Beobachtung und Medien

Beobachtungspositionen und die Rolle der Paradoxie in den medienkulturellen Konzepten von Konstruktivismus und Systemtheorie


Magisterarbeit, 2011

115 Seiten, Note: 1,3

Sabrina Berger (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Konstruktivismus
2.1 Konstruktivismus nach Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela
2.2 Konstruktivismus nach Siegfried. J. Schmidt
2.3 Exkurs: Interaktionistischer Medienkonstruktivismus

3 Systemtheorie
3.1. Konzeption von Niklas Luhmann
3.1.1 System und Umwelt
3.1.2 Beobachtung und Beobachtung zweiter Ordnung
3.1.3 Selbstreferentialität
3.1.4 Kommunikation und Information
3.2 Die Realität der Massenmedien
3.3 Kybernetik zweiter Ordnung und Paradoxie

4 Paradoxie
4.1 Typologie von Paradoxien
4.2 Paradoxien in systemtheoretischer Auffassung
4.3 Zusammenfassung und Entparadoxierung

5 Postmoderner Film
5.1 Postmoderne Erzählstrategien
5.2 Beobachtung und Paradoxien im postmodernen Film

6 Untersuchungsgegenstand
6.1 David Lynch
6.2 Inhalt
6.2.1 Part A
6.2.1 Part B
6.3 Offene Filmanalyse
6.3.1 Aufbau
6.3.2 Rolle des Erzählers und Personenkonstellationen
6.3.3 Zeitstruktur
6.3.4 Codierung
6.3.5 Decodierung
6.4 Filmdiskurs

7 Zusammenfassung

8 Conclusio

9 Anhang
9.1 Sequenzenprotokoll
9.2 Literaturquellen
9.3 Internetquellen

1 Einleitung

Wer ist der Beobachter?

Diese Frage stellt sich Niklas Luhmann in seiner systemtheoretischen Konzeption. Er untersucht, wie ein beobachtendes System beobachtet und dadurch seine eigenen Bedingungen reflektiert. Die Fragestellung findet sich auch in konstruktivistischen Vorstellungen. Beginnend mit naturwissenschaftlichen Theorien, wie dem Werk[1] von Humberto R. Maturana und Francisco L. Varela, wurden die Bedingungen aktiver Wirklichkeitskonstruktion erforscht. Weitere konstruktivistische Vorstellungen finden sich in vielen wissenschaftlichen Disziplinen.

Niklas Luhmann mit seiner systemtheoretischen Konzeption und Siegfried J. Schmidt mit einer konstruktivistischen Position gehen vor allem auf kulturelle Phänomene sowie die Rolle der Medien ein. Die Frage nach dem Beobachter und seinen Bedingungen wird universell gestellt und sowohl auf das beobachtende als auch das beobachtete System angewendet. Eine entscheidende Rolle übernimmt hierbei die Selbstreflexion. In Form einer Beobachtung der Beobachtung soll der Beobachter eigene Bedingungen reflektieren. Diese findet sich auch in Luhmanns systemtheoretischer Konzeption, jedoch mit Kritik der konstruktivistischen Definition und Erweiterung. Nach Luhmann würde Beobachtung zweiter Ordnung den blinden Fleck des Beobachtens in einem infinitiven Regress vor sich her schieben. Er strebt eine Reflexion mit Abschlussfigur an. Eine entscheidende Rolle nimmt hier die Paradoxie als Denkanstoß ein.

In den Medien finden sich Paradoxien und damit zusammenhängend auch Selbstreferentialität als Teil der Filmkonstruktion meist in Filmen des Bereiches der kulturellen Postmoderne[2]. Das Phänomen der Beobachtung wird direkt und indirekt bearbeitet.

Schon „The big swallow“ (USA, James A. Williamson, 1901)[3] beweist mit der Unterscheidung zwischen Bild und Wirklichkeit ein komplexes Verständnis dieses Phänomens. Dabei steht die mediale Erfahrung selbst im Vordergrund und die Illusion des Fiktionalen wird zerstört. Damit einhergehend findet auch ein Standpunktwechsel des Beobachters statt, der nun die Kamera als eigentlichen Beobachter identifiziert.

Diesem frühen Werk schlossen sich viele Filme ähnlicher Akzentuierung an, wie „Solaris“ (UdSSR, Andrei Tarkowski, 1972), „Lost Highway“ (USA, David Lynch, 1996), „Fight Club“ (USA, David Fincher, 1999), „Mulholland Drive“ (USA, David Lynch, 2001) und „Antichrist“ (DK, Lars von Trier, 2009). Da es zu umfangreich wäre, alle diese Filme zu thematisieren, ist eine Einschränkung nötig. David Lynch gilt als klassisch postmoderner Regisseur und seine Werke werden immer wieder im Rahmen dieser Thematik diskutiert. Vor allem David Lynchs Film „Inland Empire“ (USA, David Lynch, 2009) wurde vielfach als klassisches Beispiel für einen postmodernen Film bezeichnet. Auf Grund seiner Komplexität wäre er zu umfangreich für den Rahmen dieser Arbeit. „Mullholland Drive“ bedient sich ähnlicher Stilmittel und wird im Diskurs von Lynchs Filmen häufig als Vorreiter zu „Inland Empire“ genannt.

Zunächst soll der mediale und erkenntnistheoretische Kontext von Konstruktivismus und Systemtheorie beleuchtet werden. Dabei werden die im Erkenntnisinteresse dieser Arbeit stehenden Begriffe Beobachtung und, in Zusammenhang mit dem Spielfilm als Teil des Feldes Unterhaltung, Paradoxie innerhalb der einzelnen Theorien herausgearbeitet.

In einem ersten Schritt wird das Werk „Der Baum der Erkenntnis“ von Humberto R. Maturana und Francisco L. Varela als Grundlage für den konstruktivistischen und systemtheoretischen Diskurs vorgestellt und Begriffe, die diese übernehmen, erläutert.

Anschließend wird die Position des Konstruktivismus herausgearbeitet. Als medienkulturelle Erweiterung wird das Geschichten&Diskurs-Modell von Siegfried J. Schmidt und dessen Arbeiten zu Konstruktion von Wirklichkeit in den Medien behandelt.

Schmidt bezieht sich in vielen seiner Texte, mehr oder weniger kritisch, auf Niklas Luhmann. Beide Autoren kommen zu der Annahme, dass Fernsehen eine direktere Wirklichkeitskonstruktion erwirkt als andere Medien. Luhmanns Standpunkt soll den von Schmidt aufgreifen. Zudem wird mit seiner Systemtheorie der Begriff der Kybernetik zweiter Ordnung eingeführt.

Da Luhmann die Paradoxie als Schritt hin zur Kybernetik zweiter Ordnung ansieht, wird sie als Phänomen dann in einem nächsten Schritt umrissen. Für eine allgemeinere Definition wird zunächst „Das Paradox“ von Roland Hagenbüchle und Paul Geyer herangezogen. Anschließend wird mit Hilfe des Werkes „Theorie paradox“ von Arno Schöppe der Begriff der Paradoxie spezifisch

mit systemtheoretischer Herangehensweise untersucht.

Anschließend wird die Paradoxie als Mittel des postmodernen Kinos anhand des Filmes „Mullholland Drive“ (USA, David Lynch, 2001) erörtert, ebenso wie der Begriff des Beobachters in Form des Rezipienten des Filmes.

Ziel der Arbeit ist es, die aus der wissenschaftlichen und filmischen Analyse gewonnenen Ergebnisse im Hinblick auf das Potential von Konstruktivismus und Systemtheorie als auf den Beobachter fokussierte Medientheorien auszuwerten und Hypothesen hinsichtlich der Rolle der Paradoxie zur Anregung des Standpunktwechsels hin zu Beobachtung und Kybernetik zweiter Ordnung abzuleiten.

2 Konstruktivismus

Im 20ten und 21ten Jahrhundert werden mehrere philosophische Strömungen als Konstruktivismus bezeichnet, darunter der Erlanger Konstruktivismus und der Radikale Konstruktivismus, auf den ich im folgenden eingehen werde. Gemeinsame Grundthese ist, dass der Mensch nicht die Fähigkeit hat, eine objektive Realität zu erkennen. Dabei wird der Akt des Erkennens zum Dreh- und Angelpunkt dieser Theorien.[4]

Der Radikale Konstruktivismus unterscheidet sich von anderen konstruktivistischen Theorien vor allem durch seinen naturalistischen Ursprung in den Theorien von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela. Zwar bleibt die Grundthese des Konstruktivismus bestehen, jedoch wird das Abbild der Realität im einzelnen Individuum oder Beobachter festgemacht. Seine Wahrnehmung ist Ergebnis eines Sinnesreizes und die Verarbeitung desselben im Nervensystem. Dabei kann von einem weiteren Beobachter dieser Vorgang nicht verwendet werden, um einen Rückschluss auf das Beobachtete zu ziehen. Grundlegende Annahme ist somit, dass Erkenntnis kein objektives Bild einer realen Welt liefert. Als Beobachter erschafft man eine eigene Welt durch aktive und eigene Erfahrungen geprägte Konstruktion.

Die Vertreter, die dem Radikalen Konstruktivismus zugerechnet werden, kommen aus unterschiedlichen Disziplinen:

Heinz von Foerster (Biophysiker) entwickelte die Kybernetik zweiter Ordnung (Kybernetik der Kybernetik)[5]. Damit schlug er einen Positionswechsel von Beobachtung auf den Beobachter selbst, also die Beobachtung von Beobachtung vor. Zunächst jedoch ist Grundlage seiner Überlegung eine Theorie des Wissenserwerbs ohne Zugang zu einer objektiven Realität. Erkennen ist eine Tätigkeit im Nervensystem. Das Wissen wird somit immer neu errechnet und findet sich nicht in molekularer Form im Gedächtnis wieder.

Humberto R. Maturana (Neurobiologe) entwarf mit seinem Kollegen Francesco J. Varela die Theorie der Autopoiese und legte sein Hauptaugenmerk auf die „Biologie des Erkennens“[6]. Erkennen wird bei Maturana und Varela ebenfalls als ein aktives Handeln verstanden, welches die Konstruktion von Welt im Nervensystem bedingt. Dabei widmen sie sich in ihrer Theorie auch den Begriffen Sprache und Kultur. Diese bezeichnen sie als Verbund an ontogenetisch erworbenen Verhaltensmustern, die innerhalb der kommunikativen Dynamik eines sozialen Milieus eine generationenübergreifende Stabilität aufweisen.

Ernst von Glaserfeld (Philosoph) entwickelte basierend auf unter anderem Maturanas und von Försters Theorien den Radikalen Konstruktivismus. Trotzdem unterscheiden sich seine Theorien in einigen Punkten von den anderen. Zum Beispiel findet sich bei von Glaserfeld keine konstruktivistische Anthropologie. Die Grundprinzipien seiner Theorie lassen sich vor allem in den genetischen Erkenntnistheorien des Epistemologen Jean Piaget finden.

„Piaget war offensichtlich der Ansicht, dass Wissen von jedem einzelnen aufgebaut werden muss. Von seinem biologischen Gesichtspunkt aus sah er die Funktion der kognitiven Fähigkeit nicht im Repräsentieren einer ontologischen Realität, sondern als Instrument der Anpassung an die Erlebniswelt. Biologische Anpassung hat nichts mit Abbilden zu tun. Sich anpassen heisst da, Möglichkeiten und Mittel finden, um zwischen den Widerständen und Hindernissen der erlebten Umwelt durchzukommen. In meiner Ausdrucksweise nenne ich das gangbare oder viable Handlungs- und Denkweisen aufbauen.“[7]

Nach Piaget wird also Wissen vom denkenden Subjekt aktiv aufgebaut. Dabei ist die Funktion der Kognition adaptiv und zielt auf Anpassung ab. Die Erlebniswelt soll durch sie organisiert, und nicht eine Erkenntnis über die objektive Realität angestrebt werden.

Vor allem im Vergleich zwischen Individuum und anderen Menschen werden diese Grundprinzipien verdeutlicht. Andere Menschen sind zum einen Konstruktion, über die ein Erwartungsschema gebildet, wird und zum anderen Teil einer Welt außerhalb des Individuums. Dabei können andere Menschen die gesetzten Erwartungen erfüllen oder enttäuschen. Die Konstruktion des Anderen wird daraufhin vom Individuum aufgenommen und es findet eine Viabilität oder Anpassung statt. In der Endkonsequenz ist das Wissen jedes Individuums nur eine Konstruktion desselben. Andere haben auch Wissen, welches unter ähnlichen Bedingungen entsteht und zwar kompatibel sein kann, aber nicht muss. Von Glaserfeld spricht hier von Viabilität zweiter Ordnung. Die Begriffe und Definitionen, die Piaget vorgibt, erweiterte Glaserfeld unter anderem durch die Begriffe Ich und Sprache.

Auch zu nennen ist Gregory Bateson (Biokybernetiker), der den Informationsbegriff als doppelte Differenz darstellt. Sein Begriff bedeutet einen „Unterschied, der bei einem späteren Ereignis einen Unterschied ausmacht“[8].

Weitere Standpunkte im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus findet man bei Paul Watzlawick im Bereich der Psychoanalyse und bei dem Neurobiologen Gerhard Roth.

Die wichtigsten Begriffe des Radikalen Konstruktivismus sind:

-Beobachter
-Konstruktion
-Autopoiese (Selbstproduktion)
-Operationale Geschlossenheit
-Strukturelle Koppelung
-Viabilität
-Wirklichkeit vs. Realität[9]

Vor allem auf die Thematik des Beobachters und der damit verbundenen Konstruktion von Wirklichkeit werde ich im folgenden näher eingehen.

Die Formen des Radikalen Konstruktivismus, die benannt werden, lassen sich grob in einen naturalistischen und einen kulturellen Kontext einteilen. Obwohl Maturana und Varela sich selbst nicht dem Radikalen Konstruktivismus zurechnen, werden sie meist in diesem Rahmen benannt. Ihre Vorstellungen als Grundlage sind in dieser Arbeit wichtig, da die meisten Begriffe und Konzepte in konstruktivistischen aber auch systemtheoretischen Theorien auf diese beiden Autoren zurückzuführen sind. Die naturalistische Argumentationsweise wird jedoch nur im Grundgerüst verfolgt, wenn dieses auf mediale Themen übertragen wird. Die Verabschiedung von einem naturalistischen und auch dualistischen Konzept vollzog Siegfried J. Schmidt in seinem Werk „Geschichten und Diskurse“, welches zu diesem Zweck besprochen wird.

2.1 Konstruktivismus nach Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela

Der naturalistische Standpunkt der beiden Biologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela stellt eine grundlegende Position im konstruktivistischen Diskurs dar. Viele Begrifflichkeiten in nachfolgenden konstruktivistischen und systemtheoretischen Konzepten, vor allem die Autopoiese, lassen sich auf die beiden Biologen zurückführen. Die folgenden Überlegungen zum naturalistischen Konstruktivismus beziehen sich im wesentlich auf das Werk „Der Baum der Erkenntnis: Wie wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen – die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens“ (1987).

In ihrem gemeinsamen Werk erforschen die Autoren das Phänomen des Erkennens in einem philosophischen Rahmen. Erkennen wird nach Maturana und Varela nicht als Abbildung einer Außenwelt, sondern als aktive Konstruktion von Welt im 11Beobachtung und Medien Nervensystem verstanden. Handeln als Teil des Erkennens ist dabei die Ausgangsbasis, welche sie in ihrem ersten Aphorismus beschreiben:

„Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.“[10]

Der zweite Aphorismus, den Maturana und Varela anführen, betrifft die Sprache.

„Alles Gesagte ist von jemandem gesagt.“[11]

Jede Reflexion muss notwendigerweise in der Sprache stattfinden. Dies schließt auch eine Reflexion über das Erkennen mit ein. Die Sprache ist somit Instrument und Problem des Erkennens. Auch das Erkennen an sich weist durch seine Zirkularität und Selbstbezüglichkeit eine ähnliche Problematik auf.

„Wenn wir, um das Instrument einer Analyse [das Erkennen] analysieren [also erkennen] zu können, eben dasselbe [das Erkennen] als Instrument benutzen müssen, so bereitet uns die dabei entstehende Zirkularität ein schwindelerregendes Gefühl. Es ist als verlangten wir, dass das Auge sich selbst sieht.“[12]

Das Phänomen des Erkennens kann bei Maturana und Varela also nicht so aufgefasst werden, als gäbe es Objekte außerhalb, die man durch das Erkennen unzweifelhaft beobachten und beschreiben kann. Es gibt keine als absolut vorausgesetzte Realität im Bewusstsein.

Nach Erläuterung ihrer Zielsetzung beginnen die Autoren einige Zusammenhänge, die die Organisation des Lebendigen allgemein betreffen zu erklären. Zunächst beschreiben sie die Entstehung und damit die Organisation unseres Planeten.

Anschließend erläutern sie die molekularen Transformationen bis hin zum Erscheinen der Lebewesen. Hierbei führen sie grundlegende Definitionen ein, etwa wie „Unterscheidung“ und „Einheit“[13]. Eine Unterscheidung findet immer dann statt, wenn man sich auf etwas bezieht und dieses Etwas dadurch von seinem Hintergrund trennt. Produkt dieses Aktes ist eine Einheit.

Zu Beginn bestimmen die Autoren die Autopoiese als das Charakteristische jeder Organisation von Lebewesen. Sie nehmen an, dass Lebewesen im dem Sinne autonom sind, dass sie ihr Eigenes spezifizieren können. Diese Autonomie kommt durch die Autopoiese zustande. Weitere grundlegende Annahme ist, dass sich Lebewesen laufend selbst erzeugen.

Auf molekularer Ebene bedeutet Autopoiese jedoch zunächst, dass „die molekularen Bestandteile einer zellulären autopoietischen Einheit in einem kontinuierlichen Netzwerk von Wechselwirkungen dynamisch miteinander verbunden“[14] sind. Diese Dynamik beinhaltet, dass alle Bestandteile des Stoffwechsels in den gesamten Prozess integriert werden. Auch die Membran, als Begrenzung der Transformationen, nimmt an dem Transformationsprozess teil. Das Produkt eines jeden Lebewesens ist es selbst. Maturana und Varela unterscheiden demnach nicht zwischen Produkt und Produzent, da diese auf ein und der selben Ebene liegen und einen geschlossenen Kreis bilden.

Ein weiterer zentraler Begriff ihrer Analyse ist die Ontogenese. Sie wird als „Geschichte des strukturellen Wandels einer Einheit ohne Verlust ihrer Organisation beschrieben“[15]. Dieser Wandel findet in jedem Moment statt und wird durch die Interaktion zwischen Milieu und Einheit oder als Ergebnis des inneren Strukturwandels bestimmt. Dabei bildet diese Interaktion reziproke Perturbationen, welche als Zustandsveränderungen der Systemstruktur bezeichnet werden, die zwar von äußeren Umständen ausgelöst, aber nicht kausal verursacht werden. Ein klassisches Reiz- Reaktions-Muster wird durch die Vorstellung der in Interaktion stattfindenden Perturbationen ersetzt, die dem Umfeld keinen determinierenden oder instruierenden Charakter zusprechen. Auch umgekehrt gilt dies für die perturbierende Wirkung der Einheit auf das Milieu. Gemeinsam ergibt sich hieraus „eine Geschichte wechselseitiger Strukturveränderungen (...), also das, was wir strukturelle Koppelung nennen“[16]. Diese strukturelle Koppelung setzt eine Kompatibilität zwischen Milieu und Einheit voraus. Unter dem Prinzip der strukturellen Kopplung zwischen Organismen und Milieu findet die Evolution als natürliches und strukturelles Driften statt, nicht als Optimierung der Organismen in Auseinandersetzung mit dem Milieu, sondern als Erhaltung der Anpassung und der Autopoiese. Dabei findet fortwährend eine phylogenetische Selektion statt, welche nur zu dem spezifischen Zeitpunkt Sinn macht, in dem sie statt findet. Für einen heutigen Betrachter ist es schwierig, alle Dimensionen dieses natürlichen Driftens nachzuvollziehen.

Der Beobachtung der strukturellen Kopplung vorangehend, muss der Beobachter jedoch zuerst eine Unterscheidung zwischen einer Einheit und seinem Hintergrund treffen, „welche als voneinander operational unabhängig angesehen werden, auch wenn zwischen ihnen notwendig eine strukturelle Übereinstimmung vorliegen muss (oder die Einheit löst sich auf)“[17].

Im Verlaufe der Beobachtung ist es dann wichtig, dass zwischen Vorhersagbarkeit und

Strukturdeterminiertheit unterschieden wird. Dabei bedeutet Vorhersagbarkeit, dass sich beim Beobachten des gegenwärtigen Zustandes eines Systems der auf den Moment der Beobachtung folgende Zustand aus der strukturellen Dynamik bestimmen lässt. Der Beobachter erwartet somit ein bestimmtes Geschehen. Der Begriff der Strukturdeterminiertheit impliziert auch eine gewisse Vorhersagbarkeit, durch Beobachten der eigenen Dynamik der Einheit und ihrer Interaktion mit dem Milieu. Bei diesem Begriff müssen aber auch die Grenzen der Beobachtung beachtet werden. Als Beobachter ist man meist nicht imstande, jede Operation des zu beobachtenden Systems zu erkennen. Zudem gibt es Systeme, die sich allein dadurch verändern, dass man sie beobachtet. Ein Beispiel hierfür wäre in gesellschaftlichen Studien die teilnehmende Beobachtung, welche eine Veränderung der Struktur des Systems durch den Beobachter zur Folge hat.

Auf die operationale Geschlossenheit eines Systems kommen Maturana und Varela genauer zu sprechen, wenn sie auf das Nervensystem eingehen. Dies verdeutlichen sie anhand eines Experimentes mit dem Sehnerv eines Frosches. Hierzu durchtrennten sie den Sehnerv einer Kaulquappe und drehten ihr Auge um 180°, bevor sie es ihr wieder einsetzten. Nach der Operation wuchsen die ursprünglichen Nervenfasern zusammen und sie ließen den Frosch normal aufwachsen. Sah der Frosch nun eine Fliege und sie hielten ihm das gesunde Auge zu, versuchte er genau um 180° in die falsche Richtung seine Zunge schnellen zu lassen. Der Versuch ist beliebig oft wiederholbar, da der Frosch sein Verhalten nicht ändert. Dies bedeutet, dass das Tier anstatt am dazugehörenden Bereich der Netzhaut eine visuelle Perturbation auf einem gegenüberliegenden Punkt erfährt. Es liegt also eine interne Korrelation vor und keine zur Außenwelt, die ein externer Beobachter wahrnehmen würde.[18]

In „Vom Sein zum Tun“ geht Maturana nochmals genauer auf die Beziehung zwischen Nervensystem und Beobachter ein. Das folgende Zitat dient zu Verdeutlichung:

„Das Nervensystem operiert als ein geschlossenes Netzwerk wechselnder Relationen neuronaler Aktivitätszustände, die stets zu weiteren sich verändernden Relationen neuronaler Aktivitätszustände führen. Es existieren für sein Operieren als System lediglich die eigenen, die inneren Zustände. Nur der Beobachter vermag ein Innen und ein Außen oder einen Input und einen Output zu unterscheiden und in der Folge die Einwirkung des äußeren Stimulus auf das Innere und den Organismus zu behaupten oder umgekehrt eine Einwirkung des Organismus auf die externe Welt zu diagnostizieren. Was als adäquates Verhalten beschrieben wird, ist das Ergebnis einer Beziehung, die der Beobachter festgestellt hat. Er hat die Merkmale einer äußeren Welt auf den Organismus und das Nervensystem bezogen, die jedoch nicht zum Operieren des Organismus und der Operationsweise des Nervensystems gehören.“[19]

Verhalten definieren Maturana und Varela auch in Bezug auf den Beobachter. Dabei weisen sie mehrfach darauf hin, dass Verhalten keine Erfindung des Nervensystems ist und sich nicht nur auf eine Bewegung beschränkt. Sie sprechen das Verhalten einer Einheit als eine Zustandsveränderung an, die ihre Organisation erfährt, sei es durch innere oder äußere Mechanismen. Verhalten ist letztendlich nicht das Tun eines Lebewesens, sondern etwas, worauf ein Beobachter hinweist.

Auch der Kontext der Erkenntnis ist vom Beobachter abhängig. Er ist der Bereich, in welchem eine Frage, ob impliziert oder explizit, umrissen wird, die der Beobachter formuliert. Die Erkenntnis selbst ist effektives Verhalten[20], welches in diesem Kontext beobachtet werden kann.

Anschließend an das der Thema Verhalten erörtern Maturana und Varela soziale Phänomene und kommen in diesem Zuge auch auf Kommunikation zu sprechen. Den Rahmen sozialer Phänomene bildet der Begriff der strukturellen Kopplung dritter Ordnung. Diese definieren sie als strukturelle Kopplung zwischen einem Organismus mit operational geschlossenem Nervensystem, welcher von seiner Umwelt unterschieden werden kann, und einem anderen Organismus. Gemeinsam bringen diese Organismen Einheiten dritter Ordnung hervor, die auch als soziale Systeme bezeichnet werden. Allen sozialen Systemen ist eine gewisse Phänomenologie zu eigen. Definiert werden diese sozialen Phänomene als „Phänomene, die mit der Teilnahme von Organismen an der Bildung von Einheiten dritter Ordnung durch rekursive Interaktionen zu tun haben, wobei diese Interaktionen eine operationale Umgrenzung definieren, die sie selbst einschließt.“[21] Dabei können diese Interaktionen zu einem gemeinsamen strukturellen Driften im Verlauf ihrer Ontogenese führen.

Kommunikation tritt im Rahmen dieser sozialen Systeme als besondere Klasse von Verhaltensweisen auf. Dieser Rahmen sozialer Koppelung koordiniert die Kommunikation und grenzt sich dadurch von der normalen Sender-Empfänger- Analogie ab. Es wird daher keine Information in Form von Partikeln bei Kommunikationsprozessen übertragen, wie auch Luhmann in seiner Systemtheorie[22] betont. Kommunikation findet immer dann statt, wenn Verhaltenskoordination im Rahmen von Strukturkoppelungen stattfindet.

„Das Phänomen der Kommunikation hängt nicht von dem ab, was übermittelt wird, sondern von dem, was im Empfänger geschieht. Und dies hat wenig zu tun mit ‚übertragener Information’.“[23]

Kulturelles Verhalten ist ein Sonderfall von kommunikativem Verhalten. Es umfasst den gesamten Bereich ontogenetisch erworbener kommunikativer Interaktionen. Geschichtlich gesehen weist dieses Verhalten eine generationsübergreifende Stabilität auf, die über die Geschichte des Individuums hinausreicht. Eine Gesellschaft wird von Maturana und Varela als Metasystem verstanden.

Gemeinsam haben Organismen und menschliche soziale Systeme, dass zwischen ihren autonomen Einheiten eine Strukturkopplung besteht. Dabei können die Komponenten unterschiedlich ausgeprägte Autonomie besitzen. Die Besonderheit der Gesellschaft ist, dass ihre Komponenten auch als Einheit im Bereich der Sprache existieren. Sie benötigen die Sprache um die Anpassung zum Metasystem zu erhalten. Menschen sind jedoch nicht die einzigen Lebewesen, die in ihrer sozialen Existenz sprachliche Bereiche hervorbringen. Die Besonderheit menschlicher Gesellschaften ist das Reich der Sprache.

Das Grundmerkmal von diesem ist die Möglichkeit, sich selbst zu beschreiben und damit einhergehend die Fähigkeit zu Reflexion und Bewusstsein.

„Mit anderen Worten: Wir sind in der Sprache, oder – noch besser – wir‚sprachen’ nur dann, wenn wir durch eine reflexive Handlung eine sprachliche Unterscheidung einer sprachlichen Unterscheidung treffen.“[24]

Dabei macht Sprache nicht eine äußere Welt sichtbar, sondern konstituiert das Erkennen

selbst in der Koordination von Verhalten und bringt so durch den sprachlichen Akt des Erkennens eine Welt hervor. So erzeugt, wie die Autoren in ihrer Einleitung feststellen, die Erklärung des Erkennens das Erkennen selber.

Zentralen Aspekte für die folgende Argumentation sind die Begriffe Autopoiese und Ontogenese ebenso wie folgende Aussagen:

-Erkennen ist immer aktives Handeln.
-Hieraus folgt die aktive Konstruktion von Wirklichkeit durch kognitive Systeme.
-Beobachter und zu Beobachtendes fallen in denselben Bereich.
-Das Prinzip der Rekursivität ist bestimmend in Bezug auf operationale Geschlossenheit eines Nervensystems.
-Kommunikation ist eine spezielle Form des Handelns und tritt im Rahmen sozialen Verhaltens auf.
-Sprache ist eine spezielle Form von Kommunikation, die uns Reflexion und Bewusstsein ermöglicht.
-Kultur ist eine spezielle Form von kommunikativen Verhalten das generationsübergreifend funktioniert.

2.2 Konstruktivismus nach Siegfried. J. Schmidt

Mit seiner Theorie der Geschichten&Diskurse distanziert sich Siegfried J. Schmidt von den Ansätzen des Radikalen Konstruktivismus ebenso wie von dualistischen Konzepten. Dabei verwendet er durchaus die zentralen konstruktivistischen Konzepte, vermeidet aber die Erörterung von Subjekt und Objekt, Realität oder Existenz, die laut Schmidt nur die großen „philosophischen Probleme“ nach sich zieht.[25] Durch das Zerlegen der Wirkungszusammenhänge würden erst

Dichotomien wie Subjekt und Objekt oder Wahrheit entstehen. Um dies zu vermeiden, verlegt er seinen Fokus von Objekten auf Prozesse.

Als Ausgangspunkt verwendet Schmidt die Begriffe Setzung und Voraussetzung. Jede Handlung und jede Kommunikation ist eine Setzung, im Sinne einer bewussten Auswahl aus mehreren Handlungen und Kommunikationen, und in einen Kontext integriert. Sie folgt immer auf eine zeitlich vorher stattfindende Handlung oder Kommunikation, unterliegt also zwangsweise gewissen Voraussetzungen. Den Setzungszusammenhang machen laut Schmidt unsere gesammelten Lebenserfahrungen aus, und er hängt direkt mit unseren Erwartungen zusammen.

Setzungen weisen als Entscheidungen Kontingenz auf, denn eine Entscheidung ist immer die Wahl aus mehreren Möglichkeiten. Dabei sind Setzungen und Voraussetzungen über eine setzende Instanz verbunden. Bei der Wahrnehmung ist diese Instanz das Bewusstsein, welches in Form von Bezugnahmen operiert. Erst durch Reflexivität können wir Voraussetzungen erkennen und darüber kommunizieren. Er schreibt dazu:

„Bezugnahme bzw. Relationalität als Bewusstseinsprinzip, Reflexivität als Möglichkeit der Bezugnahme auf Voraussetzungen sowie die gemeinschaftsbildenden Annahmen solcher Bezugnahmen bei anderen und die s elektive Autokonstitutivität des Zusammenhangs von Setzung und Voraussetzung scheinen die elementaren Prinzipien oder ‚Mechanismen’ zu sein, die all unser Handeln antreiben, es beobachtbar und interpretierbar machen.“[26]

Schmidt spricht in Zusammenhang mit dem Prinzip der Reflexivität auch von Erwartungs-Erwartungen, die er als „operative Fiktion“[27] bezeichnet. Der kognitive Inhalt dieser wird von Schmidt als kollektives Wissen bezeichnet. Dabei bezieht er sich auf die Erwartung eines jeden, dass das Bewusstsein Anderer vergleichbaren Voraussetzungen folgt. Dies bedeutet, dass angenommen wird, dass Andere die Welt ähnlich, wenn nicht gleich, wahrnehmen wie man selbst. Als Folge entsteht ein gemeinsames Wirklichkeitsmodell, welches sich wiederum durch Sprache, aber auch durch Bestätigung und Alltagstauglichkeit verfestigt.

„Ein Wirklichkeitsmodell etabliert sich durch sozial-reflexive Bezugnahmen von Aktanten in Handlungen und Kommunikationen und verfestigt sich als symbolisch-semantische Ordnung durch Sprache, die Benennungskonstanz und Benennungsschematisierung von Kategorien und semantischen Differenzierungen für alle Gesellschaftsmitglieder ermöglicht, indem sie konkrete Bezugnahmen in Gestalt semiotischer Materialitäten (Zeichen) kollektiv stabilisiert“[28]

Zu einer Schematisierung kommt es, wenn sich die Ordnung der Kategorien und semantischen Differenzierungen auch bei Problemen als erfolgreich erwiesen haben. Kategorien sind dabei nach Schmidt Sinndimensionen wie Alter oder Besitz, welche gesellschaftlich relevant sind. Innerhalb der Kategorien gibt es semantische Differenzierungen.[29] Durch die Differenz zu anderen Kategorien schärfen sich die Grenzen einer Kategorie.

Von Sinn spricht Schmidt in Bezug auf die Geltung des Wirklichkeitsmodells in einer Gesellschaft, dessen Mitglieder sich in ihren Handlungen immer darauf beziehen und es durch ihre Setzungen bestätigen. Alle Setzungen bleiben jedoch nach Schmidt an das jeweilige kognitive System gebunden, was bedeutet, dass eine direkte Beeinflussung von außerhalb nicht angenommen wird.[30] Aus diesem Grund kann auch keine direkte Übertragung ohne Übersetzungsleistung des kognitiven Systems stattfinden.

Der Kontakt zur Umwelt führt nur über Selbstkontakt. Dies gilt insbesondere für allgemeine Orientierungen, welche immer eine Selbstorientierung sind, also eine Orientierungs-Orientierung. In dem Zusammenhang definiert Schmidt Sinn als Selbstorientierungskompetenz. Das kognitive System erkennt als sinnvoll, was innerhalb der Kohärenzprüfung aller Zustände des Systems ohne Widerspruch funktioniert.

In der Theorie der Geschichten&Diskurs spielen die eben definierten Begriffe Setzung und Voraussetzung eine entscheidende Rolle. Geschichte entsteht nach Schmidt durch die Vernetzung von getätigten Handlungen, sprich Setzungen. Diese Geschichte schließt sich an andere Geschichten an, die von dem Aktanten selber oder von Anderen sind. Dadurch können auch mehrere Handelnde eine gemeinsame Geschichte haben.

„Handlungen stehen immer in einer Abfolge von Handlungen. Geschichten ihrerseits stehen immer in einer sinnbestimmten Abfolge von Geschichten, selbst wenn sie uns gelegentlich als sinnlos erscheinen. Geschichten gehen aus Geschichten hervor, und sie gehen in andere Geschichten über. Genau genommen müsste man sagen, dass auch Geschichten wie Handlungen oder Bewusstseinsvorgänge‚ nichts anderes sind’, und das heißt: nicht anders erlebt werden können als Übergänge, deren Kontinuität wir im Denken oder Kommunizieren (kontrafaktisch) unterbrechen, um sie durch Strukturbildung beobachtbar und beschreibbar zu machen, während sie weiterlaufen.“[31]

Die Reflexion unserer Geschichten ist für die Identitätsbildung wichtig. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass diese Geschichten nicht bereits vorhanden sind, sondern erst von uns selbst synthetisiert werden. Sie werden gedeutet und sind somit selbst Ergebnis aus Reflexion. Um Identitätsbildung und deren Stabilität zu ermöglichen, muss der Aktant die Ereignisse zu sinnvollen Handlungen und anschließend zu sinnvollen Geschichten synthetisieren. Erst wenn Widersprüche in der Selbstbeschreibung auftreten, kommt es zu kognitiver oder bewusster Selbstbeschreibung.

Dabei muss zwischen Deutungen, die aus der Beobachtung erster Ordnung, und denen, welche aus Beobachtung zweiter Ordnung hervorgehen, unterschieden werden. Die Handelnden der Geschichte deuten diese im Vollzug, also als Produkt aus der Beobachtung erster Ordnung. Findet eine Deutung auf Grund des Zusammenhanges der Geschichte im Nachhinein statt, ist sie Produkt der Beobachtung zweiter Ordnung. Im Endeffekt bedeutet dies, dass der Aktant und der Beobachter zweiter Ordnung unterschiedliche Geschichten erleben. Da beide Beobachter in die Geschichte „mitverstrickt, partizipierend, involviert“[32] sind, ist ihre Beobachtung nicht objektiv. Kommunikation ist ebenso ein Teil von Geschichten und steht zu anderen Handlungen oder Kommunikationen in zeitlichem, thematischem und formalem Zusammenhang. Das Muster, nach dem die Kommunikation intern als Teil der jeweiligen Geschichte geordnet wird, bezeichnet Schmidt als Diskurs.[33] Kommunikationen werden ebenso wie Handlungen in ein sinnvolles Geschehen synthetisiert. Dabei werden für den Diskurs sowohl einzelne Beiträge, als auch die Kommunikationsteilnehmer selektiert. Dieser Vorgang ist den Diskursteilnehmern bewusst durch die Teilnahme an Diskursen der Reflexion über die alternativen Diskurse, an welchen sie nicht teilnehmen. Die Teilnahme an dem Diskurs und der Grund zur Teilnahme sind Teil der Identitätsbildung.

Den Wirkungszusammenhang zwischen Geschichten als Handlungszusammenhang und Diskursen als Kommunikationszusammenhang macht Schmidt besonders deutlich. Eine Existenz außerhalb von Geschichten&Diskursen[34] ist nicht möglich.

In ihrem Zusammenspiel wird kollektives Wissen aufgebaut. Dieses wird von den Handelnden nach sozialen Regeln benutzt und konstruiert. Damit setzt Schmidt Handeln und Wissen auf eine Ebene. Durch dieses Wissen werden Aktanten in Geschichten&Diskurse integriert, und diese wiederum werden in gesellschaftliche Zusammenhänge gebracht. Somit findet laut Schmidt über die Geschichten&Diskurse- Konzeption die Verknüpfung zwischen Individuum und Gesellschaft statt.

Dabei stellt er seine Theorie der Geschichten&Diskurse in den Zusammenhang mit dem abstrakteren Konzept von „Wirklichkeitsmodell&Kulturprogramm“. Von Kultur spricht Schmidt als Programm, welches Wirklichkeitsmodelle handlungswirksam macht. Kultur stellt eine Bindung zwischen Setzung und Voraussetzung her, welche bestimmte Selektionen aus einer Unzahl an Möglichkeiten ermöglicht.

„Es 'gibt' keine Kultur als Summe von Phänomenen, aber wir brauchen sie als Programm, um kulturelle Phänomene generieren, beobachten und bewerten zu können. Jede Kulturtheorie ist daher notwendig eine Form kultureller Praxis (sprich Programmanwendung).“[35]

Um sich mit Kultur und Kulturprogrammen zu beschäftigen, brauchen wir Kulturprogramme. Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch Maturana und Varela in Bezug auf Sprache, wenn sie beschreiben, dass wir, um zu verstehen, dass wir Sprache sprechen, bereits eine Sprachkompetenz brauchen.[36]

Die Optionen dieser Kulturprogramme wirken aufgrund der Selektion von Möglichkeiten kontingent, sind aber dadurch auch für Veränderung zugänglich. Die Beobachtbarkeit ihrer Prozesse ermöglicht so eine Bildung von Tradition durch Sicht auf vergangene Problemlösungen und Strategien und eine Einwirkung auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse.

„Wenn beobachtende Systeme nur beobachten können, was sie beobachten und wie sie beobachten (...), dann muss die Beobachtungsrichtung vom System in Richtung Umwelt gehen und nicht umgekehrt; denn dann konstruiert das beobachtende System durch die Rekursivität seiner eigenen Operationen (also durch kognitive Reflexivität) seine eigenen Ordnungszustände, ebenso wie (s)eine Umwelt.“[37]

In diesem Zusammenhang steht die Hierarchisierung des Beobachters. Der Beobachter erster Ordnung vollzieht Setzungen, ohne sich direkt über deren Voraussetzungen bewusst zu sein. Diese kann ein Beobachter zweiter Ordnung zwar wahrnehmen, ist sich aber über seine eigenen Voraussetzungen nicht bewusst. Dies spielt auch für unseren Umgang mit Medien eine Rolle.

„In Medienkulturgesellschaften mit ausdifferenzierten Mediensystemen ist, wie auch N. Luhmann betont hat, das Beobachten von Beobachtern zur ständigen Praxis geworden. Mediensysteme beobachten Beobachter und beobachten sich gegenseitig sowie gelegentlich auch sich selbst beim Beobachten.“[38]

Schmidt definiert Medien wie folgt[39]:

-Kommunikationsinstrumente wie Sprache, Schriften, Bilder, Töne technische Dispositive (Papier, Programmierung etc.)
-die sozial-systemische Ordnung dieser Dispositive (etwa Verlage und Sender)
-die Medienangebote, die aus dem Zusammenwirken dieser Komponenten resultieren.

Auf dieser Basis versucht Schmidt ein integratives Medienmodell[40] zu entwickeln, welches sowohl den anthropologischen als auch den technikzentrierten Ansatz der Medienwissenschaften umfasst.

Dabei bestimmt er Komponentendimensionen als Rahmen der Möglichkeiten der Medien. Die verwendete Technologie beeinflusst die Produktion und Verbreitung der Medien. Zudem unterliegen Medien semiotischen Kommunikationsinstrumenten, wie Sprache, die gesellschaftliche - strukturelle Kopplungen beinhalten. Kommunikationsmittel sind an soziale Institutionen wie Schule gebunden. Die Angebote der Medien sind von dieser Komponente ebenso wie von den Nutzern abhängig. Bei der Wirkung der einzelnen Angebote der Medien auf die Gesellschaft unterscheidet er zwischen der Wirkung diskursiver Systeme, der Wirkung aus technisch-medialen Dispositionen und der Wirkung durch Veränderung vor allem der Kommunikations- und Beobachtungsverhältnisse.

Schmidt beschreibt Medien als Instrumente kognitiver und kommunikativer Wirklichkeitskonstruktion[41]. Medienangebote sind keine Abbilder von Wirklichkeit, sondern ein Angebot an kognitive Systeme, Wirklichkeitskonstruktion systemspezifisch in Gang zu setzen. Es kann auch entschieden werden, das Kopplungsangebot nicht zu nutzen. Vor allem auf das Angebot des Fernsehens geht er näher ein, denn „offenbar besteht bis heute die Autorität der Bilder beim Publikum unangetastet weiter.“[42]

Dem Fernsehen als Fenster zu unserer Kultur und Gesellschaft, ist es möglich, den Anschein von unmittelbarer Interaktion hervorzurufen, da die Möglichkeiten zur Wahrnehmungssteuerung und die Medialität unsichtbar bleiben. Bilder erzielen zudem eine größere emotionale Wirkung und verwischen dadurch die Grenzen des Bildschirms. Der erfahrene Zuschauer nimmt sogar komplizierteste Kameraeinstellungen und Schnitte als natürliche Wahrnehmung wahr. Zudem werden Fernsehangebote von Aktanten so konstruiert, dass der Zuschauer sie direkt mit eigenen Erfahrungen verbinden kann und dadurch das Gefühl einer Wiedergabe der Realität hat. Schmidt betont, Peter M. Spangenberg zitierend, dass auf Grund der Qualität der Massenmedien Realität noch realer zu erfahren sei.[43]

Er argumentiert allerdings gegen den Begriff der Medienrealität, und für die Betrachtung von Bedingungen der Organisation und Prozessen. Folgendes, längeres Zitat erläutert nochmals einige der Anmerkungen von Schmidt von der Relation zwischen Massenmedien und Wirklichkeit.

„Wirklichkeit ist in einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft also zunehmend das, was wir über Mediengebrauch als Wirklichkeit konstruieren, dann daran glauben und entsprechend handeln und kommunizieren. (...) Damit aber kommt ein starkes Moment von Verzeitlichung und Kontingenzbildung in alle Wirklichkeits-konstruktionen hinein. Wenn der Wirklichkeitsbegriff nicht mehr an Realität gebunden, also ontologisch definiert werden kann, dann pluralisieren sich automatisch die Wirklichkeitsmodelle und unterscheiden sich nach dem Grad und der Richtung ihrer Viabilität, nach der Art ihrer Operationalisierung, nach der Relevanz, die sie für das Problemlösen und Überleben haben - und diese praktische Erfahrung der Konstruktivität ist heute allgemein erfahrbar und wird in der Kommunikation zunehmend thematisiert.“[44]

2.3 Exkurs: Interaktionistischer Medienkonstruktivismus

In ihrem gemeinsamen Werk „Medien und Konstruktivismus“ entwickeln die Erziehungswissenschaftler Kersten Reich, Lucia Sehnbruch und Rüdiger Wild einen Medienkonstruktivismus, der auf eine Kulturtheorie ausgedehnt wird und gleichzeitig Protagonisten, Prozesse und Interaktion mit der Kultur umfasst. Er ist als eine Entradikalisierung des Radikalen Konstruktivismus gedacht.

[...]


[1] Maturana/Varela 1987

[2] Der Begriff der kulturellen Postmoderne wird meist dazu verwendet, künstlerische Phänomene zeitlich einzuordnen, vor allem in Bezug auf die Moderne. Aber auch außerhalb des kunsthistorischen Kontextes wie in der Philosophie und Soziologie wird mit dem Begriff gearbeitet. Ich beziehe mich ausschließlich auf den postmodernen Film als Genre.

[3] Wenn Filme zitiert werden, dann wird neben den in Anführungszeichen angeführten Titel, das Produktionsland, der Name des Regisseurs und das Produktionsjahr in Klammern aufgelistet.

[4] Vgl. Weber 1996, S. 180f

[5] Vgl. Foerster/Pörksen 2004, S. 114ff

[6] Maturana/Varela 1987. Untertitel des Werkes

[7] Glaserfeld 1995, S. 39

[8] Bateson zit. Nach Weber 2003, S.182

[9] Ich werde den Begriff der Realität möglichst vermeiden und von Wirklichkeit sprechen, da die Begriffe in Konstruktivismus und Systemtheorie nicht immer synonym verwendet werden. Der Begriff der Wirklichkeit scheint mir passender zu sein, da ich in dieser Arbeit nicht der Frage nachgehe ob es objektive Realität gibt, sondern das Phänomen der Beobachtung behandele. In Bezug auf den Film werde ich jedoch von der Filmrealität sprechen, da dieser Ausdruck in der dargestellten Filmtheorie ausschließlich verwendet wird. Wirklichkeit und Realität werden dort eindeutig synonym verwendet.

[10] Maturana/Varela 1987, S. 32

[11] Ebd.

[12] Ebd. 29f

[13] Vgl. Ebd, S. 46

[14] Maturana/Varela 1987, S. 51

[15] Ebd., S. 84

[16] Ebd., S. 72 (kursiv von Autoren übernommen)

[17] Maturana/Varela 1987, S. 106

[18] Maturana/Varela 1987, S. 137-140

[19] Maturana/Pörksen 2002, S. 63

[20] Maturana/Varela 1987, S. 189

[21] Maturana/Varela 1987, S. 210

[22] Vgl. Luhmann 1996, S. 38

[23] Maturana/Varela 1987, S. 212

[24] Maturana/Varela 1987, S. 227

[25] Schmidt 2003, S. 93

[26] Schmidt 2003, S. 30 (Kursiv vom Autor)

[27] Ebd., S. 33

[28] Ebd., S. 34

[29] Bei Alter wäre eine solche semantische Differenzierung zum Beispiel jung und alt.

[30] Vgl. Autopoiese bei Maturana/Varela in Kapitel 2.1

[31] Schmidt 2003, S. 50 (kursiv von Schmidt übernommen)

[32] Schmidt 2003, S. 51

[33] Vgl. Ebd. S, 52f

[34] Er koppelt den Begriff schrift-bildlich als „Geschichten&Diskurse“.

[35] Schmidt 2003, S. 42

[36] Maturana/Varela 1987, S. 226 f

[37] Schmidt 2003, S. 100

[38] Ebd., S. 151

[39] Vgl. Schmidt 2003, S. 66 und Schmidt 2000, S. 93 ff. Im folgenden wird diese Definition verwendet.

[40] Vgl. Schmidt 2000, S. 94ff

[41] Vgl. Schmidt 1994, S. 17

[42] Ebd., S. 18

[43] Ebd.

[44] Schmidt 1994, S. 18f

Ende der Leseprobe aus 115 Seiten

Details

Titel
Beobachtung und Medien
Untertitel
Beobachtungspositionen und die Rolle der Paradoxie in den medienkulturellen Konzepten von Konstruktivismus und Systemtheorie
Hochschule
Universität Kassel  (Philosophie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
115
Katalognummer
V269727
ISBN (eBook)
9783656604532
ISBN (Buch)
9783656604549
Dateigröße
1852 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
David Lynch, Medien, Beobachter, Systemtheorie, Konstruktivismus, Niklas Luhmann, Paradoxie, Postmoderne
Arbeit zitieren
Sabrina Berger (Autor:in), 2011, Beobachtung und Medien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269727

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