Der Beitrag des Ethikunterrichts zu einer autonomen Lebensführung


Bachelorarbeit, 2012

41 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Problemstellung
1.2. Vorgehensweise

2. Begriffsklärung
2.1. Negative und positive Freiheit
2.2. Autonomie und Pluralismus

3. Autonomie und Pluralismus im Ethik-Unterricht

4. Die Paradoxie der liberalen Erziehung
4.1. Liberalismus
4.2. Bürgerlicher Republikanismus
4.3. Kommunitarismus

5. Die philosophischen Ressourcen
5.1. Autonomie-Beförderung und Pluralismus - Unvereinbar?
5.2. Autonomie befördern!
5.2.1. Autonomie und das gute Leben
5.2.2. Autonomie und staatliches Interesse
5.2.3. Autonomie, gutes Leben und staatliches Interesse
5.3. Pluralismus verteidigen!
5.4. Pluralismus und Autonomie als Grundlagen liberaler Erziehung

6. Liberale Erziehung im Spannungsfeld von Autonomie und Pluralismus

7. Autonomie-Beförderung im Ethik-Unterricht

8. Fazit

9. Literatur

1. Einleitung

1.1. Problemstellung

„He drew a circle that shut me out Heretic, Rebel, a thing to flout

But Love and I had the wit to win:

We drew a circle that took him in!“

Edwin Markham: „Outwitted“ (Felleman 1936)

In dem US-amerikanischen Gerichtsprozess Mozert vs. Hawkins County Board of Education, der Geschichte gemacht hat, zitierte der Richter Boggs dieses Gedicht. Es ging im Prozess um die Fra­ge, ob der Staat das Recht hat, Kinder und Jugendliche in der Schule mit konkurrierenden Wert-Sys­temen zu konfrontieren. Die Kläger waren sieben fundamentalistisch-religiös eingestellte Familien. Sie wollten verhindern, dass ihre Kinder an der Schule an einem Lese-Programm teilnehmen müs­sen, welches die gesellschaftliche Vielfalt an Auffassungen über das gute Leben aufzeigte. Sie be­gründeten ihre Forderung damit, dass es eine Einschränkung ihrer Religionsfreiheit wäre, wenn ihre Kinder in der Schule Werten ausgesetzt wären, die ihren eigenen entgegenstehen. Die Klage wurde abgewiesen(Stolzenberg 1993: 588).

Richter Boggs drückte seine „Traurigkeit“ über den Ausgang des Prozesses mit dem oben zitierten Gedicht aus, wenngleich er dem Ergebnis zustimmte. Seiner Meinung nach ist der Richterspruch der „circle that shut me (die Schüler_innen, F.M.) out“. Traurig machte ihn, dass die Schule nicht ein inklusiveres Kurrikulum auflegte, „a circle that drew him in“. Wie Nomi Maya Stolzenberg, die sich mit dem Prozess eingehend beschäftigt hat, und die in dieser Arbeit noch eine wichtige Rolle spielen wird, bemerkt, kann das Gedicht aber auch genau entgegengesetzt gelesen werden. Das Lese-Programm, auf das alle Schüler_innen verpflichtet werden, kann auch als der „circle that drew him in“, das Fernbleiben der Kinder vom entsprechenden Unterricht als „circle that shut me out“, nämlich von der Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft, interpretiert werden (ebd.: 584f).

Stolzenberg sieht in diesen beiden Interpretationsweisen die Paradoxie liberaler Erziehung ausge­drückt. Einerseits beruht diese auf kulturellem Pluralismus und staatlicher Neutralität bezüglich Fra­gen des guten Lebens. Andererseits ist sie inhaltlich an der Beförderung liberaler Werte wie Tole­ranz und Autonomie orientiert. Wenn Eltern diese Werte ablehnen und sich in ihrer Freiheit der Er­ziehung durch staatliche Werteerziehung eingeschränkt sehen, geraten beide Grundlagen liberaler Erziehung in Konflikt (ebd.: 585).

Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob es gerechtfertigt ist, im Ethik-Unterricht die Autono­mie von Schüler_innen zu befördern. Der Ethik-Unterricht ist in besonderer Weise geeignet, um die liberale Spannung zwischen Autonomie und Pluralismus zu zeigen. Hier geht es ganz zentral um Fragen des guten Lebens und des Zusammenlebens in der pluralistischen Gesellschaft. Wie in dem zitierten Gerichtsprozess wird auch hier die Spannung zwischen Pluralismus und Autonomie dann explizit, wenn Schüler_innen aus Elternhäusern, in denen Autonomie einen geringen Stellenwert hat, auf einen Ethik-Unterricht treffen, der explizit Autonomie befördert. Es besteht die Gefahr, dass sie sich in einem solchen Unterricht ausgeschlossen fühlen. Im Namen des Pluralismus könnte man ein inklusiveres Kurrikulum fordern, dass nicht explizit Autonomie befördert. Andererseits würde den Schüler_innen, die in ihren Elternhäusern nichts von Autonomie erfahren, damit Kenntnisse über den möglichen Beitrag von Autonomie zu einem guten Leben und zu Partizipationsmöglich­keiten an der Gesellschaft vorenthalten. Im Namen der Autonomie könnte man ein Kurrikulum for­dern, dass allen Schüler_innen (insbesondere denen aus Autonomie-aversen Elternhäusern) den möglichen Wert der Autonomie vermittelt. Stellt ein Autonomie-befördernder Ethik-Unterricht den „circle that shut me out“ oder den „circle that took him in “ dar ? Diese Frage möchte ich in dieser Arbeit diskutieren.

1.2. Vorgehensweise

In dieser Arbeit wird eine Anwendung von Stolzenbergs (1993) These der paradoxen liberalen Er­ziehung auf die Frage nach der Autonomie-Beförderung im Ethik-Unterricht vorgelegt. Sie hat die These vertreten, dass liberale Erziehung notwendig in einen Konflikt zwischen positiver Freiheit und negativer Freiheit gerät. Die drei von ihr diskutierten philosophischen Strömungen Liberalis­mus, bürgerlicher Republikanismus und Kommunitarismus stoßen letztlich alle auf dieselbe Parado­xie, weil sie auf beide der liberalen Freiheiten festgelegt sind und nicht einer Priorität einräumen können. Stolzenberg diskutiert die Frage, ob es richtig ist, dass der Staat Kinder aus Familien, die ein streng religiöses Leben führen und Autonomie ablehnen, in der Schule mit gesellschaftlichem Pluralismus konfrontiert, wenn damit die Fähigkeit ihrer Eltern einschränkt wird, ihre Kinder nach ihren eigenen Maßstäben zu erziehen. Die „philosophischen Ressourcen“ die sie diskutiert, erwei­sen sich für Stolzenberg als nicht hilfreich, um diese Frage zu beantworten, weil sie sich in die Pa­radoxie liberaler Erziehung verstricken (ebd.: 647). Wenn Stolzenbergs These der paradoxen libera­le Erziehung zutrifft, so ist zu erwarten, dass die „philosophischen Ressourcen“ auch bei der Dis­kussion der Fragestellung dieser Arbeit auf dieselbe Paradoxie stoßen.

Zuerst werden die Begriffe negative und positive Freiheit, Autonomie sowie Pluralismus erläutert (2. Abschnitt). Daraufhin wird gezeigt, inwiefern gerade der Ethik-Unterricht geeignet ist, um die li­berale Spannung zwischen Autonomie und Pluralismus aufzuzeigen (3. Abschnitt). Anschließend wird Stolzenbergs These der paradoxen liberalen Erziehung vorgestellt und auf meine Fragestellung angewandt (4. Abschnitt). In einer Prüfung verschiedener Positionen zu der Fragestellung der Arbeit wird gezeigt, dass sowohl diejenigen Autor_innen, die sich für, als auch diejenigen, die sich im In­teresse des Pluralismus gegen Autonomie-Beförderung im Ethik-Unterricht aussprechen, letztlich kompatible Positionen vertreten (5. Abschnitt). Danach wird eine Konzeption begrenzter Autono­mie-Beförderung vorgeschlagen, die sowohl mit dem Autonomie- als auch mit dem Pluralismus­Ideal vereinbar ist (6. Abschnitt). Zum Schluss der Arbeit werden schließlich mehrere Vorschläge gemacht, wie eine solche Form der Autonomie-Beförderung im Ethik-Unterricht praktisch aussehen könnte (7. Abschnitt).

2. Begriffsklärung

Zu Beginn der Untersuchung ist es notwendig, einige Begriffe einzuführen. Da ich die Frage nach der Vereinbarkeit von staatlicher Autonomie-Beförderung mit gesellschaftlichem Pluralismus von der Position Stolzenbergs ausgehend diskutiere, welche die Paradoxie liberaler Erziehung zwischen positiver und negativer Freiheit beschreibt, gehe ich auf folgende Begriffe ein: negative Freiheit, positive Freiheit, Autonomie und Pluralismus.

2.1. Negative undpositive Freiheit

Isiah Berlin (1969) hat zwischen zwei verschiedenen Interpretationen des Begriffs Freiheit unter­schieden. Während negative Freiheit in der Abwesenheit von Zwang besteht, ist positive Freiheit die Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln und nicht nur von inneren, unkontrollierbaren Bedürfnis­sen getrieben zu sein (Carter 2012). Bleiben wir zunächst bei der negativen Freiheit. Sie kann inso­fern als negativ bezeichnet werden, als sie die Abwesenheit von etwas einfordert, nämlich von äu­ßerem Zwang, der auf das eigene Handeln ausgeübt wird. Frei ist demnach eine Person, die ohne Behinderung ihren eigenen Zielen nachgehen kann (Berlin 1969.: 121f.). In der politischen Philoso­phie ist hier insbesondere die Freiheit von staatlichem Zwang gemeint. Ein liberaler Staat sollte die Freiheit seiner Bürgerinnen solange nicht beschränken, als deren Ausübung die Freiheit anderer nicht beeinträchtigt. Staatlicher Zwang ist nur dort gerechtfertigt, wo er die Freiheit einzelner Indi­viduen vor der Einschränkung dieser durch andere schützt.

Nun kann dem negativen Verständnis von Freiheit entgegnet werden, dass ein Individuum nur durch Abwesenheit von äußerem Zwang noch nicht frei ist, wenn sein Handeln stattdessen von inneren Zwängen determiniert ist. Ein Drogenabhängiger bspw. kann im Sinne der negativen Freiheit als frei bezeichnet werden, wenn er in einer Gesellschaft lebt, in derjedweder Drogenkonsum legal ist. Jedoch scheint er dennoch nicht frei zu sein, wenn sein Handeln nur noch davon getrieben ist, an Drogen zu kommen, und dadurch komplett bestimmt ist, ohne dass er Einfluss darauf nehmen kann. Statt um die Abwesenheit (von äußerem Zwang) geht es bei der positiven Freiheit um die Präsenz von etwas, nämlich von Selbstkontrolle (Carter 2012). Frei ist demnach derjenige, der sich seinen Bedürfnissen gegenüber selbstbestimmt verhält und aktiv wählt, welchen Bedürfnissen er Raum ge­ben möchte und welchen nicht (Berlin 1969: 121f.). Freiheit besteht in einer Überordnung von Ra­tionalität über Triebe. Vertreterinnen des positiven Begriffsverständnis von Freiheit befürworten staatliche Intervention zugunsten der Ausbildung positiver Freiheit.

Das negative Begriffsverständnis von Freiheit birgt die Gefahr, dass Menschen für frei gehalten werden, deren Handeln in Wirklichkeit völlig durch die eigenen inneren Triebkräfte bestimmt wird. Dem liberalen Staat liefert ein solches Begriffsverständnis keine Rechtfertigung, die Selbstbe­stimmtheit dieser Menschen zu befördern. Dies hat möglicherweise negative Konsequenzen sowohl für das gute Leben der Betroffenen[1] als auch für die Gesellschaft. Liberale Gesellschaften sind im­mer auch demokratische und leben davon, dass Staatsbürgerinnen sich selbstbestimmt der öffentli­chen Angelegenheiten annehmen.

Das positive Begriffsverständnis birgt, wie auch Berlin festgestellt hat, die Gefahr des Autoritaris- mus (Carter 2012). Es geht davon aus, dass ein Individuum dann frei ist, wenn es sich selbstbe­stimmt bezüglich der eigenen Bedürfnisse verhält. Da Rationalität aber ungleich verteilt ist, wissen nur einige von dem Wert der Selbstbestimmung. Nun kann argumentiert werden, dass rationaler denkende Menschen besser wissen, was gut für die weniger rational denkenden ist, als diese selbst. So kann eine paternalistische Position damit gerechtfertigt werden, dass letztere von ihren irrationa­len Bedürfnissen befreit werden müssen. “And once I take this view, I am in a position to ignore the actual wishes of men or societies, to bully, oppress, torture in the name, and on behalf, of their ‘real’ selves, in the secure knowledge that whatever is the true goal of man [...] must be identical with his freedom” (Berlin 1969: 132f.).

2.2. Autonomie und Pluralismus

Was haben nun Autonomie und Pluralismus, um deren Spannungsverhältnis es in dieser Arbeit geht, mit den beiden Begriffsverständnissen von Freiheit zu tun? Was Autonomie betrifft, so wird sie in der philosophischen Diskussion oft in einem Atemzuge mit der positiven Freiheit genannt (Carter 2012). Ein mögliches Verständnis von Autonomie ist nämlich Freiheit von inneren Zwängen oder Freiheit des Wollens (vgl. Meyer 2011: 22), welches übereinstimmt mit der oben gegebenen Definition positiver Freiheit. Daneben kann Autonomie aber auch ganz andere Bedeutungen haben. Zu unterscheiden ist hier zunächst zwischen moralischer und personaler Autonomie. Moralische Autonomie stellt in kantischer Tradition die Fähigkeit dar, sich selbst ein moralisches Gesetz zu ge­ben, anstatt dieses nur von anderen zu empfangen. Bei der personalen Autonomie hingegen geht es um die Fähigkeit, Entscheidungen bezüglich des eigenen Lebensweges eigenständig und selbstbe­stimmt zu treffen, ungeachtet eines bestimmten moralischen Inhaltes (Dryden 2010). Diese Arbeit diskutiert, ob Autonomie-Beförderung im Ethik-Unterricht philosophisch zu rechtfertigen ist. „Im Mittelpunkt der Ethik steht“, so der Rahmenlehrplan Ethik des Landes Berlin, „das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zur Mitwelt und zur Umwelt und damit die Frage: 'Was ist ein gutes Leben und wie kann man es führen?'“ (Senatsverwaltung 1996: 9). Im Ethik-Unterricht geht es weniger um die Frage danach, was moralisch richtig und was moralisch falsch ist, sondern um die kritische Reflexion der Vorstellung vom guten Leben, die das eigene Handeln und das Anderer prägen. Des­halb wird unter Autonomie im Folgenden personale Autonomie verstanden.

Weiterhin kann beim Begriffsverständnis von Autonomie unterschieden werden zwischen der Auto­nomie des Handelns, der Autonomie des Wollens und der Autonomie des Meinens (Meyer 2011: 16). Selbstbestimmung kann demnach in dreierlei Hinsicht eingeschränkt sein. Stehen bestimmte elementare Lebensmöglichkeiten, die für die Realisierung vieler möglicher Ziele erforderlich sind und daher zu einem „angemessenen Spektrum an Handlungsmöglichkeiten“ (ebd.: 22) zählen, nicht zur Verfügung, ist die Autonomie eines Individuums klar eingeschränkt. Neben dem Handeln und dem oben schon angesprochenen Wollen kann die Autonomie eines Individuums schließlich auch durch unreflektiertes Meinen beschränkt sein. Kannjemand für seine Meinungen und Wertvorstel­lungen keine Gründe angeben und ist auch völlig im Unklaren über mögliche Alternativen zu ihnen, so kann sein Meinen kaum als selbstbestimmt bezeichnet werden.[2] Der Ethik-Unterricht kann insbe­sondere der Ausbildung der Autonomie des Wollens und Meinens zuträglich sein. Während andere Fächer Kenntnisse vermitteln, die grundlegend für die Realisierung verschiedenster Ziele sind, z.B. Schreiben, Rechnen oder Fremdsprachen, und damit zur Ausbildung der Autonomie des Handelns beitragen, kann der Ethik-Unterricht zur Ausbildung einer eigenen Konzeption des guten Lebens und einer eigenen Meinung anregen. Die Einschränkung von Autonomie durch äußere Zwänge kann Schule selbst nicht verhindern. Es ist die Aufgabe anderer staatlicher Institutionen mit ausgeprägte­ren Zwangsinstrumenten bei sehr weitgehenden Einschränkungen der Autonomie von Kindern und Jugendlichen, etwa durch ihre Eltern, einzuschreiten.[3]

Schließlich wird unterschieden zwischen inhaltlich neutralen und substanziellen Verständnissen von Autonomie. Für die Vertreterinnen der ersten Position äußert sich Autonomie in dem Prozess der Ausbildung einer Konzeption des guten Lebens, der kritisch-reflektiert sein sollte, um als autonom zu gelten. Die Vertreterinnen des substanziellen Verständnisses von Autonomie hingegen legen auch inhaltliche Maßstäbe an eine autonome Lebensführung an. Ein autonomes Leben äußert sich demnach in der Orientierung an bestimmten universell gültigen Normen wie z.B. der Menschen­würde (Dryden 2010). Dem Ethik-Unterricht liegt, wie im nächsten Abschnitt noch gezeigt wird, ein inhaltlich neutrales Verständnis von Autonomie zu Grunde. Würde er Autonomie im Sinne des substanziellen Verständnisses befördern, würde er meiner Meinung nach in Konflikt mit dem Plura- lismus geraten.

Bei der Frage, ob der Ethik-Unterricht Autonomie befördern soll, meine ich mit Autonomie die Fä­higkeit einer Person, ihr Leben in einem angemessenen Maße selbst zu bestimmen. Dies beinhaltet die Abwesenheit von inneren Zwängen, die das eigene Wollen und Meinen in einem hohen Maße determinieren.

Während der Autonomiebegriff, der in dieser Arbeit verwendet wird, mit der positiven Freiheit ver­wandt ist, stellt Pluralismus eine wesentliche Ausprägung der negativen dar. Die Einsicht in die Vielfältigkeit menschlicher Auffassungen vom guten Leben und die rationale Unentscheidbarkeit der Frage, welche die richtige sei, war ein wesentlicher Motor der Forderung nach der staatlichen Neutralität bezüglich Fragen des guten Lebens, etwa bei Mill. Noch bei Rawls findet sich dieses Ar­gument wieder, wenn dieser aus dem „Faktum des Pluralismus“ folgert, dass eine Theorie der Ge­rechtigkeit nur den „regulierenden Rahmen“ vorgeben könne, innerhalb dessen Individuen ihre Vor­stellungen vom guten Leben (comprehensive doctrines of the good) artikulieren können (Rawls 1992: 298). Dieser regulierende Rahmen ist aber wichtig, denn Pluralismus besteht nicht nur in der Pluralität von Vorstellungen des guten Lebens sondern in dem Zusammenleben von Menschen viel­fältigster Prägung. Um dieses zu ermöglichen, bedarf es einer schlichtenden Instanz bei Interessen­Konflikten und einer pluralistischen Kultur, die sich in der Bereitschaft zu Kompromissen und Tole­ranz äußert. In einer liberalen Gesellschaft übernimmt der Staat Aufgaben im Diversity Manage­ment und trägt durch seine Bildungsinstitutionen zur Ausbildung einer pluralistischen Kultur bei - der Ethik-Unterricht ist eines der staatlichen Instrumente mit dieser Funktion.

Unter Pluralismus verstehe ich in dieser Arbeit ein Grundideal der liberalen Gesellschaft, nachdem jedes Mitglied der Gesellschaft seiner Vorstellung vom guten Leben solange uneingeschränkt durch staatliche Intervention nachgehen kann, als es nicht in Konflikt mit anderen Mitgliedern kommt. Konflikte sollten mittels schlichtender Institutionen und auf Grundlage einer pluralistischen Kultur gelöst werden können.

3. Autonomie und Pluralismus im Ethik-Unterricht

Der Ethik-Unterricht stellt ein gutes Beispiel dar, um das Spannungsfeld von Autonomie und Plura­lismus im staatlichen Erziehungswesen aufzuzeigen. Der Grundgedanke der Autonomie liegt ihm genauso zu Grunde wie der des Pluralismus.

Die meisten Unterrichtsfächer tragen zur Ausbildung von Autonomie bei. Wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, geht es in Fächern wir Mathematik, Naturwissenschaften oder Fremdsprachenunter­richt vor allem um die Autonomie des Handelns. Durch vielfältige grundlegende Kenntnisse ver­schiedener Wissensbereiche werden das Spektrum an Handlungsmöglichkeiten vergrößert, denen Schüler_innen in ihrem Leben nachgehen können. Damit sei nicht gesagt, dass diese Fächer nicht auch anderen Zielen dienen, wie der Vorbereitung auf das Berufsleben, der Sozialisation in eine be­stimmte nationale Kultur oder der Gesundheit. Der Ethik-Unterricht unterscheidet sich von ihnen jedoch darin, dass hier weniger Wissen und Fähigkeiten vermittelt werden, die instrumentell für ein autonomes Leben sind. Vielmeht lernen Schüler_innen im Ethik-Unterricht, Autonomie auszuüben, indem sie eine eigene Vorstellung vom guten Leben in der kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst, der Mitwelt und der Umwelt ausbilden. Damit ist nicht gesagt, dass Schüler_innen eine be­stimmte Autonomie-betonte Vorstellung vom guten Leben nahe gebracht werden soll. Dies würde mit der Vorgabe des Rahmenlehrplans der weltanschaulichen Neutralität kollidieren (Senatsverwal­tung 1996: 10). Vielmehr wird der Prozess der Ausbildung einer eigenen Vorstellung vom guten Le­ben im Rahmenlehrplan als autonom beschrieben. Erstens wird die eigenständige Festlegung auf eine Konzeption des guten Lebens betont: „Die Ethik geht davon aus, dass alle Menschen [...] das Recht haben, selbstständig und bewusst entscheiden zu können, was das eigene Leben zu einem gu­ten, sinnvollen und wertvollen, kurz: zu einem gelingenden Leben macht.“ Zweitens soll diese durch „kritische Prüfung vorgefundener Entwürfe für gelingendes Leben, der Leitbilder und Hand­lungsnormen (Ethos)“ ausgebildet werden: „Nur ein reflektiertes Leben ist ein wirklich eigenes.“ (ebd.: 9f.) Der Ethik-Unterricht befördert somit eine inhaltlich neutrale, nicht eine substanzielle Vorstellung von Autonomie.

Neben der Autonomie ist der Ethik-Unterricht aber auch in besonderem Maße dem Pluralismus ver­pflichtet. „Unsere Gesellschaft ist durch die Pluralisierung der Lebensformen, der sozialen Bezie­hungen und der Wertvorstellungen gekennzeichnet sowie durch das Zusammenleben von Menschen verschiedener Ethnien und Kulturen mit unterschiedlichen religiösen Vorstellungen und Weltan­schauungen.“ heißt es im Rahmenlehrplan (ebd.: 10). Dabei ist die Aufgabe des Ethik-Unterrichts erstens „allgemein akzeptable Handlungsnormen zu begründen“ und eine „Verständigung über einen Minimalkonsens (etwa über die Achtung der Menschenwürde)“ zu befördern. Das heißt im Ethik-Unterricht soll eine Verständigung über das Gemeinsame stattfinden. Zweitens soll er „auf die Ausbildung einer dialogischen Gesprächskultur, in der Konsens angestrebt sowie Dissens akzeptiert und ausgehalten wird“ hinwirken und zur Ausbildung von „Toleranz und Achtung anderer Überzeu­gungen“ beitragen (ebd.: 9f.). Das heißt im Ethik-Uunterricht soll auch die Verschiedenheit ihren Platz haben. Pluralistische Vorstellungen vom guten Leben sollen hier artikuliert werden. Der Ethik­Unterricht nimmt eine Sonderstellung unter den Schulfächern ein, insofern hier gleichzeitig Fähig­keiten erworben werden, die für das Leben in der pluralistischen Gesellschaft in besonderem Maße wichtig sind, und die gesellschaftliche Pluralität bezüglich unterschiedlicher Vorstellungen vom gu­ten Leben zum Thema des Unterrichts wird.

Ich habe aber von einem Spannungsfeld von Autonomie und Pluralismus gesprochen. Die Spannun­gen zwischen beiden Grundgedanken des Ethik-Unterrichts möchte ich anhand einer Diskussion von Nomi Maya Stolzenbergs (1993) Ausführungen über die Paradoxie liberaler Erziehung heraus­stellen.

4. Die Paradoxie der liberalen Erziehung

4.1. Liberalismus

Die Paradoxie, von der Stolzenberg spricht, macht sie zunächst innerhalb der liberalistischen Tradi­tion aus. Der eingangs zitierte Gerichtsprozess, „crystallizes (so Stolzenberg, EM.) the paradox of tolerance for the intolerant“ (ebd.: 584). Die Paradoxie besteht darin, dass die liberalistische Traditi­on einerseits Wert darauf legt, dass sich der Staat neutral, d.h. tolerant gegenüber der Pluralität an Auffassungen über das gute Leben verhält. Indem sie aber Toleranz selbst zum Wert erhebt und dar­aufbesteht, dass dieser in schulischen Kurrikula Platz finden soll, verhält sie sich notwendig intole­rant gegenüber denjenigen, die den Wert der Toleranz nicht anerkennen und den Bestand ihrer Kul­tur durch „Indoktrination der Toleranz“ (ebd.: 586) gefährdet sehen. So geraten in der staatlichen Erziehung beide Freiheiten in Konflikt, wenn das Lehren von Toleranz von Eltern als Eingriff in ihre negative Freiheit verstanden wird, ihre Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen zu erziehen.

Wenden wir Stolzenbergs These auf die Frage nach der staatlichen Autonomie-Beförderung im Ethik-Unterricht an, so stellt sich die Paradoxie wie folgt dar: Liberale fordern einerseits, dass Indi­viduen in der Verfolgung ihrer jeweils eigenen Konzeption des guten Lebens frei von staatlichem Zwang sein sollten. Ethik-Unterricht sollte demnach keine partikulare Konzeption des guten Lebens favorisieren. Auch die Konzeption der Autonomie ist insofern partikular, als sie nicht von allen In­dividuen geteilt wird. Gleichzeitig sieht der Liberalismus in der Autonomie die Voraussetzung da­für, eine eigene Konzeption des guten Lebens auszubilden. Ganz im Gegensatz zu der oben aufge­stellten Forderung müsste Ethik-Unterricht Autonomie befördern, damit Schüler_innen ihre Kon­zeption des guten Lebens unabhängig von äußeren Einflüssen ausbilden können, insbesondere auch in Unabhängigkeit von elterlichen Einflüssen.

4.2. BürgerlicherRepublikanismus

Die von Stolzenberg als bürgerlicher Republikanismus bezeichnete Theorieschule meint, den Kon­flikt zwischen positiver und negativer Freiheit darin zu lösen, dass sie der Kritik der fundamentalis­tischen Gegner_innen staatlicher Autonomie-Beförderung zustimmt, dass liberale Erziehung eine Indoktrination liberaler Werte wie Toleranz und Autonomie beinhaltet, dies jedoch als ein Gut an­sieht, das der Staat mittels Erziehung legitimer Weise bezwecken kann (ebd.: 641ff.). Die Vermitt­lung liberaler Werte, deren Partikularität eingeräumt wird, wird mit dem Verweis auf das staatliche Interesse an Staatsbürgerinnen legitimiert, die durch kritisches Denken, objektives Urteils- und ra­tionales Entscheidungsvermögen sowohl Willensfreiheit erlangen als auch fähig sind, an der demo­kratischen und pluralistischen Gesellschaft zu partizipieren (ebd.: 659). Da der Staat in einer libera­len Gesellschaft ein Interesse an autonomen Staatsbürgerinnen hat, darf er auch mittels seiner Er­ziehungsorgane die Ausbildung von Autonomie befördern.

Stolzenberg gesteht zu, dass eine klare Priorisierung der positiven Freiheit zu Ungunsten der negati­ven Freiheit Konflikte zwischen beiden vermeiden könnte. Eine derart radikale Position würde, so Stolzenberg, jedoch kaum vertreten, denn sie erfordert eine klare Priorisierung staatlicher Interessen gegenüber denen des Individuums sowie eine objektivistische Aussage über das Gute Leben, die rechtfertigt, warum staatliche Institutionen die liberalistischen Werte und nicht andere favorisieren. Faktisch vertreten alle bürgerlichen Republikanerinnen eine Position, nach der positive und negati­ve Freiheit als sich ergänzende und „equally necessary guarantees“ angesehen werden (ebd.: 656f.).

Damit stößt aber auch der bürgerliche Republikanismus auf die Paradoxie liberaler Erziehung, denn die Inhalte bürgerlicher Erziehung sind liberaler Natur und beinhalten Freiheit und Toleranz. Das heißt, dass in den Inhalten bürgerlicher Erziehung selbst die Paradoxie zwischen positiver und nega­tiver Freiheit wieder auftaucht. Einerseits wird den Schülerinnen vermittelt, dass sie frei von äuße­rem Zwang ihrer eigenen Konzeption des guten Lebens nachgehen sollen (negative Freiheit), doch andererseits wird Druck auf sie ausgeübt, einer bestimmten Konzeption des guten Lebens, nämlich der liberalen, den Vorzug zu geben und damit ihre „positive Freiheit“ auszubilden (ebd.: 655f.).

In Bezug auf die Frage nach Autonomie-Beförderung im Ethik-Unterricht scheint also auch der bür­gerlicher Republikanismus keinen Ausweg aus der Paradoxie zu weisen. Diesem Ansatz nach könn­te das gesellschaftliche Interesse an liberal eingestellten Individuen geltend gemacht werden, um für Autonomie-Beförderung im Unterricht zu argumentieren. Die liberalen Inhalte der Erziehung wür­den dann aber genau dieser Praxis der Wertevermittlung widersprechen. Schule kann nicht Freiheit und Autonomie des Individuums lehren und gleichzeitig die Freiheit des Individuums zugunsten des staatlichen Interesses zurückstellen.

4.3. Kommunitarismus

Viele der fundamentalistischen Gegnerinnen staatlicher Autonomie-Beförderung haben sich, so Stolzenberg, die Rhetorik des Kommunitarismus zu eigen gemacht. Insbesondere dessen emphati­sches Plädoyer für das Recht auf kulturellen Selbsterhalt von sogenannten konstitutiven Gemein­schaften (constitutive communities) ist attraktiv für gesellschaftliche Gruppen, die ihre kulturelle Identität durch staatliche Institutionen und deren assimilierende Wirkung gefährdet sehen (ebd.: 660f.). Wie Stolzenberg zeigt, ist der Kommunitarismus aber auch daran interessiert, die demokrati­sche Gesellschaft stärker mit geteilten Werten zu unterfüttern. Insofern der Kommunitarismus un­entschieden ist, ob der kulturelle Selbsterhalt gesellschaftlicher Gruppen oder gesamtgesellschaft­lich geteilte bürgerliche Werte befördert werden sollen, begegnet auch er derselben Paradoxie wie die anderen Theorieschulen. Wo gemeinschaftliche Werte in Konflikt mit bürgerlichen Werten kom­men, könnte der Kommunitarismus nur eine Lösung bieten, wenn er erstere den letzteren klar über­ordnete. Wenige Kommunitarist_innen haben jedoch für eine klare Priorisierung argumentiert. Je­doch bestünde damit eine Möglichkeit, die Paradoxie aufzulösen (ebd.: 660-664).

Allerdings stellt Stolzenberg auch diese Perspektive in Frage. Ihrer Auffassung nach beruht der Kommunitarismus, wie die beiden anderen Theorieschulen auch, auf derselben Grundannahme ei­nes wertneutralen Subjektivismus, der sich mit Aussagen über das Gute Leben zurückhält und sie nicht zur Grundlage staatlichen Handelns machen will. Alle drei verneinen damit die Auffassung der Fundamentalist_innen, dass Wissen objektiv ist und der religiösen Wahrheit entspricht. Indem auch der Kommunitarismus die grundlegende Vielfalt an Lebensstilen und Auffassungen vom guten Leben voraussetzt, kann er fundamentalistische Positionen nicht einschließen (ebd.: 664f.).

Auf Grundlage einer kommunitaristischen Argumentation könnte gegen Autonomie-Beförderung im Ethik-Unterricht argumentiert werden, wenn gemeinschaftliche über gesellschaftliche Werte gestellt würden. Dies würdejedoch die Legitimation eines schulischen Ethik-Unterrichtes insgesamt infrage stellen, denn es würde keinen Sinn machen, über geteilte Werte zu diskutieren, wenn der liberale Staat von vornherein ausschließlich darauf festgelegt wäre, gemeinschaftliche Werte vor Assimilati­on zu schützen. Der Kommunitarismus ist aber gerade auch an einem gestärkten gesellschaftlichen Zusammenhalt durch Identifikation mit geteilten Werten interessiert. Der Ethik-Unterricht ist hin­sichtlich dieses Ziels ein wichtiges Mittel und wird auch von Kommunitarist_innen dafür in An­spruch genommen. Auf die Frage danach, wie im Ethik-Unterricht mit Konflikten zwischen ge­meinschaftlichen und von staatlicher Seite für beförderungswürdig gehaltenen Werten wie Autono­mie und Toleranz umzugehen ist, gibt auch der Kommunitarismus keine befriedigende Antwort.

Auch die These des allen drei Positionen zugrunde liegenden Subjektivismus ist für die Frage nach der Autonomie-Beförderung im Ethik-Unterricht interessant. Selbst wenn Autonomie nur als ein mögliches Element des guten Lebens im Unterricht diskutiert wird, setzt die grundsätzliche Offen­heit des Ethik-Unterrichtes bezüglich verschiedener Konzeptionen des guten Lebens insofern schon voraus, dass Schüler_innen sich eine eigene, d.h. autonome Meinung bezüglich ihrer Vorstellung des guten Lebens bilden sollen. Die Diskussion der Autonomie-Beförderung als legitimes Ziel des Ethik-Unterrichts sollte sich nicht nur auf die Frage nach gezielter Beförderung der Autonomie kon­zentrieren, sondern auch die impliziten Grundlagen des Ethik-Unterrichts untersuchen.

[...]


[1] Voraussetzung für eine solche Folgerung ist die Annahme, dass ein gewisser Grad an Selbstbestimmung zum guten Leben dazu gehört. Wie schlüssig eine solche Annahme ist, werde ich im Abschnitt 5.2. diskutieren.

[2] Meyer spricht damit den Anhängern bestimmter religiöser Glaubenssätze, die für diese keiner Begründung bedürften, weil sie göttliche Wahrheiten darstellen, Autonomie nicht rundweg ab. Unter der Voraussetzung, dass sie über mögliche Alternativen zu diesen informiert sind, kann ihr Leben durchaus in einem grundlegenden Grade als autonom bezeichnet werden (Meyer 2011: 32).

[3] So kann das Jugendamt etwa bei sehr schwerwiegenden Einschränkungen der Autonomie von Kindern durch ihre Eltern eine Kindeswohlgefahrdung feststellen und eine Verhaltensänderung von Eltern unter Zwang einfordern. Die Schule kann nur in geringerem Maße auf das Verhalten von Eltern einwirken, etwa durch Elternbildung, und verfügt ihnen gegenüber über keine Zwangsinstrumente.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Der Beitrag des Ethikunterrichts zu einer autonomen Lebensführung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Philosophie)
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
41
Katalognummer
V272869
ISBN (eBook)
9783656653226
ISBN (Buch)
9783656653196
Dateigröße
590 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
autonomie, ziel, ethik-unterrichts, liberale, erziehung, spannungsfeld, pluralismus
Arbeit zitieren
Felix Mayer (Autor:in), 2012, Der Beitrag des Ethikunterrichts zu einer autonomen Lebensführung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272869

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