hat – trotz aller Schwierigkeiten – letztendlich aber nur mit Frauen wirklich erfüllenden Sex und ist nur an deren Stärken und Ängsten interessiert (vgl. H 57): „ich wollte zu ende denken, was geschehen würde, wenn frauen sich von männern los sagten. Die rollen haben die menschen unkenntlich gemacht.“ (H 57) Schließlich, mit dem Fortschreiten ihrer Emanzipation, kann Cloe sogar gegenüber einer anderen Frau, Fenna, gestehen, dass sie sich vorstellen könnte, eine andere Frau, nämlich sie, zu lieben (vgl. H 75). Die Annäherung geschieht dennoch äußerst langsam und vorsichtig (vgl. H 80f.), da Cloe nicht glauben kann, dass Fenna ihren Körper schön finde (vgl. H 88). Die Leserin bzw. der Leser bekommt ständig das Gefühl vermittelt, dass die Figur zwischen den Stühlen Mann/Frau stehe. So stellt sich Cloe einmal selbst die Frage: „erregt es mich mehr, einem mann zu gefallen als einer frau? wir sind abgerichtet, sage ich laut. dieses kümmerliche wort sozialisation! dieser beschönigende begriff konditionierung!“ (H 80) Hier wird die heteronormative gesellschaftliche Einstellung und Erwartung angesprochen. Mit der Zeit spürt die Protagonistin, dass eine neue Art von Sehnsucht entstanden ist, von Erregung und von Hingabe – Hingabe, die mit Zuwendung zu tun habe, statt mit Unterwerfung und Gewalt (vgl. H 88). Die Erotik und das Erkennen der Schönheit des Körpers zwischen Fenna und Cloe entwickelt sich erst im Laufe der Zeit.[43]

Im vorletzten Kapitel „Ausnahmezustand“ macht sich die Ich-Figur erneut Gedanken zum Verhältnis zwischen Mann und Frau bzw. zur Hetero- und Homosexualität. Im Gegensatz zu ihren Aussagen, dass sie sich besser mit einer Frau verstünden, verbringen viele Frauen aus Cloes Umfeld ihr Leben dennoch an der Seite eines Mannes (vgl. H 82ff.). Cloe vertritt die Meinung, dass der Bezug zu sich selbst als Frau am Wichtigsten ist: „[…] dass es grundsätzlich darum geht, dass eine frau mit sich selber zurechtkommt, nicht darum, ob sie schon mal mit einer andern frau geschlafen hat“ (H 84). Für sie selbst wäre es unnatürlich, wenn sie nur zu einem Geschlecht Zugang hätte, da sie etwas über sich erfahre, wenn sie mit einer anderen Frau zusammen sei (vgl. H 84). Außerdem verspüre sie eine neue, erotische Empfindung mit einer Frau, eine andere Art von Anziehung (vgl. H 87).

2.1.2 „Handelnde“ und „Behandelte“

Kassandra erlebt im Laufe des Werkes eine Wandlung, sozusagen eine Art Häutung, die mit einer Phase des Sich-Bewusstwerdens ihrer Spaltung und eines darauf folgenden Selbstreflexionsprozesses schließlich in eine Phase konkreter Widerstandshandlungen übergeht.[44] Im antiken Mythos ist die Frau nicht eigenständig, denn sie wird der Allgemeinheit untergeordnet und in die Privatheit verbannt.[45] Das ist der Punkt, an dem Christa Wolf ansetzt. In der Literatur ist Kassandra die erste berufstätige Frau – und was hätte diese schon anderes werden können als „Seherin“, fragt sich Wolf (vgl. VK 54). „Kassandra [… ] beschränkt ihren Reifungsprozeß auf die Ausbildung innerer Autonomie […].“[46] Sie selbst ist nicht direktes Mitglied des Volkes; Kassandra bewegt sich so weit außerhalb des eigenen Volkes, dass sie dessen unabwendbares Schicksal vorhersieht (vgl. VK 23). Obwohl sie eigentlich ein Mitglied der herrschenden Schicht ist (vgl. VK 53), kämpft sie doch (in)direkt gegen die Regierenden. Während der verschiedenen Kriegsphasen in Troia, werden die troianischen Frauen zu Objekten[47] degradiert: Sie dienen den Regierenden (Männern) als „Schachfiguren“ für ihre Zwecke, werden eingetauscht, weggeschoben, eingesperrt und missbraucht.

In Christa Wolfs Adaption dreht sich alles um die Darstellung der Objektmachung der Frau(en): Sie schreibt, dass Kassandra ein Frauenschicksal darstellt, das aufzeige, was in den kommenden dreitausend Jahren den Frauen geschehen sollte, nämlich dass sie zum Objekt gemacht würden (vgl. VK 118). Auch Beauvoir stellt fest, dass Frauen innerhalb des traditionellen Repräsentationssystems genau das seien, was Männer aus ihnen machen würden, „daß die Frau sich nicht als Eigenexistenz kennt und wählt, sondern als das, was sie in den Augen des Mannes ist […] ihr ‚Für-den-Mann-da-sein‘“.[48] Genau dieses Objektsein wird auch Thema bei Stefan. In Häutungen berichtet sie unter anderem von erniedrigenden Erlebnissen, die Frauen in den 1960er bis 70er Jahren erfahren haben. So schildert die Autorin unter anderem die Begebenheit, in der die Protagonistin Cloe von einem Mann, an dem sie vorbeigeht, gefragt wird, wo sie denn ihre Brust hängen habe (vgl. H 7). Sie fühlt sich als Opfer gedemütigt und unfähig, sich zu wehren. Ein anderes Mal fasst ihr ein fremder Mann einfach so in die Haare; als sie sich dagegen wehrt, wird die Protagonistin als „sau“ beschimpft (vgl. H 21). Frauen lebten in den 1970er Jahren beständig in der Gefahr, körperlich oder seelisch missbraucht zu werden. Beim Trampen ist Cloe auf andere Frauen angewiesen, die sie mitnehmen; Männer waren zu gefährlich. „Eine frau allein, immer noch gast, immer noch allgemeinbesitz.“ (H 37) So muss sie erwähnen, dass sie auf ihrer Reise immerhin bis Athen ohne Koitus durchgekommen sei (vgl. H 22). Cloe erkennt, dass Frauen oft wie eins Farbige, insbesondere Schwarze, unterdrückt und nicht gleichberechtigt behandelt werden. Die Empfindung kulminiert in dem Satz: „ihr geschlecht [das der Frauen; d. V.] ist ihre hautfarbe [die der Farbigen; d. V.].“ (H 83f.)

Um jedoch weiterreisen zu können, was alleine zu gefährlich ist, verliebt sie sich „in der not“ in einen Mann (vgl. H 22). Frauen sind auf Männer angewiesen, sie sind abhängig vom vermeintlich stärkeren Geschlecht; mitunter auch, weil sie selbst noch nicht wissen, wo sie genau hingehören: „ich brauchte ihn, weil ich mich nicht hatte.“ (H 26) Cloe sucht die Bestätigung durch Männer (vgl. H 26), sie braucht einen „mittelsmann zur welt“ (vgl. H 26). Um einige Männer und auch Vergewaltigungen (vgl. H 24) ertragen zu können, trinkt Cloe Alkohol (vgl. H 23) oder spaltet sich seelisch, soweit es ihr gelingt, ab, indem sie z. B. während des Geschlechtsverkehrs an etwas völlig anderes denkt oder „die Sache“ schnell über sich ergehen lässt. Dass auf Vergewaltigung lebenslänglich stehe, bedeute für die Protagonistin, dass sie ein Leben lang damit rechnen müsse (vgl. H 40). Ob Cloe von Dave, einem Mann, „den […] [sie; d. V.] seit einigen Wochen liebe“ (H 25) wirklich vergewaltigt wird, lässt der Text offen, indem zwei Versionen des Geschlechtsverkehrs parallel, auf einer Ebene angeordnet, geschildert werden: Die Variante des „Sex aus Lust“ erstreckt sich über zehn Zeilen, während die Variante des erzwungenen Beischlafs 23 Zeilen umfasst. Der Leserin bzw. dem Leser bleibt es also selber überlassen, die „richtige“ Variante herauszulesen. Genauso gut könnte es aber sein, dass Stefan mit dieser Art des Erzählens der Leserin bzw. dem Leser vor Augen führen möchte, wie ein Erlebnis unterschiedlich empfunden werden kann und wie sehr diese Empfindung vom Auge des Betrachters abhängt. So „verlangt“ Dave durch sein Verhalten und seine Aussagen, dass Cloe ihn aufnimmt, pflegt und stärkt, ihm den Rücken frei hält (vgl. H 26). Gleichzeitig erkennt er ihre Besitzanspruchslosigkeit und behauptet:

[...]


[1] Griechisches Zitat von Heraklit.

[2] Erschienen im feministischen Verlag Frauenoffensive München.

[3] Vgl. Hilmes, Carola: Skandalgeschichten. Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte, Königstein/Taunus 2004, S. 7.

[4] Nach Heydebrand, Renate von/Winko, Simone: Ein problematisches Verhältnis: Gender und der Kanon der Literatur. In: Bußmann, Hadumod/Hof, Renate (Hrsg.): Genus. Geschlechterforschung/ Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart 2005, S. 187-203 gibt es elf Gründe für die zu geringe Präsenz der Frauen im Kanon (How to Suppress Women’s Writing, Joanna Russ): 1. Behinderung des weiblichen Schreibens (prohibitions), 2. Voreingenommenheit gegen die weibliche Fähigkeit zum Schreiben (bad faith), 3. Verweigerung der Anerkennung des Textes als von der Autorin selbst verfasst (denial of agency), 4. Lächerlich machen der weiblichen Schreibtätigkeit (pollution of agency), 5. Abwertung der Gegenstände weiblichen Schreibens als uninteressant (double standard of content), 6. Abwertung der Werke durch Zuordnung zu minderwertigen Gattungen, 7. Abwehrung der Autorinnen selbst durch Negativstereotype (false categorizing), 8. Kanonisierung von höchstens einem Einzelwerk (isolation), 9. Kategorisierung der Frau als Ausnahme, wenn sie doch in den männlichen Kanon gerät (anomalousness), 10. Übersehen weiblicher Traditionslinien (lack of models), 11. Ethische und soziale Werte werden geringer gewertet als ästhetische Werte der Form und innovative formale Darstellungsweisen werden nicht oder als Fehler wahrgenommen (formal aesthetic bias).

[5] Hier werden zwar nur „moderne“ Autorinnen behandelt, aber schon in jüngerer Zeit, bis ins Mittelalter zurück, schrieben auch Frauen ihre Geschichten (oft in Form von Briefen, Memoiren, Reiseliteratur oder Tagebucheinträgen) nieder. Neben der Tatsache, dass Frauen an sich früher eine untergeordnete Rolle spielten und eher als Objekt, denn als eigenständig denkendes Subjekt gesehen wurden, waren die gesellschaftlichen und politischen Begebenheiten Hinderungsgrund für aktives Schreiben (gewesen). Während Autorschaft immer männlich kodiert war, ist Lesen weiblich kodiert. Einige spezielle Frauenliteraturgeschichten widmen sich speziell den Autorinnen, die im klassischen Kanon allzu sehr übergangen werden. Bei diesen findet meist eine andere Anordnung der Schriftstellerinnen statt. Nicht die Einteilung in Epochen überzeugt die Herausgeberinnen, sondern eher die Einteilung in bestimmte Genres. Dabei wird aber nicht nur auf die Autorinnen, sondern auch auf die Rezipientinnen und Rezipienten Bezug genommen, ist doch erwiesen, dass Frauen z. B. anders lesen als Männer (für ausführliche Informationen vgl. Klüger, Ruth: Frauen lesen anders. Essays, München 1996: Das weibliche Lesen und das weibliche Kunstverständnis werden durch die vorherrschende Unterrichts- und Denkweise unterdrückt. Bücher wirken so anders auf Frauen als auf Männer.).

[6] Vgl. Hilmes 2004, S. 59.

[7] Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2008, S. 173. (Im Folgenden Zitierweise durch Abkürzung VK + Seitenzahl) Ähnlich: „Wer war Kassandra, ehe man von ihr schrieb?“: VK 189.

[8] Der Untertitel zu „Häutungen“ lautet „Autobiografische Aufzeichnungen, Gedichte, Träume, Analysen“. Aus diesem Grund lassen sich viele Parallelen zum Verfasser-Ich finden. (Dieses Ich wird, obwohl der Name erst im letzten Kapitel fällt, der Einfachheit halber von Beginn an als Cloe betitelt.) Dennoch soll klar gestellt werden, dass auch eine Autobiografie als Geschichte und somit „nur“ als eine dargestellte Ordnung von Welt behandelt wird. Sie trägt lediglich parallele Züge zur Lebensrealität der Verfasserin, wie vor allem anhand der Ich-Erzählerin und dem letzten Kapitel deutlich werden. Nicht umsonst trägt aber das Erzähler-Ich einen anderen Namen als die Autorin.

[9] Vgl. Haas, Friedhelm: Christa Wolfs „Kassandra“ als 'Modellfall politischer Erfahrung'. Eine Interpretation, Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1093, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1988, S. 49.

[10] Der feministischen Forschung wird oft der Vorwurf gemacht, Frauen als eine Gruppe von gemeinsamen Merkmalen und Interessen zu betrachten und dabei völlig zu vergessen, dass auch innerhalb der Gruppe ‚Frauen‘ ethnische, kulturelle, klassenspezifische u. a. Differenzen herrschen (frei zitiert aus dem Seminar „Aspekte genderbezogener Forschung am Beispiel von Literaturgeschichten). In dieser Arbeit wird jedoch die Gruppe ‚Frauen‘ als eine Einheit in Bezug auf den Wunsch der Gleichstellung betrachtet. Auch wenn in der „Ausführung“ und „Umsetzung“ der Emanzipation zahlreiche verschiedene Ansichten und Vorgehensweisen zu finden sind, wollen „die Frauen“ als Gruppe innerhalb der Gesellschaft doch dieselben Rechte wie Männer.

[11] Vgl. Hilmes 2004, S. 9.

[12] Das heißt aber nicht, dass die Männer diskriminiert werden. Lediglich das Hauptaugenmerk liegt in dieser Arbeit eben auf den Frauen. Feminismus an sich konzentriert sich auf die unterdrückte Weiblichkeit.

[13] In jüngerer Zeit beschäftigen sich die „Gender Studies“ mit der Verständigung über sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht). Darunter finden sich sowohl Beiträge zur Männer- als auch zur Frauenforschung. Nachdem zu Anfangs der Blickwinkel vermehrt auf die Belange der Frauen gerichtet wurde, um den Defiziten hinsichtlich dieser Forschung nachzukommen, können jetzt wieder beide Geschlechter gleichermaßen in das Blickfeld rücken. Die Frau ist nicht frei, so zu handeln, wie sie es wünscht, da die binäre Codierung von ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ bestimmte Verbote und Normen vorschreibt. Weiblichkeit und Männlichkeit definieren sich aber, nicht ohne einander zu bestimmen, gegenseitig. Dabei ist die Kategorie ‚Geschlecht‘ universal. Die Macht wird etwa immer dem männlichen Geschlecht zugeordnet, während innerhalb des Feminismus diese patriarchale Ordnung kritisiert wird. Frauen haben zunehmend das Verlangen, als vermeintlich Passive, die Position des Subjekts einzunehmen. Im Hinblick auf die Funktion der Weiblichkeit in der Schrift bzw. im Symbolischen spricht Sigrid Weigel vom „doppelten Ort der Frau“ (Vgl. Weigel, Sigrid: Die Geschlechterverhältnisse in der Literaturwissenschaft. In: dies.: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 231-264): Sie ist abwesend (in der Schrift) und anwesend (als Beschriebene in der Schrift) gleichzeitig. So verdoppelt sich der männliche Blick, da Wissenschaftler gleichzeitig die Perspektive von Autor und Kritiker übernehmen – dadurch bleibt alles in sich verhaftet, Frauen werden als Subjekt aus der Literatur ausgeschlossen. (Gesamter Absatz frei zitiert aus dem Seminar: Aspekte genderbezogener Forschung am Beispiel von Frauenliteraturgeschichten, Dr. Erdmute Sylvester-Habenicht, SS 2012)

[14] Bei den Geschlechterbezeichnungen orientiert sich diese Arbeit an den universitären Gepflogenheiten zu den Richtlinien für die sprachliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der externen und internen Kommunikation an der Universität Passau, die unter http://www.uni-passau.de/fileadmin/dokumente/frauenbuero/Aktuelles/richtlinien_gendergerechte_sprache_2013-04-09 _1.pdf (aufgerufen am 12.08.2013) zu finden sind.

[15] Aus den Gesprächen innerhalb dieser Seminare wurde zum Teil frei zitiert. Diese Zitate werden im Verlauf mit einer Fußnote kenntlich gemacht.

[16] Ausführliche Informationen zu den (Neuen) Frauenbewegungen finden sich, wie angemerkt, bei Lenz, Ilse (Hrsg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008.

[17] Vgl. ebd., S. 21.

[18] Vgl. ebd., S. 22.

[19] Ebd., S. 21. Kursivdruck auch im Original.

[20] Ebd., S. 25: „Auf die ersten Aufbrüche in den 1970er Jahren hin breitete sich die Bewegung zu Frauen in Kirche, Schule, Gewerkschaft, Parteien und Wirtschaft aus. In den 1980er Jahren mobilisierten die Frauenbewegungen noch breiter und um 1990-95 erreichte ihre Aktivität einen Gipfelpunkt.“ (vgl. deutsch-deutsche Vereinigung)

[21] Die Frauengruppe „Brot ♀ Rosen“, in die auch Cloe in Häutungen eintritt, führt wichtige Gespräche über die Sexualität der Frau, Medizin, Verhütung, Abtreibung und andere relevante Frauenthemen (vgl. z. B. Stefan, Verena: Häutungen. Autobiografische Aufzeichnungen, Gedichte, Träume, Analysen, München 231988, S. 15; im Folgenden zitiert als H + Seitenzahl), zu denen auch das „Frauenhandbuch Nr. 1“ (vgl. H 15) herausgegeben wurde. Die Gruppe existierte in der Realität ebenso wie in Häutungen; Verena Stefan selbst war seit der Entstehung der Gruppe im Jahr 1972 mit dabei (vgl. Stefan 1977: Einige anmerkungen zu mir / und zur geschichte dieses buches, in: H 125). Ein wichtiger Kampf ging gegen den Abtreibungsparagraphen § 218 („kampf für die ersatzlose streichung des §218“ (vgl. Stefan 1977: Einige anmerkungen zu mir / und zur geschichte dieses buches, in: H 125)), zu dem die Frauengruppe an dem Tag ein Tribunal in Köln abhält, als sich Cloe ihr Pessar (=Spirale) einsetzen lässt. Zu der Zeit, als Cloe mit ihrem Freund Samuel zusammen ist, „gerieten […; ihre; d. V.] verschiedenen leben durcheinander“ (H 52), da sie sowohl Samuel eine gute Partnerin sein möchte, als auch mit Leidenschaft für die Gruppe „Brot ♀ Rosen“ beginnt zu arbeiten: „Ich teilte meine wohnung und meine sexualität mit Samuel. […] Ich dachte, arbeitete, lernte und fühlte mich wohl mit den frauen von 'Brot ♀ Rosen'.“ (H 52) Die „Leben“, die die Protagonistin führt, sind strikt voneinander getrennt, und doch möchte sie sie gerne vereinen und zu ihrem Leben machen. Während sie anfangs für die Frauengespräche einfach aus ihrem Leben mit ihrem Freund „aussteigt“ und anschließend wieder zurückgeht, verlagert sich das Gewicht immer mehr und sie kehrt mit der Zeit seltener „zurück“, da sie von den Frauen, ihrer Ausstrahlung und ihren unterschiedlichen Leben fasziniert ist (vgl. H 52).

[22] Vgl. Brenner-Wilczek, Sabine/Köster, Gaby: gepfeffert, salzig, bittersüß. Frauenliteraturgeschichte[n], Düsseldorf 2012, ohne Seitenzahlen (vor dem Bericht über Pieke Biermann) und Lenz 2008, S. 27.

[23] Vgl. Lenz 2008, S. 24: Innerhalb dieser „Räume“ wurden die Frauen anerkannt, konnten ihre Probleme miteinander besprechen, sich sicher fühlen und Erfahrungen austauschen.

[24] Vgl. Brenner-Wilczek 2012, ohne Seitenzahlen (vor dem Bericht über Pieke Biermann).

[25] Stefan, Verena: Rauh, wild und frei. Mädchengestalten in der Literatur, Frankfurt a. M. 1997, S. 13 ff.

[26] Berger, Evelyn: Antike Mythologie im Erzählwerk Christa Wolfs. Kassandra und Medea. Stimmen, Köln 2007, S. 44.

[27] Bovenschen, Sylvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen , Frankfurt 1979, S. 15.

[28] Berger 2007, S. 57.

[29] Vgl. Berger 2007, S. 59.

[30] Vgl. ebd., S. 283.

[31] Vgl. ebd., S. 283.

[32] Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 265. In: Schößler, Franziska: Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008, S. 55.

[33] Holland-Cunz , Barbara: Die alte neue Frauenfrage, Neue sozialwissenschaftliche Bibliothek, hrsg. v. Esser, Josef, Frankfurt a. M. 2003, S. 97.

[34] Vgl. Schößler 2008, S. 55.

[35] Vgl. Stefan 1997, S. 16 f.

[36] Vgl. ebd., S. 19.

[37] Stefan 1997, S. 19 f.

[38] Troia wird in dieser Arbeit, gemäß der Schreibweise Christa Wolfs, mit „i“ geschrieben.

[39] Vgl. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“, Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 10, Pfaffenweiler 1986, S. 85.

[40] Vgl. ebd.

[41] Holland-Cunz 2003, S. 250.

[42] Vgl. dazu Punkt 2.2.3 Liebe versus Sexualität dieser Arbeit.

[43] So beschreibt die Protagonistin z. B. sehr deutlich die Augen ihrer Geliebten (vgl. H 94). Ein Mann wird von Cloe nie in dieser besonderen körperlichen und v. a. schönen Sicht beschrieben.

[44] Vgl. Haas 1988, S. 49.

[45] Vgl. Schmidt, Svenja: Kassandra – ein Mythos im Wandel der Zeit. Antiker Mythos und moderne Literatur am Beispiel der „Kassandra“ von Christa Wolf, Diplomica, Bd. 13, Bedey, Björn (Hrsg.), Marburg 2004, S. 52.

[46] Berger 2007, S. 61.

[47] Vgl. Haas 1988, S. 63.

[48] Beauvoir 1968, S. 151.

Ende der Leseprobe aus 69 Seiten

Details

Titel
Emanzipation in Wort, Schrift und Tat. Die zweite Welle der Frauenbewegung am Beispiel von Verena Stefans "Häutungen" und Christa Wolfs "Kassandra"
Hochschule
Universität Passau
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
69
Katalognummer
V274077
ISBN (eBook)
9783656682912
ISBN (Buch)
9783656682899
Dateigröße
758 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Christa Wolf, Verena Stefan, Häutungen, Kassandra, Emazipation, Frauenliteraturgeschichte
Arbeit zitieren
Nicola Huber (Autor:in), 2013, Emanzipation in Wort, Schrift und Tat. Die zweite Welle der Frauenbewegung am Beispiel von Verena Stefans "Häutungen" und Christa Wolfs "Kassandra", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274077

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