Spiritualität und Theologie Valentin Weigels (1533-1588)

Einer der ersten reformierten Mystiker


Masterarbeit, 1998

78 Seiten, Note: 5 (CH)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

1. Biographische Skizze
1.1 Jugend und Ausbildung (1533 – 1567)
1.2 Im Pfarramt (1567-1588)

2. Erkenntnistheorie
2.1 Allgemeine Einführung
2.2 Erkenntnisfähigkeit
2.3 Übernatürliche und natürliche Erkenntnis
2.4 Erkenntnisorgane
2.5 Zwei Weisheiten: Philosophie und Theologie

3. Gotteslehre
3.1 Die Eigenschaften Gottes
3.2 Der Ort der Welt – die Lehre vom Sein
3.3 Christologie

4. Menschenbild
4.1 Mikrokosmos
4.2 Gottebenbildlichkeit
4.3 Der natürliche Mensch –Bestimmung und Ziel

5. Kirchen-, Sakraments-, und Bibelverständnis
5.1 Allgemeines
5.2 Die neue Kirche
5.3 Grundlegendes zum Sakramentsverständnis
5.4 Taufe
5.5 Abendmahl
5.6 Bibel

6. Beschreibung des mystischen Weges
6.1 Die Stufen des mystischen Weges
6.2 Notwendige Entwerdung
6.3 Busse und Opfer
6.4 Gelassenheit und Armut des Geistes
6.5 Das Gebet
6.6 Mystischer Körper und Nachfolge Christi
6.7 Synergismus, Prädestination und freier Wille
6.8 Einheit der Seele mit Gott

Zusammenfassung und Schluss

Abkürzungen

Literatur

Quellen

Weitere Literatur

Vorbemerkungen

Das sechzehnte Jahrhundert, das der Barockzeit vorausging, war ein Jahrhundert der Blütezeit für die Erneuerung des Christentums nicht nur in spiritueller, sondern auch in institutioneller Hinsicht. Es war eine Zeit grosser Umbrüche im Zusammenhang mit den Veränderungen der Reformation und dadurch auch in innerkatholischem Bereich. Damals tauchten viele spirituell bedeutsame Persönlichkeiten auf, die auf die Erneuerung Einfluss nahmen. Neben der spanischen Zeit von Teresia v. Avila (1515 – 1582) und Johannes vom Kreuz (1542 – 1591) war auch die deutsche Epoche besonders für die spirituelle Erneuerung ausschlaggebend. Die protestantische Mystik entstand im Gefolge von Martin Luther (1483 – 1546). Es folgten ihm Caspar Schwenckfeld (1489 – 1561), Thomas Müntzer (1490 – 1525), Sebastian Franck (1499 – 1542), Johann Arndt (1555 – 1621), Jakob Böhme (1575 – 1624) und Angelus Silesius (1624 – 1677), u.a. .

Die vielen Auflagen der Theologia deutsch [1] und Taulers Schriften (Eckhart) gaben der Epoche der Reformation und Gegenreformation eine besondere Prägung. Winfried Zeller spricht von einer „neuen Frömmigkeit“.[2]

Ich widme diese Arbeit dem grossen, protestantischen, mystischen Schriftsteller Valentin Weigel (1533 – 1588). Er gab der nördlichen, protestantischen Mystik ihre originelle Farbe. Die Ausdrucksweise dieser besonderen Mystik ist mehr als nur ein Phänomen der Frömmigkeitsgeschichte. Spiritualität steht nicht abseits der sogenannten strengen bzw. wissenschaftlichen Theologie, sondern ist zentral, sowohl theoretisch wie geistesgeschichtlich. Wenn sich Theologie nicht mehr mit der Erfahrung Gottes und den Wegen dazu befassen will, wird sie zur bloßen Anthropologie. Sie ist angewiesen auf die Spiritualität, denn diese gilt als Sinnspenderin. Diese Gründe haben mich dazu veranlaßt, vermehrt in der Spiritualitätsgeschichte zu graben.

Es bestehen deutliche Tendenzen, die Strömungen der Zeit wie die Renaissance, die Reformation sowie die deutsche und spanische Mystik als Vorläufer des Idealismus, der Romantik, der Aufklärung und des Pietismus zu betrachten.

Valentin Weigel hat zu seinen Lebzeiten kaum Aufsehen erregt. Er wurde erst nach dem Tode durch seine Werke in weiten Kreisen bekannt. Er wurde kontrovers diskutiert und grösstenteils abgelehnt. Das Werk Weigels machte „grossen Lärm“ im 17. Jahrhundert vor allem in Deutschland. Vieles wurde überspitzt dargestellt. Die Lehre der Weigelianer wurde in ihrem Einfluß überschätzt.[3] Wir finden Weigels Gedanken in den Werken von Johann Arndt und Jakob Böhme wieder. Johann Arndt hat in seinem Werk „Vom wahren Christentum“ zwölf Kapitel einer Abhandlung Weigels „Vom Gebet“[4] übernommen. Über diesen Kanal gelangten seine Gedanken in die lutherische Dogmatik. Sogar Böhme hatte Valentin Weigel gelesen. Im nächsten Jahrhundert hörte man nicht mehr viel Neues über Valentin Weigel, weil der Rationalismus den Mystizismus verdrängte. Weigel geriet in Vergessenheit. Aber noch im 19. Jahrhundert waren Weigels Gedanken lebendig unter den Württemberger Pietisten um Friedrich Christian Oetinger. Oetinger wiederum wirkte auf den Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling. So läßt sich die Nachwirkung Weigels bis in die klassische deutsche Philosophie verfolgen. Im 19. Jahrhundert begann man sich erneut mit Valentin Weigel zu beschäftigen. Hier ist Julius Otto Opel als Pionier der Weigel-Forschung zu nennen. Andere Weigelforscher sind August Israel, Hans Maier, Fritz Lieb und Bernard Gorceix. Siegfried Wollgast hat einen grossen Teil der Schriften Weigels ins heutige Deutsch übertragen. Winfried Zeller [5] veröffentlichte die umfangreichste Quellenausgabe. In den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts führte er die literarkritische Untersuchung durch, eine minutiöse Arbeit.

Die Redaktion einer Monographie hatte viele Hindernisse. Als erstes Problem ergab sich, als nach der Abgrenzung seines Werkes von Pseudoschriften gesucht werden musste. Im ganzen waren sechstausend Seiten unter seinem Namen aus dem 16. und 17. Jahrhundert über ganz Europa verstreut. Alle Forscher halten sich an die Texte, deren Kriterien der Authentizität Zeller ausgewählt hat.

Heute ist Mystik in vieler Munde. Viel Unseriöses existiert neben Seriösem, sei es nun östlich oder westlich. Bei dem breiten Angebot auf dem Esoterik-Markt mit ungezählten Titeln über Mystik erscheint es sinnvoll, auf die Besinnung der eigenen Tradition, des christlichen Angebots zurückzukommen, in der Hoffnung auf die gegenseitige Impulsierung und Befruchtung von Spiritualität und Theologie.

Schon von Jugend auf galt mein Interesse mystischen Themen. Schon als Schüler las ich Eckhart, Angelus Silesius, Dionysius Areopagita, Novalis, Seneca und Plotin.

Durch eine Vorlesung über die protestantische, mystische Frömmigkeit hörte ich viel über die interessanten Persönlichkeiten der protestantischen Mystik und stieß so auf Valentin Weigel. Seine Klarheit und seine Anknüpfung an die Erkenntnistheorie beeindruckten mich sehr. Bei ihm vereinen sich mystische Gesinnung, Humanismus und Naturerkentnisse auf erstaunliche Weise. Ich fand ein spezielles Interesse an dieser wenig bekannten Persönlichkeit. Natürlich war mir die katholische Mystik ein Begriff. Aber, dass auch der Protestantismus eine eigene Mystik besitzt, war für mich eine besondere Entdeckung. Ich bin selber existentiell darin engagiert, was mich dazu veranlaßte, genauere Studien durchzuführen.

Ich vereine in meiner Arbeit zwei Schwerpunkte, die mir besonders wichtig und charakteristisch erscheinen. Im Ersten skizziere ich die Erkenntnistheorie und im Zweiten den mystischen Weg. Andere wichtige Themen wie Gott, Sein, Welt, Mensch und Kirche sind Voraussetzung und Folge seiner Theologie und dürfen nicht unberücksichtigt bleiben. Sie stehen in den Kapiteln dazwischen. Ich gehe von der Philosophie aus, und berühre das, was theologische Themen betrifft, um dann am Schluss bei der Spiritualität länger zu verweilen, wobei in jedem Teil seine Grundgedanken vorausgesetzt sind.

Methodisch bin ich so vorgegangen. Als erstes verschaffte ich mir einen Überblick anhand einer Biographie und einiger Quellentexte. Ich wählte die mir wesentlichen Themen aus, durchsuchte fast sämtliche Sekundärliteratur und verglich sie untereinander. Die Kommentare zu den Themen faßte ich zum Teil zusammen und gliederte sie in meine Kapitel ein. Ich fügte Quellentexte ein, wo sie mir notwendig und erhellend erschienen.

Die Dissertation von Bernard Gorceix [6] von 1971 wurde für mich in meiner Arbeit immer wichtiger.

1. Biographische Skizze

1.1 Jugend und Ausbildung (1533 – 1567)

Das ganze Leben Valentin Weigels spielte sich in Sachsen ab. Die um Objektivität bemühte Lebensbeschreibung wurde erst seit Julius Otto Opels [7] im Jahre 1884 entdeckt. Da seine Biographie im 17. Jahrhundert verzerrt wurde, begann die Weigelforschung erst später. Vorurteile über seine Person wurden erst gegen das Ende des 17. Jahrhunderts korrigiert von einem wissenschaftlichen Biographen mit Namen Reichelius [8]. Ich habe die meisten Informationen über das Leben Weigels aus der von Weigel selbstverfassten Biographie in Siegfried Wollgasts Werk.[9] Weigel wurde im Jahre 1533 in einem Städtchen Hayn (Grossenhain) an der Elbe geboren. Wir wissen kaum etwas über die Eltern. Ihr Sohn ging dort zur Schule (Lateinschule), bis er 15 Jahre alt war. Danach verbrachte er fünf oder sechs Jahre (1548/9-1554) in der Fürstenschule St. Afra zu Meißen, wurde er von seinem ersten Gönner, dem kurfürstlichen Rat Kommerstadt gefördert. Nach dieser Schule begann er sein Studium an der Universität von Leipzig im Jahre 1554.

Die Jahre der Universität waren für ihn ein wichtiger Lebensabschnitt. Einen bestimmenden Teil seines Lebens verbrachte er an den Universitäten Leipzig und Wittenberg. Im Sommersemester 1558 wurde er zum Bakkalaureus promoviert, wir würden sagen Dozent und im Wintersemester 1558/9 war er zur Magisterprüfung eingeschrieben, was heute dem Doktor entspricht, die er auch gut bestand. Danach bekam er eine Stelle als Kurator im Paulinum, einem Studentenheim. Er hatte die Aufsicht über die Hausordnung zu führen, die Wohnungen zu vermieten und wöchentlich Disputationen zu halten. Die Disputationen, die uns überliefert sind vom Wintersemester 1558/9 waren naturwissenschaftlicher Art und hatten mit Physik und Astronomie zu tun, Fächer, die ihn neben der Theologie immer angezogen hatten.

Nach seinen langen Studien in Leipzig, schrieb er sich in Wittenberg ein. Es ist unbekannt, ob er hier nur studierte oder auch schon lehrte. Bei dieser Gelegenheit schrieb er einen Brief an den sächsischen Kurfürsten, die handschriftlich überliefert ist und mit der die anderen Manuskripte verifiziert werden können. Weigel studierte länger als die meisten anderen Studenten. Er wollte wahrscheinlich seine Studien erst abschließen, wenn er genügend Wissen angesammelt hatte, auch wenn der Kurfürst ihn sozusagen in eine Pfarrstelle entließ. Er blieb neun Jahre an der Universität von Leipzig (1554-1563) und vier in Wittenberg (1563-1567) mit Hilfe zweier kurfürstlichen Stipendien. Die erste Berufung zum Pfarramt, die der ältere Student im Jahre 1567, vier Jahre nach dem Einschreiben in Wittenberg bekam, wurde auf Verlangen des Kurfürsten gegeben. Er wurde Pfarrer in der Gemeinde Zschopau, einem kleinen Städtchen in Kursachsen, wo er bis zu seinem Tode blieb. Im Jahr darauf heiratete er die Pfarrerstochter Katharina Beuche, die ihm drei Kinder gebar.

1.2 Im Pfarramt (1567-1588)

Über Weigels Tätigkeit ist im Einzelnen nicht allzuviel überliefert. Vieles verdanken wir auch der Biographie Gottfried Arnolds [10]. Damals wurden nicht wenig Biographien über fromme Menschen verfaßt, selbstverständlich mit vielen übernatürlichen Elementen, die auch bei Valentin Weigel nicht fehlen [11]. Jedermann sah seinen bescheidenen und vorbildlichen Lebenswandel, seine Güte, sein offenes Herz, besonders für die Armen. Kein Wunder, dass er in Zschopau hoch geachtet und sehr beliebt war. Weigel ist zeitlebens innerhalb der lutherischen Kirche bewusst einen eigenen Weg gegangen.

Auf seinem mystischen Weg war er stark beeinflusst von einer Erleuchtung. Weigels Bericht [12] über sein zentrales Erlebnis erzählt von einer ungewöhnlichen Erleuchtung. Ein Licht ergoß sich von oben in sein Inneres, und es kam vom Himmel, was er deutlich empfand.[13] In seiner Erleuchtung wurde ihm das „mystische Auge“[14] geschenkt, so nannte er es. Er nannte es kein subjektives Erleben. Es war für ihn ein realer Vorgang, durch den er „alle Dinge sehen und beurteilen konnte.“[15] Weigel sah alles in einem neuen Licht, unendlich viel schärfer und klarer als bis anhin. Auf diesem Erlebnis sind alle seine Ausführungen begründet. Das innere Auge gewährte ihm den Blick für die übernatürliche Sophia. Weigels Erleuchtung in seinem stillen Kämmerlein war wohl ein Erlebnis des inneren Menschen, aber der äußere Mensch wurde aufs stärkste mitbetroffen. Dann versuchte er aufgrund dieser Illuminatio, die Grundlagen seiner Mystik festzulegen. Die Intuition, die er davon erhielt war beständig und beeinflußte sein ganzes Werk und Schaffen.

Weigel verbrachte viel Zeit allein und studierte. Er las, was den inneren Menschen förderte, aber nicht jene Schriften, die damals die Theologen beschäftigten. Melanchthons Bücher schob er beiseite, weil er nur ein Grammatiker gewesen sei. „Auch finde ich nichts an der Confessio Augustana“, gestand er, und das ist bei seinem mystischen Suchen durchaus glaubwürdig. „Aber in den Bücher Lutheri suchet besser! Da findet ihr eben solche Reden, wie jetzt von mir gehöret, sonderlich in seinen ersten Schriften,“[16] bemerkte Weigel einmal. Er betont die Verbundenheit mit dem werdenden Luther, der die mystische Literatur ebenfalls schätzte. Er vertiefte sich auch in die Predigten „des hoch erleuchteten Johannes Tauler.“[17] Valentin Weigel hat sich an Tauler entzündet. Er wurde auch vom „Frankforter“ beeinflusst, zu dem er selbst eine Einleitung schrieb. Der Zschopauer Pfarrer nennt die „deutsche Theologie“, „ein kostbares kleines Buch“, das man nur mit „dem Schlüssel Davids“ aufschließen könne, das heisst mit der persönlichen Erfahrung. Er ist sogar bis zu Meister Eckhart vorgestoßen, dessen Worte er zitiert, aber dessen Größe er nicht genau gekannt hatte. Das behauptet Winfried Zeller in seinem Aufsatz über den Einfluss Eckharts auf die Mystik Weigels.[18] Sicher ist Eckhart nicht die einzige Quelle Weigels und sicher auch nicht in allem die entscheidende. Die allgemeinen mystischen Grundgedanken sind auf Weigel eher durch das Medium Tauler und der Deutschen Theologie eingeströmt. Weigel hat ja nicht im wissenschaftlichen Sinn Eckhart historisch reproduzieren wollen. Ferner las Weigel Thomas a Kempis’ Nachfolge Christi sowie zahlreiche Kirchenväter und ebenso auch Philosophen der Antike, z. B. Seneca, Plotin, Boethius etc. Auch kannte er die Schriften Schwenckfelds, auf die er sich gelegentlich beruft, zwar sagt er, die Beziehung zu Schwenckfeld trage dem Menschen leicht den Vorwurf eines „Enthusiasten“ ein, aber er stellte fest: „Nicht Schwenckfeld allein, sondern Christus selber und seine Apostel lehren also.“[19] Ebenso muss sich Weigel mit den Schriften Sebastian Francks auseinandergesetzt haben, denn es finden sich bei ihm Ausführungen, die wie ein Echo auf die Paradoxa Francks [20] erscheinen: „Die Schrift ist hell und klar, und ist Gottes Wort; die Schrift ist dunkel und finster, ja gar ein Gift und Tod.“[21] Bei seinem grossen Interesse für die Naturwissenschaft zogen ihn natürlich die Schriften von Paracelsus an. Er erhob auch die Klage, die bis heute ihr Recht behalten hat: „Was ist dem Theophrasto Paracelso widerfahren, man nimmt nur seine Philosophicos Libros an, aber seine Theologiam will noch diesen Tag niemand fördern helfen.“[22] Der Rückgriff auf die religiösen Schriften Paracelsus’ ist Weigel hoch anzurechnen. Es existiert heute eine neue Paracelsus-Forschung, die auch die Theologie Paracelsus‘ kennt.[23] Die meisten dieser Autoren waren damals nicht unumstritten und trotzdem las Weigel sie ohne Vorurteile und zeigte im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen damit seine geistige Unabhängigkeit, obschon das im geheimen geschehen mußte. Über der eifrigen Lektüre der mystischen Schriften vernachlässigte er aber keineswegs die Bibel, im Gegenteil, er schätzte sie stets höher als alle anderen Bücher. Allerdings unterschied sich seine Auslegung vom Schriftverständnis der Reformatoren.[24]

Im ruhig dahinfliessenden Leben Weigels gab es zwei kritische Situationen. Das Luthertum begann mit der Einführung der Konkordienformel und verlangte von allen Theologen die Zustimmung mit einer Unterschrift. Die lutherische Konkordienformel ist das Ergebnis des Bemühens um theologische und (kirchen-)politische Einheit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Debatte wurde zwischen den Philippisten- der Kreis von Theologen um Melanchthon- und den Gnesiolutheranern -Verfechter der „reinen Lehre“- hart geführt. Vor allem wurden Themen wie Erbsünde und Willensfreiheit, Rechtfertigung und gute Werke, Gesetz und Evangelium, tertius usus legis, Adiaphora (Kirchengebräuche) diskutiert. Zwei Intentionen lagen im Streit miteinander: das Bemühen um eine Einigung auf ältere Bekenntnisse, d.h. die Festlegung eines „Corpus doctrinae“, und die Erstellung einer neu auszuarbeitenden Einigungsformel zwischen den streitenden Parteien. Der Bekenntniskanon wurde letztendlich folgendermaßen festgelegt: Apostolicum, Nicaenum, Athanasianum, Confessio Augustana, Schmalkaldische Artikel, Luthers kleiner und grosser Katechismus. Die Konkordienformel hat dabei nicht den Rang eines neuen Bekenntnisses, sondern versteht sich als Präzisierung und verbindliche Interpretation der Confessio Augustana.[25]

Für Weigel bedeutete das eine schwere Zeit, mußte er sich doch ernstlich überlegen, wie er sich gegenüber dieser Forderung nach Unterzeichnung, mit der er nicht einverstanden war, reagieren sollte. Er wurde mit anderen Theologen am 15. Juli 1577 nach Chemnitz beordert und unterschrieb, ohne ein Wort des Protestes. Das äußere Schweigen bei der inneren Ablehnung der Konkordienformel wurde ihm oft zum Vorwurf gemacht. Wer ihm wohlwollend gesinnt war, sprach von einem Rätsel. Man sprach auch von Unehrlichkeit. Bis heute hat der Widerspruch keine befriedigende Erklärung gefunden. Die Haltung des Pfarrers, als er die Konkordienformel unterschrieb, war natürlich nicht ein Einverständnis, sondern ein wohlüberlegter Schritt, dessen Beweggrund von der Art seiner spirituellen Lebensführung herkam. Ein Teil seiner Rechtfertigung können wir im Dialogus de Christianismo nachlesen. „Auditor: Es liget nicht an, ‚der Glaube ist nicht jedermans Ding‘. Were Christus erkannt bey allen diesen Stendten, so würde er auch sein Regiment und herschafft in euch und in ihnen haben und ir alle würdet seine Sprache vernehmen und gerne leiden können. Ich habe mich zwar auch unterschrieben ettlichmal aus beweglichen Ursachen; aber keinen Eydt hab ich auf Menschenbücher darmitte gethan, sondern ich habe mich mit solcher Verschreibung versprochen, auff den Schrifften der Propheten und Aposteln zu bleiben und daruon nimmermehr zu weichen. Finde ich aber - / - ettwas darneben in den Schrifften der Lehrer, das der apostelischen Wahrheit gemes were, so wollte ichs auch annehmen. Aber das ich sollte in die Bücher der Menschen schweren, das sei ferne. Es sol kein Lehrer so vil bei mir gelten, das ich auf ihn sterben wolte, wie sich dann ettliche so harte hengen an den Pabst, an den Luther, an den Philipp, an den Zwinglium, an den Schwenckfeltt, an den Hosiandrum, an den Machomet und andere Menschen, das sie sich auch darüber veriagen und toden lassen. Nein, mir nicht also! An Jesum Christum hange ich mich, bei den Schrifften der Aposteln und Propheten bleibe ich bis in den Tod.

Concionator: - / - Hangestu nicht an den Lehrern? Wie das du dich denn iren Büchern untterschrieben hast so wol als ich?

Auditor: Nicht irer Lehre oder Menschenbüchern habe ich mich unterschrieben, sondern dieweil sie iren intent haben auf die apostolische Schrifft und dieselbige allen Menschenbuchern vorziehen (wie billich), konnte ich das wol leiden, hetten sie aber ein eynig ander Buch uber die Schrifften der Propheten und Aposteln gesetzt, würde ich nicht zugeplatzet haben. Zudeme war es eine schnelle Uberhuiung oder Ubereylung, das man nicht ettliche Tage oder Wochen, solche Dinge eynem jeden insonderheit zu uberlesen vergönnete, sondern - / - nur in einer Stunden dem gantzen Hauffen vorgelesen und drauf die subscription gefodert. Zum dritten wollte mir armen Zuhorer nicht geburen, dem Teufel ein Freudenmal zu machen und anzurichten, das der ganze Hauffe geschrien hette: Da, da, wir habens wol gewust er sei nicht unserer Lehre gemess! Also hette mein unbeweglicher apostolischer Grund mussen vor eine vorlogene Lehre gehalten werden, welches Gott nicht gesellig, die ‚Perlen fur die Sew‘ zu schütten oder ‚das Heyligtumb den Hunden zu geben‘. Zu Lohne hetten sie mich zertretten und zerrissen, were mir billich geschehen, das ich fur der Zeit mir mein Leben hette abge - / - kürtzet. Meine Bekentnis were keinem unter dem gantzen Hauffen nutze gewessen, nur ergerlich. Keiner wehre von der falschen Lere abgetretten, mir wehre geschadet worden und ihnen gar nichts geholffen, und viel Dinge weren dahinden blieben durch mein unzeitiges Bekennen. Gott wird michs wol heisen, wenn ich sol sprechen zu den hohen Schuelen: sie kennen Christum nicht. Wer unberufft leufet, richtet nichts aus, mache mir also gar kein Gewissen mit diesem Untterschreiben. Ich bleibe, verharre und sterbe in diesem Grunde, den ich euch erzehlet habe. Die Welt mag von mir urtheilen, was sie wolle, dieweil ich eben darmit mein freiheit des Geistes bezeuget habe, das ich sein konne unter allen - / - Secten one Schiffbruch meines Glaubens, one Verletzung meines Gewissens. Mein Schatz liegt im Herzen, den kann mir keine Secte nehmen, es sey Bapst, Luther, Zwinglius oder wer da wölle.“[26]

Die zweite kritische Situation in seinem Leben waren die Besuche von Visitatoren, die ihn auf die rechte Lehre hin prüfen sollten. Laut der Klage eines Matthias Seydel, eines Kollegen im Nachbarstädtchen Augustusburg (Schellenberg), der Weigel beschuldigte, er habe gesagt, Luther sei in der Lehre nicht rein gewesen, wurden Besuche von Prüfern häufiger. Aber sein Kollege mußte dann seine Anklage mangels Beweise fallen lassen. Bei den darauffolgenden Visitationen von 1577 fanden die Besucher auch nichts zu beanstanden. Es gab nichts vorzuwerfen, der Pfarrer schien ihnen kultiviert und seine Kompetenz in theologischen Themen befriedigend. Durch die Fragenden wurde er als theologisch zuverlässig und fundiert in seinen Antworten über Christus und das Abendmahl befunden. Weigel hat mit seiner Predigttätigkeit kein unwürdiges Doppelspiel getrieben. Ebensowenig hat er seine mystische Weltanschauung heimlich verschwiegen. Wie jeder verantwortungsvolle Pfarrer hat er sich lediglich dem Verständnis seiner Gemeindeglieder angepasst, denn ohne dieses Entgegenkommen hätte er über die Köpfe hinweg geredet. Weigel aber hat sicher nichts auf der Kanzel gesagt, woran er nicht selbst geglaubt hätte. Die einzige Predigt, die zu seinen Lebzeiten gedruckt war, zeigt einen ernsten, strengen Prediger, der gegen die „Maulchristen“ Front bezog und solche „Pfeiffer“ nicht schätzte.[27]

Zu Beginn ist die Kritik, die Weigel gegenüber seinem Jahrhundert formuliert, ähnlich wie die Luthers. Valentin Weigel stützt sich auf den Reformator von Wittenberg, um den Glauben der falschen Christen zu beschreiben, welche die Geschichte Christi kennen, viel kommunizieren und vergessen, daß der Glaube etwas Lebendiges und Wesentliches ist. Die Spiritualisten seiner Zeit übernahmen die Argumente, die den Feind des „Maulchristen“ enthüllten.[28] Der Einfluß Schwenckfelds und Francks ist wohl nicht auszuschließen. Sebastian Franck ging bis an die Grenze dieser Gedanken: Sobald man versucht, das Christentum in Regeln und Ordnungen zu fassen, hört es auf, Christentum zu sein.[29]

Weigel sah die Situation, in der sich die Christen befanden, und er wünschte erneuernd zu wirken, ein reines Christentum zu lehren, auf Luther und die Evangelien bauend. Durch die gehässigen Streitigkeiten der lutherischen Scholastik wurden viele religiöse Ansätze schon im Keime erstickt, und sogar die guten Werke betrachtete man teilweise schon als schädlich zur Seligkeit. Stellungnahmen zu Luthers Ideen und die vielen Zitate von Luther, mit denen er sonst sehr diskret umging, zeigen uns die Gegenwart einer starken Verteidigung und öffentlichen Rechtfertigung mit Hilfe der Lehre Luthers. Aber die Unschuld der Anklage zur Häresie wurde erwiesen. Es geschah dann aber aufgrund des Zwanges zur Unterzeichnung der Konkordienformel und anderen Umständen später eine zunehmende Distanzierung zum konfessionellen Luthertum.

Der größte Unterschied zwischen der lutherischen und weigelianischen Theologie ist der, dass für Luther Gott nicht eine a priori im Menschen daseiende Größe ist, daher kennt lutherische Theorie Gemeinschaft mit Gott, nicht Einheit zwischen Endlichem und Unendlichem. Während Weigel die Sünde in der Kreatürlichkeit sieht, welche sich im Eigenwillen offenbart, stehen für Luther äußerliche Kreatürlichkeit und innere Geistigkeit sich nicht wie gut und böse gegenüber, sondern der Unglaube hat den ganzen Menschen, nach Leib, Seele und Geist, und der Glaube ergreift wieder den ganzen Menschen. Weigel überläßt den äußeren Mensch sozusagen den Würmern und gibt dem inneren Menschen ein neues Fleisch. Wenn für Luther Gott nicht an die menschliche Innerlichkeit gebunden ist, dann kann der Glaube nicht durch die Gelassenheit d. h. durch die Einkehr in den innersten Grund der Seele erlangt werden, sondern dann bleibt er an eine Realität „außer uns“ gebunden, an das Wort Gottes. Bei Weigel schafft das innere Wort als psychische Größe das Äußere, bei Luther schafft das äußere das innere Wort. Luther wörtlich: „Mit dem Wort kommt Christus ins Herz“. Und im Unterschied sagt Weigel: „Der Buchstabe wirket nicht den Geist / alle Dinge gehen von innen heraus.“[30] Für Luther ist das Vorbeigehen am äußeren Wort Schwärmerei und Subjektivität. Das was Weigel über das innere Wort sagt, bezieht er auf das von Gott ausgehende äußere Wort, welches mit Schöpferkraft den Menschen neu gestaltet. Weigel erstrebt die wesentliche Vereinigung des Menschen mit Gott, gemäß Luther wird dem Menschen durch den historischen Christus die Gemeinschaft mit Gott geschenkt. Christus wird vor Gottes Augen, was ich bin, ein Sünder, er nimmt die Sünde auf sich. So werde ich vor Gott, was Christus ist, ein Gerechter und Heiliger. Nach Luther ist Gott nicht der in der Seele der Menschen wohnende, sondern ist Herr der Geschichte und als solcher geht der Mensch nicht in ihm auf, sondern steht ihm gegenüber. Luthers Glaube ist das bedingungslose Vertrauen auf Gottes Verheissung, bei Weigel ist der Glaube an das Aufgeben des Eigenwillens, das Absterben des äußeren Menschen, gebunden. „Das spiraculum... der Geist Gottes, das [innere] Wort Gottes, der Christus in uns ... erwartet / ... gefühlet geschmecket werden / inwendig in uns / im inneren Grund der Seelen.“[31]

Weigel wollte überhaupt kein neues Konzept in die Tradition einfügen. Er wollte nicht um diesen oder jenen Artikel streiten. Er verurteilte höchstens die Verwirrung der „Sekten“ und sah die Sinnlosigkeit sich zu streiten. Seit 1580 begann der Einfluß von Paracelsus auf Weigel zuzunehmen. Dies verstärkte auch die Verhärtung seiner Haltung gegenüber der Orthodoxie. Außerdem bei den strengeren Dogmen der Konkordienformel wurde es für ihn problematisch, bis er dann später im „Dialogus de Christianismo“ die lutherische Spiritualität völlig zurückstößt und sich einläßt auf einen Kampf über die Vergebung der Sünden. Sein Manuskript „Von der Vergebung der Sünden“, welches erst 1964 entdeckt wurde, zeigt seine Ansichten am deutlichsten. Er kritisiert eigentlich nur das Übergewicht der Imputatio [32] in der Heilsökonomie bei Melanchthon. Die Bedeutung der Absolution würde ja dann überhaupt hinfällig. Ebenso würde zusätzlich die eigene Suche nach dem Glauben und dem Heil unnötig und überfüssig.

„Auditor: Mercket, lieber Herre, meine Meinung von der imputatiua iustitia. Ich sage nicht, das der Mensche one Sünde sey, denn alle Heyligen haben Sunde; und wer da spricht, er habe keine Sünde, der ist ein Lügener, und Christus ist nicht umb der Frommen und Gerechten willen kohmen, sondern umb der armen Sünder willen. Nun saget Johannes, wie gemeldet: ‚Wer da saget, er habe keine Sunde, der ist ein Lügener, und die Warheit ist nicht in ihme,‘ das ist Jesus Christus wonet nicht in ihme. Es - / - stehet aber auf den andern Blatt also: ‚Wer da Sünde thut, der ist aus dem Teufl und nicht aus Gotte geboren‘; das ist: wer da Sunde thut und will ihm noch lassen iustitiam Christi zurechnen, der ist aus dem Teuffel und ein Teufelskindt aus dem Sathan geboren. So wirdt nun keinem der Todt zugerechnet als dem Gläubigen. Keiner aber gleubet an Jesum Christum, er lasse denn seine Sünde nicht herschen, das ist one Wiederwillen sich badet in Lastern und Sünden. Und ist also ein trefflicher Unterscheidt zwischen Sünde haben und Sünde thuen.“[33]

Seine Haltung hatte er mit geschickten Argumenten verteidigt. Seine Unterschrift, die er unter die Konkordienformel gesetzt hatte, war nur eine Unterschrift unter ein sogenanntes „Menschenbuch“, das heisst ein Werk, das nicht die göttliche Weisheit ist. Wozu dient der Protest gegen ein solches Schreiben, er fragte sich, wieweit er der kirchlichen Obrigkeit Gehorsam schuldig sei. Zwei Gesetze existieren für ihn: das weltliche und das göttliche. Beide haben ihren Wert und sind zu respektieren.

Ein halbes Jahrhundert von innerprotestantischen und katholischen Unruhen, Streitereien, die Anathemata des Katechismus des Tridentinums und die Konkordienformel überzeugte jeden ehrlichen Beobachter und Gläubigen von der Nutzlosigkeit einer Handlung. Das macht die Haltung Weigels verständlicher und vernünftiger. Denn ein Geist des Widerstands führt in die Gewalt und noch mehr davon sollte man vermeiden. Weigel drückt es klar aus: „Es ist dir nicht bevholen, zu reformiren die ketzer noch ein Neues auffzubringen, sondern in der gedult Jesu zu wandeln. Gott wirdt es wol richten zu seiner Zeit ohne dich.“[34]

Seine ungeheure Wirkung beweisen die vielen Widerlegungsschriften. Georg Baring hat in gewisser Hinsicht Recht, wenn er schreibt: „Als Weigelianismus, das heisst mit Valentin Weigels Namen, wurde fast 100 Jahre jede Richtung innerhalb der evangelischen Kirche bezeichnet, deren Meinungen im Gegensatz zur orthodoxen Lehre standen.“[35] Auch seine Bedeutung als Philosoph ist nicht zu unterschätzen. Der grosse Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz war ein guter Kenner der Weigelschen Schriften.[36] Er nannte Weigel einen Mann „von Grossem, ja fast allzugrossem Verstand“.[37] Dabei hat ihn neben den philosophisch-theologischen Auffassungen auch die mathematisch-mystische Zentrum- und Zirkelsymbolik interessiert.[38] Die aktivischen Züge der Mystik sind bei Weigel durch die Verbindung mit Paracelsus und Elementen des Rationalismus noch verstärkt. Hier finden wir vorgeformt, was in der klassischen deutschen Philosophie so typisch ist: das aktive Element, wie es etwa in Fichtes Tatphilosophie zum Ausdruck kommt. Durch die Betonung des aktiven Elements in der Erkenntnis, aber auch im Handeln wird Weigel zwar noch nicht zum „Vorläufer“ Fichtes. Lineares Denken führt auch in die Irre. Aber eine genauere Untersuchung würde wahrscheinlich den Anteil Weigels an der Herausbildung von Voraussetzungen der klassischen deutschen Philosophie höher einschätzen, als bisher. Das gilt übrigens auch für Böhme, wenn gleich Böhme nicht ganz so stiefmütterlich wie Weigel behandelt wurde.[39]

Sein Tod erfolgte unerwartet im Jahre 1588. Er wurde begraben in seiner Kirche nahe dem Altar. 1888 sorgte der Zschopauer Weigelforscher August Israel dafür, dass zum 300. Todestag Weigels in der St. Martinskirche eine Nachbildung der seit dem Stadtbrand von 1748 verschollenen Grabtafel Weigels angebracht wurde. Dies geschah in der Absicht, Weigel zu rehabilitieren. Schon Reichel reproduzierte ihn und der ungefähre Wortlaut darauf war:

Quae per tempus amitto

hoc invenio in aeternitate.

quae in aeternitate possideo

cognosco in tempore Das Grab von Valentin Weigel ist heute nicht mehr zu sehen in der Kirche von Zschopau. Am 10 Juni 1888 wurde ihm zu Ehren eine Bronzeplatte aufgestellt, auf der folgendes geschrieben steht:

Wer Christo glaubet und fürchtet Gott,

dem manglet nichts weder hie noch dort.

Mensch lerne dich selber erkennen und Gott,

so hast du genug hier und dort.

Ruhe und Stille ist Gottes Wille,

das in mir, Herr auch erfülle. Amen.[40]

Auf dieser Inschrift finden wir die zentralen Themen Weigels aus seinen Werken. Das Erkenntnisbemühen und das mystische Anliegen sind die zwei Säulen seiner Weltanschauung.

2. Erkenntnistheorie

2.1 Allgemeine Einführung

An dieser Stelle handelt es sich vor allem um den Ausgangspunkt von Weigels Erkenntnislehre. Fast alle Quellenzitate zu seiner Erkenntnistheorie stammen aus seinem außergewöhnlichen Werk „Der Güldene Griff“ (G.Gr.), dessen Verlauf die Stufen der Erfahrung zeigt, entsprechend der traditionellen, mittelalterlichen Stufenmystik. Am Anfang wird beschrieben, wie der Mensch in die Dunkelheit gefallen ist. In einer Phase der Unsicherheit und Verzweiflung kehrt er sich Gott zu. Er will nur seine Lage beklagen, nicht mehr. Seine eigene Angst und die mißliche Lage, in welcher er steckt, versucht er loszuwerden. Möge doch Gott die Finsternis verscheuchen, damit alle, nicht nur Ich-selbst, gerettet werden. Der Weg, welchen der Mystiker einschlägt, ist das Gebet oder die Klage. Dieser Schrei führt zur inneren Ruhe oder Sabbat, wie Weigel es ausdrückt, um die Stimme Gottes zu hören. Die Erleuchtung folgt aus dem Gebet, sie geschieht plötzlich. Valentin Weigel erlebt sie als Abstieg der Gnade: „Wie ich also schlieff und betet zu dem Herrn / wiederfuhr mir Gnad von oben herab.“[41]

„Ehe ich zum Anfang des wahren Glaubens kommen und auch noch mit andern nicht Gott, sondern der Menge der Menschen zu gefallen gläubete, war ich oft sehr bekümmert umb diesen oder jenen Artikel. Ich hätte auch gerne gewußt, worauf ich bauen sollte. Ich nahm vor mich viel Scribentenbücher und las dieselben, aber mir geschach kein Genügen; mein Herz war immer ungewiß. Siehe, ich kunnt weder Grund noch Wahrheit finden. Ich sahe an und bedachte unsere klägliche und erbärmliche Finsternis, das Schwanken, Tappen und Fehlgreifen der Menschen. So viel Sekten und Glauben (=Glaubensgrundsätze) fand ich unter denen allein, die da ihres Grundes und Dinges wollten gewiß sein und Schutz aus der heiligen Schrift zu haben vermeinten. Ich sahe an, wie ein irriges und verwirrendes Ding unser babylonischer Turm wäre: so man vom Glauben redete, so wollte der ander Werk haben; so man von Früchten fragte, so wollten jene einen erdichteten Glauben (=erdachte Glaubensformel) haben. Der Dritte saget, die Sakrament wären notwendig zum Glauben oder zur Seligkeit. Der Vierte gab vor, man müsste den Glauben erst holen aus den Sakramenten. Der Fünfte hielt es dafür, der Glaube müsste v o r den Sakramenten da sein, sonst wären sie weder kräftig noch nütz. Der Sechste sprach: Allein der wahre Glaube an Jesum Christum macht gerecht und selig und sonst nichts. Es hiesse, wie es wolle, darüber war er ein Schwärmer und Sakramentierer gescholten.

Da sahe ich, wie einer den andern vor weltlicher Obrigkeit angabe und ihn carcerierte, verjagt von wegen der Erbsünde, des freien Willens, der Person Christi, und war ein solches Tappen, Fehlgreifens und Scharmützelns umb den Himmel, und wollte doch niemand hinein, wie auch noch geschicht jetziges Jahr 1578 und will noch kein End nehmen.

Wie ich nun also ungewiß war und hart bekümmert und mit einem innigen, inbrünstigen Herzen zu Gott rufte und schrie und sprach: Ach Gott und Wahrheit, dir sei es geklagt, wie wandeln wir so elendiglich im Finsternis. Es ist doch gleich, als habe man die Blinden gegeneinander gehetzt, in der Finsternis miteinander zu kämpfen und zu fechten, da einer ebensobald seinen besten Freund trifft und schlägt als seinen Feind. Laß mir leuchten dein Licht, o HERR, auf dass ich neben andern aus diesem Wust der Finsternis errettet werde.

Wie ich also schließ und betet zu dem HERRN, widerfuhr mir Gnad von oben herab: dann mir ward ein Aug gezeiget, welches mich erfreuete und mein Herz erleuchtete, dass ich alle Ding sehen und urteilen kunnt, viel klärer und lauterer, weder dass (=als) mich alle Lehrer mit ihren Büchern in der Welt lernen kunnten; denn daraus waren alle Bücher geschrieben von Anfang der Welt. Und dies Buch ist in mir und in allen Menschen, ... aber gar wenig, ja freilich gar wenig können dasselbige lesen!...

Ich aber, o Herr, danke dir..., dass du mich gelehrter machest als alle meine Lehrer und Buchschreiber, der du mir das rechte Buch zeigest in meinem Herzen, dardurch die ich die Heilige Schrift lesen kann...“[42]

Weigel war sich der Tragik des menschlichen Erkenntnisstrebens, die den Irrtum beinhaltet, bewusst geworden. Der Mensch steht vor einem Rätsel, dessen Lösung er zu finden hofft. Er sucht nach Gründen des Irrtums und Mittel, ihn zu überwinden. Weigel hat das mit großem Ernst getan; doch ihm „geschah kein Genügen“. Erst als sein Gebet ihn erfüllte, wurde der Schleier fortgezogen. Er entdeckte ein Erkenntnisorgan, „ein Aug“, womit er alles „klärer und lauterer“ als die scharfsinnigsten Gelehrten erkennen konnte.

Er sieht das Licht von Gott, das ihn zu einer außergewöhnlichen Wahrnehmung verhilft. Das Herz ist plötzlich erleuchtet. Dann, wenn die Gnade in die Seele einfällt, spricht er immer wieder von zwei Bildern: eben dem Auge und dem Buch [43]. Dieses Buch ist in das Herz eingraviert durch den Finger Gottes. Gott enthüllt eine Wissenschaft, die den Menschen gescheiter macht, als alle Schriftsteller und Lehrer. Dies ist das Leitmotiv im ganzen Werk Valentin Weigels. Eine kritische und gewissenhafte Persönlichkeit wie Weigel hätte nicht so gesprochen, wenn sie sich nicht Rechenschaft abgelegt hätte über das, was in ihr vorgegangen war. Genau das macht ihn auch zu einem Philosophen. Er hatte seine spirituelle Erfahrung erkenntnistheoretisch begründet und geht davon aus, dass jeder sie logisch nachvollziehen kann. Das ist Stärke seiner Überzeugungskraft. Er erzählt nicht nur irgendwelche Erlebnisse, sondern er versucht sie auch gedanklich nachzuvollziehen und zu untermauern. Es gelingt ihm Vernunft und Mystik in gelungener Weise zu verbinden und zeigt dadurch, dass diese zwei sich nicht immer gegenüber stehen müssen.

„Das 3. Kapitel: Dass zwei Ding gehören zum Sehen und Urteilen, nämlich das Aug – der Gegenwurf:

[Im Falle] Dass wir mit unser leiblichen Augen ein Ding sehen und erkennen wollen, so seind drei Stücke darzu vonnöten: Das erste ist das Werkzeug oder das Instrument, als das Aug selbst. Das ander Stück ist das obiectum oder Gegenwurf, als der Turm oder der Baum, der da gesehen wird. Zum dritten durchsichtige Luft oder gebührliche Weite zwischen dem Auge und dem Gegenwurf; dann so die Luft finster und dick wird, kann ich den Turm oder Baum nit sehen; auch so ich mein Aug zuhätte und läge an dem Turm oder Baum, also dass kein Mittel oder spacium zwischen dem Aug und dem Gegenwurf bleibe, so könnte ich auch nicht sehen; darum muss ein lichter Luft sein, und bedarf das Aug ein äußerlich Mittel oder Licht, den Gegenwurf zu sehen. Was ich vom Aug sage, das verstehe auch vom Gehör.

Das ist aber alles geredt von dem natürlichen, viehischen Aug wie auch ander Tier mit uns zugleich haben und bedürfen. Aber soweit der Mensch über das Tier ist, soweit hat er auch ein bessere Art zu sehen, [nämlich] mit dem inwendigen Aug. Darumb wollen wir auch das äußere Aug fahren lassen und vom rechten Aug handlen auf diese Weise: Soll ich einen sehen oder verstehen, gehören nicht drei Stück darzu, wie im viehischen, sinnlichen Aug, sondern nur zwei, als das innere Aug und der Gegenwurf... Das innere Aug des Herzens oder der Seelen bedarf keines äußerlichen Lichts oder Luft; es hat sein eigen Aug und Licht in ihm selber... und ist selber das Licht und gehören nur zwei Ding zum Sehen und Urteilen, nämlich: das und der Gegenwurf; der siehet und, das da gesehen wird...“[44]

Er bezeichnet die Maxime seiner Gedanken als die notwendige Innerlichkeit aller authentischen Erkenntnis. Das erste Merkmal des göttlichen Buches ist seine Gegenwart im tiefsten Grund in uns. Der wahrhafte Empfänger ist im Mensch selbst. Es hängt von keinem äußeren Modell oder Lehrer ab. In seinem „Büchlein vom wahren seligmachenden Glauben“ versucht er die Übereinstimmung seines Ansatzes mit den Gedanken Luthers zu begründen. Auch Luther spricht von der inneren Taufe, die stärker ist als die sinnliche Erfahrung. Der Glaube ist bei beiden eine Gewißheit im Inneren des Menschen. Und bei beiden stirbt der alte Adam den inneren Tod, und sie sprechen beide von der Neugeburt Christi im Menschen. Weigels Appell an seine Zeit ist, dass der Glaube nicht etwas sei, das sich auf die äußere Praxis reduzieren darf. Aber er gibt den Ritualen auch eine notwendige Rolle. Gnade durch den eigenen Tod verursacht allein durch das Gebet und das Sakrament.

Koyré [45] nennt es kurz einen paracelsistischen Augustinismus. Sicher können Elemente beider Lehren wiedergefunden werden, aber es wäre zu einfach, es einen Augustinismus zu nennen.

[...]


[1] Der Franckforter, Das Buch vom vollkommenen Leben, Die Theologia deutsch des Frankfurter Deutschherren, Hg. v. G. Wehr, Andechs 1989

[2] W.Zeller, Der Protestantismus des 17. Jh., 33

[3] Gorceix, La mystique de Valentin Weigel, 16

[4] Valentin Weigel, Christentum, 498 – 523;

[5] W. Zeller, Die Schriften Valentin Weigels, 21

[6] B. Gorceix, aaO

[7] J. O. Opel, Valentin Weigel, Leipzig 1864

[8] Nöthiger Unterricht von prophetischen Weissagungen... dabei insonderheit von dem Weigelio weitläufig Meldung geschiehet... aufgesetzt von M. Albrecht Christ. Rotthen, Leipzig, 1684; et Vitam, fata et scripta M. Valentini Weigelii... submittit... Johannes Gottlob Reichelius, Wittenbergae, d. XXIX Mart, anno 1721, 32.

[9] S. Wollgast, Valentin Weigel, Ausgewählte Werke, 17-146

[10] G.Arnold, Unparteyisch Kirchen- und Ketzer- Historie, 1729

[11] W.Nigg, Heimliche Weisheit, 99: „war denn auch Weigels Antlitz zuweilen während einer Predigt von einem höheren Glanz umflossen.“

[12] vgl. unten Kap. 2

[13] G. Gr., 66

[14] ebd.

[15] ebd.

[16] D., Kap.2, zit. nach Nigg, aaO, 100

[17] W. Nigg, aaO, 104

[18] W. Zeller, Eckhartiana V, in: Theologie und Frömmigkeit, 55-89

[19] Von dem Leben Christi, Kap. 47, zit. nach Nigg, 101

[20] S.Franck, Paradoxa, Berlin 1966, 199

[21] G. Gr., Kap. 17, zit. nach Nigg, 101

[22] Gnothi seauton, 7

[23] vgl. etwa Ute Gause, Paracelsus (1493-1541): Genese und Entfaltung seiner frühen Theologie, Tübingen 1993

[24] vgl. Kap. 5

[25] vgl. H.A.Oberman, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Kirche im Zeitalter der Reformation, Bd. III, 254

[26] D., 58-60

[27] W. Nigg, aaO, 98

[28] Alle Luther Zitate in: „dem Büchlein vom wahren seligmachenden Glauben“, 38 b ff und 51 b ff

[29] „Paradoxa Ducenta octoginta“ durch Sebastian Francken von Wörd, Ulm, 1534, Paradox CXXXVII: „Dan so bald man das Christenthumb in Regel und in ain fürgeschriben gesetzt un ordnung will verfassen / so hört es zu handt auff ein Christenthumb zu sein.“

[30] D., 31

[31] G. Gr., Kap. 15, zit.nach H.Längin

[32] Sie bewirke das Ausnützen der Rechtfertigung aus Glauben: „auf seine Kreide zechen“ bedeutet von dem Versöhnungstod Jesu zu profitieren, ohne dafür etwas zu tun. D., 74

[33] D.,35f

[34] Von der Vergebung der Sünden, 62 in: G.S.

[35] G. Baring, Valentin Weigel und die „Deutsche Theologie“, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 1964, 5.

[36] Vgl. Leibniz-Nachlass der Niedersächsischen Landesbibliothek zu Hannover, 1-10.

[37] Wollgast, 55

[38] Vgl. D. Mahnke, Die Rationalisierung der Mystik bei Leibniz und Kant,

[39] Wollgast, Philosophie in Deutschland, 576

[40] G. Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzer- Historie, Frankfurt am Mayn 1729, 1090.

[41] G. Gr. 66

[42] ebd. Kap. 24, zit. nach H. Längin, Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, 437f

[43] ebd.

[44] ebd., Kap. 3, zit. nach H. Längin, 440

[45] Koyré, Mystiques, Spirituels, Alchimistes, 98

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Spiritualität und Theologie Valentin Weigels (1533-1588)
Untertitel
Einer der ersten reformierten Mystiker
Hochschule
Universität Bern  (evang. theol. Inst.)
Note
5 (CH)
Autor
Jahr
1998
Seiten
78
Katalognummer
V270192
ISBN (eBook)
9783656610380
ISBN (Buch)
9783656610199
Dateigröße
781 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Spiritualität, Mystik, Valentin Weigel, Reformierte Mystik
Arbeit zitieren
M Th Adrian Baumgartner (Autor:in), 1998, Spiritualität und Theologie Valentin Weigels (1533-1588), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/270192

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