Heinrich von Kleist "Der Findling". Der Erreger Nicolo im Familienorganismus Piachi


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

36 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Findling Nicolo

3. Die Aufnahme und Adoption des Findlings oder Die Infektion mit dem Erreger
3.1 Substitutionen und Stellvertretungen – die Ersetzungskultur in der Novelle Der Findling

4. Das „Monster“ Nicolo

5. Der Eheorganismus Piachi
5.1 Piachi: Vermögen (Ökonomie) und Unvermögen (Impotenz)
5.1.1 Piachi als Komplementärfigur zu Nicolo
5.1.2 Ökonomie und Männlichkeit
5.2 Elvire und das Geheimnis einer trefflichen Frau
Exkurs: (Weiblicher) Geschlechterdiskurs in Der Findling
5.2.1 Zeugungsunfähigkeit – Wer ist schuld?
Exkurs: Ein Zeichen für die Zeugungsunfähigkeit:
Geheimnisdiscours – Enthüllungspsychologie – Substitutionslogik
5.2.2 Das Erzählregime
5.2.3 Der Erzähler und dessen beschränkte Perspektive

6. Abschließende Betrachtung:

Der Erreger Nicolo im geschädigten Familienorganismus Piachi

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„>> Familie<< als Struktur liegt fast allen Dichtungen Kleists zum Grunde, vielfach in auffällig gestörter oder zerstörter Form [Hervorhebungen v. Verf.].“[1]

Diese Feststellung Kreutzers betrifft auch die Novelle Der Findling, welche 1811 erschien. Die Erzählung handelt von dem Waisenknaben Nicolo, der von dem römischen Güterhändler Antonio Piachi auf einer Geschäftsreise aufgenommen und gemeinsam mit dessen zweiten Ehefrau Elvire adoptiert wird. Nicolo tritt somit an die Stelle des Sohnes Paolo aus erster Ehe, welcher auf der besagten Reise an einer pestartigen Krankheit verstirbt. Der Adoptivsohn entspricht zunächst den Ansprüchen seiner Adoptiveltern, er entwickelt sich fortwährend jedoch zu einer brutalen Gefahr für die Eheleute Piachi: Nicolo entdeckt unter anderem behütete Familiengeheimnisse, die ihn dazu veranlassen, seine Adoptivmutter vergewaltigen zu wollen. Elvire stirbt an den Folgen dieses Vergewaltigungsversuchs, woraufhin Piachi Nicolo mit eigenen Händen umbringt und dafür schließlich selbst auf Befehl des Papstes auf der Piazza del Popolo hingerichtet wird.

Diese die Novelle bezeichnende Destruktivität innerhalb einer Familie evoziert das Anliegen einer Biographieforschung Kleists, um mögliche Indizien für dessen „gestörtes“ bzw. „zerstörtes“ Familienbild in den eigenen Lebenserfahrungen des Autors zu finden. Und tatsächlich erweist sich Heinrich von Kleists Lebensgeschichte als „permanente Krisengeschichte [in welcher] der Selbstmord am Wannensee [...] nur als die finale Katastrophe“[2] gilt. Geboren am 18. Oktober 1777, entstammt Kleist einem der ältesten preußischen Adelsgeschlechter mit slawischem Ursprung. Seine Kindheit erlebt er in einer patriarchalisch organisierten Großfamilie. Der Vater heiratet Heinrichs Mutter in zweiter Ehe. Nach dessen Tod wird der junge Heinrich in der Pension des Predigers Samuel Heinrich Catel erzogen, seine Adoleszenz erlebt er beim Regiment. Den als unerträglich empfunden Militärdienst quittiert Kleist (gegen den Willen seiner Familie) schließlich für ein wissenschaftliches Studium in Frankfurt am Main. Zeitgleich verlobt er sich mit Wilhelmine von Zenge, einer Generalstochter. Diese standesgemäße Verlobung wird zwei Jahre später wieder gelöst. Kleist bricht auch sein Studium nach kurzer Zeit ab, um als Schriftsteller zu arbeiten. Große Erfolge bleiben jedoch aus. Nahezu mittellos und vereinsamt nehmen die Gedanken an einen Suizid überhand. Kleist sucht und findet eine Begleiterin für diesen Weg in der an Krebs erkrankten Henriette Vogel. Mit ihrem Einverständnis erschießt Kleist am 21. November 1811 zuerst sie und dann sich selbst.[3]

Eine nähere Betrachtung der Kleistschen Biographie erlaubt demnach gewisse Parallelen[4] zu seinen literarischen Figuren aus der Novelle Der Findling, dennoch wäre es falsch, anzunehmen, dass Heinrich von Kleists persönliche Lebensgeschichte selbstredend seine Motivation für die literarische Konstruktion zerstörter Familienmodelle erklären würde. Dazu ist die Person Heinrich von Kleist zu komplex und vor allem zu lückenhaft erforscht.[5] Beckmann akzentuiert diesbezüglich treffend, dass der Dichter auch gegenwärtig (noch immer) mit dem „Stigma der Rätselhaftigkeit“[6] behaftet ist. Und jenes Stigma der Rätselhaftigkeit repräsentiert in meinen Augen eine Verbindung zu der Erzählung Der Findling. So wie Nicolo versucht, das Geheimnis seiner Adoptiveltern zu enttarnen, so wird auch der Leser in gewisser Weise dazu aufgefordert, dem Text sein Geheimnis zu entreißen: „Die dominierende Erzählstrategie im Findling scheint das Fabrizieren von Geheimnissen und deren Entwirrungsversuche zu sein“.[7] Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang das häufige Vorkommen von Tür-, Tücher-, Schloss-, Schlüssel-, Masken- und/oder Mantelmotiven, welche akzentuieren, dass ständig etwas eingehüllt, um-, ent- oder verhüllt wird. Zusätzlich arbeitet Kleist mit Versatzstücken der Dreiecksgeschichte, des Doppelgängermotivs und des Ödipus-Mythos, „aber er kombiniert sie auf eine Weise, die eine eindeutige Lesart und Sinnfindung unmöglich macht“[8]. Demnach ist auch die Novelle mit dem Stigma der Rätselhaftigkeit behaftet, welches auch ihre jeweiligen Figuren betrifft. In seiner Funktion als Findling erscheint besonders Nicolo als rätselhaft und geheimnisvoll, aber auch dessen Adoptiveltern erzeugen Raum zur Spekulation.

Das zentrale Anliegen dieser Hausarbeit besteht darin, die Familienkonstellation der Piachis genauer zu beleuchten, um deren Familien organismus anschließend zu bewerten. Primäres Augenmerk gilt dabei zunächst dem Findling Nicolo, welcher in einem ersten Teil dieser Arbeit genauer analysiert wird. Anschließend werden der ökonomisch denkende Güterhändler sowie das Geheimnis seiner trefflichen Frau näher untersucht. Diese drei Komponenten konturieren ein Bild des Familienorganismus Piachi, das schließlich Auskunft über Nicolos zerstörerische Funktion als Erreger gibt. Zeitgleich inkludiert die vorliegende Arbeit eine kritische Auseinandersetzung mit Interpretationsansätzen aus der komplexen Fachwissenschaft sowie eine Einbeziehung des Kleistschen Erzählregimes, um eine fundierte Bewertung des Familienorganismus Piachi zu gewährleisten.

2. Der Findling Nicolo

Der Findling ist die thematische Figur in Heinrich von Kleists gleichnamiger Novelle, welche im weiteren Verlauf der Erzählung jedoch mit dem Namen Nicolo konkretisiert wird. Von ‚Findling’ wird nur im Titel gesprochen, nirgends sonst im Text. Daher gilt ein besonderes Interesse vorerst jenem auffälligen Novellentitel, dessen bewusst einmalige Wortverwendung eine Sonderstellung einzunehmen scheint. Auf den ersten Blick impliziert der ‚Findling’ eine offensichtlich semantische Anspielung auf das ‚Findelkind’ und den späteren Adoptivsohn Nicolo. Doch Kleist tituliert seine Erzählung bewusst nicht lediglich mit ‚Das Findelkind’ sondern verweist mit ‚Der Findling’ auf eine Problematik, die Figur Nicolo betreffend. Bernhard Greiner beschreibt dieses Phänomen wiefolgt:

„Er [der Findling] ist nicht, was seine Bezeichnung ankündigt, was er aber ist, scheint schwer zu bestimmen.“[9]

Nicolo ist folglich kein Findelkind im klassischen Sinne. Weder wurde er von Piachi gefunden, vielmehr hat er sich diesem am Wegesrand aufgedrängt, noch wurde er von seinen Eltern ausgesetzt, sondern verlor diese durch die Pest. Nicolo ist kein ‚Gefundener’, vielmehr handelt es sich um einen ‚Finder’, der Verborgenes herausfindet. So entdeckt er das Geheimnis Elvires wie des Hauses, indem er unter anderem den anagrammatischen Bezug seines Namens zu Elvires toten Geliebten Colino aufdeckt. Als ‚Finder’ scheitert Nicolo aber auch, da sich seine Auffassung, nämlich selbst die Lösung für Elvires Geheimnis zu repräsentieren, als enorme Fehldeutung erweist.[10]

Neben dieser semantischen Komponente des Titels lässt sich Der Findling auch aus einer geologischen Perspektive betrachten und somit metaphorisch deuten. In der Geologie gelten Findlinge allgemein als spezifische, geomorphologische Erkennungsmerkmale für glazial geprägte Landschaften:

Erratische Blöcke, auch als Findlinge bezeichnet, sind große, durch Eismassen (Gletscher, eiszeitliche Inlandseismassen) transportierte Gesteinsbrocken. Da das Ursprungsgebiet und der heutige Fundort der einzelnen Findlinge oftmals weit entfernt voneinander liegen, unterscheiden sich die ortsfremden Findlinge petrographisch von den lokal vorkommenden Gesteinen.[11]

Folglich handelt es sich um einen alten, großen, robusten Stein, der viele Kilometer gewandert und dementsprechend abgenutzt (abgeschliffen) ist. Ein (Ge)Stein, von dessen Vorgeschichte wir konkret nichts wissen, aber dennoch erahnen, dass seine Formungen und Abnutzungen, Spuren sowie Zeugnisse seiner Herkunft beinhalten. Eine Beschreibung, die sich auch auf die Figur des Nicolo übertragen lässt. Demnach verweist bereits der Titel Der Findling auf das mangelnde und nur spekulative Wissen um den Ursprung Nicolos. Der Text selbst eröffnet lediglich an zwei Stellen marginale Informationen bezüglich dessen Herkunft:

1. „[E]r [Nicolo] sei angesteckt; die Häscher verfolgten ihn, um ihn ins Krankenhaus zu bringen, wo sein Vater und seine Mutter schon gestorben wären; [...] [Hervorhebungen v. Verf.].“[12]
2. „[...] die Vorsteher des Krankenhauses [...] versicherten: dass er [Nicolo] Gottes Sohn wäre und niemand ihn vermissen würde […] [Hervorhebungen v. Verf.].“[13]

Demnach ist Nicolo zum Adoptivsohn geradezu prädestiniert: Seine Eltern sind verstorben und auch sonst besitzt er keine Familienangehörigen, die einen Anspruch auf ihn erheben. Er ist allein und ungebunden, scheinbar hilflos in einer fremden Umgebung. Sodann der weitere Verlauf der Erzählung betrachtet wird, lässt sich die Geologiemetaphorik weiterspinnen: Nicolo repräsentiert einen erratischen Findling, der anfangs am Wege liegt und mitgenommen wird („so hob ihn Piachi, in einer großen Bewegung, in den Wagen, und nahm ihn, an seines Sohnes statt, mit sich nach Rom [Hervorhebungen v. Verf.].“[14] ), der dann aber immer mehr im Wege liegt und sich zuhause nicht in die Familien landschaft integrieren lässt (Nicolo ist „fremd und steif“[15] ). Es kann also von dem Findling als Hindernis-Motiv gesprochen werden: Was ein Schmuckstück (Dekor), ein ersetzendes Tauschsubjekt der Familien landschaft sein könnte, entpuppt sich mehr und mehr als störendes Hindernis. Dieses Hindernis wird immer übermächtiger, bis es schließlich die gesamte Familien landschaft zerstört. Ein derartiges ‚Übermächtig-Werdens’ von Etwas, dessen Ursprung fremd ist, wird von Nicolo verkörpert. Er provoziert die Verdrängung des angestammten Familiären: Verdrängung Paolos, Verdrängung des Ehemannes Elvires, Verdrängung Piachis aus dem Hauseigentum. Diese Verdrängungsprozesse sind jedoch mitnichten lediglich auf die Taten des „höllischen Bösewichts“[16] Nicolo zurückzuführen, sondern sie basieren auf einer Vielzahl von Indizien, die beweisen, dass die Familie Piachi von vornherein einen geschädigten Mechanismus darstellt, in welchem sich ein fremder sowie tödlicher Keim (Nicolo) leicht ausbreiten kann. Dieser geschädigte Mechanismus der Familie Piachi soll im Folgenden anhand ausgewählter Szenen näher untersucht sowie enttarnt werden.

3. Die Aufnahme und Adoption des Findlings oder Die Infektion mit dem Erreger

„Schon der brüskierende Auftakt dieser Erzählung evoziert eine schockartige Verstörung, da in rasantem Tempo, das für diese Erzählung paradigmatisch ist, ein eigenes Kind, der elfjährige Paolo, aus >>Güte geopfert<< und zu Grabe getragen wird, und binnen nur eineinhalb Seiten ein fremdes Kind, Nicolo, an seine Stelle tritt.“[17]

Antonio Piachi, ein „wohlhabender Güterhändler“[18] und „Landmäkler“[19] aus Rom unternimmt eine Geschäftsreise mit seinem elfjährigen Sohn Paolo. Reiseziel ist die Stadt Ragusa, welche zu dieser Zeit jedoch von einer pestartigen Krankheit befallen ist. Aus väterlicher Sorge um seinen Sohn entschließt sich Piachi dazu, die geschäftlichen Interessen ruhen zu lassen und stattdessen die sichere Heimreise anzutreten:

„Doch da er hörte, dass das Übel von Tage zu Tage bedenklicher werde, und dass man damit umgehe, die Tore zu sperren; so überwand die Sorge um seinen Sohn alle kaufmännischen Interessen: er nahm Pferde und reiste wieder ab [Hervorhebungen v. Verf.].“[20]

Am Wegesrand begegnen sie dem unschuldigen[21] Waisenknaben Nicolo, welcher „nach Art der Flehenden, die Hände zu ihm [Piachi] ausstreckte“[22]. Er bittet Vater und Sohn, ihn, den ebenfalls Pestkranken, vor den Häschern zu bewahren, die ihn in das Krankenhaus zurückbringen wollen, in dem bereits seine Eltern verstarben. Zeitgleich „fasste er des Alten Hand, drückte und küsste sie […]“. Der entsetzte Piachi zögert zunächst und möchte „den Jungen weit von sich schleudern“. Dieser verfällt jedoch kurz darauf in eine Ohnmacht, sodass sich der Güterhändler seiner erbarmt und Nicolo in den Wagen legt:

„Piachi wollte in der ersten Regung des Entsetzens, den Jungen weit von sich schleudern; doch da dieser, in eben diesem Augenblick, seine Farbe veränderte und ohnmächtig auf den Boden niedersank, so regte sich des alten Mitleid: er stieg mit seinem Sohn aus, legte den Jungen in den Wagen, und fuhr mit ihm fort, obschon er auf der Welt nicht wusste, was er mit demselben anfangen sollte.“

Die Fachwissenschaft artikuliert differierende Ansätze, welche Piachis Motive für die Aufnahme des pestkranken Nicolos erklären sollen: Werner Hoffmeister erkennt darin beispielsweise die „aus irrationalen Tiefenschichten stammende Güte Piachis“[23] und verweist zeitgleich auf ein impulsgelenktes Verhalten des Güterhändlers. Antony Stephens hingegen sieht eine Parodie auf Rousseaus Lob des Mitleids:

„Das Schicksal des Antonio Piachi parodiert Rousseaus Lob des Mitleids als ‚la seule vertu naturelle’ im <Discours sur l’origine de l’inégalité>, indem der Sinn des Rousseauschen Textes durch den Verlauf der Handlung auf den Kopf gestellt wird. [...] Dass der mitleidsvolle Adoptivvater am Ende der Erzählung zum Mörder Nicolos aus Rache und ohne jegliche Spur von Reue wird, scheint eine gezielte Umkehrung des Sonderstatus des Mitleids bei Rousseau zu sein [...].“[24]

Erna Moore verweist in ihrer Deutung wiederum auf die psychologischen Motive der Protagonisten und behauptet, dass sich Piachi mit seiner Tat lediglich Colino ebenbürtig erweisen sowie damit um Elvires Liebe werben wolle:

„Aber in diesem Augenblick bestimmter Bilder, Wünsche, Träume aus dem Unbewußten Piacchis äußeres Handeln. Die Rettung des Knaben kann mit der Rettung Elvires verglichen werden: nun tut auch Piacchi etwas Heroisches; seine Tat schützt – wie die Tat Colinos – ein Leben und gefährdet gleichzeitig ein Leben. Piacchi will sich auf die gleiche Höhe mit Colino stellen, damit er sich um die Liebe Elvires bewerben kann.“[25]

Letztlich sind alle jene Annahmen denkbar, jedoch vom Text nicht eindeutig belegt. So beruht Moores Annahme leidenschaftlicher Gefühle Piachis für seine Frau auf bloßer Spekulation, der Text selbst bezeugt sie nirgends explizit. Allerdings impliziert das zuvor bereits angeführte Zitat eine Erklärung für Piachis gefährliche Heldentat:

„Piachi wollte in der ersten Regung des Entsetzens, den Jungen weit von sich schleudern; doch da dieser, in eben diesem Augenblick, seine Farbe veränderte und ohnmächtig auf den Boden niedersank, so regte sich des alten Mitleid: er stieg mit seinem Sohn aus, legte den Jungen in den Wagen, und fuhr mit ihm fort, obschon er auf der Welt nicht wusste, was er mit demselben anfangen sollte [Hervorhebungen v. Verf.].“[26]

Dem Findling werden hier besonders zwei Zuschreibungen zugesprochen: Er ist pestkrank und erweckt durch seine Ohnmacht das Mitleid von Piachi. Als Pestkranker ist Nicolo aber nicht nur Mitleidsfigur, sondern auch ein Erreger. Über den Austausch von Flüssigkeiten[27] infiziert er die Familie Piachi und entwickelt sich zu einem Krankheitsgeschwür im Familienorganismus, welchem zunächst Paolo zum Opfer fällt[28]. Die Aggressivität und die Gefahr, die von Nicolo ausgehen, werden von Piachi allerdings übersehen. Vielmehr entwickelt dieser ein Empathievermögen gegenüber dem Findling, das sich schließlich in Mitleid äußert. Ausgelöst wird dieses Mitleid über die Ohnmacht Nicolos. Dass Nicolo zu Beginn der Novelle jedoch als ohnmächtig (Ohnmacht = ‚ohne Macht’) beschrieben wird, erscheint dem Leser im Nachhinein als hochgradig ironisch, da Nicolo im weiteren Verlauf der Erzählung an immer mehr Macht gelangt. Piachi überschreibt ihm beispielsweise (durch dessen ökonomische Ratio bedingt[29] ) fast alle geschäftlichen sowie finanziellen Kapazitäten. Außerdem widersetzt sich Nicolo den Wünschen seiner Adoptiveltern[30] und lüftet behütete Familiengeheimnisse.

Trotz allem entwirft Piachis kurzzeitiger Gefühlsakt, nämlich die durch Mitleid erregte, noble Rettungsgeste, kein Bild eines Gefühlsmenschen, der sich (und seine Entscheidungen) von Emotionen leiten lässt. Vielmehr akzentuiert die Erzählung noch im selben Satz, welcher Piachis vermeintlich selbstlose Rettungstat verbalisiert, ein entscheidendes Detail, den Güterhändler betreffend: „[...] obschon er auf der Welt nicht wusste, was er mit demselben [Nicolo] anfangen sollte [Hervorhebungen v. Verf.]“[31]. Hier wird deutlich, dass Piachi den Personen seines Umfeldes sonst stets Funktionen bzw. einen Nutzen zuteilt. Nicolo jedoch verkörpert in seinen Augen (noch) keinen Nutzen. So ist es fast schon konsequent, dass Piachi unmittelbar im Anschluss an seinen ‚emotionalen Aussetzer’ überlegt, wie er sich des nutzlosen Nicolos wieder entledigen könnte: „Er unterhandelte noch, in der ersten Station, mit den Wirtsleuten, über die Art und Weise, wie er seiner [Nicolos] wieder los werden könne: [...]“[32]. Dass aber gerade die negative Eigenschaft des Findlings, nämlich seine Pestinfektion, die Lösung für dessen Nutzlosigkeit darstellt, erkennt der Leser, als Paolo an der Krankheit stirbt. Und auch Piachi sieht Nicolo nun mit anderen Augen, wie das folgende Zitat beweist:

„Er bestieg eben, sehr von Schmerz bewegt, den Wagen und nahm, bei dem Anblick des Platzes, der neben ihm leer blieb, sein Schnupftuch heraus, um seine Tränen fließen zu lassen: als Nicolo [...] an seinen Wagen trat und ihm eine glückliche Reise wünschte. Piachi beugte sich aus dem Schlag heraus und fragte ihn, mit einer von heftigem Schluchzen unterbrochenen Stimme; ob er mit ihm reisen wollte? Der Junge, sobald er den Alten nur verstanden hatte, nickte und sprach: o ja! sehr gern; [...] so hob ihn Piachi, in einer großen Bewegung, in den Wagen, und nahm ihn, an seines Sohnes statt, mit sich nach Rom [Hervorhebungen v. Verf.].“[33]

Mit dem Tod Paolos entsteht eine Lücke in Piachis (Familien-)Leben. Diese ist zwar auch emotional konnotiert, dennoch handelt es sich primär um eine funktionale Leerstelle, da Paolo – der einzige Sohn – selbstredend als Piachis (geschäftlicher) Nachfolger fungierte und zu einem solchen erzogen wurde. Dies erklärt in meinen Augen auch, weshalb Piachi einen elfjährigen Jungen mit auf eine Geschäftsreise nimmt. Ziel ist es, diesen so früh wie möglich in einen tüchtigen Geschäftsmann zu transformieren und ihn auf seine zukünftige Funktion vorzubereiten.[34]

Nicolos Pestinfektion evoziert nun den Tod Paolos und damit verbunden eine Leerstelle. Diese Leerstelle („bei dem Anblick des Platzes, der neben ihm leer [bleibt] [Hervorhebungen v. Verf.]“[35] ) erkennt auch Piachi, welcher diese – durch dessen ökonomische Ratio bedingt – schnellstmöglich ‚füllen’ möchte. Und genau hier kommt ihm der zuvor noch nutzlose sowie verwaiste Nicolo mehr als entgegen, da dieser nun als ‚Sohnes-Ersatz’ fungieren kann: „[...] und nahm ihn, an seines Sohnes statt, mit sich nach Rom [Hervorhebungen v. Verf.]“. „[M]it Einwilligung der guten Elvire“ wird Nicolo dort von den Eheleuten Piachi adoptiert.[36] Demnach repräsentiert Nicolo fortan ein Substitut des verstorbenen Paolos.

[...]


[1] Kreutzer 2011, S. 10.

[2] Blamberger 2005, S. 3.

[3] Vgl. Kreutzer 2011, S. 9ff.

[4] Zum Beispiel ist auch Kleists Kindehit von Religion geprägt; Der Vater heiratet in zweiter Ehe.

[5] Der Mangel an Zeugnissen und Dokumenten sowie eine ungleiche Streuung derselben behindern bzw. erschweren eine präzise Lebensbeschreibung Kleists. Vgl. dazu Kreutzer 2011, S. 9f.

[6] Beckmann 1978, S. 7.

[7] Becher Cadwell 1991, S. 67.

[8] Anker-Mader 1992, S. 72.

[9] Greiner 2000, S. 348.

[10] Vgl. Greiner 2000, S. 348.

[11] http://www.geo-glossar.de/woerterbuch/findling.html

[12] Reclam 2002, S. 47.

[13] Reclam 2002, S. 48.

[14] Reclam 2002, S. 48.

[15] Reclam 2002, S. 49.

[16] Reclam 2002, S. 63.

[17] Gerisch 2008, S. 230.

[18] Reclam 2002, S. 47.

[19] Reclam 2002, S. 48.

[20] Reclam 2002, S. 47.

[21] Vgl. Reclam 2002, S. 47.

[22] Hier sowie im Folgenden zitiert nach Reclam 2002, S. 47.

[23] Hoffmeister 1966, S. 53.

[24] Stephens 1988, S. 233.

[25] Moore 1974, S. 278.

[26] Reclam 2002, S. 47.

[27] Vgl. Reclam 2002, S. 47: „Dabei fasste er des Alten Hand, drückte und küsste sie [...]“.

[28] „[I]n Ragusa angekommen, wurden nunmehr alle drei [...] nach dem Krankenhaus abgeführt, wo er zwar, Piachi, gesund blieb, und Nicolo, der Knabe, sich von dem Übel erholte: sein Sohn aber, der elfjährige Paolo, von demselben angesteckt ward, und in drei Tagen starb.“ (Reclam 2002, S. 48).

[29] Vgl. dazu Abschnitt xx.

[30] Nicolo verkehrt gegen den ausdrücklichen Willen seiner Adoptiveltern mit den bigotten Mönchen sowie mit der Prostituierten Xaviera Tartini.

[31] Reclam 2002, S. 47.

[32] Reclam 2002, S. 48.

[33] Reclam 2002, S. 48.

[34] Bernhard Greiner erklärt die Mitnahme Paolos anders. Seiner Meinung nach möchte Piachi Paolo vor Elvire, der „hysterischen Frau“, schützen: „Piachi nimmt seinen elfjährigen Sohn auf seine Geschäftsreise mit, er kann diesen offenbar nicht bei seiner Frau zurücklassen, vielmehr stellt er diese, wenn er verreist, unter die Obhut seiner Verwandten.“ (Greiner 2000, S. 353).

[35] Hier sowie im Folgenden zitiert nach: Reclam 2002, S. 48f.

[36] Sigrid Weigel kommentiert Nicolos Adoption wiefolgt: “Als Findling bezeichnet, scheint der von der Reise mitgebrachte, buchstäblich auf der Straße aufgelesene Knabe einer anderen, natürlichen Sphäre zu entstammen; so bedarf es eines juristischen Aktes, um ihn qua Adoption in die Familie aufzunehmen. Bei der Adoption bzw. einer >Annahme an Kindes Statt< wird der Mangel einer leiblichen Abkunft durch einen Vertrag ersetzt, mit dem der Sohn in alle Rechte eines >natürlichen< Sohnes eintritt. Insofern kann der Adoptivsohn als Supplement par excellence angesehen werden, da er die Schwelle der familialen Ordnung am Übergang vom état naturelle zum état civile besetzt, und zwar gleichsam in umgekehrter Blickrichtung. Während die Familie als eine Transformation >natürlicher< Genealogie in eine Institution erscheint, stellt die Adoption qua Vertrag den Status einer natur-ähnlichen Familie her und macht damit die Hybridität jeder aus Natur und Vertrag konstituierten Genealogie kenntlich.” (Weigel 2001, S. 125).

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Heinrich von Kleist "Der Findling". Der Erreger Nicolo im Familienorganismus Piachi
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Note
1,2
Autor
Jahr
2013
Seiten
36
Katalognummer
V271871
ISBN (eBook)
9783656629221
ISBN (Buch)
9783656629207
Dateigröße
1452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
heinrich, kleist, findling, erreger, nicolo, familienorganismus, piachi
Arbeit zitieren
Maire König (Autor:in), 2013, Heinrich von Kleist "Der Findling". Der Erreger Nicolo im Familienorganismus Piachi, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/271871

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