Die Situation mehrsprachiger Jugendlicher in der deutschen Gesellschaft

Eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Zweisprachigkeit bei türkisch- und russischsprechenden Jugendlichen


Hausarbeit, 2014

25 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


Einleitung

Als junge Aussiedlerin verkehre ich seit meiner Kindheit in den Kreisen von Meinesgleichen. Dabei fällt mir immer wieder auf, dass sowohl erwachsene als auch jugendliche Aussiedler die deutsche und die russische Sprache miteinander verknüpfen. Ich finde das sehr interessant und habe beschlossen, der Sache genauer auf den Grund gehen. Zunächst versuchte ich selbst zu überlegen, warum sie die beiden Sprachen miteinander vermischen und von Sprache zu Sprache „springen“ und kam zu dem Ergebnis: Die Aussiedlerjugendlichen sprechen gemischt, weil sie die deutsche Sprache noch nicht perfekt können, die russische aber auch nicht weiter entwickeln. Diese Tatsache machte mir zuerst Sorgen. Dann stieß ich beim Recherchieren auf einen interessanten Aufsatz von Volker Hinnenkamp, in dem er das „Gemischt sprechen“ der Jugendlichen gar nicht tadelt, sondern lobt.[1] Dies führte dazu, dass ich anfing, das Problem von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten und die Ergebnisse meines weiteren Recherchierens zum Thema dieser Arbeit zu machen.

Ich halte es für sinnvoll, auf den ersten Seiten dieser Arbeit das Problem der Intelligenz und der Zweisprachigkeit zu erläutern, damit der Leser mit einigen Meinungsverschiedenheiten bekannt gemacht wird. Dann erst stelle ich zwei sprachliche Welten nebeneinander: Die russischsprachige und die türkischsprachige Welt. Den Schwerpunkt legte ich auf die junge Generation der beiden Welten, wobei ich vom Vorschulstand der Kinder langsam auf das Jugendalter fortschreite. Erwähnenswert finde ich auch die Ansichten der Jugendlichen über ihr Sprechverhalten und ihr emotionales Empfinden. Zum Schluss versuche ich einige positive Argumente für das „Gemischt sprechen“ anzuführen.

1. Bilinguale Entwicklung des Kindes als Weg zum präzisen Switchen

Interessant finde ich die Beobachtungen von Ruke-Dravina, die die Sprachentwicklung ihrer beiden schwedisch-lettisch bilingualen Kinder beschreibt. Da sich laut Klaus Lambeck ihre Beobachtungen in vielerlei Hinsicht mit den Beobachtungen anderer Untersuchungen decken, will auch ich sie als Ausganspunkt für meine Arbeit nehmen.[2]

Ruke-Dravina beobachtete und analysierte etwa zwei Jahre lang die Sprachentwicklung ihrer Kinder, wobei die lettische Varietät der Sprache innerhalb der Familie, die schwedische Varietät im Umgang mit Spielkameraden ausgebildet wurde.[3] Dadurch kam sie auf folgende wichtige Ergebnisse:

- Schon in einem relativ frühen Alter (mit drei Jahren) zeigt das Kind intensives Interesse am sprachlichen Gegensatz und stellt gezielte Fragen nach bestimmten Vokabeln. Es wird ihm also bewusst, dass es zwei verschiedene Sprachen in seiner Umgebung gibt.
- Mit 4 Jahren ist es in der Lage, im Rahmen seines kindlichen Wortschatzes kleine Übersetzungen vorzunehmen, es bemüht sich also, beide erlernte Sprachen als gleichwertig anzusehen, sie für gleich wichtig zu erachten. [4]
- Mit Beginn des Schulalters beherrscht das Kind beide Sprachen annähernd gleich gut. Es entscheidet sich nicht für eine Sprache, sondern hält beide Varietäten für wichtig.

Wir sehen, dass eine Trennung der erlernten Sprachen schon im frühen Kindesalter stattfindet und das Wechseln zwischen den Sprachen von da an ständig geübt wird. Das hat zur Folge, dass es für ein bilinguales Kind kein Hindernis ist, flott und der Situation entsprechend von einer Sprache zur anderen zu wechseln, allerdings unter der Bedingung, dass die Kinder beide Sprachen kennen und kontinuierlich mit ihnen in Kontakt bleiben.

2. Switchen als Zeichen der Intelligenz

Beim Forschen über die Bilingualität stellt sich immer häufiger ein Konflikt dar, der Fragen aufwirft: Z.B. schwächt die Zweisprachigkeit das betreffende Individuum oder trägt sie eher zu seiner Intelligenz bei? Zwei gegensätzliche Meinungen fallen, meiner Ansicht nach, besonders auf.

Leo Weisgerber, ein Vertreter der Sprachinhaltsforschung setzt zum Beispiel viel daran, Zweisprachigkeit als ein Defizit des betreffenden Individuums auszulegen. Er gibt zwar viele Vorteile der Zweisprachigkeit zu, entkräftet sie jedoch gleich wieder durch die überwiegende Anzahl von Nachteilen, wie zum Beispiel, dass Bilingualität ein „ (…) großer Aufwand von Zeit und Kraft auf Kosten anderer Arbeit, Schwächung des Sprachgefühls durch gegenseitige Beeinflussung der beiden Sprachen, (…)“, vor allem aber „Lockerung der geistigen Gemeinschaft mit den Einsprachigen, …“[5] ist.

Demgegenüber stehen die früheren Ergebnisse von Wallace Lambert, der durch Untersuchung der durchgeführten Tests seine Kritik diesbezüglich geäußert hat. Er sammelte in seinem Essay „The Relation of Bilingualism to Intelligenz (1962)“ die Ergebnisse von Intelligenztests, die mit verschiedenen Gruppen von mono- und bilingualen Schulkindern durchgeführt worden waren und wertete diese aus. Die Resultate widersprechen den Ansichten von Weisgerber.[6] Das Vorhandensein der zweiten Sprache wirkt sich nämlich günstig auf die Fähigkeiten der betreffenden Kinder aus. Sie kommen nicht nur im nonverbalen Bereich voran, sondern machen auch Fortschritte im verbalen. Bei bestimmter Sprachkombination wie Englisch-Französisch schneiden bilinguale Kinder sogar besser ab als Monolinguale.[7]

Lambert stellt zwei Hypothesen auf, die die Phänomene erklären sollen: Das bessere Abschneiden des bilinguales Kindes im nonverbalen Bereich kommt dadurch zustande, dass es ihm durch seine Bilingualität besser gelingt, Begriffe zu bilden und abstrakt zu denken. Eine weitere These ist, dass bei bilingualen Kindern überhaupt eine stärkere Flexibilität im Denken besteht.[8]

Daran möchte ich anknüpfen und zurückkehren zum Aspekt des Switchens bei Jugendlichen. Wenn wir, mit diesen zwei gegensätzlichen Ansichten im Hintergrund, das Problem von einer völlig anderen Seite betrachten, können wir erkennen, dass die zweisprachigen Jugendlichen aufgrund ihrer Flexibilität im Denken keinesfalls die geistige Gemeinschaft der Einsprachigen lockern, sondern eher als Medien zwischen zwei geistigen Gemeinschaften anzusehen sind.

3. Russischer Migrationshintergrund

3.1 Geschichtlicher Exkurs

Laut Bernhard Brehmers Ausführungen kann man heute nicht genau sagen, wie groß die russischsprachige Minderheit in Deutschland ist. Er ist sich nur in der dreiteiligen Gruppierung dieser Minderheit sicher. Zur ersten Gruppe gehören die russlanddeutschen (Spät-) Aussiedler, die in ehemaligen deutschen Siedlungsorten der Sowjetunion aufgewachsen sind und nach Art. 116 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Einbürgerung und den Status eines „Vertriebenen“ haben.[9] Diese Gruppe hat eine geschichtliche Vergangenheit. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fanden aufgrund mehrerer Faktoren Abwanderungen aus dem süddeutschen Raum in die bevölkerungsarmen Regionen Russlands (Siebenbürgen, Wolga-Region und Neurußland) statt. Der Grund dafür war die Überbevölkerung in Deutschland.[10] Die Deutschen in Russland schlugen Wurzeln und ihre vierte und fünfte Generation folgte dann dem Art.116 Abs.1 GG.

Die zweite Gruppe bilden die jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die nach dem Beschluss vom 9. Januar 1991 die Möglichkeit bekamen, im Zuge des sog. „Kontingentflüchtlingsgesetzes“ in die Bundesrepublik Deutschland einzuwandern. Die letzte Gruppe besteht aus russischsprachigen Ausländern, die aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind und ohne die deutsche Staatsangehörigkeit in Deutschland leben.[11]

Da die russische Sprache den gemeinsamen Nenner dieser drei Gruppen bildet und praktisch als dominante Sprache darin gelten kann, fasst Brehmer alle drei Gruppen unter der russischsprechenden Minderheit zusammen.[12]

3.2 Die Situation russischsprechender Jugendlicher

Darauf bezogen stellte Nataliya Soultanian ihre Beobachtungen über die Kinder und ihre Sprachsituation in solchen Gruppen an. Sie befragte persönlich russisch- und ukrainischsprachige Eltern aus Heidelberg, Lörrach und Freiburg zu ihrer Einstellung hinsichtlich der Förderung der Muttersprache in der Familie. Sie differenzierte unter anderem zwei Sprachsituationen der Kinder, nämlich die Situation der Kinder in russischsprachigen Familien und die Situation der Kinder in russisch-deutschsprachigen Familien. Im ersten Fall bevorzugten die Kinder die russische Sprache als Familiensprache, wobei sie in einigen Situationen sehr eigenwillig das Russische wählten oder ihre ganz eigenen Sprechgewohnheiten entwickelten. Im Fall der russisch-deutschen Sprachsituation dominierte die deutsche Sprache.[13]

Bei dieser Untersuchung kam Soultanian zu einigen wesentlichen Aspekten der russisch- deutschen und ukrainisch-deutschen Zweisprachigkeit, mit denen ich die Ausganssituation für die russisch-deutsche Zweisprachigkeit schildern will.

3.2.1 Die Vorschulkinder

a) Einfluss der Eltern

Die Eltern sind es, die das Fundament der russisch-deutschen Zweisprachigkeit bei den Kindern bilden. Denn aus den Befragungen von Soultanian geht hervor, dass die meisten von ihnen viel Wert darauf legen, dass ihre Kinder die Muttersprache beherrschen. Die Gründe dafür sind verschieden. Oftmals geschieht es aus dem Wunsch heraus, die Familienbeziehungen mit den im Heimatland gebliebenen Großeltern zu erhalten. Dies soll dafür sorgen, dass das Kind emotional gestärkt wird, seine kulturellen Wurzeln kennt und die Geschichte und Traditionen der Heimat nicht vernachlässigt.[14] Begünstigt wird die Zweisprachigkeit bei den Kindern durch die Meinung der Eltern, dass das Erlernen und Beibehalten der beiden Sprachen eine gute Voraussetzung für das Erlernen weiterer Sprachen schafft und sich daraus eine zusätzliche Option für das zukünftige Berufsleben ergibt. Nicht zu vergessen ist für die Eltern auch, dass sich durch die Zweisprachigkeit das Denken des Kindes im Allgemeinen flexibler entwickelt.[15]

[...]


[1] Vgl.: Volker Hinnenkamp: „Zwei zu bir miydi?“- Mischsprachliche Varietäten von Migrantenjugendlichen. In: Sprachgrenzen überspringen. Sprachliche Hybridität und polykulturelles Selbstverständnis, hrsg. v. Volker Hinnenkamp/Katharina Meng, Tübingen 2005, S. 51-97.

[2] Vgl.: Lambeck, K.: Kritische Anmerkungen zur Bilingualismusforschung, Tübingen, 1984, S. 50.

[3] Vgl.: Ruke-Dravina, V.: Mehrsprachigkeit im Vorschulalter S. 23, Lund, 1967.

[4] Vgl.: ebd.

[5] Vgl.: Weisgerber, L.: Vorteile und Gefahren der Zweisprachigkeit, in: Wirkendes Wort 1996, H 2, S. 77.

[6] Vgl.: Lambert, W.: Language, Psychology and Culture S. 111-117, Stanford, 1972.

[7] Vgl.: ebd. S. 140.

[8] Vgl.: ebd. S. 139.

[9] Vgl.: Brehmer, B.: Sprechen Sie Qwelja? Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland S. 166 ff. In: Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb. Formen. Förderung, hrsg. v. Tanja Anstatt, Tübingen 2007, S. 163-185.

[10] Inken Keim: Mehrsprachigen Lebenswelten. Sprechen und Schreiben der türkischstämmigen Kinder und Jugendlichen, Tübingen 2012, S. 1.

[11] Vgl.: ebd.

[12] Vgl.: ebd. S. 167.

[13] Vgl.: Soultanian, Nataliya: Wie russische Kinder Deutsch lernen. Sprachförderung in der Familie und Kindergarten, Tübingen 2012, S. 9ff.

[14] Vgl.: ebd.

[15] Vgl.: ebd.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Die Situation mehrsprachiger Jugendlicher in der deutschen Gesellschaft
Untertitel
Eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Zweisprachigkeit bei türkisch- und russischsprechenden Jugendlichen
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar)
Veranstaltung
Variationslinguistik
Note
3,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
25
Katalognummer
V273745
ISBN (eBook)
9783656660880
ISBN (Buch)
9783656660873
Dateigröße
464 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprache, Russisch, Türkisch, Jugendsprache, Migration
Arbeit zitieren
Swetlana Krieger (Autor:in), 2014, Die Situation mehrsprachiger Jugendlicher in der deutschen Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/273745

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