Bin Ich ein Anderer? Die Krise der männlichen Identität in "Fight Club" und "Shutter Island"


Magisterarbeit, 2013

95 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Where is my mind?
2.1. Otto Ranks Doppelgänger
2.2. Sigmund Freud und das Unheimliche
2.3. Das Spiegelstadium bei Jacques Lacan

3. Mindgame movies

4. Fight Club
4.1. Der Mann in der Krise
4.2. Auf der Suche nach Kompensation
4.3. Tyler Durden als Ideal-Ich
4.4. Marla: Parasit oder Segen?
4.5. Der brodelnde Keller
4.6. Project Chaos: Rettung durch Selbstzerstörung

5. Shutter Island
5.1. Die unheimliche Psychiatrie
5.2. Die Grenzen zwischen Schein und Sein
5.3. Die Krise - Realität oder Fiktion?
5.4. Patient 67
5.5. Gefangen auf Shutter Island

6. Fazit

7. Filmverzeichnis

8. Literaturverzeichnis

9. Websites

1. Einleitung

„Wir befinden uns in Welten, die oft genau wie unsere aussehen, aber in denen mehrfache Zeitlinien koexistieren, in denen die Erzählung ihre eigenen Schleifen und Möbiusbänder erzeugt, in denen es vielleicht einen Anfang, eine Mitte und ein Ende gibt, aber sicher nicht in dieser Reihenfolge.“[1]

„Film als Spiegel gesellschaftlicher Zustände und Wunschvorstellungen, aber auch kollektiver Ängste: Die Deutung solcher Phänomene gelingt häufig nur mit tiefenpsychologischen Mitteln.“[2] Shutter Island und Fight Club sind Paradebeispiele für schwierige Identitäten. Obgleich sie nicht derselben Thematik entsprechen, folgen die Filme doch ähnlichen Mustern. Der Rezipient gibt sich der Illusion der jeweiligen Identität hin, bis diese völlig überraschend enttarnt wird. Diese Arbeit möchte sich deshalb vor allem mit der Frage nach Konstruktion und Destruktion von Identität in den hier behandelten Filmen beschäftigen. Da es allerdings im Rahmen der Untersuchung nicht möglich ist, alle Aspekte der Psychoanalyse zu betrachten, bezieht sich die Arbeit auf drei entscheidende Gesichtspunkte. Im Zentrum des Interesses steht dabei der abgespaltene Teil des Ichs, welcher von dem Psychoanalytiker Otto Rank erstmals aufgegriffen und als Doppelgänger beschrieben wurde. Er geht damit auf die Doppelgängerdarstellung seines Mentors Sigmund Freud ein, welcher den Doppelgänger als Versicherung des Ichs versteht. Der Wissenschaftler Jacques Lacan führt diese Beobachtungen noch weiter aus. Es stellt sich heraus, dass sich das gespaltene Subjekt hervorragend für filmtheoretische Beobachtungen eignet. Lacan legt den Fokus dabei besonders auf das von ihm untersuchte Spiegelstadium.

Aufgrund der Gedankenspiele, die die Filme mit ihren Zuschauern spielen, wird die Wendung innerhalb der filmischen Realität erst ersichtlich, nachdem die Protagonisten sich nicht mehr aus ihrem Dilemma befreien können. Doch weshalb ist dies für den Rezipienten so schwierig zu erkennen? Um ein Verständnis für jene Entwicklung zu kriegen, ist es überaus wichtig, den von Thomas Elsaesser eingeführten Begriff der mindgame movies näher zu betrachten: Erst an dem Zeitpunkt, wo ein Kontrollverlust droht, ermöglichen uns die Filme einen Blick auf den Doppelgängerund erst durch dessen Auftauchen wird das Ausmaß der männlichen Identitätskrise ersichtlich. Doch worin manifestiert sich die Identitätslosigkeit? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, gilt es die gegenwärtige Situation des Protagonisten und seine Umgebung genauer zu betrachten. Wie sich zeigen wird, sind die Helden durch ihre unterschiedlichen Lebensumstände schwer traumatisiert, weshalb infolge dessen ein schwerwiegender Mangel entsteht, den sie zu kompensieren suchen. Als sie dies nicht mehr schaffen, beginnt ihre Männlichkeit und damit ihre eigene Identität zu zerfallen und es kommt zu einer Abspaltung der eigenen Persönlichkeit. Obwohl beiden Filmen die Pathologie ihrer Protagonisten gemein ist, wird sich zeigen, dass sie einen unterschiedlichen Ausblick auf den Umgang und den Ausgang mit männlichen Identitätskrisen geben. Während das Subjekt in Fight Club einen positiven Ausgang zu nehmen scheint, verliert sich der Protagonist in Shutter Island und wird zum Gefangenen seiner eigenen Lüge - oder etwa nicht?

2. Where is my mind?

Filme werden häufig dazu genutzt, gesellschaftliche Zustände, Wunschvorstellungen sowie kollektive Ängste zu veranschaulichen. Der Film und die Gedankenspiele, die uns unaufhaltsam beschäftigen, dienen als Spiegel jener Ängste. Die Auslegung derartiger Erscheinungen gelingt häufig jedoch nur mit tiefenpsychologischen Mitteln. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud führte die Ansicht an, dass alle menschlichen Handlungen, inbegriffen die Kunst des Films, unbewusste Kräfte zum Ausdruck bringen. Um jene unbewussten Kräfte verstehen zu können, sollen hier einige Ansätze der Psychoanalyse näher beleuchtet werden.

2.1. Otto Ranks Doppelgänger

Der Psychoanalytiker Otto Rank, ein Schüler Sigmund Freuds, maß dem Zusammenhang zwischen dem Medium Film und der Psychoanalyse bereits sehr früh Aufmerksamkeit bei. Sein Mentor hatte dem Film bisher recht kritisch gegenübergestanden und schien nicht in der Lage zu sein das Potenzial für psychoanalytische Studien zu erkennen. Im Jahr 1914 machte Rank die Studie des Doppelgängers zum Mittelpunkt seiner psychoanalytischen Untersuchungen. Anstoß seines Interesses war die Verfilmung Der Student von Prag[3] (Deutschland 1913). Der Psychoanalytiker interessierte sich hier vor allem für das Motiv des Spiegelbildes im Film, stellte es doch auf eigentümliche Weise einen Doppelgänger des Protagonisten Balduin dar.

„Ein dunkles, aber unausweichliches Gefühl, das sich des Zuschauers bemächtigt, scheint uns zu verraten, daß hier tiefe menschliche Probleme berührt werden und die Besonderheit der Kinotechnik, seelisches Geschehen bildlich zu veranschaulichen, macht uns mit übertriebener Deutlichkeit darauf aufmerksam, daß es das interessante und bedeutsame Problem des Verhältnisses des Menschen zu seinem Ich ist, welches uns in seiner Störung als Schicksal des Individuums versinnbildlicht wird.“[4]

Rank war fasziniert von Darstellungen aus der Romantik, welche Spiegelbilder und Schatten als losgelöste Doppelgänger zeigen. Diese werden zu einem eigenständigen Teil, spalten sich vom Ich ab, lehnen sich gegen dieses auf und bekämpfen es sogar teilweise. Laut Rank bedeutet dies, dass sich der abgespaltene Doppelgänger zu einem bestimmten Zeitpunkt, durch einen bestimmten Auslöser, dem Vorbild widersetzt. Als Grund dafür führt er an, dass jeder Mensch mit seiner Vergangenheit unausweichlich verbunden ist. Sollte das Individuum versuchen sich von ihr zu lösen, hat das, so Rank, fatale Folgen. Der Auslöser wird häufig mit der emotionalen Bindung zum weiblichen Geschlecht gleichgesetzt, woraufhin der Protagonist meist in Paranoia oder Verfolgungswahn verfallt. Laut Rank kann der vermeintliche Doppelgänger nur aufgehalten werden, indem er sich auf brutale Art und Weise selbst vernichtet. „Der Impuls, sich von dem unheimlichen Gegenspieler auf gewaltsame Weise zu befreien, gehört [...] zu den wesentlichen Zügen des Motivs und wo dem Impuls nachgegeben wird, [...] da zeigt es sich deutlich, daß das Leben des Doppelgängers mit dem der Person selbst aufs engste verknüpft ist.“[5] Das Resultat ist deshalb meist der unausweichliche Suizid des Ichs. Da diese Muster in unterschiedlichsten Werken wiederzufinden sind, geht der Psychoanalytiker im Folgenden der Frage nach, ob sich hier eine Art Erlebnisbericht der entsprechenden Autoren nachzeichnen lässt. Bei näherer Betrachtung der jeweiligen Biographien verweist er auf analoge Pathologien. „Rank ist jedoch bewusst [...], dass die pathologischen Züge der Autoren noch nicht die typisch wiederkehrenden Muster bei der Gestaltung des Doppelgängermotivs ausreichend erklären. Das Interesse eines pathologisch weniger geprägten Publikums wäre kaum nachvollziehbar.“[6] Sowohl Autor als auch Zuschauer erfahren aber einen enormen Lustgewinn durch die dargestellte Erzählung.

„Die pathologische Disposition zu geistigen und seelischen Störungen bedingt ein hohes Maß von Spaltung der Persönlichkeit, mit besonderer Betonung des Ichkomplexes, dem ein abnorm starkes Interesse an der eigenen Person und ihren seelischen Zuständen und Schicksalen entspricht. [...] Es sind dies die sonderbaren Darstellungen des Doppelgängers als Schatten, Spiegelbild oder Porträt, deren bedeutsame Einschätzung wir nicht recht verstehen, wenn wir ihr auch gefühlsmäßig folgen können.“[7]

Schatten und Spiegelbild bildeten hier die Basis für die Seelenvorstellung des Menschen. Aufgrund dessen projiziert das Ich alle physischen und psychischen Erlebnisse auf sich selbst. Es wird in dieser Vorstellung sozusagen zu einem Erlebnisträger seiner Kopie und denkt, dass es alles, was das Spiegelbild durchlebt, selbst durchleben wird. Natürlich betrifft dieses Denken in erster Linie die Angst vor Tod oder dem Verderben. Dieselbe Vorstellung betrifft den suizidalen Ausweg des Ichs. Indem der Doppelgänger nur durch eine gewaltsame Selbstzerstörung vernichtet werden kann, liegt auf der Hand, dass das Ich zwangsläufig komplett ausgelöscht wird. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten: entweder der Doppelgänger wird zur dauerhaft gefährlichen Koexistenz oder der Mensch opfert sich selbst, um dem Doppelgänger keine Chance zum Existieren zu lassen. Während die Doppelgängerdarstellungen zunächst auf eine ungewöhnlich große Ähnlichkeit zwischen Protagonist und Doppelgänger verweisen, zeigt sich in unterschiedlichen Darstellungen der Moderne, dass die Abspaltung vom Ich durchaus andere Züge annehmen kann. So muss der Doppelgänger dem Protagonisten nicht zwangsläufig in Mimik, Gestik und Optik ähneln, sondern kann sich sogar im Gegenteil durch vollkommen andere physische und psychische Merkmale auszeichnen. Aus diesem Grund wendet sich Otto Rank im Folgenden der Darstellung des Doppelgängers zu, „die [. ] als spontane subjektive Schöpfung krankhafter Phantasietätigkeit erscheint.“[8] Das Begegnen mit dem Doppelgänger folgt einem unaufhaltsamen Klimax, welches schließlich zu einer Form der Paranoia wird: „gerade das, worauf sich die Libido beziehen will, tritt dem Individuum durch den Mechanismus der Projektion bedrohlich entgegen. Der Doppelgänger wird zum Verfolger.“[9] Grundlos behindert er das Ich natürlich nicht. Da er eine echte emotionale Bindung seines Vorbilds nicht dulden kann, korrumpiert er als Konkurrent dessen romantische Absichten auf niederträchtigste Art und Weise. Hier tritt deutlich zutage, welche selbstsüchtige und eigennützige Rolle die Abspaltung des Ichs verfolgt, um dessen etwaige Bindung zu einem anderen Menschen zu unterbinden. Häufig zeichnen sich die Charaktere durch eine Liebes- oder Bindungsunfähigkeit aus, welche durch das provokative Auftreten des Doppelgängers betont wird. Dadurch wird ihm gleichzeitig die Schuld für das eigene Versagen gegeben. Der von ihm geleistete Widerstand gegen das Ich, wird von diesem als Rechtfertigung für das eigene Versagen herangezogen.

„Als auffälligstes Symptom dieser Gestaltungen erscheint ein mächtiges Schuldbewußtsein, das den Helden nötigt, für gewisse Handlungen seines Ich die Verantwortung nicht mehr auf sich zu nehmen, sondern einem anderen Ich, einem Doppelgänger, aufzubürden, der entweder im Teufel selbst personifiziert ist oder durch die Teufelsverschreibung geschaffen wird oder durch die Teufelsverschreibung geschaffen wird. Diese abgespaltene Personifikation der einmal als verwerflich empfundenen Triebe und Neigungen, denen auf diesem Umweg doch verantwortungslos gefrönt werden kann, tritt in anderen Gestaltungen des Themas als wohltuender Warner [.] auf, der direkt als „Gewissen“ des Menschen angesprochen wird [.].“[10]

Es fällt also auf, dass der abgespaltene Teil des Ichs zum Realisator verdrängter und heimlicher Fantasien des Subjektes wird. Durch diese Funktion, die dem Doppelgänger damit innewohnt, erklärt sich seine grundlegende Ambivalenz. Es wird ihm die Aufgabe zuteil, verdrängte Neigungen und Begierden nach außen zu projizieren und somit vom Subjekt abzulenken. Hier generiert sich jedoch ein Teufelskreis, der das Subjekt in eine Falle lockt. Es kommt sozusagen zu einem Dopplungseffekt, ähnlich der Wirkweise des Spiegelbildes. Durch die Begegnung mit dem Doppelgänger wird das Subjekt wieder von außen mit seinen Fantasien konfrontiert und kann sich ihnen so nicht entziehen. Aus diesem Grund wird deutlich, weshalb das von Otto Rank beschriebene Phänomen des Doppelgängers für die Betrachtung der ausgewählten Filme so von Bedeutung ist. Bei der Frage nach einer Krise der Männlichkeit ist anzunehmen, dass die Untersuchung in Hinblick auf das abgespaltene Ich sehr aufschlussreich sein wird.

2.2. Sigmund Freud und das Unheimliche

„Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe [...] wieder belebt oder [...] bestätigt scheinen.“[11]

In seinem Essay über ,das Unheimliche‘ wendet sich Sigmund Freud gegen die verkürzte Analyse von Ernst Jentsch, welcher das Gefühl des Unheimlichen als intellektuelle Unsicherheit gegenüber Fremden und Unvertrautem definiert. Freud trifft die Aussage, dass das Unheimliche zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden zuzuordnen ist und auf das Altbekannte, Vertraute zurückgehe. Er stellt fest, dass das Wort ,unheimlich‘ nur oberflächlich betrachtet der Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut sei. Er betont deshalb, dass die Unterscheidung heimlich/unheimlich alles andere als eindeutig ist. Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, was im Verborgenen bleiben sollte und dennoch hervorgetreten sei.[12] Aufgrund dessen hat Sigmund Freud einige Kategorien benannt, die das Unheimliche erzeugen können. Als Kastrationskomplex, mit dem Augapfel als substituiertes männliches Glied, bezeichnet Freud die Angst das Augenlicht zu verlieren. Es handelt sich jeweils um ein kostbares Organ, was es zu schützen gilt.[13] Im weiteren Verlauf seiner Analyse nennt Freud das Doppelgängertum als weiteres unheimliches Phänomen. Der Doppelgänger wird als Versicherung des Ichs verstanden. Aus dem Ich bildet sich eine besondere Instanz hinaus, die sich dem restlichen Ich gegenüberstellt und Selbstbeobachtung und Selbstkritik übt. Diese Instanz wird im Laufe des Lebens zum Schreckbild. [14] Weiterhin führt Freud das Phänomen der Wiederholung des Gleichartigen auf, bei dem er einräumt, dass es nicht bei jedem Anerkennung finden werde. Er bezieht sich auf seine persönlichen Erfahrungen und erklärt, dass die unbeabsichtigte Wiederkehr von Situationen das Gefühl von Hilflosigkeit und Unheimlichkeit zur Folge haben.[15] In den folgenden Seiten arbeitet Freud noch weitere Erscheinungen heraus, die ,unheimlich‘ sind: Es sind die Phänomene des Animismus, hier der Magie, der Zauberei, der Allmacht der Gedanken, der Fallsucht und des Wahnsinns, bei denen eine Vermischung der Phantasie mit der Realität stattfindet. Die Angst vor dem Verdrängten besagt, dass jedes Gefühl durch den Prozess der Verdrängung in Angst umgewandelt wird. Die Angst ist dann das wiederkehrende Verdrängte. Diese Form der Angst ist mit dem Unheimlichen gleichzusetzen.[16] Der allerhöchste Grad des unheimlichen Erscheinens ist allerdings nach Freud mit den Ereignissen gekennzeichnet, die mit „dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern“ zusammenhängen. Der Tote ist der Feind der Überlebenden.[17] Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass „das Unheimliche“ Freud zufolge das einst Vertraute ist, das verdrängt wurde und im Unterbewusstsein „schlummerte“. Im unheimlichen Erlebnis kehrt das Verdrängte in anderer Form wieder.

2.3. Das Spiegelstadium bei Jacques Lacan

Sigmund Freuds Abhandlungen über das Unbewusste boten im Nachhinein reichlich Stoff zur Relektüre. Jacques Lacan, ebenfalls Psychoanalytiker, widmete sich der Freudschen Theorie mit außerordentlichem Interesse. Er setzte seinen Schwerpunkt in der Untersuchung des gespaltenen Subjektes, welches in Freuds Theorie der Subjektivität erwähnt wird. Dieser Schwerpunkt ist zum Mittelpunkt vieler filmtheoretischer Betrachtungen geworden und deshalb in Bezug auf die beiden hier behandelten Filme von hohem Interesse. Laut Lacan legt das Spiegelstadium den Grundstein bei der Bildung des Ichs. Eben dieser Punkt ist von Bedeutung, bedenkt man doch, dass das Doppelgängermotiv in beiden Filmen auf die eine oder andere Art wiederzufinden ist. Während sich das Alter Ego in Fight Club ganz deutlich als Abspaltung Jacks herauskristallisiert, ist dieser Prozess bei Shutter Island ein wenig undurchsichtiger. Das von Lacan formulierte Spiegelstadium kann erst bei einem Kind ab dem sechsten Lebensmonat beobachtet werden. Die Ich-Formung (Je et moi)[18] entsteht durch das Erblicken des eigenen Spiegelbildes und führt zur Identifikation mit sich selbst und dem eigenen Körperbild: Durch das Erblicken des Selbst entsteht eine Transformation, ein ,Aha‘-Erlebnis. „Da es sich um ein imaginäres Bild von der eigenen Gestalt handelt, erzeugt auch die Identifikation mit dem eigenen Ich (Identifizierung) eine imaginäre Beziehung.“[19] Die eigene Ich-Bildung bewirkt eine elementare Entfremdung vom Subjekt. Das sich selbst erkennen führt allerdings parallel zu einer Täuschung. In der Selbstreflexion erlebt das narzisstisch-imaginäre Ich sich als anderen als sich selbst und wird damit zur Bedrohung der eigenen Identität. Der Doppelgänger und dessen entfremdete Wirkung zum Subjekt sind allerdings von Anfang an in einer symbiotischen Beziehung zur Ich-Bildung über ein Spiegelbild angebunden.

„Die Spaltung ist der Ich-Bildung von Anfang an inhärent, das Ich bildet sich in seiner Identitätswerdung im Dualismus zwischen Ego und Alter Ego heraus. Die Subjektivität ist von allem Anfang an dezentriert, das Ich als einheitliche Konstruktion bloß imaginär.“[20]

Die erlebte Reflexion wird bei Lacan als das andere bezeichnet und damit zur passenden Grundlage des Ich. „[D]ie Identität gründet sich in der Selbstentfremdung.“[21] Das Ich ist ein anderer. Zu beachten und wichtig für die weitere Betrachtung ist, dass am Anfang des Ich ein traumatischer Mangel steht und das Spiegelstadium als Matrix aller identifikatorischen Prozesse gilt. Für Lacan ist die Spiegelbeziehung durch die Identifikation mit der idealen Form des anderen und der damit verbundenen Entfremdung des Ich, wie schon erwähnt, derart instabil, dass sie gleichzeitig bedrohlich wird. Das Streben nach Harmonie und Vollständigkeit wird zum Mittelpunkt des begehrenden Ichs. „Das Ich ist immer ein Begehrendes, ein sich selbst im anderen Begehrendes oder ein das Begehren des andern Begehrendes. Dieses vornehmlich narzisstische Begehren drückt den Wunsch nach der Einheit des Ich-Erlebens aus.“[22] Der Psychoanalytiker Lacan meint, es sei nur möglich jener tödlichen dualen Beziehung zu entfliehen, indem ein Dritter auftaucht und einen Ausweg bietet. Dieser Aspekt wird für die beiden hier aufgeführten Filme im Folgenden vermutlich noch von außerordentlicher Bedeutung sein, weshalb er nicht außer Acht gelassen werden darf. Der Dritte, der Andere, verkörpert laut Lacan eine symbolische Ordnung und ermöglicht damit das eigene Begehren zu realisieren, zu benennen und mit dem Begehren des anderen zu vermitteln. Er veranschaulicht den anderen Mitmenschen den Mangel und den anderen Schauplatz, während der andere lediglich das imaginäre Ich verkörpert. Das Resultat besteht in einer gegenseitigen Anerkennung. Es ist der Andere, der dem Kind seinen anderen schenkt. Der Übergang in die symbolische Ordnung markiert demnach das Ende der Spiegelphase. Es wird also deutlich, dass nur der Ausweg durch die symbolische Ordnung zur völligen Selbsterkenntnis führen kann, welche so wichtig ist. Ausschließlich das Sich-selbst-Erkennen kann den Menschen davon abhalten, in einen narzisstischen Wahn zu verfallen und die eigene Realität durch den Doppelgänger zerstören zu lassen.

3. Mindgame movies

Shutter Island und Fight Club stehen symptomatisch für zwei außergewöhnliche Filme, deren Facettenreichtum ein großes Publikum in die Kinos zog. Obgleich sie einer unterschiedlichen Handlungsthematik folgen, haben sie doch eine Gemeinsamkeit: Die augenscheinliche Schizophrenie ihrer Protagonisten. Ihre Inszenierung lässt den Rezipienten häufig im Unklaren und bildet somit enormes Potenzial für eingehende Untersuchungen. Neben Kinobesuchern haben sich Fangemeinden wie auch rege Online-Foren etabliert, die sich mit der Materie beschäftigen. Des Weiteren sind Philosophen, Soziologen und Psychologen in Erscheinung getreten, deren Interesse mit der zunehmenden Popularität der Filme weiter anstieg. Die beiden behandelten Werke sind außerdem eindeutig der, von Thomas Elsaesser beschriebenen, Kategorie der mindgame movies[23] zuzuordnen: „Gedankenspiele, die man mit Filmen spielen kann [...].

„Sie beziehen den Zuschauer auf mehreren Ebenen gleichzeitig mit ein, und zwar nicht nur in die Handlung selbst, sondern in die Grundprinzipien ihrer Konstruktion. Als Entwurf einer möglichen, das heißt unwahrscheinlichen und dennoch glaubhaften und in sich stimmigen Welt, stellen sie das Publikum vor Rätsel, sind aber zugleich unterhaltsam [...].“[24]

Die hier beschriebenen Gedankenspiele können sich auf zwei Stufen entfalten. Zum einen erlebt das Publikum eine ahnungslose Figur, die unwissend zur Marionette eines Spiels wird und nicht weiß, wer die Rolle des Puppenspielers einnimmt. Zum anderen handelt es sich um Filme, die das Publikum an der Nase herumführen, indem sie wichtige Hintergrundinformationen zurückhalten. Die hier behandelten Filme weisen beide Fälle auf. Man könnte sogar sagen, dass der Wendepunkt sowohl in Shutter Island als auch in Fight Club in ähnlich schockierender Weise und zu einem ähnlichen Zeitpunkt in der Handlung realisiert wird. Der mentale Zustand unserer Hauptfiguren bewegt sich auf einem schmalen Grad zwischen einer schwerwiegenden Psychose und ihrer eigenen Identitätslosigkeit. Allerdings möchten diese sogenannten mindgame movies keine Exempel statuieren - vielmehr „wird ihre Art des Sehens, Reagierens und Interagierens mit anderen Figuren [...] als normal oder plausibel dargestellt.“[25] Dies führt wieder zurück zur Wahrnehmung auf Ebene des Rezipienten. Die Grenzen zwischen Bewusstsein und Realität verschwimmen auch für den Zuschauer und machen es ihm unmöglich, eigenständig zwischen Realität und paralleler Welt zu unterscheiden. Mindgame movies behandeln außerdem Themen, die in den beiden genannten Filmen nicht nur vereinzelt zu finden sind, sondern die Werke maßgeblich bestimmen und sie zu dem werden lassen, was sie sind. Dazu gehören Sexualität, Gender, die ödipale Familie und die dysfunktionale Gesellschaft.[26] Für die Betrachtung der vorliegenden Arbeit ist allerdings die Auseinandersetzung mit den Identitätskrisen, die für derartige Filme so bezeichnend sind, am faszinierendsten. Genauer gesagt, betrifft das hiesige Interesse die etwaige Krise der männlichen Identität in jenen mindgame movies. Dieser Ansatz würde vermutlich weder in Shutter Island, noch in Fight Club so deutlich hervortreten, wenn es nicht die von Elsaesser beschriebene Gewohnheit der mindgame movies wäre, den Zuschauer zu desorientieren oder fehlzuleiten. Dieser Berührungspunkt zwischen den einzelnen Filmen, wie unterschiedlich sie auch sein mögen, wird durch sogenannte switches[27] (unvorhersehbare Begebenheiten) verstärkt. Thomas Elsaesser bemerkt, dass die Rezipienten sogar Gefallen an jenem unzuverlässigen Erzählen finden, sich darauf einlassen und es gegebenenfalls genießen. Durch die versteckten Rätsel, die vielen Fallen und Wendungen sowie durch das Labyrinth der Erzählung ergibt sich hierbei womöglich ein Lustgewinn für das Publikum. Die allgemeingültige Ordnung des allwissenden Zuschauers ist damit aufgehoben und degradiert den bisherigen Voyeur zum ,Opfer‘, was mitunter zu einer enormen Identifikation mit dem Erlebtem des Protagonisten führt. Es stellt sich also die Frage, welche Geschichten hier überhaupt erzählt werden und wer sie erzählt. Filme wie Fight Club und Shutter Island offenbaren uns nicht, dass wir uns im Universum einer Parallelwelt befinden - vielmehr gewähren sie uns Eintritt in ein Universum, das der Zuschauer als gegeben hinnimmt, da es keine gegenteilige Kennzeichnung gibt. Diese mindgame movies als solche enthalten jedoch keine Falschwahrnehmung, sie umfassen lediglich verfremdende Effekte, die das Publikum täuschen wollen. Wenn gegen Ende die Auflösung gegeben wird, erscheint die Argumentation dem Zuschauer nur allzu plausibel. Mit dem Bewusstsein dieser Erkenntnis werden versteckte Rätsel und Hinweise erkannt.

„[Die] Hauptargumentationslinie besteht darin, dass die Pfade (oder narrativen Verläufe) noch immer linear sind, wenn sie sich verzweigt haben, dass die Gabelungen mit Wegweisern vorher angedeutet und bezeichnet sind, dass die unterschiedlichen Pfade wieder zusammenlaufen und dass sie nicht gleichwertig sind.“[28]

Die Vielfalt unterschiedlicher Definitionen zeigt an, dass mindgame movies unter verschiedenen Begrifflichkeiten analysiert werden können. Neben den Aspekten der Narration und Narratologie, der Fokalisierung und Perspektivierung erscheint es durchaus interessant, Fragen der Psychologie und Psychopathologie hervorzuheben sowie das Konzept der „Identitätskrisen und Persönlichkeitsstörungen als produktiver [...] Pathologien“[29] in den Filmen genauer zu untersuchen. Wie bereits deutlich wurde, hegen die Filme jedoch keinerlei Interesse, auf ihren künstlichen Status oder ihre Parallelwelten zu verweisen. Der eigene Sinneseindruck wird abgeschwächt, indem das Bewusstsein ausgeschaltet wird. „Dies wird durch Protagonisten signalisiert, die an Persönlichkeitsstörungen leiden, unter denen Schizophrenie und Amnesie die zwei beliebtesten Formen der Un-Ordnung der Figur und Auf-Lösung der Charaktere, der Handlungsfähigkeit und Motivation sind, womit ein ,Neu-Laden‘ des Bewusstseins und des sensomotorischen Systems motiviert wird.“[30] Thomas Elsaesser hält außerdem fest, dass die Figurendarstellung in mindgame movies eine gewisse Zwiespältigkeit beinhalten kann. Diese mental oder psychologisch instabilen Protagonisten (in diesem Fall männlicher Natur) sind laut Elsaesser in drei Gattungen einzuordnen: „Paranoia, Schizophrenie und Amnesie.“[31] Uns wird damit eine besondere Innensicht in die Welt der Figuren gewährt. Der mentale Zustand konstituiert sich meist aus einem traumatischen Erlebnis heraus, ein wiederkehrender Vorfall, der fest in das Gehirn eingebrannt ist. So verhält es sich beispielsweise mit dem Besuch in Dachau bei Shutter Island. Dieser Ansatz der Traumata soll im Folgenden unter psychoanalytischen Aspekten betrachtet werden. Während bei Andrew das Trauma um und durch Dolores nur allzu bewusst ist, kann die Zwangslage von Jack, ausgelöst durch den fehlenden Vater, in Fight Club als Pathologie der individuellen Lebenssituation gesehen werden.[32] Während in Fight Club die Pathologie der Schizophrenie dominiert, bildet in Shutter Island das Motiv der Paranoia einen zentralen Bestandteil. In Filmen mit paranoiden Elementen werden häufig Wahnvorstellungen thematisiert, die offen lassen, ob das Vorgestellte überhaupt geschehen ist oder existiert hat. Allerdings kann das paranoide Krankheitsbild wie im Fall von Shutter Island auch zu einer produktiven Pathologie[33] führen. Diese Produktivität beinhaltet das Vermögen, neue Kombinationen und Bezüge außerhalb eines Kontexts zu sehen und die dadurch erhaltenen Informationen neu zusammensetzen zu können. Verschwörungstheorien werden damit zum Antriebsmotor den psychisch gestörten und bieten das Potenzial etwas zu verändern.

„Paranoia kann auch als Reaktion auf die Krise der bürgerlichen Subjektbildung verstanden werden, die - statt dem ödipalen Verlauf von Gesetz versus Begehren zu folgen und ,Kastration‘ als Einstieg in die symbolische Ordnung zu akzeptieren - durch ständige Dis-Artikulationen und Re-Totalisierung den systematischen Intentionen und der entkörperten Intelligenz der Gesellschaft gegenüber wachsam bleibt.“[34]

Da das Motiv der Paranoia für die beiden hier behandelten Filme nicht alleine von Interesse sein wird, gilt es noch kurz etwas zu den beiden anderen Kategorien der mindgames movies zu sagen, um zu erklären, weshalb im Folgenden mit den Begrifflichkeiten gearbeitet werden soll. Die psychische Labilität der Charaktere, ausgelöst durch unterschiedliche Traumata, könnte zu einer massiven Schizophrenie geführt haben, die uns natürlich nicht bewusst ist. Wahnvorstellungen werden sowohl in Fight Club als auch in Shutter Island angedeutet, lösen sich aber erst gegen Ende des zweiten Drittels des Films und bei Shutter Island sogar erst ganz gegen Ende auf. Sowohl Jack als auch Andrew werden in Traumsequenzen von Fantasien heimgesucht, die eine Andeutung darauf geben, dass irgendetwas nicht ganz richtig ist. Was genau das aber ist, kann der Rezipient zu diesem Zeitpunkt im Film noch nicht ausmachen, da er sich nicht bewusst in angedeuteten Parallelwelten wiederfindet. Andrews traumhafte Analepsen um das von ihm erfahrene Trauma werden beispielsweise als Folgen seines akuten Schlafmangels und der Kopfschmerzen empfunden. Außerdem bleiben sowohl der Charakter Jacks als auch der Teddys geheimnisumwoben und abgesehen von Jacks zynischen Off-Kommentaren bleiben Motivationen und Handlungen ungeklärt. Ob diese Kommentare jedoch einem zuverlässigen Erzähler entspringen, ist die andere Frage. Während sich die Pathologie in Jacks Fall auf Schizophrenie beschränkt, sollte davon ausgegangen werden, dass Andrews Schizophrenie in Shutter Island gekoppelt mit Paranoia und Amnesie auftritt. Ausgelöst durch das starke Trauma, was der Held erfahren hat, tritt letztere ein und lässt ihn die Tatsachen verdrehen und schließlich vollkommen vergessen. Als Folge dessen tritt Schizophrenie auf. Er ist verzweifelt auf der Suche nach Andrew Laeddis, den er für den Tod von Dolores verantwortlich macht. Wie der Zuschauer aber zum Schluss erfährt, ist Andrew Laeddis ein Anagramm seines ausgedachten Namens und damit das Alter Ego seines schlechten Gewissens. Er ist programmiert durch eine Subjektivität - keine Ideologie treibt ihn an, sondern eine Rachefantasie, die er selbst entworfen hat. Während sich Shutter Island mit dem Berufsbild des Leutnants an die Neo-Noir- Filme der neunziger Jahre annähert, ist in Fight Club der Versicherungsbeauftragte von heute Held der Krise. Beide Figuren haben jedoch eine Gemeinsamkeit, die zur Entwicklung ihres Alter Egos führen: ihre durchdringenden Schuldgefühle. Darauf soll in den folgenden Kapiteln noch detaillierter eingegangen werden. „In diesen Pathologien der Subjektivität, wie sie die mindgame movies vorführen, wird evident, in welche Richtung der mentale Zustand des Helden die jeweils klinische Fallstudie überschreitet. Denn die Pointe besteht darin, das Publikum nicht nur in die ,Welt‘ des Protagonisten zu ziehen, sondern umgekehrt den Protagonisten in die Welt der Zuschauer einzubetten, als unaufgelöster Rest und Risiko, was nicht geschieht, wenn sich die Narration distanzieren oder den Helden medizinisch festlegen würde.“[35] Wie schon festgestellt wurde, resultierten die Pathologien der einzelnen Figuren also aus schweren Traumata, welche nicht überwunden wurden und tiefe Schuldgefühle hinterlassen haben. Sie weisen „[...] Indikatoren einer Krise oder eines Wandels in der Beziehung des Selbst zu sich und zur Welt [...] [auf].“[36] So durchleben die Charaktere derartiger Filme enorm aufwühlende, emotionale Zustände, die sie in eine Art starke Handlungsunfähigkeit oder auch Handlungsunlust versetzen. „Weder Worte noch Handlungen oder Erinnerungen können eine kohärente Ereignissequenz rekonstruieren oder eine chronologische Abfolge von Ursache und Wirkung wiederherstellen [...].“[37] Jegliche Zeitstruktur ist aufgehoben, nichts scheint mehr relevant zu sein. Diese Erfahrung des Versagens[38] wird in der Wissenschaft mit dem Begriff des Traumas definiert. Zu der Sprachlosigkeit betroffener Personen kommt meist das Fehlen äußerlicher Anzeichen, physischer Symptome hinzu. Mit dem Auftreten des Doppelgängers, ausgelöst durch diese Traumata, entsteht jedoch ein bemerkenswerter, ambivalenter Effekt: In der Freud‘schen Auffassung von Traumata scheinen Patienten an ihre Vergangenheit festgekettet zu sein.

„Die ,Grundidee‘ soll die sein, daß die Vergangenheit eines Menschen ihm unentrinnbar anhaftet und ihm zum Verhängnis wird, sobald er versucht, sich ihrer zu entledigen.“[39]

Da sie nicht in der Lage sind sich von dieser zu lösen, sind sie von Gegenwart und Zukunft entfremdet. Was sich allerdings innerhalb der mindgame movies beobachten lässt, ist, dass der labile Protagonist zu einer voll handlungsfähigen Person wird und erstaunliche Fähigkeiten entwickelt. Was vorher gehemmt hat, wird nun zum Antriebsmotor in einem von Gewohnheit und Mechanismus geprägten Lebensraum. Damit werden diese Krankheitsbilder dem Publikum prinzipiell als „produktive Pathologien präsentiert. Dies würde anzeigen, dass ,Trauma‘ nicht nur etwas ist, was einen Protagonisten mit seiner Vergangenheit verbindet, sondern ihm auch seine Zukunft eröffnet.“[40]

Für Thomas Elsaesser erheben die mindgame movies allerdings noch einen anderen Anspruch an ihre Rezipienten: Sie stellen eine Prüfung für den Zuschauer dar und verlangen von ihm Reaktionsvermögen, Anpassungsfähigkeit und Interaktion. Vielleicht erfreuen sich derartige Filme genau deswegen einer solchen Beliebtheit. Das Publikum ist gezwungen aufzupassen, die Hinweise zu beachten und sich während des Films ständig aktiv mit den veränderten Begebenheiten auseinanderzusetzen. Dies erfordert natürlich auch ein gewisses Maß an Intellektualität. „Der Film ist [...] teils Text, teils Archiv, teils Ausgangspunkt, teils Netzwerkknoten eines rhizomatischen, dehnbaren Netzes der Kommunikation zwischen Gruppen.“[41] Die Gedankenspiele, die die Filme konstruieren, überraschen an jeder Ecke mit kleinen Details und Wendungen, die in der Art nicht vermutet wurden. So wird Stück für Stück das Seelenleben der Protagonisten entblättert und schildert die menschlichsten Abgründe in ihrer grausamsten Art. Vielleicht ist genau das der springende Punkt: Wir sind fasziniert von dem gezeichneten Schicksal, aber dennoch froh, nicht selbst in einer solch unglaublichen Krise zu stecken.

4. Fight Club

Nach den psychoanalytischen Ausführungen und einer Einführung in die mindgame movies im vorangegangenen Kapitel soll nun untersucht werden, weshalb die beiden Filme exemplarisch für eine Krise der Männlichkeit stehen. Die Analyse wird in unterschiedlich thematische Komplexe aufgeteilt, um eine bessere Übersicht zu gewährleisten. Alle Komplexe sind jedoch miteinander verbunden und ergänzen sich beispielhaft.

Der Film Fight Club (1999) erzählt die Geschichte eines 30-jährigen Versicherungsangestellten, der bei einem großen US-amerikanischen Versicherungskonzern arbeitet und unter akuten Schlafstörungen leidet. Der namenlose Protagonist führt ein unauffälliges und langweiliges Leben, eingespannt in das Hamsterrad seines Alltags. Er verabscheut seinen Beruf zutiefst und entwickelt infolge seiner auf Stress zurückzuführenden Schlafstörungen eine tiefe Persönlichkeitsspaltung, welche sich in massiver Gesellschaftskritik und durch faschistische Züge äußert. Auf einem seiner zahlreichen Inlandsflüge lernt er den gleichaltrigen Tyler Durden kennen. Dieser ,portionierte Freund‘ nimmt ihn in sein Heim auf, als seine Wohnung aufgrund einer überraschenden Gasexplosion in Schutt und Asche liegt. Bedingung für den Gefallen ist, dass sich die beiden einen Kampf liefern müssen. Die Dinge nehmen ihren Lauf und aus dem befreienden Hobby der beiden entstehen die Fight Clubs - for men only. Das Resultat ist eine landesweite Männerbewegung, die faschistische Züge annimmt. Als der namenlose Protagonist[42] realisiert, welches Unheil er heraufbeschworen hat, macht er eine unheimliche Entdeckung.

„Wer geglaubt hatte, Fincher habe sein Trick-, Täuschungs- und Überraschungspotenzial nach ALIEN3, SE7EN und THE GAME ausgeschöpft, der musste angesichts von FIGHT CLUB (1999) erkennen, dass es sich bei diesen Werken lediglich um Etüden gehandelt hatte.“[43] Als er erkennt, dass sein trostspendendes und Identität gebendes Project Mayhem eher einer paramilitärischen Organisation als einem Zufluchtsort gleicht, versucht Jack Mittel und Wege zu finden das Unterfangen zu stoppen. Doch Tyler ist spurlos verschwunden. Auf der Suche nach seinem Gegenspieler findet er sich letztendlich selbst. Die erschütternde Wahrheit ist: Tyler Durden ist er selbst.

„Ungeheuerlich ist diese Wendung, ein dumpfer Schlag in die Magengrube, von dem man sich nicht so schnell erholt. Dass [...] die ganze Filmstory eine doppelbödige Inszenierung ist oder ein durchtriebenes Spiel, mag angehen, weil es die erzählerische Komplexität und die intellektuelle Spannung erhöht. Dass jedoch alles, was man bis zu einem gewissen Punkt gesehen hat, eine filmische ,Lüge‘ war, eine Gaukelei von A bis Z?“[44]

Es wird also offensichtlich, dass das Fincher‘sche Universum einer zweiten Rezeption bedarf. Seine Filme sind zynisch, pessimistisch und drücken eine kritische Grundhaltung aus. Populäres wird hinterfragt, aufgeweicht und karikiert. Nur durch das wiederholte Anschauen eröffnet der Film sein ganzes Können, seine Kunstfertigkeit. Er präsentiert sich als Paradebeispiel für ein mindgame movie, welches das Publikum auf falsche Fährten lockt, es täuscht, Informationen versteckt und präsentiert, aber uns nie vollkommen anlügt, da es genügend Informationen auf subtile Art und Weise anbietet. Bei erstmaliger Rezeption jedoch sind die Zeichen nicht zu sehen, die Fincher so deutlich offenbart. Umso erstaunter ist der Zuschauer, dass all die Schocks und Überraschungen es so einnehmen konnten, wurden ihm doch die Tatsachen dreist unter die Nase gerieben. Kaum einer vermag es Wichtiges unbedeutend und Nebensächliches elementar erscheinen zu lassen. Bei wiederholter Rezeption erkennt das Publikum die Hinweise, die stets gegeben, aber nicht gesehen wurden. Wie ein Puzzle lässt sich nun alles zusammenfügen und wird so deutlich, dass nur schwer verständlich bleibt, wie der Blick von so offensichtlichen Spuren abgewendet werden konnte. „Fincher, der zunächst als Zocker und Zyniker erscheinen mag, kalt und kalkulierend, zeigt dann ein anderes, vielleicht sein wahres Gesicht. Es ist das Gesicht eines liberalen Moralisten, der es leid ist, simple Trennlinien zwischen Gut und Böse zu ziehen [. ], der die Grausamkeiten des Spiels als notwendige Voraussetzungen zur Menschenwerdung begreift [...], der die Ängste und die Entfremdung einer Generation in drastischen Bildern zum Ausdruck bringt [.].“[45]

4.1. Der Mann in der Krise

„Es geht nicht darum, die Leute hereinzulegen, es ist eine Metapher. Der Film handelt nicht von einem Typen, der wirklich Gebäude in die Luft jagt, er handelt von einem Typen, der das Gefühl bekommt, dies könnte die Antwort sein, basierend auf all der Konfusion und all der Wut, unter denen er gelitten hat.“[46]

Fight Club beginnt mit einem 90-sekündigen Vorspann, einer Kamerafahrt, entlang an den Gehirnwindungen des Protagonisten, in welche die Namen der Schauspielerinnen eingeblendet werden. Ausgangspunkt der folgenden Erzählung ist das labyrinthartige Gehirn des Protagonisten, der zentrale Sitz der Persönlichkeit: rückwärts vorbei an Hirnrinde und Angstzentrum. Die Kamera rast an den Nervenbahnen entlang, die Synapsen blitzen auf. „Das Aufblitzen lässt daran denken, dass es sich möglicherweise um Kurzschlüsse und Fehlschaltungen handelt, die das Gehirn des Protagonisten und folglich auch die von ihm produzierten Erzählungen beherrschen.“[47] Die Entwicklung der Geschichte entspringt also im Kopf des Erzählers und spuckt uns entlang eines Pistolenlaufs aus, der im Mund des namenlosen und zugleich angstvoll dreinblickenden Protagonisten steckt - bis hin zu Tyler Durden.

„Das soeben beschriebene Bild macht bereits anhand der Position der jeweiligen Figur deutlich, wer in dieser Spiegelverhaftung [nach Lacan] der Knecht und wer der Herr ist. Der Namenlose konstruiert[...] sich (s)ein Ideal-Ich Tyler Durden, um sein Leben zu revolutionieren und erst zum Ende dieses Dramas [. ] scheint er den wahren Grund zu erkennen.“[48]

Hier beginnt die Handlung und der Erzähler wird als solcher identifiziert (denkt der Zuschauer zumindest). Diese Szene repräsentiert den Kern dieser Geschichte. Es wird deutlich, dass der Protagonist in einer ziemlich ungünstigen Position zu sein scheint, deren „[...] Entwicklung nun in einer etwa 140-minütigen Rückblende aufgerollt wird, indem Schritt für Schritt die gespaltene Identität des Ich-Erzählers entschlüsselt wird.“[49] Dem Publikum wird im Folgenden die subjektive Sicht der Figur wiedergegeben. Das bedeutet allerdings auch, dass es sich im weiteren Verlauf gegebenenfalls um unzuverlässiges Erzählen handelt. Denn unser Protagonist offenbart uns seine Schizophrenie nicht so ohne weiteres. Vielmehr fordert er sein Publikum zum intellektuellen Denken auf. Ohne es zu wissen, hält der Zuschauer des Rätsels Lösung schon in den Händen. Der Vorspann ist also mehr als eine Einführung in die Thematik: Er bestimmt den Schauplatz der Geschichte. Schon der spiegelverkehrt eingeblendete Schriftzug Fight Club scheint eindeutige Anspielungen auf das von Lacan behandelte Spiegelmotiv zu machen. Das Voice-Over unseres Protagonisten erklärt nun, dass der Schlüssel zu der ganzen Misere „ein Mädchen namens Marla Singer“[50] sei. Bei näherer Betrachtung sollte der Rezipient den Ausführungen des Erzählers jedoch skeptisch gegenüberstehen, weiß er doch gar nicht, wer hier genau spricht und von wie viel Wahrheitsgehalt auszugehen ist. „Allein seine zynischen Kommentare zeugen von seiner tiefen, inneren Zerrissenheit. Diese Spaltung des Helden spiegelt sich zusätzlich in der dramaturgischen Grundkonstruktion als erzählte (im Bild handelnde) und als erzählende (die Kommentare im Off-Text sprechende) Figur.“[51] Denn, wie im weiteren Verlauf deutlich wird, befindet sich der Protagonist des Films in einer so enormen Identitätskrise, dass alles von ihm Gehörte oder Gesehene angezweifelt werden sollte. Es wird sich noch zeigen, dass die Krise der männlichen Identität vom Doppelgänger nach außen getragen wird. Um diesen Vorgang nachvollziehen zu können, ist es jedoch von absoluter Wichtigkeit die Entstehungsgründe für die Spaltung des Helden genauer zu untersuchen. Obwohl eine Subjektivierung durch den Protagonisten erfolgt, wird er prinzipiell nicht als eigenständiges Individuum dargestellt. Die starke Entfremdung der Figur vom eigenen Selbst manifestiert sich bereits darin, dass seine Identität im Film prinzipiell namenlos bleibt. Er tauscht seine Namen beliebig aus: mal stellt er sich als Cornelius vor, schlüpft in die Rolle des Rupert oder mimt den Travis. Hierin spiegelt sich die Instabilität seiner Identität. Er selbst fühlt sich, wie er sagt, wie ,eine Kopie von einer Kopie‘[52], was die Bedeutungslosigkeit seines Daseins nur verdeutlicht. Doch wo es keinen Namen gibt, da kann auch keine Identifikation erfolgen. Repräsentiert wird ein Mensch, dessen Krise hineingepresst ist in eine leere, langweilige und anonyme Hülle. Daraus resultiert bereits von Beginn an eine Unsicherheit der eigenen Identität. Der Name als solcher legt den Grundstein zur Bildung einer individuellen Persönlichkeit. Ohne ihn ist alles beliebig austauschbar und folgt keinen festen Regeln.

Jack, dargestellt von Edward Norton, ist Rückrufkoordinator bei einem großen Automobilkonzern. Jenes Unternehmen verzeichnet bereits bei der Nennung des eigenen Namens eine unterschwellige Kritik an der amerikanischen Gesellschaft: Corporate America. Mit seinem Job kann sich Jack jedoch auch nicht identifizieren. Reserviert schildert er zu Beginn des Films einer Sitznachbarin im Flugzeug, dass es seine Aufgabe sei, Autounfälle und deren tödliche Folgen für seine Versicherung zu untersuchen. Mit Hilfe einer abstrakten Formel berechnet er, welche Option für seinen Arbeitgeber am kostengünstigsten ist. Wird das Leben eines Menschen durch einen Rückruf, eine Vertuschung und eine außergerichtliche Einigung bemessen? Desillusioniert fliegt er durch das ganze Land, besucht die Unfallorte, bemüht sich um Schadensbegrenzung zur gewünschten Profitmaximierung für seinen Arbeitgeber. Demnach fügt er sich nach außen hin dem Willen seines Vorgesetzten, seinen Unmut kann er jedoch nur durch einen inneren Protest zum Ausdruck bringen.

„Er war so voller Pepp, er hatte wohl schon seinen Espresso-Macchiato-Einlauf hinter sich.“[53]

Die Abstimmung mit der Arbeitswelt fordert weitere Opfer. Deshalb führt Jack keine nennenswerten sozialen Beziehungen. Weder hat er Verwandte noch Freunde, noch eine Frau. Seine Kollegen sind für ihn ebenso Kopien wie er selbst. In seiner Vorstellungswelt führt der Protagonist das zynische, sinnlose und vor allem langweilige Leben eines Junggesellen. Der einzige Höhepunkt, der ihm bleibt, sind seine ,portionierten Freunde‘, seine Sitznachbarn, die er zwischen seinen Geschäftsterminen im Flieger kennenlernt. Neben der sozialen Einsamkeit des Protagonisten offenbart sich die Identitätskrise der Figur weiterhin durch die Identifikation mit der Einrichtung seiner Wohnung. Deshalb bezeichnet der Erzähler die Figur im Folgenden als , Sklave des Ikea-Nestbautriebs‘. So betont die Szene, in der Jack auf der Toilette Ikea-Möbel aus dem Prospekt bestellt, die Sinnlosigkeit und Identitätslosigkeit seines Daseins. Wenn die Hauptfigur sich fragt, welche Esszimmergarnitur ihre Persönlichkeit definiere, wird die Ironie augenscheinlich auf die Spitze getrieben. In diesem Fall wird die männliche Identität als Konstrukt einer postmodernen Konsumgesellschaft, deren erklärtes Ziel Karriere und materieller Erfolg sind, interpretiert. Das durchdesignte Leben stellt jedoch bei näherem Hinsehen vielmehr eine innere Leere, Oberflächlichkeit und Identitätslosigkeit dar. „Aber das eigentliche Problem der postmodernen Gesellschaft liegt nicht in der einheitlich gestalteten Lebenswelt, sondern darin, dass sie tendenziell Gleiche unter Gleichen hervorbringt.“[54] Nina Ort ist damit der Ansicht, dass eine Welt größter Individualität und Selbstbestimmung im Umkehrschluss die Gefahr birgt, dass eben diese Individualität beliebig wird. Eine solche Gesellschaftskritik lässt darauf schließen, dass unsere konsumorientierte Öffentlichkeit Schuld an der daraus resultierenden Krise trägt. Diese Faktoren und die damit verbundene Kapitalismuskritik sind Indikatoren für die Identitätslosigkeit. Der Protagonist kann sich offensichtlich nicht von seinem einsamen, zynischen und vor allem langweiligen Leben lösen. Sein Beruf ist schwer traumatisierend und nur durch das Ausschalten der eigenen Emotionen zu bewerkstelligen. Folglich sieht er in seiner mit Ikea-Möbeln durchgestylten Wohnung die einzige Möglichkeit etwas in seinem Leben ,frei‘ und ,individuell‘ zu gestalten.

„Seine passive Haltung, seine unterdrückte Aggression, die ihn dazu treibt, sich mit spöttischem Selbsthass in das Scheinwerferlicht einer zivilisationsgeschädigten Opferposition zu rücken, führt den Helden dazu, sich von außen bestimmen zu lassen - nicht er definiert, sondern er lässt sich definieren.“[55]

Der Ikea-Nestbautrieb dient also als Zuflucht, zur Kompensation der Orientierungslosigkeit und innerer Leere. „Die Krise tritt ein, als das Einrichten der Wohnung fast abgeschlossen ist und dadurch eine stabilisierende Kompensationsmöglichkeit verloren zu gehen droht.“[56] Dieser Konflikt konstituiert letztendlich die langwierige Schlaflosigkeit des Protagonisten. Doch wieso kann sich dieser kleine, langweilige Versicherungsangestellte nicht von seinen Zwängen befreien und zu einer Lösung seiner Probleme kommen? Abgesehen von dem Lebensraum, von dem sich die Hauptfigur zu lösen versucht, muss die Identitätskrise, in der diese steckt, also einen viel tiefer verzweigten Ursprung haben.

4.2. Auf der Suche nach Kompensation

Das Auftauchen des Doppelgängers muss demnach einen tieferen Ursprung haben. Es scheint, als führe letztendlich die Verkettung unterschiedlicher Faktoren zum Alter Ego. Nina Ort ist der Ansicht, dass Finchers Protagonist hier drei unterschiedliche Ordnungsmodelle durchlebt, die als grundlegendes Gegenmodell zu seinem sonst so zynisch, langweiligen und durchgestylten Leben zu verstehen sind, „als eine ,Steigerung‘ der Komplexitätsreduktion, die über Kompensation, Selbstbefreiungsrituale bis hin zur einfachen, faschistoid organisierten Destruktion verläuft. [...]

[I]n allen Situationen stellt der Kampf ,Jacks‘ das Ringen um und mit Ordnungsmodellen dar - und stets geht es um das Bedürfnis nach Anerkennung durch väterlich-autoritäre Figuren und zugleich um deren ,Entmachtung‘.“[57]

Zunächst wurde also ersichtlich, dass die namenlose Hauptfigur schon in ihrer gesamten Grundkonstitution kein eigenständiges und unabhängiges Subjekt ist. Völlig leer und ohne eigene Identität schlittert sie immer weiter in die für sie vorprogrammierte Krise. Als die Kompensationsmöglichkeit durch die IKEA- Inneneinrichtung zu enden droht, rückt ein erneuter Mangel näher. Heimgesucht von Schlaflosigkeit, sucht der Held der Erzählung einen Arzt auf, erfährt aber infolge der Schilderung seines Problems nur ein spöttisches Kopfschütteln. Dieser verweigert ihm mit einem Hinweis auf natürliche Heilung die medizinische Hilfe. Als Jack drängt, wie stark er leide, verweist der Mediziner auf wirkliches Leid und empfiehlt ihm eine Selbsthilfegruppe für Männer mit Hodenkrebs aufzusuchen. Obwohl der Arzt Jack ganz offensichtlich verhöhnt, hört dieser auf den Rat und sucht die Selbsthilfegruppe auf. Dieser Besuch markiert einen Wendepunkt in der Geschichte, erfährt die Hauptfigur nun doch eine Veränderung ihrer Situation. Vor allem aber gibt diese Sequenz dem Rezipienten eine Idee, wie schwerwiegend die männliche Identitätskrise sein mag. Auch wird hier die Figur der Marla Singer eingeführt, die der Schlüssel allen Übels ist. Doch dazu an späterer Stelle mehr. In der Hodenkrebsgruppe findet sich Jack mit Männern konfrontiert, die in ihrer Männlichkeit lädiert oder auch kastriert sind, also ihre physische Männlichkeit verloren haben. Eben diese entmannten Männer bringen schließlich den unerwarteten, aber doch so ersehnten Heilungseffekt. An die riesigen Brüste des ehemaligen Bodybuilders Bob gepresst, entlädt sich all die Frustration und Einsamkeit des kleinen, zynischen Versicherungsangestellten. Als Folge von Amphetaminmissbrauch erkrankte der Bodybuilder an Hodenkrebs. Durch die hormonellen Veränderungen, bedingt durch eine Chemotherapie und eine Operation, wuchsen ihm riesige Brüste, in denen das weinende Gesicht der Hauptfigur nun versinkt und einen nassen Abdruck auf dem T-Shirt hinterlässt. Auch Bob drückt im Gegenzug eine tiefe Verunsicherung aus: „Wir sind immer noch Männer!“[58] Damit formuliert er die zentrale Frage um die es im Film geht: Der Verlust von Identität.“[59] Hier deutet sich also Jacks maßgeblicher Konflikt an. Trotz seiner physischen Gesundheit, scheint der Protagonist ebenso so schwer erkrankt zu sein. Sein Tumor manifestiert sich in seiner männlichen Identitätslosigkeit. Sein Handicap ist die Vorstellung „psychisch kastriert und kein richtiger Mann zu sein.“[60] Diese Augenblicke geteilten Schmerzes werden zum Bezugspunkt für seine soziale Wiedergeburt. Damit wird der Held zu einer Art Selbsthilfegruppenjunkie, entwirft sogar einen Besuchsplan. Doch besonders unter all diesen kastrierten Männern fühlt er sich plötzlich wie ein Teilchen des Ganzen: behütet, beschützt. Wie eine überdimensionale Mutterfigur entlockt die Figur des Bob dem Protagonisten tief verborgene Emotionen, die dieser fast verloren glaubte. Obwohl sich die Figur des Bodybuilders durch einen physischen und emotionalen Mangel an Männlichkeit auszeichnet repräsentiert sie doch „ein Objekt des Begehrens, das in seiner Eigenschaft als Abbild der (phantasmatischen Ur-Einheit mit der) Mutter gleichzeitig die Ursache des Begehrens darstellen könnte.“[61] Die überdimensional weiblichen Brüste stehen stellvertretend für die Position der Mutter. „Dieses Bild symbolisiert die Sehnsucht nach abermaliger Ur-Einheit mit der Mutter(brust), dem Zustand jener Einheit, dem das mangelhafte Subjekt sein Leben lang hinterher jagt. Der Mangel, der hier von der Figur Bob verkörpert wird, ist dabei stets Antrieb für das Begehren des Menschen, das das Begehren des Anderen ist.“[62] Also fühlt sich Jack, genau wie der Bodybuilder, beraubt von seiner Männlichkeit und ist auf der Suche nach der männlichen Identität. Dennoch scheint die Begegnung mit einem Gleichgesinnten eine mütterlich-fürsorgliche Wirkung auf die Hauptfigur zu haben. So wird eine Sequenz eingeblendet, in der der Rezipient erfährt, wie beruhigt Jack nun wieder schlafen könne: sogar besser als Babies.[63]

Es wird also deutlich, dass die Familienverhältnisse der Protagonisten für den Film von zentraler Bedeutung sind, scheint doch ein substantieller Mangel vorhanden zu sein. Diese Familienstrukturen könnten eine Erklärung dafür sein, dass diese Männer die Befreiung ihrer Identität in der Entwicklung eines Fight Clubs sehen. Die Vaterlosigkeit einer neuen Generation ist laut Tyler Durden der Ursprung einer männlichen Identitätskrise.

„Wir sind eine Generation von Männern, die von Frauen großgezogen wurden.[64] [..] Ich frage mich, ob noch eine Frau wirklich die Antwort auf unsere Fragen ist.“[65]

Gleichbedeutend mit dieser Aussage ist die Unterstellung, dass Männer, die unter Frauen aufgewachsen sind, verweichlicht, weinerlich und feminin seien. Den Anstoß zu dieser Vermutung gibt eine zentrale Szene des Films, in der Familienstrukturen des Helden und seines Doppelgängers dargelegt werden.

„Ich kenne meinen Dad nicht. Naja, kennen schon. Aber als ich sechs war, ist er verschwunden. Hat ne andere Frau geheiratet und noch ein paar Kinder gemacht. Er macht das alle sechs Jahre: geht in eine neue Stadt und gründet eine neue Familie.“

Hier wird der Mangel des Protagonisten offensichtlich. Das von unserer Gesellschaft konventionell auserkorene Familienleben endet also abrupt in der Kindheit und hinterlässt ein schweres Trauma bei dem Helden des Films. Neben der Vaterfigur fehlt demnach auch jegliche Maskulinität in der Lebens- und Vorstellungswelt des Sprösslings. Gerade in dieser Wachstumsphase aber wird die Entwicklung eines Kindes maßgeblich bestimmt.

„Die Söhne sind ohne Väter groß geworden und versuchten, ohne mit einem Vater in den ödipalen Ring zu steigen, der Idealmann für die Mutter zu werden. Dabei wurde der ödipale Gegner, der Vater als Schattenfigur immer mächtiger. [...][D]er ödipale Konflikt wird verkehrt, der vermisste Vater (hier in der Gestalt Tyler Durdens) als Begatter der begehrten Frau herbeigesehnt.“[66]

Das Maskuline wird im Film idealisiert, zu einem animalischen Krieger erhoben, der sich von den femininen Fängen der Mutter gelöst hat oder sich generell vom weiblichen Geschlecht abgekapselt hat. In diesem Sinne gälte die Verkörperung des Männlichen als Heilmittel gegen den Mutterkomplex. Folglich resultiert die Krise der männlichen Identität aus dem unablässigen Kampf den schattenhaften Status der väterlichen Männlichkeit zu erreichen, um den Mutterkomplex zu kompensieren. Das Maskuline steht hier für Freiheit und Unabhängigkeit, jedoch genauso für Verantwortungslosigkeit und Unreife. Das Eine kann nur erreicht werden, wenn das Andere nicht erreicht wird. In gewisser Weise bleibt also dauerhaft der von Lacan beschriebene Mangel bestehen.

„Ich kann unmöglich heiraten, ich bin ein 30-jähriges Milchgesicht.“[67]

Regeln sind grundsätzlich da, um gebrochen zu werden. Es gilt gegen die patriarchalische Ordnung zu rebellieren. Autoritätspersonen werden aus fehlendem Respekt missachtet und nicht ernst genommen. Sowohl Jack, als auch Tyler hegen das ständige Bedürfnis, sich untereinander und mit Rivalen zu messen. Genauso verhält es sich mit den Mitgliedern der Fight Clubs. Sie bekommen Hausaufgaben, welche das Ausüben vandalistischer Aktionen beinhalten. Ihre Auflehnung richtet sich vor allem gegen autoritäre Instanzen innerhalb der kapitalistischen Konsumwelt, die sie so unter Druck setzt und aus der sie sich zu befreien versuchen. „Die infantile Freude an der Zerstörung fasst Tyler zusammen: [Du bist der singende, tanzende Abschaum der Welt]“[68] Das autoaggressive Verhalten des Protagonisten sich selbst gegenüber markiert gleichzeitig eine Liebeserklärung an sein Ideal-Ich, an den abgespaltenen Teil seines Selbst: Stück für Stück positioniert sich Tyler in seiner für Jack patriarchalen Position als Vaterfigur. Dies kristallisiert sich auch an Tylers unreifem Verhalten im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht und seinen Mitmenschen heraus, welches der Protagonist in Bezug zu seinem eigenen Vater setzt. Wie in Kapitel 4.4. zu sehen sein wird, kommt der Figur der Marla noch eine wichtige Rolle zu. In der Figurenkonstellation mit Jack und Tyler, nimmt sie für den Helden die Position der Mutter ein, die nur zum ,Sportficken‘ dient. Tyler nimmt demnach die Rolle des Vaters ein. Genau wie Jacks eigener Vater, verlässt auch er die Gemeinschaft, geht woanders hin, eröffnet neue Fight Clubs (stellvertretend für neue Familien).

[...]


[1] Elsaesser, Thomas: Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino. Berlin 2009. S. 246.

[2] Ritter, Daniel Patrick: Über Männer und Schatten. Doppelgänger im Film. Wien 2009.S. 7.

[3] Vgl. Bawden, Liz-Anna (Hg.): Buchers Enzyklopädie des Films. Edition der dt. Ausgabe von Wolfgang Tichy. München/Luzern 1977². S. 745 - 746.

[4] Rank, Otto: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Wien 1993. S. 12.

[5] Ebd. S. 24.

[6] Ritter (2009). S. 17.

[7] Rank (1993). S. 66-67.

[8] Ebd. S.29.

[9] Ritter (2009). S. 18

[10] Rank (1993). S. 104-105.

[11] Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Sigmund Freud, Studienausgabe, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt am Main 1970. Bd. 4. S. 271.

[12],,Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt." (Sigmund Freud, Das Unheimliche. S. 250)

[13] Ebd. S. 254.

[14] Ebd. S. 257-259.

[15] Ebd. S. 259-261.

[16],,[...]wenn dies wirklich die geheime Natur des Unheimlichen ist, so verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in [...] das Unheimliche übergehen läßt, denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Fremdes oder Neues, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist."

[17] Ebd. S. 264-265.

[18] Mit der Konstituierung des wahren unbewussten Ich(je) kommt es zu der des bewussten Ich (moi). Damit existiert der Mensch auf zwei Ebenen. Das wahre Subjekt des Unbewussten, das je, bildet den Kern des Menschen. Das Ich des Bewusstseins, das moi, veranschaulicht wo das Subjekt sich selbst sieht, was es glaubt zu sein.

[19] Ritter (2009). S. 21.

[20] Ebd. S. 21.

[21] Ebd. S. 22.

[22] Ebd.

[23] Vgl. Elsaesser (2009). S. 237.

[24] Ebd.

[25] Ebd. S. 239.

[26] Vgl. Elsaesser (2009). S.240.

[27] Ebd. S. 240.

[28] Ebd. S. 245.

[29] Ebd. S. 243.

[30] Ebd. S. 248.

[31] Vgl. Ebd. S. 249.

[32] Vgl. Ebd. S. 249

[33] Vgl. Elsaesser S. 250.

[34] Ebd.

[35] Ebd. S. 254.

[36] Ebd.

[37] Ebd. S. 48.

[38] Vgl. Ebd.

[39] Rank (1993). S.10.

[40] Ebd. S. 255.

[41] Ebd. S.258.

[42] Die von Edward Norton gespielte Figur ist im Film namenlos. Um sie jedoch unterscheiden zu können und um einen besseren Überblick zu geben, wird deshalb der Name verwendet, den der Erzähler benutzt. ‚Jack‘ bezeichnet in diesem Fall den Charakter, den Tyler Durden im Folgenden kennenlernt und mit dem er seine paramilitärische Organisation aufbaut.

[43] Schnelle, Frank (Hg.): David Fincher. Berlin 2002. S. 28.

[44] Ebd. S. 29.

[45] Ebd. S. 31.

[46] Ebd. S. 231.

[47] Ritter (2009). S. 75.

[48] Döring, Melanie: Gesellschaft im Spiegel. Subjektkonstitution und mediale Reflexion in David Finchers FIGHT CLUB. München 2010. S.11.

[49] Ziob,Brigitte: Wir sind doch immer noch Männer? Eine psychoanalytische Betrachtung des Films Fight Club von David Fincher. In: Das Kino der Gesellschaft - die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge. Hrsg. von Manfred Mai u.Rainer Winter. Köln 2006. S. 189.

[50] Fight Club. USA 1999. Regie: David Fincher. 00:02:52 Min.

[51] Ritter (2009). S.78.

[52] Fight Club (1999). 0:03:53 Min.

[53] Fight Club (2000). 00:04:27 Min.

[54] Ort, Nina: Where is my Mind? Where is my Mind? Where is my Mind? Zur Popularität des Films Fight Club in der Postmoderne. In: Wie im Film. Zur Analyse populärer Medienereignisse. Hrsg. Von Bernd Scheffer, Oliver Jahraus. Bielefeld 2004. S. 102.

[55] Ritter (2009). S. 80.

[56] Ziob (2006). S. 192.

[57] Ort (2004). S. 105.

[58] Fight Club (1999). 0:03:08 Min.

[59] Ziob (2006). S.192.

[60] Ebd.

[61] Döring (2010). S.25.

[62] Ebd. S. 25.

[63] Vgl. Fight Club (1999). 0:09:10 Min.

[64] Fight Club (1999). 0:38:02 Min.

[65] Fight Club (1999). 0:37:18 Min.

[66] Ritter (2009). S. 92.

[67] Fight Club (1999). 0:37:56 Min.

[68] Ort (2004). S. 111.

[69] Fight Club (1999). 0:56:14 Min.

[70] Ort (2004). S. 112.

Ende der Leseprobe aus 95 Seiten

Details

Titel
Bin Ich ein Anderer? Die Krise der männlichen Identität in "Fight Club" und "Shutter Island"
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft)
Note
2.0
Autor
Jahr
2013
Seiten
95
Katalognummer
V269580
ISBN (eBook)
9783656603238
ISBN (Buch)
9783656603191
Dateigröße
756 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Shutter Island, Fight Club, Leonardo DiCaprio, Lacan, Freud, Psychoanalyse, Scorsese, Fincher, Brad Pitt, Edward Norton, Film, Literatur, Trauma, Krise, Identität, Verlust, Otto Rank, Mind game movies
Arbeit zitieren
Sarah Müller (Autor:in), 2013, Bin Ich ein Anderer? Die Krise der männlichen Identität in "Fight Club" und "Shutter Island", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269580

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