Führungskräfte in Situationen des organisationalen Wandels

Wie erleben und gestalten Führungskräfte ihre Führungsaufgabe vor dem Hintergrund ihrer subjektiven Führungstheorien?


Wissenschaftliche Studie, 2013

111 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Themenfeld
2.1 Führung
2.1.1 Begriff Führung: Deutungsmuster und Unterscheidungen
2.1.2 Klassische Ansätze der Führungsforschung
2.1.3 Neuere Ansätze der Führungsforschung
2.2 Wandel
2.2.1 Regeln in Organisationen
2.2.2 Regelungsprozesse in Systemen
2.3 Zusammenfassung

3. Untersuchungskonzept
3.1 Entwicklung der Fragestellung
3.2 Methoden
3.2.1 Erfassung
3.2.2 Konstruktion des Erhebungsinstruments: Leitfadenentwicklung
3.2.3 Kontext und Durchführung der Untersuchung
3.2.4 Auswertungsmethode
3.2.5 Auswertungsschritte

4. Ergebnisdarstellung und -auswertung
4.1 Konstruktkarte
4.2 Heuristisches Untersuchungsmodell
4.3 Einzelergebnisse
4.3.1 Ergebnisse zu Wandelkonzepten
4.3.2 Ergebnisse zu Mitarbeiterkonzepten
4.3.3 Ergebnisse zu Selbstkonzepten
4.3.4 Ergebnisse zu Aufmerksamkeitsfokussierung für erfolgreiche Führung

5. Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick
5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse und inhaltliche Interpretation
5.1.1 Wandelkonzepte
5.1.2 Mitarbeiterkonzepte
5.1.3 Selbstkonzepte
5.1.4 Aufmerksamkeitsfokussierung für erfolgreiche Führung
5.1.5 Zusammenschau der Ergebnisse und Modellentwurf
5.2 Kritische Reflexion der Ergebnisse
5.3 Perspektiven für weitere Forschungsfragen
5.4 Perspektiven der praktischen Nutzung

6. Literatur

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Interviewleitfaden (Übersicht)

Abbildung 2: Biografische Daten der Interviewteilnehmer

Abbildung 3: Übersicht über biografische Daten der Interviewpartner

Abbildung 4: Konstruktkarte (Ebene 1 bis 3) zum Kode-System

Abbildung 5: Heuristisches Untersuchungsmodell

Abbildung 6: Konstruktkarte Ebene 1 und 2 (Hauptkategorien)

Abbildung 7: Konstruktkarte Wandelkonzepte

Abbildung 8: Interviewaussagen zu „Anlässe für Wandel aus dem Umfeld“

Abbildung 9: Interviewaussagen zu „Anlässe für Wandel aus der eigenen Organisationseinheit“

Abbildung 10: Interviewaussagen zu „Auswirkungen des Wandels im Hinblick auf Zeitressource“

Abbildung 11: Interviewaussagen zu „Auswirkungen des Wandels im Hinblick auf Entstehung von Unsicherheit“

Abbildung 12: Interviewaussagen zu „Auswirkungen des Wandels im Hinblick auf Reflexe und Reaktionen“

Abbildung 13: Konstruktkarte Mitarbeiterkonzepte

Abbildung 14: Interviewaussagen zu „Mitarbeiterbedürfnisse“

Abbildung 15: Interviewaussagen zu „Mitarbeiterkompetenzen“

Abbildung 16: Interviewaussagen zu „Mitarbeiter Haltung/Orientierung“

Abbildung 17: Interviewaussagen zu „Mitarbeiter Entwicklung“

Abbildung 18: Konstruktkarte Selbstkonzepte

Abbildung 19: Interviewaussagen zu „Eigene Kraftkoster“

Abbildung 20: Interviewaussagen zu „Eigene Quellen“

Abbildung 21: Interviewaussagen zu „Eigene Entwicklung“

Abbildung 22: Konstruktkarte (obere Ebenen) Aufmerksamkeitsfokussierung für erfolgreiche Führung

Abbildung 23: Konstruktkarte Personenvertrauen

Abbildung 24: Interviewaussagen zu „Personenvertrauen“

Abbildung 25: Konstruktkarte Systemvertrauen

Abbildung 26: Interviewaussagen zu „Systemvertrauen“

Abbildung 27: Modellentwurf Wirkbeziehungen Führen im Wandel

1. Einleitung

Die aktuellen Dynamiken in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und vielen weiteren Lebensbereichen führen dazu, dass sich Unternehmen immer stärker flexibilisieren und an die sich ständig ändernden Umwelten anpassen müssen. Sie müssen dafür sorgen, dass sie auf die sich ändernden Erwartungen reagieren und dass sie antwortfähig bleiben, auf die Bedürfnisse und Fragen ihrer relevanten Umwelten. Nur dadurch können sie ihre Kopplung an die für sie lebenswichtigen Umwelten erhalten.

Vor diesem Hintergrund des permanenten Wandels wird Führung zunehmend wichtiger und gleichzeitig auch anspruchsvoller. Die Komplexität und Unberechenbarkeit in der sich Führung heute zu bewegen hat, stellt Führungskräfte vor besondere Herausforderungen - auch bezüglich des Erhalts ihrer Selbstwirksamkeit. „Die Thematik Führung gewinnt an Gewicht. [...] Tradierte und ‚bewährte‘ Konzepte und Verhaltensweisen tragen nicht mehr“ (Rosenstiel, Regnet & Domsch, 2009, S. 1).

Da „menschliches Handeln Kognition voraussetzt und alle Prozesse in einer Organisation auch kognitiv beeinflusst werden“ (Aretz, 2007, S. 1) ist es im Rahmen der Führungsforschung interessant, Denkprozesse und Denkstrukturen zu untersuchen, die von Führungskräften zur Beschreibung, Erklärung und Bewertung der ihnen im Führungsalltag begegnenden Phänomene genutzt werden und die für sie dann auch handlungsleitend sind.

Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (vgl. Groeben, Wahl, Schlee & Scheele, 1988) untersucht seit den 1980er Jahren die subjektive Sichtweise von Menschen und deren Handlungsrelevanz. Da davon ausgegangen werden kann, dass Führungskräfte auch entsprechend ihrer subjektiv-theoretischen Vorstellungen über Führung handeln, kommt diesen subjektiven Führungstheorien eine große Bedeutung zu.

Die Konzepte der Systemtheorie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Komplexität ihres jeweiligen Gegenstandsbereiches nicht „künstlich“ reduzieren, sondern diese Komplexität ernst nehmen und mit ihr konstruktiv umgehen (vgl. Willke, 2000, S. 4). Führung, systemisch betrachtet, kann damit neue Vorstellungen über Voraussetzungen und Folgen sowie über Möglichkeiten und Grenzen von Interventionen in komplexen Systemen entwickeln (vgl. Wilke, 1999, S. 1).

Diese Studie versucht nun aus dem Blickwinkel dieser beiden Konzepte die Erlebensmuster und Handlungsstrategien von Führungskräften im Organisationsalltag und in Situationen des organisatorischen Wandels zu betrachten und erste Kategorien zu beschreiben.

2. Themenfeld

Für die Bereiche „Führung“ und „Wandel“ wurden im Laufe der Führungs- und Organisationsforschung zahlreiche unterschiedliche theoretische Ansätze entwickelt, um die damit verbundenen Phänomene zu beschreiben und zu erklären.

Im Folgenden wird ein Überblick über unterschiedliche Theorien aus der Führungsforschung und zum Bereich des organisationalen Wandels gegeben. Die Beschäftigung mit diesen Konzepten dient der Erhöhung der „theoretischen Sensibilität“ für den späteren Analyseprozess, d. h. dem „Bewusstsein für die Feinheiten in der Bedeutung der Daten“ (Strauss & Corbin, 1996, S. 25).

2.1 Führung

Der Begriff Führung benennt ein Phänomen mit zahlreichen Facetten, beschrieben in unzähligen Konzepten und vielfältigen normativen Handlungsempfehlungen.

Zunächst erscheint Führung als etwas Selbstverständliches, da jeder, der führt oder geführt wird, aus dem eigenen Erleben konkrete Erfahrungen gesammelt hat und sein Handeln daraus gestaltet. Wird jedoch das Selbstverständliche reflektiert, mit dem Ziel das Phänomen Führung in seinen Facetten zu beschreiben, zu erklären und in seinen Wirkungen zu bewerten, dann wird Führung „ein umstrittenes Thema, dessen Diskussion kalte Kognitionen und heiße Emotionen oft unentwirrbar vermengt“ (Neuberger, 2002, S. 2) oder gar zum „Mysterium“ (Baecker, 2009, S. 12).

2.1.1 Begriff Führung: Deutungsmuster und Unterscheidungen

Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Facetten und Definitionsmerkmale des Begriffs Führung versucht Aretz (2007, S. 7) einen kleinsten gemeinsamen Nenner für eine Führungsdefinition zu finden und beschreibt Führung zunächst „allgemein als eine absichtliche, zielbezogene Einflussnahme bzw. (Verhaltens-)Beeinflussung“.

Diese dennoch weit gefasste Definition führt direkt zu der Frage: Wer beeinflusst wen auf welche Weise? Lenkt man die Aufmerksamkeit auf diese Frage, so lassen sich in der Führungsliteratur Unterscheidungen finden, welche verschiedene weiter ausdifferenzierte Deutungsmuster von Führung liefern (vgl. Wiendieck & Troyano, 2003): die Unterscheidung nach Subjekten der Führung und nach Objekten der Führung.

2.1.1.1 Unterscheidung nach Subjekten der Führung

So unterscheidet von Rosenstiel (2009, S. 3) nach den Subjekten der Führung: der Führung durch Personen und der Führung durch Strukturen.

Die Führung durch Personen (direkte personale Führung) betrachtet den Einflussanteil, der durch die Person des Vorgesetzten im direkten Kontakt mit den Mitarbeitern erfolgt. „Das Verhalten des Vorgesetzten, seine Art, Ziele zu verdeutlichen, Aufgaben zu koordinieren, Mitarbeiter durch Gespräche zu motivieren, Ergebnisse zu kontrollieren, wird zum zentralen Bestandteil der Führung“ (Rosenstiel, 2009, S. 4). Führung kann dann definiert werden, als ein Versuch der Vorgesetzten, die Mitarbeiter zielbezogen durch die Mittel der Kommunikation zu beeinflussen. In diesem Definitionsansatz, ist die Führungskraft Akteur. Die Beeinflussung erfolgt in persönlicher Kommunikation und Interaktion zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern (vgl. Aretz, 2007, S. 7).

Die Führung durch Strukturen (apersonale oder strukturelle Führung) fügt eine weitere Betrachtungsebene hinzu: sie beschreibt denjenigen Anteil des Einflusses auf die zielgerichteten Handlungen der Stelleninhaber, der ohne direkte Einflussnahme durch eine Person stattfindet. Beispiele dafür sind organisationale Regelungen wie Organigramme, Vorschriften, Stellen­beschrei­bun­gen, Anreiz­syste­me, Statussymbole, Arbeits- und Produktionsprozesse (vgl. Rosenstiel, 2009, S. 5). Diese organisationalen Regelungen können über lange Zeiträume bestehen und gehen daher oft über die Zugehörigkeitsdauer von Führungskräften zu einer Organisation hinaus.

2.1.1.2 Unterscheidung nach Objekten der Führung

Wieland (vgl. Wieland & Hammes 2011, S. 12) fügt der Differenzierung nach Subjekten die Unterscheidung nach Objekten hinzu und beschreibt nach Steinle drei Gestaltungsfelder der Führung in einer Organisation die sich jeweils mit unterschiedlichen Objekten der Führung befassen (vgl. Steinle, 1995, S. 527):

Der Bereich der Unternehmensführung befasst sich mit dem Gestalten von Strukturen (zum Beispiel der Aufbau- und Ablauforganisation, dem justieren von Spezialisierungsgraden).

Der Bereich Personalmanagement umfasst die Beschaffung, Verwaltung und Aus- und Weiterbildung von Personal.

Der Bereich Personale Führung/Mitarbeiterführung umfasst die direkte und zielgerichtete Einflussnahme von Vorgesetzten auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Auch bei diesen drei Bereichen findet die Unterscheidung nach Personen und Strukturen statt. So wird der Bereich Unternehmensführung, der sich nicht direkt mit Menschen sondern mit Strukturen befasst, mit dem Begriff Management assoziiert und mit dem stark sachlichen, kühl-rational ergebnisorientierten und eher unpersönlichen Anteil von Führung verbunden. Der Bereich Mitarbeiterführung wird dagegen mit dem Begriff Leadership und den damit verbundenen kommunikativen, sinnstiftenden sozialen und emotionalen Phänomenen assoziiert (vgl. Wiendieck & Troyano, 2003, S. 116). Wiendieck und Troyano (ebd.) verdeutlichen diese Differenzierung mit der plakativen Klage „We are overmanaged but underlead“.

2.1.2 Klassische Ansätze der Führungsforschung

„Theorien reduzieren die Komplexität der Wirklichkeit auf ein überschaubares Maß. Dazu werden Teil der Wirklichkeit als irrelevant für die Erklärung ausgeblendet“ (Wiendieck & Troyano, 2003, S. 120). In diesem Sinn werden nachfolgend einige weit verbreitete (klassische) Führungstheorien mit ihren Konzepten und auch Grenzen kurz aufgezeigt, bevor im nächsten Kapitel die neueren Ansätze beschrieben werden, die versuchen die durch Komplexitäts­reduzierung eingeschränkte Sicht wieder um wichtige Aspekte zu erweitern.

2.1.2.1 Eigenschaftstheoretische Führungstheorien

Eigenschaften bezeichnen spezifische Persönlichkeitsmerkmale (Charakterzüge, Traits): zeitlich relativ stabile und situationsunabhängige Verhaltensdispositionen, die situationsspezifisch wirksam werden. Der Eigenschaftsansatz ist der „älteste individualpsychologische Ansatz“ (Aretz, 2007, S. 10), der davon ausgeht, dass bestimmte stabile, zeitlich überdauernde Persönlichkeitsmerkmale (Eigenschaften) einer Führungskraft entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg von Führung sind.

Bei der Suche nach diesen Führungseigenschaften fand man zahlreiche Persönlichkeitsmerkmale mit korrelativem Bezug zum Erreichen einer Führungsposition. Eine Gruppierung dieser Merkmale ergab folgende Gliederung (vgl. Rosenstiel, 2009, S. 6): Befähigung (z. B. Intelligenz, Wachsamkeit, verbale Ge­wandt­heit, Originalität, Urteilskraft), Leistung (z. B. Schulleistung, Wissen, sportliche Leistung), Verantwortlichkeit (z. B. Zuverlässigkeit, Initiative, Aggressivität, Selbstvertrauen, Wunsch sich auszuzeichnen), Teilnahme (z. B. Aktivität, Soziabilität, Kooperationsbereitschaft, Anpassungsfähigkeit, Humor) und Status (z. B. sozioökonomische Position, Popularität). Diese Merkmale umfassen also nicht nur als angeboren vermutete Eigenschaften (Intelligenz), sondern auch erworbene Fähigkeiten (Selbstvertrauen) sowie von Anderen zugeschriebene Merkmale (Popularität).

Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass die beschriebenen positiven Korrelationen von Führungseigenschaften zu Führungsposition und Führungserfolg aufgrund methodischer Mängel und der dürftigen empirischen Grundlage mit großer Vorsicht zu interpretieren sind (vgl. Weinert, 2004, S. 469). „Die Basisannahme dieser Forschungsrichtung, dass eine Führungskraft über spezifische stabile Merkmale (Traits) verfügen muss, um erfolgreich zu sein, konnte nicht bestätigt werden“ (Aretz, 2007, S. 11). Dazu weisen eine Mehrzahl der aktuellen Studien „eine geringe Korrelation zwischen Führungserfolg und Persönlichkeitseigenschaften auf, so dass die Persönlichkeit allein einen relativ niedrigen Erklärungsbeitrag liefert“ (ebd., S. 12).

Führungseigenschaften erfassen damit nur einen Teil der Einflussgrößen. Sie sind nicht irrelevant für Führungserfolg - lassen aber keine isolierten Kausalschlüsse zu: situative Einflüsse können das Verhalten und den Erfolg einer Führungskraft in bestimmten Situationen stärker beeinflussen als Persönlichkeitsmerkmale. Betrachtet man Führungseigenschaften in diesem Sinne als Situationsvariable, dann entfalten sie besonders in schwach strukturierten Situationen ihre Wirkung (vgl. Weinert, 2004, S. 469). Damit könnte ihnen speziell in Situationen des organisationalen Wandels eine besondere Bedeutung zukommen.

2.1.2.2 Verhaltenstheoretische Führungstheorien

Als Gegenpol zu den eigenschaftstheoretischen Ansätzen entwickelten sich die Verhaltenstheorien der Führung. Im Fokus der verhaltensorientierten Ansätze steht das Führungsverhalten und der damit gelebte Führungsstil beziehungsweise zu unterscheidende Führungsstiltypologien: mit welchem Verhalten gelingt es erfolgreichen Führungskräften eine produktive und gleichzeitig zufriedene Arbeitsgruppe zu führen?

Im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojektes zur Erfassung von Führungsverhalten in den 1950er Jahren an der Ohio-State-University, wurden durch Stogdill und sein Team kritische Verhaltensweisen von Vorgesetzten anhand von Fragebögen innerhalb einer Feldbefragung von Mitarbeitern ermittelt (vgl. Neuberger, 2002, S. 397). Die ursprünglich 150 Aussagen in einem der verwendeten Fragebogen (LBDQ = Leadership Behaviour Description Questionnaire) wurden durch Faktorenanalyse auf zwei Faktoren komprimiert: Initiating Structure und Consideration. Initiating Structure steht dabei für Aufgaben- und Leistungsorientierung (wie aufgabenbezogene Organisation, Strukturierung, Aktivierung und Kontrolle). Consideration steht für die personen- und beziehungsbezogenen Aspekte (wie Wärme, Vertrauen, Achtung, Ermöglichung zweiseitiger Kommunikation und Mitsprache) (vgl. Rosenstiel, 2009, S. 11).

Eine wesentliche Erkenntnis der Studien war, dass die beiden Faktoren unabhängig voneinander sind, sie also bei der Verhaltensbeschreibung von Führungskräften nicht nur „entweder - oder“ sondern „sowohl - als auch“ auftreten können. Diese in den Ohio-Studien propagierte Zweidimensionalität des Führungsverhaltens war Grundlage zahlreicher weiterer Führungskonzepte wie z. B. des Managerial Grid nach Blake und Mouton mit den Dimensionen „Betonung der Produktion“ und „Betonung des Menschen“ (vgl. Blake & Mouton, 1980).

Für das praktische Führungshandeln ist interessant, welche Wirkungen zu erwarten sind, wenn eine bestimmte Kombination von Verhaltensweisen, also ein bestimmter Führungsstil gezeigt wird. Kurt Lewin und seine Mitarbeiter (vgl. Lewin, Lippitt & White, 1939) kamen in ihren Untersuchungen, die als Iowa-Studien bekannt geworden sind, zu der Erkenntnis, dass der gezeigte Führungsstil (autokratisch versus demokratisch oder laissez faire) das Verhalten der Geführten beeinflusst (vgl. Neuberger, 2002, S. 426). Im Fokus der Untersuchungen stand die Auswirkung der gezeigten Führungsstile auf das soziale Verhalten der Geführten und weniger die Auswirkung auf die rein sachlichen Leistungsergebnisse. Autokratisch (autoritär) geführte Gruppen verhielten sich unterwürfig und gehorsam, zeigten jedoch auch mehr Anzeichen von Feindseligkeit und Unzufriedenheit. Demokratisch geführte Gruppen wiesen stärkeren Gruppenzusammenhalt auf, machten sich die gestellte Aufgabe zu eigen und zeigten sich weniger feindselig. Die laissez-faire geführten Gruppen zeigten insgesamt weniger Leistung und Gruppengefühl. Interessant werden die Unterschiede der Gruppenkohäsion und Aufgabenidentifikation bei der Betrachtung von unsicheren Situationen beim organisatorischen Wandel.

Auch wenn aus den verhaltensorientierten Ansätzen zahlreiche deskriptive Ansätze (sie beobachten und beschreiben das reale Verhalten der Führungskraft) und normative Ansätze (sie beschreiben, was Führungskräfte tun sollen) hervorgegangen sind, so leiden sie, wie die eigenschaftsorientierten Ansätze neben methodischen Mängeln (zum Beispiel widersprüchliche Ergebnisse, mangelnde Generalisierbarkeit) an der Vernachlässigung situativer Umstände (vgl. Aretz, 2007, S. 15).

2.1.2.3 Situations- und Interaktionstheoretische Führungstheorien

Die in den beiden vorgenannten Theorieansätzen vernachlässigten situativen Einflussfaktoren, haben starken Einfluss auf Führungsverhalten und Führungserfolg. Situations- und interaktionsorientierte Theorieansätze versuchen dem gerecht zu werden und untersuchen das Zusammenwirken, die gegenseitigen Einwirkungen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter einerseits sowie zwischen Führungsverhalten und Situation andererseits.

Interaktion zwischen Eigenschaften der Führungskraft und der Situation: Eigenschaft stabil – Situation in 8 Konstellationen variabel

Fiedler (1967, 1995) entwickelte als einer der ersten seine ebenso einflussreiche wie umstrittene situativ-interaktive Führungstheorie. Er nannte seinen Ansatz Kontingenztheorie der Führungseffektivität, da er die Wirkung (Effekt) verschiedener Führungsstile abhängig (kontingent) von drei situativen Bedingungen macht: der Beziehung zwischen Führendem und Geführten, der Aufgabenstruktur und der Positionsmacht des Vorgesetzten (vgl. Neuberger, 2002, S. 498). Die Kombination dieser situativen Bedingungen ergibt acht mögliche Situationskonstellationen, die auf einem „Kontinuum der situativen Günstigkeit“ angeordnet werden (ebd.). Der Führungsstil, den Fiedler als stabile und kaum veränderbare motivationale Bedürfnisorientierung in der Person des Führenden annimmt, kann zwischen den beiden (im Gegensatz zur Ohio-Studie nicht unabhängigen) Polen Mitarbeiterorientiertheit und Aufgabenorientiertheit verortet werden. Er wird durch den LPC-Wert operationalisiert (last preferred co-worker). Fiedlers Kontingenz-Hypothese besagt nun, dass der Führungserfolg (fokussiert auf Aufgabeneffektivität) mit dem Führungsstil (gekennzeichnet durch den LPC-Wert) korreliert, diese Korrelation jedoch systematisch in Abhängigkeit zur situativen Günstigkeit variiert: in sehr günstigen und sehr ungünstigen Situationen seien Vorgesetzte mit aufgabenorientiertem Führungsstil (niederer LPC-Wert) erfolgreicher, in eher mäßig günstigen Situationen dagegen Vorgesetzte mit mitarbeiterorientiertem Führungsstil (hoher LPC-Wert) (vgl. Neuberger, 2002, S. 499). Fiedler bezweifelt, dass Führungskräfte den eigenen Führungsstil situativ flexibel anpassen können, da er durch eine stabile Bedürfnisstruktur beim Führenden maßgeblich ge­prägt ist (vgl. Fiedler & Mai Dalton, 1995, S. 941). Anstatt verhaltensverändernde Führungstrainings durchzuführen, propagiert er dagegen „die Anpassung der Situation an den Führungsstil: ‚Engineer the job fit to the manager‘. Demnach bleibt den Führungskräften die Möglichkeit der Situationskontrolle: die Distanz zu den Geführten oder [...] [der] Strukturierungsgrad der Aufgaben kann so variiert werden, dass sie zum Verhaltensstil der Führungsperson passen“ (Wiendieck & Troyano, 2003, S. 131). Bei aller Kritik am Modell (wie methodische Unzulänglichkeiten, nicht bestätigende Folgeuntersuchungen) können die beschriebenen Ansätze für Führungskräfte interessant sein, wenn sie Prozesse des organisationalen Wandels initiieren: hier kann es hilfreich sein, die Führungskräfte zu trainieren, dass sie sensibel für die spezifischen Situationen werden, die bei Wandelprozessen entstehen und dass sie Optionen entwickeln, diese so zu gestalten, dass sie mit ihren Führungsmöglichkeiten kompatibel sind.

Führungsverhalten und Situation variabel

Paul Hersey und Kenneth H. Blanchard (1977) beschreiben in ihrem interaktionstheoretischen Konzept ebenfalls ein situatives Führungsmodell. Sie rücken in ihrem Konzept jedoch als zentralen und einzigen Situationsparameter die Reife des Mitarbeiters in den Fokus und unterscheiden vier Führungsstile, die je nach Reife des Mitarbeiters erfolgreich eingesetzt werden sollen. Damit „unterstellen [sie] die Bereitschaft und die Fähigkeit der Führungskräfte diese unterschiedliche Führungsstile glaubhaft zu realisieren“ (Wiendieck & Troyano, 2003, S. 131). Die aktuelle Gesamtreife eines Mitarbeiters wird auf einer Reife-Skala eingeordnet und durch Zusammenfassen zweier Aspekte gebildet (vgl. Rosenstiel 2009, S. 16): arbeitsbezogene Reife (Erfahrung, Fachwissen, usw.) und psychologische Reife (Leistungsmotivation, Verantwortungsbereitschaft, usw.). Die vier Führungsstile (1. telling = dirigieren/unterweisen, 2. participating = partizipieren/sekun­dieren, 3. selling = verkaufen/trainieren, 4. delegating = delegieren) entstehen durch Kombination der Ohio-Dimensionen („Consideration“ und „Initiating structure“) mit den Achsen mitarbeiterorientiertes und aufgabenorientiertes Führungsverhalten (vgl. Wiendieck & Troyano, 2003, S. 131 und Blanchard, Zigarmi & Zigarmi, 1986, S. 49). Im Modell ist der Reifegrad eines Mitarbeiters nicht statisch, sondern er entwickelt sich im Laufe der Zeit durch Lernprozesse. Mit diesem Aspekt verbindet Blanchard den Appell an die Führenden, diese Lernprozesse zu unterstützen und durch situatives reifegradbezogene Anwendung von Führungsstilen, ihre Mitarbeiter zu fördern (vgl. Blanchard, Zigarmi & Zigarmi, 1986, S. 69).

Kritik richtet sich bei diesem Modell, neben dem „Hinweis auf methodische Probleme der ‚Mess‘-Instrumente“, vor allem gegen eine verengte ideologische Perspektive, in der z. B. die „Situationsbedingungen auf die Mitarbeiter verengt“ werden, die „Ziele inhaltlich unanalysiert“ bleiben und eine „Harmonie-These“ zugrunde gelegt wird, die davon ausgeht, dass „ein wirklich reifer Mensch gar nicht anders kann, als die Ziele der Organisation zu den seinen zu machen“ (Neuberger, 2002, S. 521).

2.1.2.4 Resümee

Die hier ausschnitthaft beschriebenen Konzepte klassischer Führungstheorien machen deutlich, dass Führung aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht wurde, jedoch stark auf die Passung der direkten Führungsbeziehung Führungskraft und Mitarbeiter verengt. Dabei wurden wichtige, im Führungsalltag ebenfalls wirkende Aspekte nicht mit berücksichtigt, wie z. B. organisationale und kulturelle Situationsmerkmale, Interaktion der Führungskraft mit Kollegen und eigenen Vorgesetzten sowie die subjektiven Grundannahmen und Wahrnehmungskonstrukte von Führungskräften und Mitarbeitern über Führung (vgl. Aretz, 2007, S. 18 und Schilling, 2001, S. 20).

2.1.3 Neuere Ansätze der Führungsforschung

Neuere Ansätze, die sich mit dem Phänomen Führung befassen, versuchen sowohl stärker die Perspektive der organisationalen Umwelt als auch individuelle Aspekte der Akteure im Führungsgeschäft zu berücksichtigen und zu integrieren. Nachstehend sind ausschnitthaft einige wichtige Entwicklungs­linien beschrieben, welche die Schwerpunkte dieser Aspekte aufzeigen.

2.1.3.1 Transaktionale und transformationale Führung

Burns (1978) unterschied in seiner Monographie zwei Arten der Führung: die transaktionale und die transformierende Führung.

Bei der transaktionalen Führung gehen die Führungsperson und die Geführten eine „Austauschbeziehung zur Erfüllung der gegenseitigen Bedürfnisse “ (Weinert, 2004, S. 512) ein. In dem auf Burns-Konzepten aufbauenden Modell von Bass und Aviolo (1990, zitiert nach Neuberger, 2002, S. 198) wird das Führungshandeln durch die beiden Variablen „Management by Exception (MbE)“ und „Bedingte Belohnung (BB)“ repräsentiert. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Führungskraft nur in Ausnahmefällen (Exception) eingreift, nämlich nur dann, wenn die Geführten nicht mehr alleine zur Problemlösung fähig sind. Ansonsten gleicht der Führungsstil einem Tauschhandelsprinzip (Bedingte Belohnung: für eine bestimmte Leistung des Geführten bietet die Führung eine definierte faire Gegenleistung). „Die Führungsperson setzt Ziele, macht Kompensation abhängig von der Leistung, gibt Belohnungen, wenn die Ziele erreicht sind und interveniert, wenn Probleme auftreten“ (Weinert, 2004, S. 512).

Im Rahmen des Gewohnten kann dieser rationale Ansatz der transaktionalen Führung sehr erfolgreich sein: „MbE und BB unterstützen eine ‚erwartete Anstrengung‘, die [...] eine verlässliche Planungsgrundlage darstellt, weil sie zu einer ‚erwarteten Leistung‘ führt“ (Neuberger, 2002, S. 198).

Geht es aber darum, beim organisationalen Wandel das Gewohnte, den Status Quo zu verlassen, eine Organisation zu verändern und mit den Mitarbeitern in neue, ungewohnte Gebiete zu gehen, dann rücken die Aspekte der transformationalen Führung in den Fokus. Die transformationale Führung richtet sich auf die Werte beider: des Geführten und des Führenden. „Ihre Zwecke ... werden fusioniert“ (Burns, 1978, S. 20) und somit zu einem höheren gemeinsamen Zweck integriert, der Führende und Geführte verbindet. „Machtgrundlagen werden vernetzt [...] zur gegenseitigen Unterstützung für einen gemeinsamen Zweck“ (ebd.). „An die Stelle kurzfristiger, egoistischer Ziele treten langfristige, übergeordnete Werte und Ideale“ (Felfe, 2006, S. 163).

Nach Bass und Aviolo (1990, S. 19) setzt die transformationale Führung beim Normalniveau der „erwarteten Anstrengung“ (unterstützt durch die transaktionale Führung) an und erhöht diese zu einer „Extra-Anstrengung“ durch Einsatz von vier Einflussfaktoren: a) Idealisierter Einfluss oder Charisma (die Geführten vertrauen den Führenden, weil diese ihnen ein erreichbares und für beide Seiten wertvolles Zukunftsbild anbieten), b) Inspiration (durch Symbole und klare emotionale Apelle werden die Bemühungen auf die für dieses Zukunftsbild wichtigen und gegenseitig angestrebten Ziele fokussiert), c) Intellektuelle Stimulierung (fördert intelligentes, rationales und sorgfältiges Problemlösen – auch zum Hinterfragen bisheriger Werte, Erwartungen und Grundannahmen aller Beteiligten), d) Individualisierte Fürsorge (Emotionale und sachlich unterstützende Hinwendung des Führenden zum Geführten als Individuum). Weinert (2004, S. 512) fasst diesen emotionalen Ansatz zusammen: „Der Führende stellt das Problem vor, beschreibt den Status quo und zeichnet ein fesselndes Bild davon, wie die neue Organisation aussehen wird; sie macht andere stolz, zeigt Vertrauen und neue Möglichkeiten auf, artikuliert eine leidenschaftliche Zukunftsvision, setzt herausfordernde Standards, behandelt Geführte als Individuen“.

Bass und seine Mitarbeiter entwickelten mit dem MLQ („Multifactor Leadership Questionnaire“) unter Verwendung der oben beschriebenen Einflussfaktoren ein Verfahren zur Messung der beiden Führungsarten transaktionale und transformationale Führung (vgl. Neuberger, 2002, S. 199). Dabei ging er nicht mehr wie Burns davon aus, dass die beiden Führungsarten als extreme Pole eines Kontinuums zu sehen sind, sondern dass sie als zwei verschiedene und unabhängige Führungsdimensionen zu betrachten sind, die in unterschiedlicher Kombination auftreten können (vgl. Weinert, 2004, S. 514). Zahlreiche Studien belegten die für Phasen der Veränderung besonders wichtigen Zusammenhänge von transformationaler Führung mit Faktoren wie emotionale Verbundenheit (affektives Commitment), der Bereitschaft sich zusätzlich zu engagieren (Leistungsbereitschaft), Kreativität und Innovation (Ideenmanagement) sowie Veränderungsbereitschaft (vgl. Felfe, 2006, S. 167 und Herrmann, Felfe & Hardt, 2012, S. 70).

2.1.3.2 Symbolische Führung und Organisationskultur

Neuberger (1985, S. 3) stellt den linear-kausalen Erklärungsmodellen ein anderes Paradigma gegenüber, indem er formuliert: „wahrgenommene/gedeute­te Situationen sind (als soziale und damit veränderbare Tatsachen) Chancen, individuelle oder gemeinsame Pläne zu verwirklichen“. Diese Tat-Sachen werden durch symbolisches Handeln der Führenden geschaffen und wirken durch entsprechende Interpretation seitens der Geführten.

Symbolisierte Führung: Zum einen wirkt Führung „weil in den organisatorischen Tat-Sachen Führung geronnen (symbolisiert) ist“ (Neuberger, 2002, S. 662). Neuberger nennt diese Komponente der symbolischen Führung „symbolisierte Führung“. Die Führenden wirken dabei nicht nur unmittelbar und alleine durch ihr Handeln auf die Geführten, sondern sie stehen „gleichsam in Konkurrenz zu führungsgleichen anderen Einflüssen“ (ebd) - die sie jedoch teilweise auch selbst mit erschaffen haben. Solche Führungssubstitute können sich zum Beispiel im Bezahlsystem, in Vorschriften und Organisationsprinzipien oder Kontrollpraktiken abbilden (vgl. ebd).

Schein (2006, S. 33) unterscheidet in seinem Konzept der Organisationskultur drei Beschreibungsebenen, in denen sich diese Tat-Sachen abbilden: die Ebene der „ Artefakte “ („die man sehen, hören, spüren kann“ wie zum Beispiel „Architektur, die Ausstattung und die Atmosphäre, das heißt das Verhalten der Mitarbeiter Ihnen gegenüber und untereinander“), die Ebene der „ öffentlich propagierten Werte “ (die Begründungen für das Wahrgenommene: „Warum arbeiten sie so, wie Sie es beobachtet haben?“) und die Ebene der „ unausgesprochenen gemeinsamen Annahmen “ („die gemeinsam erlernten Werte, Überzeugungen und Annahmen, die für selbstverständlich gehalten werden, wenn das Unternehmen weiterhin erfolgreich ist“). Im von Neuberger entwickelten Konzept der symbolischen Führung werden diese kulturprägenden Elemente symbolisch über verbale (Geschichten, Mottos, Sprachregelungen, usw.), interaktionale (Riten, Traditionen, magische Handlungen, usw.), und artifizielle (Statussymbole, Architektur, Broschüren, usw.) Medien repräsentiert (vgl. Rosenstiel, 2009, S. 24).

Symbolisierende Führung: Da jedoch alle Tat-Sachen (Symbole) unterschiedlich wahrgenommen werden und mehrdeutig zu interpretieren sind, wirken die Führenden zum anderen auch dadurch, dass sie Bedeutungen für die Symbole anbieten um damit Sinn zu stiften. Das heißt, sie versuchen darauf Einfluss zu nehmen, wie mehrdeutige Symbole durch die Geführten interpretiert werden sollen um die erwünschten Wirkungen zu unterstützen. Dabei geht es zum Beispiel darum, Zusammenhänge aufzuzeigen, Bezüge herzustellen oder aufzulösen, Interpretationen zu verflüssigen oder zu festigen um damit bestehendes Anschlusshandeln zu erschweren und neue Handlungsanschlüsse zu eröffnen (vgl. Neuberger, 2002, S. 666). Diese von Neuberger „symbolisierende Führung“benannte Komponente bekommt bei der Gestaltung des organisationalen Wandels eine große Bedeutung, denn hier kommt es besonders darauf an „bisher gültige Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und neue Sichtweisen durchzusetzen“ (ebd., S. 667). Ohne eine so eingeleitete Öffnung für Alternativen, wäre ein Unternehmen zu Erstarrung verurteilt. Dieses „in Frage stellen darf [jedoch] nur die Ausnahme sein, weil es zu Destabilisierung führt“ (ebd. S. 667). Ein dauerhaft destabilisierter Zustand würde zu einem übergroßen Koordinations- und Kommunikationsaufwand für die Führenden führen. Der Prozess muss daher wieder einmünden in „stabile, generalisierte, typisierte institutionsgebundene Deutungen. [...] Fixpunkte für gemeinsames Handeln sind deshalb umso nötiger. Die Verflüssigung muss wieder verfestigt werden“ (ebd. S. 668).

Neuberger (2002) beschreibt daher symbolische Führung als einen Kreisprozess, der zwischen Verfestigung (symbolisierte Führung durch Führungssubstitute wie Routinen, Techniken, Verfahren) und Verflüssigung (symbolisierende Führung durch deutendes und umdeutendes Führungshandeln wie Inszenierung, Dramatisierung, aufmerksamkeitsfokussierende Kommunikation) oszilliert (vgl. auch Geißlinger & Raab, 2007).

2.1.3.3 Attributionstheorien der Führung

Die Attributionstheorie als „Teilgebiet der kognitiven Sozialpsychologie untersucht die Prozesse sozialer Wahrnehmung, unter dem Gesichtspunkt der Ursachenzuschreibung (Kausalattribution)“ (Neuberger, 2002, S. 545). Diese Ursachenzuschreibung beeinflusst Erleben und Handeln. Aber Menschen „suchen nicht nur nach Ursachen, um unser Verhalten zu optimieren bzw. um das Verhalten anderer vorherzusagen und ggf. beeinflussen zu können, sondern wir versuchen auch die Ursachenzuschreibung, die andere vornehmen, aktiv zu beeinflussen, und zwar gerade deshalb, weil wir uns bewusst sind, dass Ursachenzuschreibungen das Verhalten beeinflussen“ (Heckhausen & Heckhausen, 2010, S. 389). Damit wird die Attributionstheorie auch für die Führungsforschung interessant.

Heider gab zunächst den Anstoß, „Handlungsanalysen naiv zu rekonstruieren, so wie sie der gesunde Menschenverstand vornimmt“ (Heider, 1958, zitiert in Neuberger, 2002, S. 546). Entsprechend dieser „naiven Handlungserklärung“ interpretiert der Laie Handlungen als Zusammenwirken von Bemühen (Anstrengung und Absichten) und Können (Fähigkeit, Schwierigkeit der Aufgabe und externe Bedingungen). Erst die Passung von Bemühen und Können erklärt eine Handlung.

Nach dem weiter ausdifferenzierten Model von Kelley (1973), suchen Menschen „in einer unsicheren und dynamischen Welt [...] nach Hinweisen, die ihnen zutreffende Erklärungen über das Zustandekommen von Handlungen ermöglichen“ (Neuberger, 2002, S. 547). Unterschiede zum üblichen Verhalten werden entlang der drei Dimensionen Distinktheit (Besonderheit der situativen Umstände), Konsistenz (zeitliche Beständigkeit) und Konsens (Übereinstimmung mit anderen Personen) interpretiert (vgl. Weinert, 2004, S. 223). Je nach Kombination dieser Dimensionen wird internal (die Ursache für den Verhaltensunterschied liegt bei der Person) oder external (es liegt an der Aufgabe, den Umständen oder dem Zeitpunkt) attribuiert.

Mitchell u.a. (vgl. Mitchell, Green & Wood, 1981) erweiterten die Betrachtungsweise und fragten speziell danach, anhand welcher Attributionsvorgänge Führungskräfte das Verhalten ihrer Mitarbeiter wahrnehmen und deren Leistungen einschätzen (Vorgesetztenattribution), und wie sie daraufhin ihr eigenes Verhalten lenken (Vorgesetztenverhalten). Die Vorgesetztenattribution bedient sich entweder den oben beschriebenen drei Dimensionen oder es laufen, etwa bei Stress, Kausal-Schemata (automatisierte Erklärungsmuster) ab. Phänomene der sozialen Wahrnehmung wirken zusätzlich auf die Vorgesetztenattribution mit ein, was zu Attributionsfehlern führen kann. Zum Beispiel neigen Führungskräfte als Beobachtende zu internaler, personaler Attribution und Mitarbeiter als Handelnde eher zu externaler, situativer Attribution (vgl. Neuberger, 2002, S. 552). Nach dem Schritt der Vorgesetztenattribution folgt der Schritt des Vorgesetztenverhaltens. Die Reaktion der Führungskraft wird dabei zusätzlich zu den bisherigen Einflüssen durch weitere Überlegungen beeinflusst sein: zum Beispiel wirken sich die Einschätzung der Auswirkungen des wahrgenommenen Mitarbeiterverhaltens (Preis der Nichtveränderung) und die Einschätzung, welcher Aufwand für die Veränderung notwendig ist (Preis der Veränderung) darauf aus, welche Vorgesetztenreaktion erfolgen wird.

Calder (1977) nimmt nun die Mitarbeiterperspektive in den Fokus und beschreibt in seinem Modell, aufgrund welcher Attributionsvorgänge Mitarbeiter einen Vorgesetzten beurteilen und was sie ihm attribuieren, wo sie also den aus ihrer Sicht führungsrelevanten Wahrnehmungen personale Ursachen zuschreiben. Dabei geht er davon aus, dass „Führung nicht ‚an sich‘, sondern nur als Wahrnehmungsphänomen existiert“ (Neuberger, 2002, S. 557). In einem mehrstufigen Prozess wird vom Geführten das Verhalten des Führenden sowie dessen Wirkungen beobachtet und bewertet. Aufgrund eines spezifischen Vor­ver­ständnisses von Führungsqualitäten (gruppenspezifisch, kontextbezogen) werden dann der beo­bachteten Person Führungseigenschaften als persönliche Disposition attri­buiert und damit wird Führung zu- oder aberkannt (vgl. ebd.).

2.1.3.4 Subjektive Theorien und Subjektive Führungstheorien

Die oben beschriebenen kognitiven attributionstheoretischen Ansätze beschreiben, welche subjektiven Kausalattributionen die am Führungsgeschehen Beteiligten ihren Wahrnehmungen und Handlungen zuschreiben oder zugrundelegen. Das Konzept der Subjektiven Theorien setzt an dieser Stelle an: „Das individuelle Bild, das ein Mensch von seiner Umwelt hat, seine Einstellungen und Zuschreibungen prägen sein Handeln, nicht ‚objektiv‘ gegebene Reize“ (Sewz & Hein, 2010, S. 51). Im Folgenden sind wichtige Aspekte dieses Konzeptes beschrieben.

2.1.3.4.1 Menschenbild

Im Fokus des von Groeben u. a. (vgl. Groeben, Wahl, Schlee & Scheele, 1988) gestalteten Forschungsprogramms Subjektive Theorien (FST) stehen ein Menschenbild, das die „Menschen als aktiv handelnde Subjekte“ versteht (Schilling, 2001, S. 27).

2.1.3.4.2 Handeln vs. Verhalten

Handeln wird in diesem Konzept streng von Verhalten unterschieden: „Handlungen lassen sich als absichtsvolle und sinnhafte Verhaltensweisen beschreiben: sie werden konstruktiv geplant und als Mittel zur Erreichung von (selbstgewählten) Zielen eingesetzt. Handlungen sind auf Resultate gerichtet und folgen Motiven und Interessen; sie sind daher nur auf der Grundlage eines Erfahrungs- und Wissenssystems denkbar“ (Groeben, Wahl, Schlee & Scheele, 1988, S. 12). Damit „muss man von anthropologischen Kernannahmen ausgehen, die den Menschen nicht als mechanistisch reagierend und durch Umweltreize determiniert, sondern als potentiell autonom, aktiv konstruierend und reflexiv verstehen“ (ebd. S. 13). Der Begriff „ Verhalten “ verweist im FST dagegen auf ein „mechanistisches“ Konzept, das den Menschen „als unter der Kontrolle seiner Umwelt stehend“ sieht und das ihm „Autonomie, Reflexivität und kognitives Konstruieren“ abspricht (ebd.).

2.1.3.4.3 Merkmale

Groeben (ebd. S. 19) führt in seiner „weiten Begriffsfassung“ Merkmale zur Abgrenzung der Subjektiven Theorien ein und definiert damit Subjektive Theorien als a) „Kognitionen der Selbst- und Weltsicht“, b) „als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur“, c) „das auch die objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt“. Subjektive Theorien benutzen also a) Begriffe, die auf das eigene Erleben oder Verhalten oder auch auf Objekte in der sozialen oder physischen Umwelt verweisen. Sie beinhalten auch b) komplexe Wissenselemente, die zueinander in einer Beziehung stehen und somit Schlussfolgerungsprozesse ermöglichen. Und sie dienen damit c) der Deutung wahrgenommener Ereignisse, der Vorhersage erwartbarer Ereignisse und der Generierung praktischer Handlungsoptionen (vgl. Aretz, 2007, S. 33 und S. 60).

Damit knüpfen Subjektive Theorien an die Konzepte der Handlungstheorie an, in denen Handlung bezeichnet wird, „als eine zeitlich in sich geschlossene, auf ein Ziel gerichtete sowie zeitlich und inhaltlich gegliederte Einheit der Tätigkeit, nämlich die kleinste psychologisch relevante Einheit willentlich gesteuerter Tätigkeiten“ (Hacker, 2009, S. 25). Im Rahmen des Konzeptes der Handlungsregulation wirken Subjektive Theorien als Einflussgröße bei der Informationswahrnehmung und -verarbeitung sowie bei der Handlungsplanung. Die Handlungsausführung ist dann jedoch noch von weiteren Faktoren stark beeinflusst (zum Beispiel situationsspezifische Rahmenbedingungen und Möglichkeiten). Subjektive Theorien wirken somit mittelbar aber nicht unmittelbar auf die Handlungsrealisierung (vgl. Aretz, 2007, S. 62).

2.1.3.4.4 Entstehung und Entwicklung Subjektiver Theorien

Betrachtet man die Entstehung und Entwicklung Subjektiver Theorien, dann wird angenommen, dass sie sich im Rahmen sozialer Prozesse bzw. Interaktionen ausgestalten: „Kulturelle [...] Einflüsse sowie eigene Handlungen und deren Konsequenzen führen dann zur Entwicklung Subjektiver Theorien, die wiederum das Handeln und die kulturellen Bedingungen beeinflussen“ (Aretz, 2007, S. 68). Überträgt man lerntheoretische Modelle auf den Aufbau Subjektiver Theorien, denn entwickeln sie sich durch Lernen am Erfolg (Erfahrung), Modelllernen (Deduktion von Beobachtungen oder Extrapolation von bestimmten Begegnungen), Lernen durch Instruktion (Autorität oder Akzeptanz von Ideen von anderen) und Schlussfolgerungen aus bereits bestehenden subjektiven Theorien (Inferenz)“ (Schilling, 2001, S. 49).

Damit einher geht der nicht zu unterschätzende Effekt der „Selbstvalidierungstendenz“ Subjektiver Theorien (Aretz, 2007, S. 65): Subjektive Theorien beeinflussen Handlungen - auch unabhängig ihrer Passung zur aktuell vorliegenden Situation. Diese Handlungen können Erwartungshaltungen an eine andere Person ausdrücken. Wenn sich diese Person entsprechend den Erwartungen verhält, wird die Subjektive Theorie bestätigt. Diese „sich selbst erfüllenden Überzeugungen (Vorhersagen, Prophezeiungen)“ (Merton, 1995, S. 125) können dazu führen, dass ursprünglich nicht passende Konzepte in der Subjektiven Theorie „wahr und manifest“ werden (Aretz, 2007, S. 65). Diese sozial-kognitive Muster können dann zu einem „typischen Interpunktionsproblem“ werden, wenn „der Betreffende sein Verhalten nur als Reaktion auf das der anderen sieht, nicht aber auch als dessen auslösendes Moment“ (Watzlawick, 1990, S. 95).

2.1.3.4.5 Subjektive Führungstheorien

Fokussiert man die beschriebenen Konzepte auf die Deutungsmuster der am Führungsprozess Beteiligten, so kommt man zur Betrachtung Subjektiver Führungstheorien. „Subjektive Führungstheorien, stellen eine auf den Prozess der Führung und/oder die Person der Führungskraft bezogene Unterform subjektiver Theorien dar“ (Schilling, 2001, S. 66). Dabei ist der besondere organisationale Kontext zu berücksichtigen, in dem Führung stattfindet.

Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen „objektiven“ Führungstheorien wird Führung zunächst als „absichtliche, zielbezogene Einflussnahme bzw. (Verhaltens-)Beeinflussung“ beschrieben. Einfluss wird, je nach Theoriekonzept, unterschiedlichen Faktoren zugeschrieben, u. a. den Eigenschaften der Führungskraft, dem Verhalten der Führungskraft, den situativen und interaktionellen Gegebenheiten, der Bedürfnis- und Wertedynamik von Führenden und Geführten, Sinnstiftungen durch die Führenden, Strukturen sowie den Zuschreibungsprozessen durch die Beteiligten. Auf der Grundlage dieser Rahmung von Führung, beziehen sich Subjektive Führungstheorien „auf subjektiv-theoretische Überzeugungen über (erfolgreiche und weniger erfolgreiche) Eigenschaften von Führungskräften, (erfolgreiche und weniger erfolgreiche) Verhaltensweisen von Führungskräften und auf subjektiv-theoretische Annahmen über situative Merkmale und strukturelle Faktoren, die den Führungsprozess beeinflussen“ (Aretz, 2007, S. 75).

Entsprechend den Funktionen Subjektiver Theorien (s. o. Erklärung, Prognose, Technologie) erfüllen die Subjektiven Führungstheorien im organisationalen Kontext spezifische Funktionen im Führungsgeschäft: die Funktion der „ Situationsdefinition “ (auf individueller und kollektiver Ebene), „der (nachträglichen) Erklärung von Ereignissen und somit der Legitimation und Rechtfertigung; der Vorhersage künftiger Ereignisse; der Technologie und somit der Ableitung und Auswahl von Handlungsentwürfen; der Handlungssteuerung bzw. Handlungsleitung, dem problemlösenden Denken“ [...] sowie der „ Ich-Verteidigung (Selbstwertoptimierung); sowie der subjektiven Anpassung; der Selbstdarstellung sowie der sozialen Anpassung “ (Aretz, 2007, S. 93).

2.1.3.5 Systemtheorie und Systemische Führung

In den Konzepten der Subjektiven (Führungs-)Theorien spielen als Erklärung für das Handeln des Menschen „seine Sichtweise, seine Konstruktion der Wirklichkeit, seine subjektiven Theorien“ eine entscheidende Rolle (Sewz & Hein, 2010, S. 51). Sie passen sich damit auf individueller Ebene ein, in die Konzepte von Konstruktivismus und Systemtheorie, die sich im 20. Jahrhundert als „Gegenmodelle“ zum klassischen Paradigma der grundlagenorientierten, naturwissenschaftlich dominierten Psychologie mit ihren linear-kausalen und objektiv ontologischen

2.1.3.5.1 Konstruktivismus

Im Konzept des Konstruktivismus bedeutet Wahrnehmung nicht, dass der Mensch die objektive Realität abbildet, sondern, dass er eine subjektive Wirklichkeit konstruiert. Bereits Kant schreibt, dass „dieser Verstand [...] ein gänzlich actives Vermögen des Menschen“ ist und „alle seine Vorstellungen und Begriffe [...] bloß seine Geschöpfe“ sind (Kant, 1794/1995, S. 87 zitiert nach Sewz, 2004, S. 41). Für den radikalen Konstruktivismus ist Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1787/1904-11) ein Schlüsseltext (vgl. Geier, 2011, S. 44). Ernst von Glasersfeld, einer der Vertreter des erkenntnistheoretischen Zugangs zum radikalen Konstruktivismus begreift daher „Wissen nicht nur als Ergebnis, sondern auch als Tätigkeit“ (Glasersfeld, 1995, S. 43). Heinz von Foerster (in Glasersfeld, 1995, S. 16) formuliert pointiert: „Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden“. In seinem kybernetischen Zugang zum Konstruktivismus führt er zur Kybernetik erster Ordnung (Kybernetik von beobachteten Systemen), die Kybernetik zweiter Ordnung (Kybernetik von beobachtenden Systemen) ein (vgl. von Foerster, 1993, S. 89). Maturana und Varela beschreiten einen biologisch evolutionären Zugang und beschreiben das dynamische Zusammenspiel von menschlichem Erkennen, Handeln mit seiner Umwelt dadurch, dass sie „Erkennen als eine effektive Handlung, das heißt, operationale Effektivität im Existenzbereich des Lebewesens“ definieren (Maturana & Varela, 1987, S. 35). Eine Wirkung in der Realität bekommen diese Wirklichkeitswahrnehmungen also dann, wenn sie sich auf das Handeln der Akteure auswirken und sie damit in ihrer Wirklichkeit zurechtkommen. Für diese Passung von Wahrnehmung und Realität verwendet von Glasersfeld den Begriff Viabilität (Gangbarkeit) (vgl. v. Glasersfeld, 1995).

2.1.3.5.2 Systemtheorie

Die Systemtheorie greift diese erkenntnistheoretischen Konzepte auf. Eine der Linien der Systemtheorie entwickelte sich nach Luhmann in drei Phasen, die sich durch ihre jeweilige Leitdifferenz unterscheiden (vgl. Luhmann, 1964, S. 23 ff. und Neuberger, 2002, S. 594 ff.): von der Leitdifferenz Teil-Ganzes (erste Generation: Systeme als Ganzheiten, die mehr sind als die Summe ihrer Teile) über die Leitdifferenz System-Umwelt (zweite Generation: Systeme grenzen sich von ihrer Umwelt ab, stehen aber in einer offenen Austauschbeziehung mit ihrer Umwelt) bis hin zur Leitdifferenz Identität-Differenz (dritte Generation: autopoietische, also sich selbst erzeugende, operational geschlossene Systeme, die mit ihren Umwelten zwar strukturell gekoppelt aber von außen nicht instruierbar sondern nur pertubierbar sind). Für die im Folgenden skizzierten Konzepte Systemischer Führung dient dieser sozialwissenschaftliche Ansatz der dritten Generation wie von Luhmann beschrieben als Orientierungsrahmen (vgl. Luhmann, 1984).

Luhmann unterscheidet in seiner allgemeinen Systemtheorie zunächst vier Theorie-Bereiche: Theorien a) für maschinelle Systeme, b) für physische Systeme (z. B. Organismen), c) für soziale Systeme und d) für psychische Systeme. Bei den sozialen Systemen unterscheidet er weiter in Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften (vgl. Luhmann 1984, S. 16). Für das Thema Führung sind dabei zunächst insbesondere die Ansätze aus den Bereichen soziale Systeme (und dort Interaktionen, Organisationen, Gesellschaft) und psychische Systeme interessant.

Basiselemente psychischer Systeme sind Gedanken, Basiselemente physischer Systeme sind physisch-organische Prozesse. Das Basiselement eines sozialen Systems, also von Interaktionen und Organisationen, ist die einzelne Kommunikation. Nicht die Menschen sind in dieser Theorie Elemente einer Organisation, sondern ausschließlich Kommunikationen. Kommunikationen, die an Kommunikationen anschließen gewährleisten den Fortbestand eines sozialen Systems (vgl. Luhmann, 2000a, S. 59).

2.1.3.5.3 Systemische Führung

Diese Betrachtungsweise hat tiefgreifende Auswirkungen auf die für das Thema Führung zugrundeliegenden Beschreibung von Organisationen und Interaktionen. Die psychische und physische Seite des Menschen sind für die Organisation Umwelt: die psychischen und physischen Systeme sind Umwelt für das soziale System. Interessant für die Führung ist dann, wie die Kopplungen dieser Umwelten zueinander zu gestalten sind und wie sie aufeinander wirken können.

Der Begriff systemische Führung verbindet also zwei eigentlich entgegengesetzte Sichtweisen: vor dem Hintergrund der systemtheoretischen Kon­zepte bedeutet systemisch Ganzheitlichkeit, Selbstorganisation und Selbsterzeugung (Autopoiese) auf der Basis operativer Geschlossenheit und struktureller Kopplung mit relevanten Umwelten. Führung dagegen wird verbunden mit individueller Einflussnahme und damit mit Fremdbestimmung durch die Führungskraft (vgl. Neuberger, 2002, S. 597).

Nach den Grundannahmen der oben beschriebenen dritten Generation der Systemtheorie sind lebende Systeme (also auch soziale Systeme, wie Organisationen und Interaktionen oder psychische Systeme, wie die Psyche von Menschen) jedoch nicht mit dem Modell der „trivialen Maschine“ (vgl. von Foerster, 1997) adäquat beschreibbar: Lebende Systeme können nicht entsprechend linear-kausaler Vorstellung beeinflusst werden. Sie agieren operational geschlossen und reagieren auf Interventionen (Pertubationen) entsprechend ihren eigenen, von außen nicht erschließbaren Mechanismen. Intervenieren in soziale Systeme „ist deshalb die Kunst, in einem grundsätzlich nicht beherrschbaren Feld kalkulierbare Wirkungen zu erzielen“ (Willke, 1992, S. 39). Als Metapher für dieses Steuerungsverständnis dient das Modell der „nichttrivialen Maschine“ (vgl. von Foerster, 1997): bei einem bestimmten Input ist der Output nicht mehr sicher vorhersehbar, die in der zu steuernden Einheit befindlichen Wirkungszusammenhänge ändern sich permanent und sind nicht vorhersagbar. „Das System hat ein Eigenleben und verhält sich auf denselben Input zu unterschiedlichen Zeiten nicht immer gleich“ (Mayer, 2003, S. 99).

Die für Führung relevanten Konzepte wie Koordination, Entscheidung, Macht, Hierarchie, Vertrauen, Steuerung gewinnen vor diesem Hintergrund erweiterten Erklärungswert.

Koordination, Erwartungen und Regeln: Organisationen (als soziales System) ermöglichen es, viele Mitarbeiter (Umwelten) und deren Handlungen „auf der Basis des Grundgeschehens Kommunikation und mit ihren operativen Mitteln“ (Luhmann, 1984, S. 227) zu koordinieren. Die damit drohende „hohe Komplexität wird durch explizite Erwartungen, respektive formale Regeln koordiniert“ (Martens & Ortmann, 2006, S. 431). Diese Erwartungen und Regeln werden in Form von Entscheidungen kommuniziert.

Macht, Hierarchie und Vertrauen: Aus systemischer Sicht bezeichnet der Begriff Macht keine einem einzelnen Akteur zuzuschreibende Eigenschaft, sondern verweist auf eine asymmetrische Beziehung, in welcher der einen Partei die Funktion des Machthabers und der anderen Partei die Rolle des Machtunterworfenen zugeschrieben werden kann (vgl. Simon, 2007, S. 87). Akzeptiert ein Mitglied einer Organisation also die angebotenen Spielregeln der Macht, dann koppelt es sich (sein psychisches und physisches System) an die Organisation, akzeptiert diese Asymmetrie der Beziehung und agiert in diesem Rahmen erwartbar: es entsteht Einflusskompetenz. Damit wirkt Macht als ein wichtiges Steuerungsmedium, das einen Rahmen für Kommunikation und Handeln gibt und zur Unsicherheitsabsorption dient. Da jedoch die Akteure als Mitglieder einer Organisation aufeinander angewiesen sind, erlebt in dieser gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehung immer aktuell derjenige eine größere Macht, der vom anderen gerade als weniger austauschbar erlebt wird, bzw. wer zur Zeit mehr Einfluss auf die vom anderen gewünschten oder benötigten Leistungen und Ressourcen hat. Und da Erfolg eine wichtige Größe für die Führungskräfte ist, Mitarbeiter aber maßgeblich den Erfolg der Führung mit beeinflussen, ist auch den Mitarbeitern eine nicht zu unterschätzende Macht in dieser Beziehung zuzuschreiben (vgl. ebd., S. 92). Durch Vertrauen kann der Anreiz abgeschwächt werden, die oben beschriebenen Asymmetrien der Macht dysfunktional auszunutzen (vgl. Luhmann, 2000a, S. 70) und in komplexitätserhöhende Kontrollhandlungen zu flüchten. Luhmann definiert Vertrauen daher als einen „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“ (Luhmann, 2000b, S. 27).

Steuerung durch Aufmerksamkeitsfokussierung: Systemische Führung operiert auf Basis eines nicht-trivialen Steuerungsverständnisses: Führungskräfte sind wie alle Akteure zwar Mitglieder einer Organisation, jedoch nicht Teil der Organisation. Sie sind eine wichtige Umwelt in der System-Umwelt-Überlebenseinheit und damit mit der Organisation strukturell gekoppelt. Die Organisation operiert als soziales System strukturdeterminiert, autopoietisch und operational geschlossen mit den Basiselementen Kommunikation. Da Führungskräften jedoch (durch formale oder informelle Regeln) besondere Entscheidungskompetenzen zugeschrieben werden, ist es nicht unerheblich, wie sie agieren, sondern ihr Verhalten und damit ihr Beitrag zur Kommunikation hat Auswirkungen (wenn auch keine linear kausalen). Die Führungskraft kann versuchen, zielgerichtet in das soziale System Organisation durch Kommunikation zu intervenieren. Dabei ist es wichtig, dass Anschluss an die bestehenden Muster (Regeln) gefunden wird, ansonsten wird die Intervention nicht als „Unterschied, der einen Unterschied macht“ (Bateson, 1987, S. 126). erkannt und es findet keine Anschlussaktivität statt. Ein Träger einer hierarchischen Rolle wird von den Akteuren einer Organisation daraufhin beobachtet, welchen Personen, Themen, Fragen, Zielen, Zwecken, Werten etc. er seine Aufmerksamkeit schenkt. Daraus ergibt sich ein sehr wichtiges Steuerungsinstrument für die Führung: Intervention durch Fokussierung der Aufmerksamkeit und damit Kommunikation von Beobachtungen als Sinn- und Bedeutungsangebote (vgl. Simon, 2007, S. 115). Insbesondere in Situationen organisationalen Wandels kann die Führungskraft sowohl Außenbeobachtungen (z. B. wichtige Entwicklungen im Umfeld) als auch Impulse aus der Innenbeobachtung (z. B. ineffiziente Prozesse, Kommunikationsmuster) einsteuern und damit zur Auseinandersetzung einladen.

2.2 Wandel

Aus systemtheoretischer Sicht lässt sich Wandel beim sozialen System Organisation auf der Grundlage der modernen Evolutionstheorie beschreiben und erklären (vgl. Simon, 2007, S. 103). Die Überlebenseinheit ist immer das System mit seinen relevanten Umwelten (vgl. Bateson, 1996, S. 429) und wenn sich eine für das System relevante Umwelt verändert, muss entschieden werden, ob diese Irritation für das Überleben als relevant oder unkritisch betrachtet wird. Das System Organisation überlebt, wenn diese System-Umwelt-Passung aufrechterhalten wird und den äußeren Veränderungen ggf. durch sinnvolle innere Veränderungen Rechnung getragen wird. Organisationsinterne Veränderungen zeigen sich in veränderten Verhaltensweisen und Kommunikationsmustern, auf der Grundlage variierender Entscheidungsprämissen (vgl. Simon, 2007, S. 106).

Um Führungshandeln vor dem Hintergrund organisationalen Wandels zu beschreiben, sind nachfolgend Konzepte aus dem systemisch konstruktivistischen Organisationsverständnis beschrieben, welche die Entstehung, Gestaltung und Wirkung dieser Entscheidungsprämissen erklären.

2.2.1 Regeln in Organisationen

Abgeleitet aus den kulturanthropologischen Studien Edward T. Halls, ist es für die Betrachtung von Organisationen hilfreich, drei Ebenen kultureller Regeln zu unterscheiden: grammatische („formale“), informelle und technische Regeln (Hall, 1959, S. 59 ff. zitiert nach Simon, 2004, S. 231). „Die durch sie geregelten Verhaltensweisen unterscheiden sich bezüglich ihrer Veränderbarkeit und ihrer Bedeutung für die Identität der jeweiligen Kultur bzw. der ihr angehörigen Menschen“ (ebd. S. 231). Geht es also darum, in einem Wandelprozess kulturelle Muster in Richtung erwünschten System-Verhaltens zu verändern, ist es wichtig, diese Unterschiede bei der Wahl der Interventionen zu berücksichtigen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
Führungskräfte in Situationen des organisationalen Wandels
Untertitel
Wie erleben und gestalten Führungskräfte ihre Führungsaufgabe vor dem Hintergrund ihrer subjektiven Führungstheorien?
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Veranstaltung
Arbeits- und Organisationspsychologie
Autor
Jahr
2013
Seiten
111
Katalognummer
V270152
ISBN (eBook)
9783656615385
ISBN (Buch)
9783656615378
Dateigröße
3955 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erlebensmuster, handlungsstrategien, führungskräften, situationen, wandels, führungskräfte, führungsaufgabe, hintergrund, führungstheorien
Arbeit zitieren
Jürgen Berger (Autor:in), 2013, Führungskräfte in Situationen des organisationalen Wandels, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/270152

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