Zu Thomas Bernhards "Ein Kind". Wahrheit, Struktur, Symbolik


Essay, 2003

13 Seiten


Leseprobe


Thomas Bernhards „Ein Kind“: Wahrheit, Struktur, Symbolik

„Ein Kind“[1] ist der erste Teil der fünfbändigen Autobiographie Thomas Bernhards. 1982 erschienen, schloss er jedoch die Reihe der autobiographischen Bücher Bernhards ab. Schon vom Titel her unterscheidet sich der Text von den vier vorangegangenen Bänden „Die Ursache. Eine Andeutung“, „Der Keller. Eine Entziehung“, „Der Atem. Eine Entscheidung“ und „Die Kälte. Eine Isolation“. „Ein Kind“ trägt als einziges Werk keinen Untertitel und ist auch das einzige Werk, das im Titel auf eine Person verweist, neben „Wittgensteins Neffe“ ist es überhaupt das einzige Werk Bernhards, das im Titel auf etwas Persönliches wie einen Verwandtschaftsgrad hindeutet. „Ein Kind“ als Titel ist durchaus wörtlich zu nehmen: obwohl im Zeitraum, den das Buch umschließt, Bernhards Halbgeschwister Peter und Susanne geboren werden, erwähnt Bernhard sie nur flüchtig, nicht einmal namentlich.[2] Bernhard vermittelt so den Eindruck, dass er ein Einzelkind gewesen sei, und konzentriert den größten Teil der Aufmerksamkeit auf sich.

Generell ist die Wahrheit in Bernhards Autobiographie stark vermischt mit dem Zurechtrücken von Fakten, einerseits um der literarischen Wirkung willen, andererseits, um die eigene Entwicklung zu beschönigen und begradigen. Bernhard selbst hat sich zu seinem Verhältnis zur Wahrheit folgendermaßen geäußert:

Das weiß ich ja nicht, was die Wahrheit ist, das weiß man ja selbst nicht. Vor allem ist das eine Sache, die ist, wie sie ist und die man dann beschreibt, das sind ja zwei. Auch wenn Sie den Drang oder die Manie haben, jetzt hundertprozentig die Wahrheit zu schreiben, gelingt es Ihnen nicht, weil Sie müßten die Wirklichkeit auf´s Papier klatschen können, das geht nicht. In dem Moment aber, wie Sie mit stilistischen Mitteln und Sprache drangehen, ist es etwas anderes und auf jeden Fall eine Verfälschung, aber vielleicht ein Annäherung.[3]

Ein Beisiel für die Manipulation von Fakten um ihrer dramatischen Wirkung willen ist die Geschichte des Gauleiters Giesler in „Ein Kind“: laut Bernhard kam es 1939 bei einem Kreistag in Traunstein zu einem nationalsozialistischen Aufmarsch, an dem Zehntausende teilnahmen. Höhepunkt war die Rede des Gauleiters Giesler aus München. Bernhard:

Plötzlich fiel der Gauleiter Giesler in sich zusammen und verschwand wie eine ockerfarbene Puppe hinter dem Rednerpult. (...) Aus dem Radio hörten wir am Abend die offizielle Bestätigung des Todes vom Gauleiter Giesler.[4]

Nichts an dieser Geschichte ist wahr. 1939 war Paul Giesler noch nicht Gauleiter, erst 1941 wurde er in diese Funktion gehoben, zunächst von Westfalen-Süd. Ein Jahr später wurde er Gauleiter von München, in Folge auch bayerischer Ministerpräsident, Finanz-, Innen-, Wirtschafts- und Kultusminister. Gestorben ist Giesler nicht bei einer Rede, sondern am 4. Mai 1945 nach einem missglückten Selbstmordversuch. Um schließlich doch noch zu sterben, ließ er sich von seinem Schwager erschießen.[5]

Ein deutlicher Hinweis auf die Fiktionalisierung der Fakten ist auch der Aufbau des Buches: es beginnt und endet mit einem Triumph des jungen Bernhard. Gleich zu Beginn schreibt Bernhard, er habe sich im Alter von acht Jahren das Radfahren beigebracht und sei aus Übermut und wegen des Hochgefühls sofort auf die Idee verfallen, seine Tante Fanny im 36 Kilometer entfernten Salzburg zu besuchen. Als „Beherrscher der Welt“[6] fühlt er sich bereits, doch der Ausflug endet in einem Fiasko. Der Weg ist zu lang, das Kind stürzt und muss spät nachts nach Hause gebracht werden, das Fahrrad ist beschädigt. Die Selbstvorwürfe und die Angst vor der Bestrafung durch die Mutter steigern sich ins Enorme.

Parallel dazu verläuft das Ende des Buches: der wegen seiner schlechten Noten, seiner Herkunft und seiner Eigeschaft als Bettnässer geächtete Bernhard wird da zum Sport-Triumphator. Er gewinnt die Laufbewerbe über 50, 100 und 500 Meter. „Ich war der Held, nicht mehr der Bettnässer. (...) Ich war ein Gladiator.“[7] Aber wieder kommt er zu Sturz und verletzt sich an Stirn, Knie und Kinn. Doch durch die effektvolle Bandagierung der Verletzungen wird aus der Befürchtung, eine Spottfigur zu sein, das genau Entgegengesetzte:

Bei der Siegerehrung (...) machte ich dem Helden, der ich jetzt war, alle Ehre. Ich entsprach dem Bild seiner Vollkommenheit. Mein Heldentum war in Form von überdimensionierten Bandagen deutlich sichtbar.[8]

Inhaltlich betrachtet bietet „Ein Kind“ die Lebensgeschichte Bernhards bis zu seinem 12. Lebensjahr, hauptsächlich die Geschehnisse der Jahre 1939 bis 1943. Die Chronologie der Ereignisse ist von Bernhard willentlich verwischt worden, die verschiedenen Begebenheiten gehen ineinander über ohne strikte zeitliche Abgrenzung. Integriert ist auch die früheste Kindheit Bernhards, besonders die Geschichte seiner Geburt. Bernhards Mutter Herta war nach einem kurzen Verhältnis mit Alois Zuckerstätter schwanger geworden und von ihm verlassen worden. Bernhard kam in einem Kloster für alleinstehende Frauen zur Welt und wurde in seinem ersten Lebensjahr bei einer Pflegefamilie in Obhut gegeben. Erst Monate nach der Geburt erzählte Herta ihren Eltern von ihrem Kind, die es aber entgegen ihrer Befürchtungen freudig aufnahmen. In der Folge wächst Bernhard bei seinen Großeltern auf, die Beziehung zur Mutter bleibt bis zu ihrem Tod 1950 problematisch. Die überforderte Mutter weiß sich gegenüber dem lebhaften Kind nur mit Schlägen zu behelfen, dann, als diese nichts nützen, das Kind verbal zu verletzen:

(...) Du hast mir noch gefehlt oder Du bist mein ganzes Unglück, dich soll der Teufel holen! Du hast mein Leben zerstört! Du bist an allem schuld! Du bist mein Tod![9]

Einer der Gründe für diese Hassliebe der Mutter zu ihrem Kind liegt in der ständigen Erinnerung an ihre seelische Verletzung durch die Ähnlichkeit Bernhards mit seinem Vater.[10]

Einen großen Einschnitt in Bernhards Kindheit bedeutet die Schulzeit. Nach einer mit Bravour absolvierten ersten Klasse verschlechtern sich seine Noten zusehends. Die Schulzeit wird zur Katastrophe.Der Umzug nach Traunstein in das benachbarte Deutschland bringt auch eine soziale Isolation, Tiefpunkt ist die Einweisung in ein Heim für shwer erziehbare Kinder. Letztlich endet das Buch aber mit den Triumphen im Sport.

Die dominierende Gestalt des Buches ist Bernhards Großvater Johannes Freumbichler. Freumbichler (1881 – 1949) war ein eigenwilliger Mensch, der auf sein Erbe verzichtete, um Schriftsteller zu werden. Als solcher war er fast ständig erfolglos, nur 1937 gewann er für „Philomena Ellenhub. Ein Salzburger Bauernroman“ den Großen Österreichischen Staatspreis. Am Erfolg dieses Werkes war ein anderer berühmter Autor nicht unbeteiligt. Der Roman wurde durch die Vermittlung des deutschen Dramatikers Carl Zuckmayer, der mehr oder weniger ein Nachbar Freumbichlers war, beim Zsolnay-Verlag angenommen, nachdem Zuckmayers Frau Alice das Manuskript um 400 Seiten gekürzt hatte.[11]

Eigenartigerweise erwähnt Bernhard Zuckmayer nicht namentlich, obwohl die Bekanntschaft mit ihm es sowohl dem Großvater wie auch dem jungen Bernhard ermöglicht, berühmte Künstler seiner Zeit kennezulernen. Aber dieser Erfolg hat nur geringe finanzielle Auswirkungen: den Lebensunterhalt mussen Freumbichlers Frau, seine Tochter und zu einem großen Teil Bernhards Stiefvater Emil Fabjan bestreiten.

Das Vorbild des Großvaters erstreckt sich fast über das gesamte Werk Thomas Bernhards. In „Ein Kind“ ist er eine fast übermächtige Figur, die sowohl Schutz, Belehrung, Nähe wie auch schroffe Zurückweisung und Egozentrik vermittelt:

[...]


[1] Thomas Bernhard: Ein Kind. Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 1990, 6. Aufl.

[2] Ebda., S. 150. Peter Fabjan ist übrigens 1938 geboren, Susanne Kuhn 1940.

[3] Kurt Hofmann: Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 1991, 2. Aufl., S. 21.

[4] Thomas Bernhard: Ein Kind. Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 1990, 6. Aufl., S. 126.

[5] Vgl. dazu: Walther Killy u. Rudolf Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie. K. G. Sauer: München, 1996, Bd. 4.

[6] Thomas Bernhard: Ein Kind. Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 1990, 6. Aufl., S. 10.

[7] Ebda., S. 155.

[8] Ebda., S. 156.

[9] Ebda., S. 38.

[10] Vgl. ebda., S. 38f.

[11] vgl. Joachim Hoell: Thomas Bernhard. Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 2000, S. 15.

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Details

Titel
Zu Thomas Bernhards "Ein Kind". Wahrheit, Struktur, Symbolik
Hochschule
Univerzita Jana Evangelisty Purkyně v Ústí nad Labem  (Germanistik)
Autor
Jahr
2003
Seiten
13
Katalognummer
V272120
ISBN (eBook)
9783656632870
ISBN (Buch)
9783656632863
Dateigröße
470 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
thomas, bernhards, kind, wahrheit, struktur, symbolik
Arbeit zitieren
Dr. Jürgen Neckam (Autor:in), 2003, Zu Thomas Bernhards "Ein Kind". Wahrheit, Struktur, Symbolik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272120

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