'Der kaukasische Kreidekreis' von Bertolt Brecht als Drama des epischen Theaters


Ausarbeitung, 2014

23 Seiten


Leseprobe


"Der kaukasische Kreidekreis" von Bertolt Brecht als Drama des epischen Theaters

1. Zum Inhalt und Aufbau des Stückes

Ein "Doppel-Drama"

"In alter Zeit, in blutiger Zeit ..." Mit diesen Worten eröffnet der Sänger Arkadi Tscheidse im ersten Akt von Bertolt Brechts Theaterstück "Der kaukasische Kreidekreis"[1] seinen Bericht über ein Geschehen aus dem mittelalterlichen Grusinien (Georgien), das sich in der Stadt Nukha am Südhang des östlichen Kaukasus abgespielt hat. Wie im Märchen wird der Zeitraum nur vage umrissen und bleibt ungewiss. Die Lebensverhältnisse in dieser Stadt werden durch das strenge Regiment des Gouverneurs Georgi Abaschwili bestimmt, der vom Sänger als grausame Herrscher- und Ausbeuterfigur, "reich wie der Krösus" (101), vorgestellt wird. Die eigentliche Erzählung beginnt mit einer genaueren Zeitangabe: "An einem Ostersonntagmorgen ..." (ebd.). An diesem Ostersonntagmorgen begibt sich der Gouverneur in die Kirche und wird von seiner "aus edlem Geschlecht" (ebd.) stammenden Frau Natella sowie einem "kerngesunden Kind" (ebd.) namens Michel begleitet. Dieses Geschehen markiert den Ausgangspunkt zweier parallel verlaufender Handlungsstränge des Dramas (die Grusche-Handlung und die Azdak-Handlung), die aber nacheinander geschildert werden, und zwar so, dass das Geschehen nach der Grusche-Handlung zum Ausgangspunkt zurückkehrt, um dann mit der Azdak-Handlung neu anzusetzen. Beide Handlungsstränge werden im 5. Akt ("Der Kreidekreis") wieder zusammengeführt. Daher kann man mit Henning Rischbieter von einem "Doppel-Drama" sprechen (zitiert nach Payrhuber, 99).

Grusche-Handlung (Akte 1 - 3)

Nach den knappen einführenden Worten des Sängers handelt es sich um eine Zeit voller Entbehrungen und Gewalt, die - wie der Leser / Zuschauer gleich darauf erfährt - durch einen gnadenlosen Macht- und Unterdrückungsapparat selbstherrlicher Feudalherren bestimmt wird, deren willige Vollstrecker, die Panzerreiter, zum lebenden Symbol dieses unmenschlichen Systems werden. Im Wechsel zwischen Sängervortrag und szenischer Darstellung erzählen die Akte 1 - 3 die Geschichte des Küchenmädchens Grusche Vachnadze, die sich mit dem Soldaten Simon Chachava verlobt hat, von ihm aber kurz darauf durch die Kriegswirren dieser unruhigen Zeit getrennt wird. Während der Gouverneur mit seiner Familie die Kirche besucht, wird die Stadt Nukha von einem Aufstand der Fürsten gegen den Großfürsten des Landes und seine Gouverneure heimgesucht. Nach dem Verlassen der Kirche wird Georgi Abaschwili verhaftet und kurz darauf hingerichtet. Seine Frau Natella rafft ihre Kleider und Kostbarkeiten an sich und kann im letzten Moment entkommen, vergisst in der Eile aber ihr Kind. Grusche nimmt sich des Kindes an, versorgt es liebevoll und flieht mit ihm ins nördliche Gebirge zu ihrem Bruder Lavrenti und dessen Frau Aniko. Damit sie einen Vater für das Kind vorweisen kann, arrangiert ihr Bruder, der sie nur unwillig aufgenommen hat, eine Heirat mit Jussup, einem angeblich todkranken Simulanten, der sich vor dem Kriegsdienst drücken will. Bald darauf geht der Krieg zu Ende. Die Rebellion der Fürsten wurde niedergeschlagen, so dass das vorherige Unterdrückungsregime des Großfürsten wieder hergestellt wird. Grusches Verlobter Simon taucht wieder auf und Natella Abaschwili, die Frau des ermordeten Gouverneurs, meldet ihren Anspruch auf das Kind an, um dessen Anrecht auf das Erbe ihres Mannes zu sichern.

Azdak-Handlung (Akt 4)

Der zweite Handlungsstrang, die Azdak-Erzählung oder "Die Geschichte des Richters" im 4. Akt, beginnt ebenfalls an jenem Ostersonntag, als die Fürsten des Landes den Großfürsten stürzten und der Gouverneur Abaschwili ermordet wurde. Auch hier handelt es sich um eine "blutige" Geschichte, in deren Mittelpunkt der arme Dorfschreiber Azdak steht, nach Brechts eigenen Worten der "niedrigste, verkommenste aller Richter" (AJ 650, zit. nach Payrhuber, 101), aber auch "ein völlig lauterer Mann, ein enttäuschter Revolutionär, der einen verlumpten Menschen spielt, so wie beim Shakespeare die Weisen Narren spielen" ("Zu 'Der kaukasische Kreidekreis'", in: GBA 24, 345) - anders ausgedrückt: eine zwielichtige, vielschichtige und widersprüchliche Figur, die viel Raum für eine große Bandbreite widersprüchlicher Deutungsansätze lässt. Da der frühere Richter der Stadt während der Fürstenrebellion von aufständischen Webern gehängt wurde (vgl. 1. Akt, 112), wird Azdak von den Panzerreitern - nachdem sie gedroht haben, auch ihn aufzuhängen, weil er unwissentlich dem geflohenen und als Bettler verkleideten Großfürsten des Landes in seiner Hütte Unterschlupf gewährt hat - aus einer Laune heraus zum Richter ernannt.

Kreidekreis-Probe (Akt 5)

Der 5. Akt ("Der Kreidekreis") steht ganz im Zeichen des Prozesses der Gouverneursfrau , die des Erbes wegen ihr Kind zurückfordert, gegen Grusche, die sich aufopfernd um das Kind gekümmert, viele Strapazen auf sich genommen und sogar ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat, um das von den Panzerreitern als Nachkomme des Gouverneurs verfolgte Kind zu beschützen. Gegen den auf die "Bande des Blutes" (5. Akt, 177) gegründeten Besitzanspruch der Mutter und gegen das herrschende (geschriebene) Recht, spricht der Richter Azdak das Kind der Magd Grusche zu, nachdem diese in der zweimaligen Kreidekreisprobe ihre Sorge um das Wohl des Kindes und ihre wahre Menschlichkeit erneut bewiesen hat, indem sie das Kind loslässt, während es die leibliche Mutter, um den Erbanspruch zu sichern, selbstsüchtig an sich reißt. Auf diese Weise wird der "Armeleuterichter Azdak" zu einer Symbolgestalt, der es gelingt, in "einer kurzen / Goldenen Zeit beinah der Gerechtigkeit" (185) sich für die Rechte der "Armen und Unterdrückten" einzusetzen, indem er durch seinen Richterspruch "den korrekten Austeilern des Unrechts in der bürgerlichen Gesellschaft" die Figur eines "unkorrekten Austeilers des Rechts" entgegenstellt (Elisabeth Hauptmann: "Der Armeleuterichter Azdak", in: Mat, 136 f.).

Vorspiel

Der Sänger, der das Dramengeschehen zu Beginn des 1. Aktes eröffnet und einleitet, erscheint bereits im "Vorspiel" des Stückes, wo er als Regisseur eines "Theaterstücks" ("Vorspiel", 99) vorgestellt wird, das er mit einigen Dorfbewohnern einstudiert hat und den Bewohnern eines Nachbardorfes vorführen will. Das Vorspiel bildet einen weiteren Handlungsstrang und ist - im Unterschied zu den beiden anderen Handlungssträngen - in einer konkreten historischen Zeit verankert. Es handelt sich um ein Geschehen am Ende des zweiten Weltkriegs, als es der Roten Armee gelungen war, die von den Deutschen eroberten Gebiete des Kaukasus zu befreien und damit die Hoffnung auf einen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland neuen Auftrieb erhielt. Das Vorspiel kann als ein Modell

aufgefasst werden, mit dem gezeigt werden soll, dass menschliches Verhalten auch in Zeiten des Krieges gesellschaftliche Realität werden kann.

Produktivitätssteigerung zum Wohle der Gemeinschaft

Inhaltlich geht es um die Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedern des "Kolchos Galinsk", die als Ziegenzüchter in einem Tal gelebt hatten, aus dem sie von den deutschen Truppen vertrieben worden waren, und den Mitgliedern des "Kolchos Rosa Luxemburg", die das Tal gegen die Deutschen verteidigt hatten und als Obstbauern ein Bewässerungsprojekt entwickelt haben, mit dem sie das Tal für den Obst- und Weinanbau nutzen wollen. Das Gespräch zwischen den beiden Parteien findet in ausgesprochen sachlicher und freundschaftlicher Atmosphäre statt, wobei vernünftige Argumente ausgetauscht werden und es zu einer Einigung kommt, die von beiden Seiten akzeptiert wird und von der beide profitieren. Dabei zeigt sich, dass Heimatliebe, angestammte Besitzverhältnisse, alte Traditionen und überkommenes Recht ihre Gültigkeit als überzeugende Argumente verloren haben. Angesichts einer neu zu schaffenden Gesellschaftsordnung ist das entscheidende Kriterium die Steigerung der Produktivität bzw. die Nützlichkeit des geplanten Vorhabens für die Gemeinschaft. Hier gibt es kein Gefälle zwischen Herrschenden und Beherrschten mehr. Eine Gesellschaft gleichberechtigter Mitglieder diskutiert auf gleicher Augenhöhe , tauscht Argumente aus und fällt eine Entscheidung, die sich zum Wohle aller auswirken wird. Sie haben eine Form des menschlichen Umgangs und des Interessenausgleichs gefunden, die aus der Perspektive des mittelalterlichen Georgien betrachtet noch utopisch erschien. Danach begründen Macht und soziale Stellung kein Besitzrecht. Ansprüche bestehen nicht von vornherein und werden nicht vererbt. Sie müssen vielmehr durch gesellschaftlich produktives Verhalten erworben und begründet werden. Von hier aus betrachtet zeichnet sich eine Verbindungslinie zur Grusche- und Azdak-Erzählung ab, die durch Grusches selbstloses Verhalten und das weise Urteil des "Armeleuterichters Azdak" einen Hoffnungsschimmer aufblinken lässt, in einer längst vergangenen "alten, blutigen Zeit", die durch die Grausamkeit und Unmenschlichkeit einer brutalen Herrscherkaste geprägt wurde. Durch diese beiden Handlungsstränge wird eine Gesellschaft vorgeführt, die aus der gegenwärtigen Perspektive der Kolchosbauern gesehen als überwunden gelten kann.

Sänger als Regisseur des "Spiels im Spiel"

Das Vorspiel bildet also den Rahmen für das unter der Leitung des Sängers und Regisseurs aufgeführte "Theaterstück", das somit zu einem Stück im Stück oder einem "Spiel im Spiel" wird und eine wichtige Schlüsselfunktion bekommt.[2] Im weiteren Geschehen gibt es wiederholt Episoden, die ebenfalls als Spiel im Spiel gelten können, beispielsweise im 2. Akt, wo Grusche - in den Brokatmantel der Gouverneursfrau gehüllt - eine feine Dame spielt (vgl. 118 ff.), oder im 3. Akt, wo Michel mit anderen Kindern das makabere "Kopf-ab-Spiel" spielt, bei dem er groteskerweise die Rolle des Gouverneurs zugewiesen bekommt (vgl. 146 ff.). Albrecht Schöne spricht in diesem Zusammenhang daher auch vom "Spiel innerhalb des Spiels

im Spiele" (zitiert nach Duchardt, 92). Brecht hatte jedoch nicht die Absicht, mit der Fabel des "Kaukasischen Kreidekreises" ein Lösungsmodell für die "Klärung des Streitfalls" (GBA 24, 342) im Vorspiel anzubieten, sondern er wollte mit dem Vorspiel einen "Hintergrund" (ebd.) für eine Erzählung schaffen, "die in sich selbst nichts beweist, lediglich eine bestimmte Art von Weisheit zeigt" (ebd.). Der Sänger hat als Berichtender, Regisseur und Mitwirkender im Spiel die wichtige Aufgabe, die auseinander strebenden Teile des Dramas zusammenzuhalten, den Zuschauern das Geschehen zu erläutern, das Verhalten der handelnden Figuren in ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität durchschaubar zu machen, Verbindungslinien zwischen den häufig wechselnden Schauplätzen zu ziehen und für ein notwendiges Maß an Transparenz zu sorgen. Als allwissender Erzähler blickt er ins Innenleben seiner Figuren hinein, teilt uns ihre Befindlichkeiten mit, informiert uns über auf der Bühne nicht dargestellte Ereignisse, drückt im Wechselgespräch mit den Musikern aus, was die Figuren empfinden, selbst aber nicht mitteilen können, und kommentiert das dargestellte Geschehen. Damit übernimmt er in Brechts Konzeption des epischen Theaters eine zentrale Funktion. (Vgl. hierzu die Zusammenfassung in Abschnitt 4: Epische Strukturelemente)

2. Episches Erzählen

Erzähler als Vermittler

Mit seinem Begriff des "epischen Theaters" orientiert Brecht sich an einer erzählenden Form der Dichtung, die traditionell als epische Dichtung oder Epik (von gr. 'epos': Wort, Rede, Erzählung, Lied) bezeichnet wird und mit Lyrik und Dramatik eine der drei literarischen Grundgattungen bildet. In der Epik werden als vergangen angenommene fiktive oder tatsächliche Geschehnisse (daher: fiktionale oder faktuale Erzählungen) durch einen

Erzähler / Sänger vergegenwärtigt, der sich an eine Gruppe von Zuhörern / Lesern wendet und grundsätzlich nicht mit dem Autor identisch ist. Der Erzähler fungiert somit als Vermittler zwischen den dargebotenen Vorgängen und seinen Rezipienten und verwendet vorwiegend das epische Präteritum - gelegentlich auch das historische Präsens.[3]

Erzählte Zeit und Erzählzeit

Die epische Erzählung ist nicht wie das klassische Drama in der Tradition des Aristoteles durch Regelvorgaben wie die Einheiten von Zeit und Ort eingeengt. Der Erzähler kann zeitdehnend, zeitraffend oder zeitdeckend berichten, d. h. er kann das Verhältnis zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit variabel gestalten. Er kann aber auch ein Rückblendeverfahren verwenden oder vorausdeutend auf künftige Ereignisse hinweisen. Dies kann auch in Form einer Frage geschehen, zum Beispiel wenn er sich direkt an die Zuhörer wendet und zur Stellungnahme auffordert. So fragt im "Kaukasischen Kreidekreis" der Sänger beispielsweise am Ende des 3. Aktes, als die leibliche Mutter ihr Kind zurückfordert: "Wer wird den Fall entscheiden, wem wird das Kind zuerteilt? / Wer wird der Richter sein, ein guter, ein schlechter? / Die Stadt brannte. Auf dem Richterstuhl saß der Azdak." (150) Das mehrfach

wechselnde Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit bildet einen wesentlichen Teil der komplexen Struktur des "Kaukasischen Kreidekreises". Das gesamte Stück umfasst in der hier zugrunde gelegten Ausgabe (GBA 8) vom "Vorspiel" bis zum Ende des 5. Aktes ("Der Kreidekreis") etwa 100 Seiten (93 - 191). Im Vorspiel (die Auseinandersetzung der Kolchosen um das Tal) und im 5. Akt (die Gerichtsverhandlung und die Kreidekreis-Probe) sind erzählte Zeit und Erzählzeit praktisch deckungsgleich. In der Grusche-Handlung (Akte 1 - 3) und der Azdak-Handlung (Akt 4) ist die erzählte Zeit mit einem Zeitraum von zwei Jahren vom Ostersonntag und dem Ausbruch des Fürstenaufstands bis zur Rückkehr des Großfürsten gleich. Sie wird jedoch in den beiden zeitlich parallel verlaufenden Handlungssträngen unterschiedlich gehandhabt, und zwar in der Weise, dass das Geschehen der Grusche-Handlung zeitdehnend beschrieben wird, während die Azdak-Handlung stärker gerafft wird. Daher verteilt sich die Grusche-Handlung über drei Akte und umfasst rund 50 Seiten ( 101 - 150), während die Azdak-Handlung mit nur einem Akt und gut 20 Seiten (150 - 171) auskommt. Der Sänger übernimmt hier die Aufgabe, die wichtigen Gelenkstellen herauszuarbeiten, das Geschehen erläuternd und kommentierend zu begleiten und dem Zuschauer einsichtig zu machen. Diese und weitere Aspekte werden im Teil "Epische Strukturelemente" noch eingehender behandelt werden.

Introspektives Erzählen

Denkbar sind auch introspektive (in eine Figur hineinschauende) Formen des Erzählens, mit denen die Gedanken oder Gefühle einer Figur übermittelt werden können. Dies geschieht zum Beispiel durch die erlebte Rede, in der die dritte Person und das Präteritum beibehalten wird: "Wenn sie am Bach saß, das Linnen zu waschen / Sah sie sein Bild auf der Flut ... / Wenn sie sich hochhob, das Linnen zu wringen / Hörte sie seine Stimme vom sausenden Ahorn ..." (3. Akt, 146). Durch den i nneren Monolog werden dagegen Gedanken und Gefühle der betreffenden Figur in der ersten Person und im Präsens wiedergegeben. Bei Grusche geschieht das manchmal in fast klassisch klingendem Versmaß: "Liebster mein, Liebster mein / Wenn du nun ziehst in den Krieg / Wenn du nun fichtst gegen die Feinde / Stürz dich nicht vor den Krieg / Und fahr nicht hinter dem Krieg / Vorne ist rotes Feuer / Hinten ist roter Rauch." (3. Akt, 135)

Auktoriale Erzählperspektive

Von der Erzählperspektive ("point of view") aus betrachtet, berichtet der Sänger im Wechselspiel mit den Musikern überwiegend aus der Position eines auktorialen (allwissenden) Erzählers. Als solcher steht er souverän über dem Geschehen und dem Horizont seiner Mitspieler. Er weiß immer mehr als sie, kann längere räumliche und zeitliche Zusammenhänge überschauen und nimmt gegenüber dem erzählten Geschehen und seinen Figuren eine Haltung epischer Distanz ein. Hin und wieder tritt er aus der erzählten Geschichte heraus und wendet sich - wie das bereits zitierte Beispiel zeigt - an den Zuschauer / Leser, um ihn ins Geschehen einzubeziehen und sein Urteil herauszufordern, oder an seine Mitspieler, um sie zur Rechenschaft für ihr Verhalten aufzufordern oder sogar zur Umkehr zu bewegen. Dies geschieht beispielsweise im 1. Akt, als er den gefangenen Gouverneur folgendermaßen anspricht: "Sieh dich noch einmal um, Blinder! / Der Verhaftete blickt sich um. / Gefällt dir, was du hattest? Zwischen Ostermette und Mahl / Gehst du dahin, von wo keiner zurückkehrt." (107) Der Zuschauer blickt mit dem Sänger von außen auf das berichtete Geschehen (Außenperspektive). Als Spielleiter kann er sich jederzeit in den Ablauf des Geschehens einschalten. Als Allwissender kann er in die Figuren hineinschauen und kennt ihre

Handlungsweise im Voraus, aber er kann auch auch an ihr Gewissen appellieren und sie ermahnen, wie es mit Grusche im 1. Akt geschieht, als das Kind sie anscheinend ganz verständig um Hilfe bittet und damit die Funktion einer Stimme erhält, die scheinbar von außen zu ihr spricht, aber wie die innere Stimme des Gewissens wirkt: "Wisse, Frau, wer einen Hilferuf nicht hört / Sondern vorbeigeht, verstörten Ohrs: nie mehr / Wird der hören den leisen Ruf des Liebsten noch / Im Morgengrauen die Amsel ..." (115)

[...]


[1] Zugrunde gelegt wird hier die Fassung von 1954, erschienen in Band 8 der "Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe" (abgekürzt GBA 8) Zitierte Textstellen stammen mit entsprechenden Seitenangaben aus dieser Ausgabe.

[2] Für Andrzej Wirth entspricht diese Vorgehensweise der "stereometrischen Struktur" von Brechts epischem Theater. Im Unterschied zum herkömmlichen dramatischen Theater, besteht ihr wesentlicher Kern in einer Erzählung auf der Bühne. In einer solchen "szenischen Erzählung" erkennt Wirth daher neben der Lyrik, der Epik und der Dramatik die vierte literarische Gattung ("Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke", in: Sinn und Form 9, 1957: Sonderheft Bertolt Brecht. Zitiert nach Duchardt, 91).

[3] Vgl. hierzu im "Kaukasischen Kreidekreis" beispielsweise die Eröffnungsszene, beginnend mit der bereits zitierten Stelle Stelle, die vom Sänger folgendermaßen weitergeführt wird: "In alter, in blutiger Zeit / Herrschte in dieser Stadt ... Ein Gouverneur mit Namen Georgi Abaschwili. / Er war reich wie der Krösus." (1. Akt, 101) Und im Vergleich dazu: ""Die Stadt liegt stille, aber warum gibt es Bewaffnete? / Der Palast des Gouverneurs liegt friedlich / Aber warum ist er eine Festung? (Ebd. 105)

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Details

Titel
'Der kaukasische Kreidekreis' von Bertolt Brecht als Drama des epischen Theaters
Autor
Jahr
2014
Seiten
23
Katalognummer
V272394
ISBN (eBook)
9783656650362
ISBN (Buch)
9783656650331
Dateigröße
503 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kreidekreis, bertolt, brecht, drama, theaters
Arbeit zitieren
Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2014, 'Der kaukasische Kreidekreis' von Bertolt Brecht als Drama des epischen Theaters, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272394

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