Die Achillesferse der Westminster-Demokratie

Elective dictatorship/ Executive dominance


Hausarbeit, 2011

20 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Definitionsversuch „elective dictatorship/ executive dominance"

3 Blick auf relevante politische Organe
3.1 Das Parlament im Fokus
3.2 Kompetenzen und Funktionslogiken des Unterhauses

4 Der gewahlte Diktator
4.1 Machtstellung des Premierministers
4.2 Beispiel Blair

5 Auswirkungen auf die Aufienpolitik unter Blair
5.1 Afghanistan 2001
5.2 Irak 2003

6 Prognose fur die Zukunft
6.1 Mogliche Schritte gegen eine Wahldiktatur
6.2 Europa

7 Zusammenfassung

8 Anhang
8.1 Quellenangabe

Einleitung

Das Westminster-Modell des Vereinigten Konigreichs stellt ein komplexes, traditionsreiches und relativ stabiles Konstrukt der Demokratie dar. Als eines der europaischen Regierungssysteme, welches sowohl die Verfiuhrung durch den Absolutismus als auch die Phase der totalitaren Regime Europas uberstand, geniefit es uber seine Landesgrenzen hinaus immer noch grofies Ansehen.

Dennoch stellt die Frage nach einer gewahlten Diktatur oder auch ,,executive dominance" eine der wichtigsten - unter anderem - in der vergleichenden politischen Systemtheorie dar. Mit dieser Arbeit soll einerseits Einblick in das theoretische Konstrukt ,,elective dictatorship"[1] im Vereinigten Konigreich gegeben, andererseits ein unter dieser Thematik kritischer Blick auf die Regierungszeit des ehemaligen Premierministers Tony Blair geworfen werden. In diesem Teil wird besonders auf die Aufienpolitik unter Blair den Irak- und Afghanistankrieg betreffend eingegangen. Wichtig fur einen Definitionsversuch des Begriffs der gewahlten Diktatur als Schwachstelle der britischen Westminister-Demokratie ist es, das Parlament im Fokus der Betrachtung zu halten, um seine Kompetenzen und Funktionslogiken zu analysieren; aus diesem ergibt sich dann eine Klarung der Machtressourcen des Premierministers. Zum Ende der Arbeit soll ein kurzer Ausblick auf die mogliche Entwicklung - auch unter Anbetracht des stetig wachsenden Einflusses der Europaischen Union - auf die Sachlage geben werden.

Im Nachfolgenden werden die Bezeichnungen Vereinigtes Konigreich und Grofibritannien fur das Land als Ganzes, also mit Schottland, Nordirland, Wales und England verwendet.

Definitionsversuch

Recht elementar begonnen beinhaltet der Terminus ,,gewahlte Diktatur" sowohl den in der Politikwissenschaft relativ genau determinierten Begriff der Wahl als auch den der Diktatur.

Eine Wahl ist demnach „...eine Technik zur Bildung von Korperschaften oder zur Bestellung einer Person in ein Amt..."[2], eine Diktatur lasst sich als ,,...Herrschaft einer Person, Gruppe, Partei oder Klasse, die Macht im Staat monopolisiert hat und sie unbeschrankt (oder ohne grofie Einschrankung) ausubt.."[3] definieren.

„Elective dictatorship" ist dementsprechend eine aus einer Wahl heraus entstandene Diktatur, doch ist Grofibritannien wohl in einem recht grofien Konsens als Demokratie zu bezeichnen; Nohlen aufiert sich uber Wahlen in einer Demokratie folgendermafien: ,,... In der Demokratie bilden sie jene Methode, welche die der Herrschaft unterworfenen Burger in einem auf Vereinbarung beruhenden, also friedlichen, formalisierten Verfahren (nach Spielregeln) periodisch an der Erneuerung politischer Fuhrung [...] beteiligt. Wahlen unterscheiden sich folglich von gewaltsamen Methoden der Besetzung von Amtern durch Kampf, Putsch und Krieg..."[4].

Damit lasst sich feststellen, dass es sich bei dem Definiendum einer gewahlten Diktatur um ein demokratisches System mit Wahlen handeln kann, in dem sich durch Korrumpierung oder Beeinflussung der politisch relevanten Organe ein Ungleichgewicht der Macht gebildet hat - welches einer Diktatur im klassischen Sinne gleichkommt.

Der etymologische Ursprung des Begriffs ,,elective dictatorship"[5] in der Neuzeit geht vermutlich auf den ehemaligen Lord Kanzler Baron Hailsham (* 9. Oktober 1907 in London; f 12. Oktober 2001 in London)[6] zuruck; dieser bezeichnete die Regierung des damaligen, aus heutiger Sicht eher schwachen Premierminister James Callaghan[7] (1976­1979) als solche. Kurz zusammengefasst beschreibt er darin das Regierungssystem des Vereinigten Konigreichs als ,,elective dictatorship",[8] da die Regierung sich nach ihrer Wahl, aufgrund der Schwache des Parlaments wie ein Diktator verhalten konne.

Mittlerweile wird die Bezeichnung „executive dominance" in der Politikwissenschaft immer gelaufiger und scheint den der ,,gewahlten Diktatur“ abzulosen. Das Funktionskonzept, welches dieser Begriff abdeckt, ist jedoch analog und wird in der Arbeit folglich gleichbedeutend verwendet.

Blick auf relevante politische Organe

Eine gewahlte Diktatur kann eine unglaubliche Vielzahl an Ausgangspunkten haben. Die Ursachen konnen von nicht kritischen und schlecht informierten Burgern uber Abwesenheit der Medien oder Art des Wahlrechts -/Systems bis hin zu einem guten Willen der Regierenden, eine Fuhrungsposition trotz Machtverlust zu raumen reichen. Beim gewahlten Beispiel Grofibritannien bieten unter anderem auch die nicht aufgeschriebene Verfassung oder die immer noch vorhandene (wenn auch stark zuruckgebildete) Erbmonarchie exzellente Ansatzpunkte. Dennoch soll der Fokus auf einen - mir am wichtigsten erscheinenden - Punkt gerichtet werden. Gemeint ist das Parlament und die aus ihm resultierende Machtverhaltnisse zwischen dem Kabinett und seinem Premierminister.

Das Parlament im Fokus

Wie bereits angesprochen stellt nun anfanglich das Parlament als Gesetzgeber das Kerngebiet. Grofibritannien als ,,Mutter der Parlamente“[9] wurde allein in diesem Punkt viele Hausarbeiten ausfullen, weswegen hier nur ein kurzer Uberblick stattfindet.

Im Vereinigten Konigreich besteht das Parlament als Legislative aus drei Komponenten: zum einen dem direkt gewahlten Unterhaus, dem sogenannten House of Commons und dem Oberhaus, dem House of Lords[10]. Dieses Zweikammernsystem ist wie so vieles anderes aus Grofibritannien „modellhaft“ geworden.[11] Dennoch ist nicht zu vergessen, dass auch wenn von Demokratie gesprochen wird, das Land nach wie vor eine konstitutionelle Erbmonarchie[12] bleibt, die mit der Krone[13] die dritte Komponente dieser Gewalt darstellt.

Das Parlament wird von zwei relativ konstanten Parteikraften, der „Conservative and Unionist Party“ und der „Labour Party“ umkampft, aber es finden sich auch einige meist national gepragte Parteien, die ihren Landesteil im Viernationenstaat vertreten wollen sowie unabhangige Parlamentsmitglieder. Letztere sindjedoch eher vermehrt im Oberhaus, neben einigen geistlichen Vertretern, anzutreffen.

Im Gegensatz zu manch anderer demokratischer Denkweise geht die Souveranitat in Grofibritannien aber nicht vom Volk (Volkssouveranitat), sondern vom Parlament aus. Dieser Aufbau schliefit eine Gewaltenteilung[14] und das System des Foderalismus[15] aus, wodurch in Grofibritannien zumindest die Gewaltenverschrankung angestrebt werden sollte. Das Parlament ist der Souveran. Im Geiste der Briten fordert diese Aussage also eher die Rolle des Untertanen, alsjene des aktiv an der Regierung beteiligten Burgers[16]. Das Stichwort Parlamentssouveranitat[17] fallt auch in die Doktrin der drei Prinzipien und somit in die Arbeit der Regierung, welche wie folgt lauten: ,,das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit, der kollektiven Verantwortung und zuletzt die absolute Dominanz des Premierministers[18] in der Parlamentssouveranitat[19] “.[20] Nichtsdestoweniger hat auch das britische Parlament eine Opposition, mehr noch, sie hat eine der ausgefeiltesten, bei der unter anderem der Fuhrer ebendieser vom Staat besoldet wird.[21] Bei Regierungsantritt seines Kontrahenten halt sich der Verlierer schon ein Schattenkabinett[22] bereit, welches alle Positionen des amtierenden Premierministers abdeckt. Dies stellt bei einem auftretenden Regierungswechsel eine stabile , sofort einsetzbare Komponente dar. Von dem Oppositionsfuhrer und seinem Kollektiv wird kein eigenes Gesetzesvorhaben erwartet, sondern ,,die Gegenrede und kritische Begleitung der Regierungsvorhaben im Parlament.“[23] Besonders interessant und kontrovers ist das Verhalten der Opposition bei der Wahldiktatur. Sie unternimmt nichts. Denn wer unterminiert schon gernejene Machtposition, die er selbst anstrebt?[24] Dieser Absatz soll nun mit einer kurzen Veranschaulichung zugunsten des Oberhauses beendet werden.

Im nachsten wird dem House of Commons die voile Aufmerksamkeit gewidmet.

Das im Laufe der Jahre immer mehr an Macht einbufiende House of Lords hat im Grofien und Ganzen dieselben Funktionen wie das Unterhaus, doch kann es die Regierung nicht absetzen. Es ist also eine Instanz der Regierungskontrolle, Gesetzesinitiative und -gebung, wobei hier anzumerken ist, dass das Unterhaus auch ohne die Lords ein Gesetz im Ernstfall mit relativ geringen Schwierigkeiten verwirklichen kann.

Ferner ist das Oberhaus, durch das „Prozedere der Finanzverwaltung“ vom Unterhaus stets unter Kontrolle gehalten.[25] Ein letztes interessantes Instrument der vom Premier ausgehenden Beeinflussung ist das Anrecht, besonders loyale Minister und Regierungsmitarbeiter in den Adels- und somit Oberhausstand zu dekorieren, um auch dort eine Mehrheit zu erlangen.[26]

Nach der Meinung vieler Politologen ist diese zweite Kammer verkummert und auch im Wirkungsgrad schwindend, Reform- oder gar Abschaffungsversuche[27] unterstreichen diese Aussage.

Kompetenzen und Funktionslogiken des Unterhauses

Lassen wir nun den Blick auf der machtigeren der beiden Kammern ruhen und stellen auch hier die Frage nach den Kompetenzen.

Als zentraler Hort der Kommunikation, Gesetzgebung, etc. bringt es das dem Oberhaus fehlende Teilstuck der Abrufbarkeit der Regierung ein. Stellt die Mehrheit im Unterhaus ein Misstrauensvotum, wird von der Regierung ein Rucktritt erwartet. Roland Sturm definiert das Westminster-System allein uber diesen Punkt als parlamentarisches Regierungssystem.[28] Trotz dieses wichtigen Punktes spricht er, wie auch andere, der Regierung die dominierende Rolle zu.

Doch woher ruhrt diese Behauptung?

Es liegt nicht nur am verkummerten Oberhaus oder der krankelnden Opposition, sondern auch an dem Wahl- und daraus resultierenden Zweiparteiensystem, mit welchem der Premierminister normalerweise uber eine absolute Mehrheit oder auch „Over-All-Majority“[29] verfugt.

So konnte Blair mit 177 Sitzen den „grofiten Sieg [der Labour-Party] der Nachkriegszeit feiem.“[30]

Diese hielt er meist eisern im Korsett der Loyalitat Aber die Steigerung an Arbeitsfahigkeit und Effektivitat des Unterhauses durch Fraktionsdisziplin, die beispielsweise Steffani[31], lobt ist ein zweischneidiges Schwert. Dabei kommt diese Starkung der Dynamik keinem anderen als dem Premierminister zugute.

Doch wie wird eine solche Disziplin erreicht?

Die wichtigsten Akteure in diesem System - das sich ,,three-line whip“ nennt - sind die „Whips“[32] oder auch „Einpeitscher“[33], die bei jeder dringlichen Parlamentsdebatte an die Hinterbankler[34] Mitteilungen verschicken.

Je nachdem, wie wichtig deren Anwesenheit ist, wird diese ein-, zwei-, oder dreimal unterstrichen (one-line bis three-line whip). Letzteren ist unbedingt Folge zu leisten.[35] Eine Erwahnung ist auch die Anzahl der Minister innerhalb der Regierung wert; zwar ist sie mittlerweile auf einer Quote von 21 bis 22 ausbalanciert, doch wurde schon oft versucht, allein uber die Anzahl der Minister das Parlamentsgewicht zugunsten der Regierung zu verschieben. So werden Parlamentsmitglieder zu Ministernposten berufen, um ihre Loyalitat gegenuber der Regierung zu sichern oder diese zu festigen.

Hier summiert sich bereits die Zunahme der Geltung unter einer einzelnen Person. Gelinder gesagt gleicht diese Fokussierung auf ein Subjekt einer Prasidentialisierung. Obwohl dieser Weg der Personalisierung ganz offensichtlich im Vereinigten Konigreich zunimmt, bestimmen wie schon einen Unterpunkt zuvor angeschnitten, drei Prinzipien die Arbeit der Regierung.

Das erste Prinzip der Ministerverantwortlichkeit, bei der jeder Minister fur die Arbeit und somit auch die Fehler (mit all ihren Konsequenzen) seines Ressorts zustandig ist. Nummer zwei, welches wieder eine Verantwortung ist, dieses Mal die des ganzen Kabinetts; das Kollektiv soll beispielsweise Kritik an politischen Entscheidungen nur intern aufiern. Beide Prinzipien spielen sicherlich in das Gebilde der Wahldiktatur mit ein. So konnen viele Kritiken an die zustandigen Minister und nicht an den Premierminister abgetreten werden. Der Premierminister wird somit in praxi als politischer Korper nur schwach kritisiert oder hinterfragt.

[...]


[1] Lord Hailsham 1976

[2] Nohlen 2001,S.620

[3] Nohlen 2001,S.81

[4] Nohlen 2001,S.620

[5] Lord Hailsham 1976

[6] Britannica Online Encyclopedia

[7] Sturm 2009, S.111

[8] Lord Hailsham 1976

[9] Doring 1993, S. 133

[10] Ismayr et al. 2009, S. 270

[11] Schieren 2010, S. 43

[12] Ismayr et al. 2009, S. 269

[13] Schieren 2010,S.43

[14] Ziegesar 1991, S. 87

[15] Ismayr et al. 2009, S. 267

[16] Ziegesar 1991, S. 154

[17] Schieren 2010, S. 79

[18] Ismayr et al. 2009, S. 274

[19] Schieren 2010, S. 79

[20] [Diese Begriffe werden im Abschnitt Kompetenzen und Funktionslogiken des Unterhauses auf Seite 8 naher erlautert - Anmerkung des Autors]

[21] Doring 1993, S. 146

[22] Ziegesar 1991, S. 94

[23] Sturm 2009, S. 122

[24] Ziegesar 1991, S. 97

[25] Ziegesar 1991, S. 90

[26] Sturm 2009, S. 131

[27] Schieren 2010, S. 70

[28] Sturm 2009, S. 122

[29] Schieren 2010, S. 110

[30] Schieren 2010, S. 110

[31] Doring 1993, S. 143

[32] Hartmann 2005, S. 73

[33] Ziegesar 1991, S. 150

[34] [Als „Hinterbankler“ bezeichnet man Parlamentsmitglieder mit wichtigen Funktionen - Anmerkung des Autors]

[35] Ziegesar 1991, S. 150

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Die Achillesferse der Westminster-Demokratie
Untertitel
Elective dictatorship/ Executive dominance
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für Politikwissenschaft und Sozialforschung)
Veranstaltung
Das politische System der Bundesrepublik Deutschland auch im Vergleich mit ausgewählten Systemen weiterer Regimetypen
Note
2,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
20
Katalognummer
V271957
ISBN (eBook)
9783656635017
ISBN (Buch)
9783656635000
Dateigröße
452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
executive dominance, elective dictatorship, Westminister-Demokratie, Premierminister, Tony Blair, Vereinigten Königreich, gewählte Diktatur
Arbeit zitieren
Robert Högerle (Autor:in), 2011, Die Achillesferse der Westminster-Demokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/271957

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