Rechtswidrigkeit der Einschränkung des Kündigungsschutzes durch Nichtberücksichtigung einer Betriebszugehörigkeit vor dem 25. Lebensjahr


Forschungsarbeit, 2014

26 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Einschränkung des Kündigungsschutzes durch Nichtberücksichtigung einer Betriebszugehörigkeit vor dem 25. Lebensjahr ist gemeinschaftsrechtswidrig

1. Das Unionsrecht, insbesondere das Verbot[4] der Diskriminierung[5] wegen des Alters[6] in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ist dahin auszulegen, dass es einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden. [7][1][2][3]

2. Es obliegt dem nationalen Gericht[8], in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Beachtung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 sicherzustellen, indem es erforderlichenfalls entgegenstehende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unangewendet lässt, unabhängig davon, ob es von seiner Befugnis Gebrauch macht, in den Fällen des Art. 267 Abs. 2 AEUV den Gerichtshof der Europäischen Union im Wege der Vorabentscheidung um Auslegung dieses Verbots zu ersuchen.

Die Richtlinie 2000/78 wurde auf der Grundlage von Art. 13 EG erlassen. Die Erwägungsgründe 1, 4 und 25 dieser Richtlinie lauten:

„(1) Nach Artikel 6 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union beruht die Europäische Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.

(4) Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ist ein allgemeines Menschenrecht; dieses Recht wurde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im VN-Übereinkommen zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen, im Internationalen Pakt der VN über bürgerliche und politische Rechte, im Internationalen Pakt der VN über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannt, die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden. Das Übereinkommen 111 der Internationalen Arbeitsorganisation untersagt Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf.

(25) Das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters stellt ein wesentliches Element zur Erreichung der Ziele der beschäftigungspolitischen Leitlinien und zur Förderung der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung dar. Ungleichbehandlungen wegen des Alters können unter bestimmten Umständen jedoch gerechtfertigt sein und erfordern daher besondere Bestimmungen, die je nach der Situation der Mitgliedstaaten unterschiedlich sein können. Es ist daher unbedingt zu unterscheiden zwischen einer Ungleichbehandlung, die insbesondere durch rechtmäßige Ziele im Bereich der Beschäftigungspolitik, des Arbeitsmarktes und der beruflichen Bildung gerechtfertigt ist, und einer Diskriminierung, die zu verbieten ist.“

Zweck der Richtlinie 2000/78 ist nach ihrem Art. 1 die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.

Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘ dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf
(2) Im Sinne des Absatzes 1 liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde…“

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts…“

Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:

a) die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs‑ und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen;
b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile
c) die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand.“

Frau Kücükdeveci wurde am 12. Februar 1978 geboren. Sie war seit dem 04. Juni 1996, somit seit ihrem vollendeten 18. Lebensjahr, bei Swedex beschäftigt. Mit Schreiben vom 19. Dezember 2006 erklärte Swedex unter Berücksichtigung der gesetzlichen Frist die Kündigung zum 31. Januar 2007. Der Arbeitgeber berechnete die Kündigungsfrist unter Zugrundelegung einer Beschäftigungsdauer von drei Jahren, obwohl die Arbeitnehmerin seit zehn Jahren bei ihm beschäftigt war. Frau Kücükdeveci focht die Kündigung vor dem Arbeitsgericht Mönchengladbach an. Sie machte geltend, dass nach § 622 Abs. 2 Unterabs. 1 Nr. 4 BGB eine viermonatige Kündigungsfrist vom 31. Dezember 2006 bis zum 30. April 2007 hätte eingehalten werden müssen. Diese Frist entspreche einer zehnjährigen Betriebszugehörigkeit. In diesem Rechtsstreit stehen sich also zwei Private gegenüber, nämlich Frau Kücükdeveci einerseits und Swedex andererseits. Nach Auffassung von Frau Kücükdeveci stellt § 622 Abs. 2 Unterabs. 2 BGB, soweit danach vor Vollendung des 25. Lebensjahrs liegende Betriebszugehörigkeitszeiten bei der Berechnung der Kündigungsfrist unberücksichtigt blieben, eine gegen das Unionsrecht verstoßende Diskriminierung wegen des Alters dar, so dass er unangewendet bleiben müsse.

Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf als Berufungsgericht hat festgestellt, dass die Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2000/78 zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung bereits abgelaufen gewesen sei. Es hat weiter ausgeführt, dass § 622 BGB eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters enthalte, von deren Verfassungswidrigkeit es nicht überzeugt sei, deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht jedoch zweifelhaft sei. Fraglich sei insoweit, ob die Frage einer unmittelbaren Diskriminierung anhand des Primärrechts der Union, wie das Urteil vom 22. November 2005, Mangold[9] nahe zu legen scheine, oder aber anhand der Richtlinie 2000/78 zu beurteilen sei. Da die Vorschrift eindeutig und einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich sei, stelle sich die Frage, ob das vorlegende Gericht, um sie in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten unangewendet lassen zu können, zur Sicherstellung des Schutzes des Vertrauens der Normunterworfenen verpflichtet sei, zuvor den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, um durch ihn die Unvereinbarkeit dieser Vorschrift mit dem Unionsrecht bestätigen zu lassen.

[...]


Mit Erläuterungen von Direktor des FOI (an der DHBW Prof. Dr. Dr. Siegfried Schwab, Mag. rer. publ. unter Mitarbeit von Diplom – Betriebswirtin (DH) Silke Schwab.

Wir widmen diesen Beitrag dem zu früh verstorbenen Lehrbeauftragten an der DHBW, Herrn OStR Karl Peter Wettstein, MdL B-W.

Der EuGH hat in der Entscheidung Kücükdeveci nur die Unanwendbarkeit, nicht aber die Nichtigkeit des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB festgestellt, denn dafür fehlt ihm auch die Zuständigkeit, vgl. Kreße , ZGS 2007, 215. Wenn eine richtlinienkonforme Auslegung der vom EuGH verworfenen Vorschrift nicht möglich ist, ist die Vorschrift des § 622 Abs. 2 BGB insgesamt dem BVerfG vorab zur Entscheidung vorzulegen, denn die Entscheidung nationaler Fachgerichte nach § 622 Abs. 2 BGB ohne den vom EuGH verworfenen Teil der Regelung wäre eine Gesetzesanwendung, die der Gesetzgeber so nicht entschieden hat (Art. 74ff., 78 GG). Mit der Anerkennung einer eigenständigen Verwerfungskompetenz bei einem (vermeintlichen) Verstoß gegen das ungeschriebene Verbot der Altersdiskriminierung durch die nationalen Gerichte schafft der EuGH außerdem eine erhebliche Gefährdungslage für die Rechtssicherheit. Nach dem nationalen Recht ist dem BVerfG grundsätzlich das Verwerfungsmonopol vorbehalten. Nicht ohne Grund ist es grundsätzlich nationalen Instanzgerichten verwehrt, nachkonstitutionelle formelle Gesetze bei erkannter Verfassungswidrigkeit auf Grund eigener Kompetenz unangewendet zu lassen, sondern nach Art. 100 GG dem BVerfG vorzulegen, Stenslik, Altersdiskriminierung, RdA 2010, 247. Der EuGH verlangt von den mitgliedstaatlichen Gerichten, nationale Regelungen unter Heranziehung aller nationalen Methoden soweit wie möglich dahingehend auszulegen, da sie mit dem Richtlinienrecht vereinbar sind, EuGH v. 5. 10. 2004 – Verb. Rs. C-397/01 bis 403/01, NZA 2004, 1145, 1151 – Pfeiffer; EuGH v. 4. 7. 2006 – Rs. C-212/04, NZA 2006, 909, 911f. – Adeneler. In einem Rechtsstreit zwischen Privaten kann aber auch nicht direkt auf die Richtlinien abgestellt werden. Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV (ex-Art. 249 Abs. 3EG) bedürfen Richtlinien der Umsetzung in nationales Recht. Der Einzelne kann sich grundsätzlich nicht auf diese berufen. Gegenüber der öffentlichen Hand (staatlicher Arbeitgeber) mag das unter bestimmten Bedingungen anders sein, EuGH , Urt. v. 5. 4. 1979 – 148/78, NJW 1979, 1764 RN 22 – Ratti.

Art. 100 [1] (Verfassungswidrigkeit von Gesetzen)*************(Exkurs)

(1) [2] 1Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen.

Danach ist § 622 Abs. 2 S. 1 BGB im Lichte der Europarechtswidrigkeit und daher Unanwendbarkeit des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB dem BVerfG vorab zur Entscheidung vorzulegen. Art. 100 GG soll verhüten, dass jedes einzelne Gericht sich über den Willen des Bundes- oder Landesgesetzgebers hinwegsetzt, indem es die von ihnen beschlossenen Gesetze nicht anwendet. Art. 100 Abs. 1 GG hat damit die Zielrichtung, den parlamentarischen Gesetzgeber vor der Missachtung seiner Rechtssätze durch jeden Richter zu schützen. Art 100 Abs. 1 S. 1 GG begründet nur ein Monopol des Bundesverfassungsgerichts für die Nichtigerklärung eines Gesetzes (Verwerfungsmonopol), nicht aber ein Monopol für die Auslegung und Anwendung der Verfassung, BVerfGE 78, 24. Nach dem Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG ist eine Vorlage nur dann zulässig, wenn das Fachgericht die einschlägige Norm für verfassungswidrig „hält”, so dass grundsätzlich dessen positive Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit notwendig ist. Es kommt nicht darauf an, ob das BVerfG die Norm dann vermutlich auch für nichtig erklären wird oder ob es sich auf den Ausspruch der Unvereinbarkeit der Norm beschränken wird. Das vorlegende Gericht muss seiner Vorlage seine eigene Auffassung von der Verfassungswidrigkeit der Norm, unabhängig von bereits bestehender obergerichtliche Rechtsprechung zugrunde legen. Bloße Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit genügen nicht, BVerfG E 22, 373, 377 = NJW 1968, 99 - nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist eine Vorlage schon dann unzulässig, wenn das Gericht lediglich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm hat, BVerfGE 1, 189 = NJW 52, 497. Das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG dient nicht dazu, eine Meinungsverschiedenheit zwischen einem Gericht und dem ihm im Instanzenzug übergeordneten Gericht über die verfassungsmäßige Auslegung einer Norm zu entscheiden.

[...]


[1] EuGH, Urteil vom 19.01.2010 - C-555/07, NZA 2010, 85 = DB 2010, 228 mit Anm. Schiefer = BB 2010, 507 mit Anm. Wellhöne/Höveler, BB 2010, 507; Thüsing, ZIP 2010, 196. Der EuGH nimmt – wie bereits in der Mangold-Entscheidung, EuZW 2006, 17 – Mangold; dazu Kreße, ZGS 2007, 215; Preis/Temming, Der EuGH, das BVerfG und der Gesetzgeber – Lehren aus Mangold II, NZA 2010, 185 – an, die Gerichte dürften die diskriminierende Regel auch tatsächlich nicht mehr anwenden. Fast alle schließen nun daraus, dass es auf Grund der EuGH - Entscheidung – sozusagen automatisch – zu einer Anwendung nur der Fristen kommt, die sich aus § 622 Abs. 2 S. 1 BGB ergeben. Möller, Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof unter den Präsidenten Papier und Skouris, NVwZ 2010, 225 – das BVerfG nimmt die Letztentscheidungsbefugnis selbst und gerade dann für sich in Anspruch, wenn der EuGH die Kompetenzgemäßheit des Rechtsakts – aus Sicht des BVerfG: unzutreffenderweise – bestätigt hat. In der Sache respektiert das BVerfG die Gemeinschaftsordnung als eine autonome, das heißt von ihren völker- und nationalverfassungsrechtlichen Grundlagen losgelöste Rechtsordnung. Beide Gerichte verfolgen kooperativ das Ziel, eines effektiven mehrschichtigen Grundrechtsschutzes gerade im Interesse des Einzelnen. Dies setzt voraus, dass die nationalen Fachgerichte ihre Vorlagepflichten und -rechte beachten. Dennoch werden nationale und die Gemeinschaftsrechtsordnung nicht völlig spannungsfrei koexistieren können.

Wackerbarth/Kresse, Das Verwerfungsmonopol des BVerfG – Überlegungen nach der Kücükdeveci-Entscheidung des EuGH, EuZW 2010, 252 - das aktuelle EuGH -Urteil in der Sache Kücükdeveci macht Schlagzeilen, Anm. v. Schubert, EuZW 2010, 180, s. dazu etwa Willemsen/Sagan, FAZ v. 27. 1. 2010, S. 23: „Europarichter stellen das BGB ins Belieben deutscher Gerichte”. Die Arbeitgeber müssten die „Folgen der europarechtlichen Ignoranz des deutschen Gesetzgebers” ausbaden und würden von der deutschen und europäischen Rechtsordnung im Stich gelassen, Mörsdorf, Diskriminierung jüngerer Arbeitnehmer - Unanwendbarkeit von § 622 Abs. 2 S. 2 BGB wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht, NJW 2010, 1046; Rombach, „Age Concern Germany”: Zur gemeinschaftsrechtlichen (Un-)Zulässigkeit von Altershöchstgrenzen im öffentlichen Dienst, NVwZ 2010, 102 - Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit der Altersgrenze ist die Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.

[2] Vor der Entscheidung des EuGH wurde Arbeitgebern teilweise empfohlen, im "vorauseilenden Gehorsam" mit verlängerten Kündigungsfristen - ohne Beachtung von § 622 Abs. 2 S. 2 BGB - zu kündigen. Zum Teil wurde aber auch angeraten, weiterhin "gesetzeskonform" zu verfahren. Die Kündigung könne umgedeutet werden, ohne dass die "falsche" Frist ihre Unwirksamkeit zur Folge habe. Nach der Entscheidung des EuGH muss empfohlen werden - in Abweichung von der gesetzlichen Regelung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB -, bei der Berechnung der verlängerten Kündigungsfristen die vollständige Beschäftigungszeit - also auch die vor Vollendung des 25. Lebensjahres - zu berücksichtigen. Es ist davon auszugehen, dass die nationalen Gerichte - wie im Anschluss an die Mangold-Entscheidung - die "altersdiskriminierende" Norm als "unanwendbar" erachten, DB 2010, 20. Sehr weit geht die Entscheidung des EuGH allerdings mit der zweiten Kernaussage. Unstreitig sind nationale Regelungen richtlinienkonform auszulegen, sofern sie nicht völlig eindeutig sind. § 622 Abs. 2 S. 2 BGB ist jedoch klar und eindeutig, für eine Auslegung ist kein Raum. Da Richtlinien keine unmittelbaren Rechtswirkungen gegenüber Privaten entfalten, wäre § 622 Abs. 2 S. 2 BGB, obwohl richtlinienwidrig, nicht unanwendbar. Der EuGH begründet die Unanwendbarkeit in Fortführung von «Mangold», EuGH, Urteil vom 22.11.2005 - C 144/04, NZA 2005, 1345, damit, dass das Verbot der Altersdiskriminierung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts sei, der nationalen Regelungen vorgehe. Dass dies auch dann gilt, wenn das nationale Gericht keine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt hat, ist neu und erweitert die Kompetenz nationaler Gerichte bedenklich, Lingemann, beck-fachdienst Arbeitsrecht - FD-ArbR 2010, 297021. Kolbe, Kücükdeveci und tarifliche Altersgrenzen, BB 2010, 501f - der EuGH zieht zwar die personalwirtschaftliche Flexibilität für Arbeitgeber als Rechtfertigungsgrund in Betracht, hält aber die deutsche Regelung für unangemessen - da zu pauschal, EuGH, 19.01.2010 - Rs. C-555/07, ZIP 2010, 196 RN 39f, m. Anm. Thüsing.

[3] Mit der Europarechtswidrigkeit von § 622 Abs. 2 S. 2 BGB und den Schlussanträgen zu diesem Urteil beschäftigt sich der Beitrag von v. Medem, NZA 2009, 1072; die Schlussanträge des Generalanwalts Bot zu diesem Urteil sind abrufbar unter BeckRS 2009, 70777; einen Verstoß des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz und gegen Europarecht nahm schon das LAG Berlin-Brandenburg, NZA-RR 2008, 17, an. Der Wortlaut des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB ist unmissverständlich und eindeutig. Danach werden für die Berechnung der jeweils maßgeblichen Kündigungsfrist nur die Betriebszugehörigkeitszeiten ab Vollendung des 25. Lebensjahres berücksichtigt. Mit dieser Vorschrift erfahren demnach jüngere Arbeitnehmer ausschließlich aufgrund ihres Lebensalters eine weniger günstige Behandlung als ältere Arbeitnehmer, LAG Schleswig-Holstein, Beschl. vom 30.5.2008, 1 Ta 80/08. Ihre vor dem 25. Lebensjahr liegende Betriebszugehörigkeit führt grundsätzlich zu keiner Verlängerung der Kündigungsfrist. Bei der Berechnung der Kündigungsfrist werden sie so behandelt, als seien sie erst mit Erreichen des 25. Lebensalters in den Betrieb eingetreten. Davor liegende Jahre der Betriebszugehörigkeit bleiben unbeachtlich, „verfallen“ quasi für sie. Demgegenüber wird bei Arbeitnehmern, die ihr Arbeitsverhältnis erst nach dem 25. Lebensjahr begonnen haben, deren Betriebszugehörigkeit in vollem Umfang für die Berechnung der Kündigungsfristen anerkannt. Darin liegt eine Ungleichbehandlung, die an das Alter anknüpft und somit objektiv die Voraussetzungen der Artikel 1 und 2 der RL 2000/78/EG erfüllt. Diese Ungleichbehandlung ist nach Ansicht des erkennenden Gerichts unter keinem rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt nach Artikel 6 Abs. 1 der RL 2000/78/EG gerechtfertigt, so auch LAG Berlin-Brandenburg vom 24.07.2007 – 7 Sa 561/07. Sie ist weder objektiv noch angemessen noch durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt, auch nicht durch ein Ziel aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung. Zweifelsfrei dienen verlängerte Kündigungsfristen vorrangig dem Ziel, dem Arbeitnehmer mit verlängerten Kündigungsfristen die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz während des fortbestehenden Arbeitsverhältnisses zu erleichtern und einen möglichst nahtlosen Übergang in ein neues Beschäftigungsverhältnis ohne wirtschaftliche Nachteile zu ermöglichen, Tavakoli/Westhauser, Vorlegen oder Durchentscheiden? DB 2008, 706. Ebenso ist Sinn und Zweck verlängerter Kündigungsfristen bei Langzeitbeschäftigten, dass diesen in der Regel älteren Arbeitnehmern nicht oder doch nur in zweiter Linie gekündigt wird, LAG Berlin–Brandenburg v. 24.07.2007 – 7 Sa 561/07. Hieraus ergibt sich jedoch noch keine rechtmäßige arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Zielsetzung im Sinne des Artikel 6 Abs. 2 der RL 2000/78/EG für die nur jüngere Arbeitnehmer treffende Regelung des § 622 Abs. 2 S. 2 BGB. Insofern beschränkt sich der Zweck dieser Regelung darauf, jüngeren Arbeitnehmern den Vorteil der verlängerten Kündigungsfrist vorzuenthalten, Löwisch, in Festschrift für Schwerdtner, 769, 771. Das ist von vornherein kein legitimes Ziel aus den Bereichen der Beschäftigungspolitik oder des Arbeitsmarktes.

[4] Wellhöner/Höveler, "EuGH erklärt deutsche Kündigungsfristen für unanwendbar", BB 2010, 507 - die Verzögerung der Verlängerung der Kündigungsfrist trete selbst dann ein, wenn der Arbeitnehmer bei seiner Entlassung eine lange Betriebszugehörigkeit aufweist so dass die gesetzliche Regelung für alle Arbeitnehmer gilt, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres in den Betrieb eingetreten sind, unabhängig davon, wie alt sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung sind. Dies sei nicht angemessen. Der EuGH bekräftigt das kraft Rechtsfortbildung geschaffene, ungeschriebene primärrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung und setzt auf die Nichtanwendung diskriminierender innerstaatlicher Regelungen, obgleich verfassungsrechtlich ausschließlich dem BVerfG die Normverwerfungskompetenz zukommt. Gaul/Koehler, BB 2010, 503. Kücükdeveci: Der Beginn der Jagd auf Entschädigung? Als Folge der Entscheidung des EuGH können damit in der Praxis neben § 622 Abs. 2 S. 2 BGB auch vergleichbare Regelungen durch Arbeitgeber und Gerichte nicht mehr angewendet werden.

[5] Gleichwertigkeit von juristischen Ausbildungen in EU-Mitgliedstaaten 1. Art. 39 EG ist dahin auszulegen, dass bei der Bewertung der Gleichwertigkeit von Ausbildungen, die auf einen Antrag hin erfolgt, unmittelbar in den Vorbereitungsdienst für die juristischen Berufe aufgenommen zu werden, ohne die hierfür vorgesehenen Prüfungen abzulegen, die Kenntnisse als Maßstab heranzuziehen sind, die durch die Qualifikation bescheinigt werden, die in dem Mitgliedstaat verlangt wird, in dem der Bewerber die Aufnahme in den Vorbereitungsdienst beantragt. 2. Art. 39 EG ist dahin auszulegen, dass er als solcher nicht gebietet, dass die Behörden eines Mitgliedstaats bei der Prüfung des Antrags eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats auf Zulassung zu einem praktischen Ausbildungsabschnitt, der – wie der Vorbereitungsdienst – Voraussetzung für die spätere Ausübung eines reglementierten juristischen Berufs ist, im Rahmen der nach dem Gemeinschaftsrecht verlangten Gleichwertigkeitsprüfung niedrigere Anforderungen an die juristischen Kenntnisse des Bewerbers stellen als diejenigen, die mit der Qualifikation bescheinigt werden, die in diesem Mitgliedstaat für den Zugang zu diesem praktischen Ausbildungsabschnitt verlangt wird. Jedoch steht zum einen Art. 39 EG einer Lockerung der Anforderungen nicht entgegen, und zum anderen darf die Möglichkeit einer teilweisen Anerkennung von Kenntnissen, die durch vom Betroffenen nachgewiesene Qualifikationen bescheinigt werden, in der Praxis nicht lediglich fiktiv bleiben, EuGH (3. Kammer), Urteil vom 10.12.2009 - C-345/08, NJW 2010, 137; S. zur Problematik auch Timm/Kempter, NJW 2005, 2826.

[6] Krit Kolbe, BB 2009, 501 f - es sprechen gute Gründe dafür, diesem Wechselspiel aus diskriminierender Senioritätsbegünstigung und kompensatorischer (und vor allem: ihrerseits diskriminierender) Altersgrenzen ein Ende zu setzen. Nicht zuletzt entspräche es der Intention des gemeinschaftsrechtlichen Altersdiskriminierungsverbotes am besten, würden Vorteile und Nachteile der Älteren gleichermaßen beschnitten. Bedenken gegen die üblichen Unkündbarkeitsklauseln ergeben sich mit Blick auf den gemeinschaftsprimärrechtlichen Diskriminierungsschutz schon ob der schwachen Legitimationswirkung des Schutzzieles "Förderung älterer Arbeitnehmer". Skeptisch auch Löwisch, BB 2006, 2582 f.; Temming, Altersdiskriminierung im Arbeitsleben, 2008, S. 139 ff.

[7] Das Bundesarbeitsministerium will dem Richterspruch baldmöglichst durch eine Gesetzesänderung Rechnung tragen. «Wir werden diese Vorschrift ändern», sagte ein Ministeriumssprecher am 20.01.2010 in Berlin. Er wies darauf hin, dass auch ohne Gesetzesnovellierung der EuGH-Richterspruch für Kündigungen schon jetzt gelte und von den Arbeitgebern zu beachten sei. Nach Einschätzung des Ministeriums sind von der beanstandeten Regelung aber nur wenige Fälle betroffen.

[8] Die Entscheidung des EuGH ist mit der in Deutschland geltenden alleinigen Normverwerfungskompetenz des BVerfG (Art. GG) nicht vereinbar, Link, NJW 2010, 431 Bereits in der Vergangenheit war heftig diskutiert worden, ob der EuGH nicht zu viel Einfluss auf die deutsche Gesetzgebung nehme. Um einen drohenden Justizkonflikt zu vermeiden, wurde bereits von einigen Europarechtlern die Einführung eines neuen Verfahrensgesetzes gefordert. Das wird aber auf sich warten lassen.

[9] C-144/04, Slg. 2005, I-9981.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Rechtswidrigkeit der Einschränkung des Kündigungsschutzes durch Nichtberücksichtigung einer Betriebszugehörigkeit vor dem 25. Lebensjahr
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg Mannheim, früher: Berufsakademie Mannheim  (Forschungsinstitut FOI)
Note
1,2
Autor
Jahr
2014
Seiten
26
Katalognummer
V274073
ISBN (eBook)
9783656669579
ISBN (Buch)
9783656669548
Dateigröße
553 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kündigung, Fristen, Verikationsverfahren, gesetzlicher Richter, allgemeines Völkerrecht, Europarecht
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Dr. Assessor jur., Mag. rer. publ. Siegfried Schwab (Autor:in), 2014, Rechtswidrigkeit der Einschränkung des Kündigungsschutzes durch Nichtberücksichtigung einer Betriebszugehörigkeit vor dem 25. Lebensjahr, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274073

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