Medizinische Vorstellungen des Mittelalters und ihre Umsetzung in der Nürnberger Kuchemaistrey


Hausarbeit, 2014

20 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das medizinische Denken im europäischen Mittelalter

3 Die Nürnberger Kuchemaistrey
3. 1 Historische und sprachliche Einordnung
3. 2 Die Umsetzung medizinischer Vorstellungen in der Kuchemaistrey

4 Die Bedeutung der Humoralpathologie für die heutige Medizin

5 Fazit

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Heutzutage sind Kochbücher etwas ganz Gewöhnliches. Nahezu jeder Haushalt besitzt mindestens ein Exemplar über die heimische Küche, hinzu kommen oft länderspezifische Kochbücher – das Angebot ist sehr groß. Doch was heute völlig normal und kaum nennenswert erscheint, musste sich erst im Laufe der Zeit entwickeln. Im Mittelalter waren Kochbücher eine Rarität; nicht jeder Mensch konnte lesen und schreiben, zudem war Papier ein teurer Gegenstand, auf dem man wichtigere Dinge als Kochrezepte verewigte, weshalb die Weitergabe solch alltäglicher Angelegenheiten meist nur mündlich erfolgte1. Doch gerade ihre Seltenheit macht mittelalterliche Kochbücher zu einem bedeutenden historischen Dokument. Sie geben zum Beispiel Auskunft darüber, welche Lebensmittel welcher Gesellschaftsschicht zur Verfügung standen, welche Zubereitungsmöglichkeiten die Menschen hatten und nicht zuletzt, welche medizinischen Vorstellungen bei der Nahrungszusammenstellung eine Rolle spielten. Genau diese sollen hier näher betrachtet werden.

Im ersten Teil der Arbeit werden die medizinischen Lehren des Mittelalters auf Grundlage medizinhistorischer Literatur dargestellt. Sie bilden die Basis für die Untersuchung des ersten gedruckten mittelalterlichen Kochbuchs, der Nürnberger Kuchemaistrey 2, welche den zweiten Teil der Arbeit bestimmen wird. Mithilfe literaturwissenschaftlicher Literatur soll zuerst eine historische und sprachliche Betrachtung stattfinden, um dieses Kochbuch in den geschichtlichen Kontext einordnen zu können. Anschließend sollen medizinhistorische und literaturwissenschaftliche Literatur kombiniert werden, um den Originaltext möglichst breit gefächert auf folgende Frage hin untersuchen zu können: Inwiefern wurden die herausgearbeiteten medizinischen Vorstellungen in der Kuchemaistrey verarbeitet? Die Beantwortung dieser Frage kann vielleicht Aufschluss darüber geben, ob Parallelen zu heutigen Gesundheitslehren bestehen oder es sich bei den medizinischen Ideen des Mittelalters in Europa doch um eine rein historische Angelegenheit handelt. Ein abschließendes Fazit wird die Ergebnisse der Betrachtungen kurz zusammenfassen und versuchen, die Leitfrage zu beantworten.

2 Das medizinische Denken im europäischen Mittelalter

Heute ist die Medizin eine hoch entwickelte Disziplin, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fundiert und sich ständig weiterentwickelt. Lange Zeit jedoch arbeiteten die Menschen nicht an ihrer wissenschaftlichen Entwicklung, sondern stützten sich auf ihre Erfahrungen und hielten an einer einzigen Lehre, der Humoralpathologie, fest3. Die Humoralpathologie entstammt Hippokrates‘ Schwiegersohn Polybos4, wurde aber von seinem Schüler Galen zu einem System geordnet, weshalb man im Zusammenhang mit ihr auch von „Galenismus“ oder „galenistischer Medizin“ spricht. Diese medizinische Lehre wurde zunächst im arabischen Sprachraum rezipiert und erlangte schließlich im elften und zwölften Jahrhundert durch Übersetzung der arabischen Vorlagen durch die medizinischen Zentren Salerno, Toledo und Montpellier Eingang in die Medizin des europäischen Abendlandes. Die Medizin, die in Deutschland, Frankreich, Spanien und England vom elften bis ins 18. Jahrhundert hinein gelehrt und praktiziert wurde, ist also eine vermutlich arabisch beeinflusste Humoralpathologie, da die Übersetzung nicht direkt aus dem Griechischen erfolgte.5 Arabische Einflüsse werden in der medizinhistorischen Forschungsliteratur allerdings kaum erwähnt, weshalb sich die Erläuterungen dieser Arbeit auf Galens ursprüngliche Humoralpathologie stützen werden.

Die Humoralpathologie ist eine „allgemeine Krankheitslehre, die davon ausgeht, daß die Krankheitsursache hauptsächlich in den flüssigen Substanzen, den Säften des Körpers zu suchen“6 ist. Da Blut (haima), Schleim (phlegma), gelbe Galle (cholera) und schwarze Galle (melancholie) die Körpersäfte bilden7, wird die Humoralpathologie auch als „Vier-Säfte-Lehre“ bezeichnet. Die Welt besteht nach galenistischer Auffassung aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Da der menschliche Körper ein Teil der Welt ist, besteht auch er aus eben diesen Elementen, weshalb jedem Körpersaft ein Element und seine Qualität (warm, kalt, feucht, trocken) zugeordnet werden.8 Aus der Säftemischung lässt sich zudem das Temperament eines Menschen ableiten9. Anhand von Abbildung 1 soll nun gezeigt werden, wie die Elemente, Säfte, Qualitäten und Temperamente zusammenhängen:

Abbildung 1: Elementen-Schema10

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wie bereits erwähnt, besteht der Körper als Teil der Welt aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Diese tauchen in Form von Säften im menschlichen Körper auf. Blut wird der Luft zugeordnet, Schleim dem Wasser, schwarze Galle der Erde und gelbe Galle dem Feuer. Jeder Saft besitzt zwei Qualitäten: Das Blut ist warm und feucht, der Schleim kalt und feucht, die schwarze Galle kalt und trocken und die gelbe Galle warm und trocken. Das Temperament eines Menschen entsteht durch die Mischung der Qualitäten. Sind alle vier Säfte zu gleichen Teilen im Körper vorhanden, hat der Mensch ein harmonisches Temperament und die höchste Gesundheitsstufe. Ist ein Saft stärker vorhanden als die anderen Säfte, hat der Mensch ein ungleichmäßiges Temperament und ist, abhängig von der Stärke der Asymmetrie der Säfte, noch gesund oder bereits krank.11 Es sind zwar stets alle Säfte im Körper vorhanden und an der Temperamentbildung beteiligt, doch völlige Ausgewogenheit muss nicht immer der Fall sein12. Ein Mensch ist zum Beispiel Choleriker, wenn in seinem Körper die gelbe Galle stärker als die anderen drei Säfte vorhanden ist, oder aber Phlegmatiker, wenn Schleim im Übermaß vorliegt.

Das angestrebte Ziel der Humoralpathologie ist das völlige Gleichgewicht der vier Säfte und Qualitäten, das zu Gesundheit und einem harmonischen Temperament führt13. Von Geburt an herrscht im Menschen aber ein Ungleichgewicht vor, das sich in Abhängigkeit von seinem Lebensverlauf sowie den Tages- und Jahreszeiten verlagert. Er wird warm und feucht geboren, hat die höchste Ausgewogenheit der Elemente im Alter zwischen 40 und 50 Jahren und trocknet im Laufe seines Lebens immer weiter aus und wird kälter14. Sein Temperament muss also auch nach seinem Alter beurteilt werden. Ebenso wie der Mensch im Laufe des Lebens immer kälter und trockener wird, geschieht dies auch im Laufe eines Tages und Jahres, so ist er morgens und im Frühling noch wärmer und feuchter als abends und im Winter.

Um die Mischung der Körpersäfte zu beeinflussen, muss folglich genau betrachtet werden, wie alt ein Mensch ist und welche Tages- und Jahreszeit gerade ist. Sind Informationen darüber vorhanden, kann die Säftemischung mit Hilfe von Nahrungsmitteln verändert werden. Nahrungsmittel eignen sich dazu, weil sie wie der Körper ein Teil der Welt sind und somit aus den vier Elementen und Qualitäten bestehen15. Zudem verbleiben sie lange im Körper und können dort ihre Wirkung entfalten (anders als zum Beispiel Luft, die sofort wieder ausgestoßen wird)16. So hat jedes Nahrungsmittel seine eigene Kraft, die auf den Menschen übergehen und ihm nützen oder schaden kann17. Bei einem Umwandlungsprozess (Kochung) der Speisen im Magen werden diese je nach den ihnen innewohnenden Qualitäten zu einem der Körpersäfte18. Somit kann Nahrung positiv, aber auch negativ auf den Menschen wirken. Zu viel blutbildende Nahrung führt nach galenistischer Lehre beispielsweise zu platzenden Gefäßen und Entzündungen19. Doch auch die Kochung kann zu Problemen führen. Verläuft sie nicht korrekt, kann sie statt nützlichen Säften verdorbene hervorbringen und zu Hautkrankheiten führen, weil der Körper versucht, die unreinen Säfte über die Haut auszustoßen20. Insgesamt wird das Fasten in der Humoralpathologie hoch geschätzt, da zu viel Nahrung dazu führen kann, dass nicht alle Nahrungsmittel zu Säften umgewandelt werden können oder der Körper so stark mit den Kochungsprozessen beschäftigt ist, dass er sich nicht genügend um die anderen Lebensprozesse kümmern kann. Begrenzt wird das Fasten nur, weil der Körper ohne Nahrungszufuhr seine Stärke verliert.21 Beim Essen kommt es also nicht auf eine große Menge an Lebensmitteln an, sondern vielmehr auf die Qualität der Speisen. Ein Mensch sollte seine Nahrung nach Möglichkeit auf sich persönlich abgestimmt, das heißt in Abhängigkeit von seinem Alter, Gesundheitszustand, Temperament und der Tages- beziehungsweise Jahreszeit, auswählen, da er sich sonst durch die falsche Nahrung „vergiften“ kann.22

Nahrungsmittel sind also häufig verantwortlich für Krankheiten. Ebenso stark ist jedoch ihre heilende Wirkung. Mithilfe der Nahrung wird das Säftegleichgewicht aufrechterhalten, sie dient so als Mittel zur Gesundheitserhaltung und -vorsorge. Sie kann aber auch ein Ungleichgewicht ausgleichen und als Arzneimittel fungieren.23 Hierbei muss stets auf die richtige Kombination geachtet werden; warme und trockene Lebensmittel können das Leben ersticken, während kalte und feuchte es erfrieren lassen können, man sollte demnach beide Arten miteinander verbinden, damit sie sich ausgleichen und das Leben nicht gefährden24. Dieser Qualitätsausgleich wird „Temperieren“ genannt. Wegen des Temperierens werden beispielsweise kalte und feuchte Speisen mit warmen und trockenen kombiniert.25 Bei gleichen Anteilen der Qualitäten wird das Gleichgewicht der Säfte aufrechterhalten. Liegt jedoch bereits eine Mischungsstörung (das Überwiegen einer Qualität) vor, wird die überschüssige Qualität durch die stärkere Verwendung der ihr entgegenstehenden behandelt („Contraria-Prinzip“)26. So kann ein Choleriker wieder zu einem harmonischeren Temperament zurückgeführt werden, wenn er nicht zu viele Lebensmittel mit warmer Qualität zu sich nimmt, da diese das warme und trockene cholerische Temperament noch verstärken würden27. Auf diese Weise kann aber nicht nur ein Temperament harmonisiert, sondern auch eine Krankheit behandelt werden. Bei Fieber zum Beispiel herrscht übermäßig viel Wärme im Körper vor, weswegen der Kranke die Aufnahme warmer Speisen vermeiden und lieber mit kalten Nahrungsmitteln dem Fieber entgegenwirken sollte28. Die Zuordnung der Speisen zu bestimmten Qualitäten erfolgt hierbei nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen, sondern rein äußerlich; eine gedörrte Pflaume ist zum Beispiel trockener als eine frische und Salat und Fisch gelten aufgrund ihrer natürlich nass-kalten Umgebung in der Natur als kalte und feuchte Lebensmittel29.

Das häufigste Temperierungsmittel stellen Gewürze dar. Ihnen wird von allen Lebensmitteln die größte medizinische Wirkung zugeschrieben, sie bilden den Übergang von der Medizin zur Nahrung30. Gewürze gelten als sehr warm und werden in der Humoralpathologie oft zum Temperieren kalter Lebensmittel verwendet, die als schädlicher gelten, da sie die angeborene Körperwärme ersticken können31. Doch sie entfalten ihre positive Wirkung nicht nur in Kombination mit anderen Nahrungsmitteln. Ihre Wärme macht sie zu einem verdauungsfördernden Mittel, dass die Säftekochung im Magen unterstützt; deshalb wurden sie im Mittelalter sogar teilweise in Dragéeform vor dem Schlafen verzehrt32.

Im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Kochkunst liest man häufig von „Überwürzung“ oder gar einem Missbrauch von Gewürzen. In Adelskreisen mag diese Sitte auch einem Repräsentationszweck gedient haben – Gewürze waren teuer und galten somit als Statussymbol. In erster Linie war der starke Gewürzgebrauch aber der Medizin geschuldet und sollte auch vor allem in diesem Kontext verstanden werden.33 Die Annahme, dass Gewürze den Geschmack von verdorbenem Fleisch überdecken sollten, gilt als falsch, denn nur Adlige konnten sich übermäßiges Würzen überhaupt leisten und diese aßen generell nur frisches Fleisch, das auf der Jagd erbeutet oder auf dem Mark geschlachtet und sofort verzehrt wurde.34

Der folgende Teil der Arbeit wird sich dem ersten gedruckten Kochbuch in deutscher Sprache, der Kuchemaistrey, widmen und untersuchen, welchen Eingang die besprochenen medizinischen Theorien in die praktische Essenszubereitung des Mittelalters fanden.

3 Die Nürnberger Kuchemaistrey

3. 1 Historische und sprachliche Einordnung

Die Kuchemaistrey erschien erstmals 1485 beim Nürnberger Buchdrucker Peter Wagner, umfasst 64 Seiten und ist das erste gedruckte Kochbuch in deutscher Sprache35. Deutsch bedeutet hier Frühneuhochdeutsch; im Text lassen sich beispielsweise die typische frühneuhochdeutsche Diphthongierung (fnhd. sein statt mhd. sîn) und Monophthongierung (fnhd. hFner statt mhd. hüener) finden. Auch Anlautveränderungen im Vergleich zum Mittelhochdeutschen sind zu beobachten (fnhd. schlachen statt mhd. slahen). Allerdings befindet sich das Frühneuhochdeutsche der Kuchemaistrey noch in einem frühen Stadium. Großschreibung findet man zum Beispiel fast nur am Satzanfang und außer Satzabschlusspunkten und Sonderzeichen zur Abschnittsabgrenzung gibt es keine Interpunktion. Oft fungiert ein Punkt auch eher als Komma; in diesem Fall folgt ihm Kleinschreibung. Die frühneuhochdeutsche Vokalsenkung ist nicht konsequent umgesetzt (zum Beispiel kumen). Auch die Distributionen sind noch nicht einheitlich verteilt (nhd. wie kommt teilweise als wy und teilweise als wie vor; v, u und w sowie j, i und y können nicht durchgängig einer initialen, finalen oder Binnenposition zugeordnet werden); das sich im Frühneuhochdeutschen entwickelnde Fugen-t vor dem Adjektivsuffix -lich fehlt noch. Ob sich die Dehnung in offener Tonsilbe bereits durchgesetzt hat, ist schwer zu beurteilen, da Doppelkonsonanten in diesem Text noch nicht einheitlich zur Anzeige vokalischer Kürze verwendet werden (siehe zum Beispiel in guttē wein36 und dem gemeinē man37 ). Abkürzungen werden ebenso wie die Distributionen immer verschieden verwendet; die Endung -en kommt häufig als -ē, doch auch oft als n̄ vor. Zudem stellt die Schreibung der Kuchemaistrey nur die in Nürnberg übliche dar; im deutschen Sprachraum existierten zahlreiche regional bedingte Varianten des Frühneuhochdeutschen. Dieses Kochbuch befindet sich also im sprachlichen Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen und außerdem im Übergang von handschriftlichen zu gedruckten Kochbüchern.

Doch nicht nur wegen dieser Besonderheiten, kommt der Nürnberger Kuchemaistrey eine große Bedeutung zu. Der Verfasser dieses Kochbuchs ist zwar unbekannt38, doch das Buch selbst war so populär, dass allein bis 1490 sechs Neuauflagen verschiedener Drucker erschienen39 und die letzte nachgewiesene Neuausgabe 1674 veröffentlicht wurde40. Somit ist die Nürnberger Kuchemaistrey das erste deutsche Kochbuch, das sehr lange und nicht nur im Adel, sondern auch im lesekundigen Bürgertum, weit verbreitet war41 und dem Anspruch der Vorrede, auch für den gemeinē man42 geschrieben worden zu sein, wirklich genügt. Die Beliebtheit des Buches zeigt, dass das Kochbuch sich als literarische Gattung etablieren konnte, denn anders als die vorherigen Rezeptsammlungen war die Kuchemaistrey nicht Teil eines privaten Hausbuches (wie etwa das Buoch von guter spîse), sondern ein eigenständiges Kochbuch.

Zudem war sie das erste Kochbuch, das die Rezepte sinnvoll in Kapitel ordnete: Nach der Vorrede, die diese Kapitel bereits kurz vorstellt, behandelt das Buch Fasten-, Fleisch- und Eierspeisen, Saucen, Senf und Latwergen sowie die Essigherstellung und schließt mit einigen medizinischen Empfehlungen ab. Die Rezepte werden jeweils mit der satzverbindenden Partikel item (desgleichen, ebenso, außerdem)43 angeschlossen. In der Ausgabe von 1490 gibt es zudem direkt nach der Vorrede einen alphabetischen Index aller Speisen, welcher die Handhabung zusätzlich erleichtert.44 Die Kuchemaistrey ist also ein gut geordnetes und für den Nutzer sehr praktisches Kochbuch, was wohl zu ihrer Beliebtheit beigetragen hat.

Trotzdem kann nicht gesagt werden, dass sie ein Kochbuch für die Allgemeinheit darstellt. Da, wie in allen mittelalterlichen Kochbüchern, auf Mengen- und Zeitangaben weitgehend verzichtet wurde, setzt die Kuchemaistrey voraus, dass ihr Leser zumindest Grundkenntnisse im Kochen besitzt, wenn nicht sogar bereits Koch von Beruf ist. Außerdem finden sich darin eher außergewöhnliche und festliche Gerichte mit sehr teuren Zutaten, die sich nicht jeder leisten konnte und die auch nicht alltäglich waren.45 Die teuren Zutaten und die Empfehlungen zur Gesundheitserhaltung weisen auf einen medizinisch versierten Koch eines Adelshofes als Verfasser hin. Ernährung im Sinne der Medizin kam im Mittelalter eine vorrangige Bedeutung zu; immerhin waren andere Mittel zur Behandlung von Krankheiten sehr begrenzt.46 Die Kuchemaistrey enthält immer wieder medizinische Ratschläge und ist daher bestens geeignet, um den praktischen Einsatz der Humoralpathologie zu zeigen. Grundlage der folgenden Betrachtungen soll die Ausgabe von 1490 sein, die, wie die erste Ausgabe, von Peter Wagner gedruckt wurde und heute in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel zu finden ist.

3. 2 Die Umsetzung medizinischer Vorstellungen in der Kuchemaistrey

Dass die Nürnberger Kuchemaistrey einen medizinischen Anspruch hat, ist bereits aus der Vorrede ersichtlich: ein ordenlicher koch mit wol bereitter natFrlicher speiß ist hie in disser zeit der best arzt und hilft dabei, dass der mensch solche speiße vn̄ getranck nit vberflFssig sunder sich des ordenlichen vnnd zu rechter zeit gebraucht47.

Ohne dass schon auf bestimmte Gerichte eingegangen würde, wird dem Leser klargemacht, dass die richtige Nahrung entscheidend für die Gesundheit eines Menschen ist und ein guter Koch am besten zu ihrer Erhaltung beiträgt. Zudem wird sofort darauf verwiesen, dass man sich der Nahrungsmittel nicht übermäßig, sondern mit Bedacht bedienen sollte, was in den meisten heutigen Kochbüchern, bei denen es vorrangig um Genuss geht, eher unüblich wäre. Die Humoralpathologie aber schätzt das Fasten sehr hoch, was den Hinweis auf Mäßigung nur logisch macht.

Ein Blick auf einige Rezepte und im Buch enthaltene Hinweise soll zeigen, welche Nahrungsmittel in welcher Form kombiniert wurden und was die Zusammenstellungen über die medizinischen Vorstellungen verraten.

Im ersten Teil der Kuchemaistrey geht es um Fastenspeisen. Da in der Fastenzeit kein Fleisch gegessen werden durfte, griff man auf Fisch und Krebse zurück. In einem Rezept heißt es:

Item ein ander Galradt zu den ein gemachten krebsen/Nim krebß wie vil du wilt seFd sie ab in wein vn̄ essig. thu die schalē ab. vn̄ thu dz butter auß den kopffen schel die schere und die beFch. thu sie in ein morsser und mandel und ein weißbrosemlein brotz darzu. stoß wol mit guttē wein. treib es durch ein tuch. vn̄ thu es in ein pfanne un̄ schmalz darein. und mach es ab mit wurtzē und saltz. versuchß. wer es den zu starck. so temperirs mit wasser. also dz essig. wein un̄ wurtz recht maß habn̄. Gib sie auf. setz sie fFr kalt ođ warm bestrewe sy mit welschē weinbern. ođ mit frischem ingwer so du sie warm gibst. wiltu sie kalt geben vn̄ wol gestandē sey so besteck sie mit mandel.48

[...]


1 vgl. Lemmer, Manfred; Schultz, Eva-Luise: Die lêre von der kocherie. Von mittelalterlichem Kochen und Speisen. 2., verb. Aufl., Leipzig: Insel 1980, S. 5.

2 vgl. Wiswe, Hans: Kulturgeschichte der Kochkunst. Kochbücher und Rezepte aus zwei Jahrtausenden mit einem lexikalischen Anhang zur Fachsprache von Eva Hepp. München: Moos 1970, S. 20.

3 vgl. Müller, Ingo Wilhelm: Humoralmedizin. Physiologische, pathologische und therapeutische Heilkunst. Heidelberg: Haug 1993, S. 17.

4 vgl. Wiswe, Hans: S. 59.

5 vgl. Müller 1993, S. 20.

6 ebd., S. 17.

7 vgl. Wiswe 1970, S. 59.

8 vgl. Müller, S. 31-32.

9 vgl. ebd., S. 33.

10 vgl. Schipperges, Heinrich: Der Garten der Gesundheit. Medizin im Mittelalter. 2. Aufl. Zürich: Artemis 1987, S. 65.

11 vgl. Müller 1993, S. 33, 78.

12 vgl. ebd., S. 34.

13 vgl. Wiswe 1970, S. 59.

14 vgl. Müller 1993, S. 37-38.

15 vgl. Laurioux, Bruno: Tafelfreuden im Mittelalter. Kulturgeschichte des Essens und Trinkens in Bildern und Dokumenten. Stuttgart [u. a.]: Belser 1992, S. 13.

16 vgl. Müller 1993, S. 84.

17 vgl. Lemmer 1980, S. 15.

18 vgl. Müller 1993, S. 53.

19 vgl. ebd., S. 77.

20 vgl. Schipperges 1987, S. 69.

21 vgl. Müller 1993, S. 85.

22 vgl. Schipperges 1987, S. 255.

23 vgl. Laurioux 1992, S. 13.

24 vgl. Wiswe 1970, S. 60.

25 vgl. Lemmer 1980, S. 15.

26 vgl. Müller 1993, S. 111.

27 vgl. Laurioux 1992, S. 13.

28 vgl. Wiswe 1970, S. 71.

29 vgl. ebd., S. 65.

30 vgl. Rippmann, Dorothee: Körper und Sinne in der Kochkunst. Konzepte mittelalterlicher Nahrungsmitteldiätetik. In: Werner M. Egli und Ingrid Tomkowiak (Hrsg.): Sinne. Zürich: Chronos 2010, S. 176.

31 vgl. Lemmer 1980, S. 15.

32 vgl. Montanari, Massimo: Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. München: Beck 1993, S. 77.

33 vgl. Lemmer 1980, S. 15.

34 vgl. Montanari 1993, S. 76.

35 vgl. Ehlert, Trude: Küchenmeisterei. Edition, Übersetzung und Kommentar zweier Kochbuch-Handschriften des 15. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Lang 2010, S. 7.

36 Kuchemaistrey. Nürnberg: Peter Wagner 1490, S. 9.

37 ebd., S. 2.

38 vgl. Wiswe 1970, S. 44.

39 vgl. Ehlert 2010, S. 7.

40 vgl. Ehnert, Rolf: Kuchenmeysterey. Passau: Johann Petri, um 1486. Göppingen: Kümmerle 1981, S. IV.

41 vgl. ebd., S. V.

42 Kuchemaistrey 1490, S. 2.

43 vgl. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 10, Sp. 2182. Leipzig 1854-1961. (Online unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GI00829)

44 vgl. Ehlert 2010, S. 7.

45 vgl. Ehnert 1981, S. VII.

46 vgl. Rippmann 2010, S. 169.

47 Kuchemaistrey 1490, S. 2.

48 ebd., S. 11-12.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Medizinische Vorstellungen des Mittelalters und ihre Umsetzung in der Nürnberger Kuchemaistrey
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Kochbücher im späten Mittelalter
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
20
Katalognummer
V274055
ISBN (eBook)
9783656837770
ISBN (Buch)
9783656837787
Dateigröße
639 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mediävistik, Kochbuch, Altgermanistik, Küchenmeisterei, Medizin, Mittelalter, Galenismus, Humoralpathologie, Vier-Säfte-Lehre
Arbeit zitieren
Franziska Riedel (Autor:in), 2014, Medizinische Vorstellungen des Mittelalters und ihre Umsetzung in der Nürnberger Kuchemaistrey, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274055

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