Der Hunger in der Literatur. Zur poetischen Funktion des Hungerns in Hamsuns "Hunger" und Kafkas "Ein Hungerkünstler"


Masterarbeit, 2013

81 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung
1.1 Freiwilliges Hungern in der Geschichte
1.2 Freiwilliges Hungern in Literatur und Forschung
1.3 Problemstellung und Thesen
1.4 Methode
1.5 Textauswahl

2 Textanalysen
2.1 Knut Hamsun Hunger.
2.1.1 Figurenkonzeption
2.1.1.1 Gespaltene Persönlichkeit
2.1.1.2 Abwertung körperlicher Begierden
2.1.1.3 Zwischen Lüge und Selbstbetrug
2.1.1.4 Hoher Selbstanspruch
2.1.2 Der Einfluss des Hungerns auf formaler Ebene
2.1.3 Das gesellschaftskritische Potenzial des Motivs Hungern
2.1.4 Das Hungern als Symbol der Kunst.
2.1.5 Fazit..
2.2 Franz Kafka Ein Hungerkünstler
2.2.1 Figurenkonzeption
2.2.1.1 Erkenntnis ohne Sinneserfahrung
2.2.1.2 Genie ß en im Kopf
2.2.1.3 Sucht nach Bewunderung
2.2.2 Formale Grenzüberschreitungen
2.2.3 Hungern als Auflehnung
2.2.4 Kunstauffassung
2.2.5 Fazit

3 Ergebnisse zu einer poetischen Funktionalisierung des Hungerns

4 Ausblick

5 Literatur- und Quellenverzeichnis

1 Einführung

‚Zwölf Kilo in sechs Wochen‘, ‚Nie wieder XXL‘ oder ‚Nun purzeln die Pfunde‘ lauten die Schlagwörter zahlloser Diätratgeber. In Rezeptheften, Sportzeitschriften, Frauenmagazinen und in unüberschaubar vielen Internetforen erteilen sie Tipps und Tricks, wie Frau und auch Mann am besten, schnellsten und unkompliziertesten zum Wunschgewicht und der Traumfigur gelangen. Ein Geheimnis verraten sie dabei jedoch nicht: Das wesentlichste Kampfmittel gegen Übergewicht ist das Hungern. Der (selektive) Verzicht auf Nahrungsmittel soll möglichst nahe an das in den Medien dauerpräsente schlanke Körperideal bringen, das mit Gesundheit, Willenskraft, Disziplin, Intelligenz etc. assoziiert wird.

Die Erscheinung eines dünnen Körpers kann jedoch noch eine ganz andere Assoziation erwecken. Ein magerer Körper ist möglicherweise Ausdruck einer Essstörung, vornehmlich der Anorexia nervosa. Die Anzahl der Diagnosen hat sich in den Wohlfahrtsstaaten der westlichen Industrieländer seit den 1970er Jahren stetig vergrößert.1 Die Betroffenen leiden nicht am Hunger, sondern am Essen, das sie möglichst vermeiden wollen. Ihr Wunsch nach Kontrolle über den eigenen Körper ist außer Kontrolle geraten, weshalb eine Zuteilung zum freiwilligen Hungern nur unter Vorbehalt erfolgen kann.2 Die Krankheit betrifft Mädchen und Frauen ungleich häufiger als Männer.3 Bei letzteren steht weniger die Gewichtsreduzierung im Vordergrund als der Wunsch nach einem muskulös-schlank geformten Körper.4

Der Nahrungsverzicht kann neben der Annäherung zum (krankhaften) Wunschgewicht noch weitere Funktionen übernehmen. Er kann zum Beispiel Mittel zur Auflehnung sein oder zur Abkehr von der als dekadent wahrgenommenen Gesellschaft. Denn jemand, der aus eigenem Antrieb hungert, überschreitet die Normen einer durch Essen sozialisierten, organisierten, und gruppierten Gesellschaft. Aufgrund dieser Bedeutungsdimension ist das freiwillige Hungern ein attraktives Thema für die Literatur. Wie die poetische Literatur den voluntaristischen Nahrungsverzicht verarbeitet und welche Funktionen er einnimmt, möchte ich mit dieser Arbeit untersuchen. Mein Ziel ist es, zu prüfen, ob diese Thematik in verschiedenen Texten mit ähnlichen Merkmalen der Texte hinsichtlich der Hauptfigur und der formalen Gestaltung zusammenhängt. Hinzukommend möchte ich herausfinden, ob mithilfe des freiwilligen Hungerns Ansichten über die Kunst und eine gesellschaftskritische Auffassung transportiert wird. Die poetischen Funktionen des freiwilligen Hungerns werde ich anhand der Texte Hunger von Knut Hamsun und Ein Hungerkünstler von Franz Kafka untersuchen. Für dieses Vorhaben gliedert sich die Arbeit wie folgt: Im Einleitungskapitel werde ich zunächst noch präziser darauf eingehen, in welcher Hinsicht das freiwillige Hungern eine Grenzüberschreitung ist und wie sich das in der Geschichte widerspiegelt (Abschnitt 1.1). Dann werde ich Beispiele von hungernden Figuren aus der Literatur anführen und besprechen, wie sich die Forschung bisher diesem Thema genähert hat (1.2). Im Zusammenhang mit der Kritik an der bisherigen Forschung formuliere ich die Problemstellung und die Thesen (1.3) sowie die Methode (1.4). Zuletzt lege ich die Gründe für die Textauswahl dar (1.5). In den im Anschluss an die Einführung folgenden Textanalysen wird jedes Buch zunächst einzeln betrachtet (Kapitel 2.1. und 2.2), um die Eigenständigkeit und Unterschiedlichkeit der Texte zu berücksichtigen. In dem Kapitel zu den Ergebnissen zur poetischen Funktionalisierung des Hungerns (Kapitel 3) liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf den Texten. Um von den Einzelaspekten der Beispieltexte zu allgemeineren Aussagen über die Funktionalisierung des Hungerns zu gelangen, führe ich die Punkte zusammen, die in beiden Texten übereinstimmend aufgetreten sind.

1.1 Freiwilliges Hungern in der Geschichte

In der Einführung klang bereits an, dass der Verzicht auf Nahrung einer Missachtung gesellschaftlicher Normen gleichkommt. Die Normen rund um das Essen, definiert als „soziokulturelle Varietät der Ernährung“, für die der Mensch „das gesamte kulturale System seiner Küche einsetzt“, bilden ein zentrales Zeichensystem der westeuropäischen Gesellschaft.5 Grund für die hohe Bedeutung des Essens ist sein Einfluss auf die Sozialisierung, zum Beispiel durch Tischsitten, sein Beitrag zur Gemeinschaftsbildung, beispielsweise durch Rituale des gemeinsamen Speisens und der Gastfreundlichkeit, und seine Markierungsfunktion für kulturelle Zugehörigkeit, die sich beispielsweise in Vorlieben in der Lebensmittelauswahl und -zubereitung äußert. Eine Gesellschaft ist demnach immer eine Welt der Essenden, die sich primär über das mit der Nahrungsaufnahme verbundene Zeichensystem definiert. Wer hungert, verweigert sich automatisch diesen Funktionen des Essens und steht außerhalb der Gesellschaft. Alois Wierlacher bezeichnet den Hunger, den er begrifflich mit dem Hungern gleichsetzt, deshalb als „Widerpart aller Eßkultur“.6 Hungernde sind jedoch nicht nur dadurch Außenseiter, weil sie das Zeichensystem der Essenden hinter sich lassen, sondern auch, weil sie körperliche Grenzen überschreiten. Sie ignorieren das Hungergefühl, die angeborene, durch Nahrungsmangel ausgelöste Allgemeinempfindung, die mit Unwohlsein und Schmerz einhergeht.7 Dadurch spalten sie sich von allen anderen Menschen ab, die dem kreatürlichen Hunger nachgeben und dessen Aufforderung nach Nahrungsaufnahme folgen.

Die Erklärungsansätze, dass das freiwillige Hungern aufgrund seiner Negierung der Essensregeln und des alle Menschen einenden Hungergefühls eine Grenzüberschreitung ist, sind jedoch nicht präzise genug. Würde nach ihnen ein Fastender doch ebenfalls sozialer Außenseiter sein, schließlich setzt er sich über das Zeichensystem des Essens und die durch den Hunger signalisierte Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme hinweg. Doch das Fasten ist ein seit der Antike bekanntes Gebot von Glaubensgemeinschaften, das weniger zur Isolierung als mehr zur Identifizierung mit einer religiösen Gruppe und damit zur Gemeinschaftsbildung beiträgt.8 Die Ausnahmeposition des Fastens macht deutlich, ab wann das Hungern, welches nicht durch Nahrungsmittelknappheit bedingt ist, zum Grenzübertritt wird. Solange jemand unter einem klar identifizierbaren Fremdzwang hungert (sei es das religiöse Gebot, die Gesundheit oder die politische Unterdrückung, gegen die der Hungerstreik eine Möglichkeit des Aufbegehrens ist), lässt es sich mit dem Normverständnis der Essenden vereinbaren. Erst wenn die Entsagung selbst aufoktroyiert ist, übertritt sie die Grenzen der Essensgemeinschaft. Ein derartiger, selbstbestimmter Verzicht auf Nahrung über einen längeren Zeitraum hinweg ist im Folgenden zu verstehen, wenn von freiwilligem Hungern oder auch abgekürzt vom Hungern die Rede ist.

Das freiwillige Hungern ist aus der Sicht der Essenden eine inkommensurable Grenzüberschreitung. Das beweisen die Erklärungsmuster für dieses Phänomen. Diese haben sich zwar im Verlauf der Jahrhunderte durch Säkularisierung und verbessertes medizinisches Wissen stark verändert, sind aber insgesamt ein Plädoyer dafür, dass Hungern außerhalb jeder Gesellschaftsordnung steht. Im europäischen Raum wurde das freiwillige Hungern bis in die Neuzeit auf übernatürliche Ursachen zurückgeführt. Langes, freiwilliges Hungern war in einer Zeit, in der das medizinische Wissen noch nicht weit entwickelt und der Hunger für die meisten Menschen selbst eine tägliche Erfahrung war, etwas höchst Erstaunliches. Die Überlieferungen berichten von ‚religiösen Wundern‘, wobei Menschen angeblich jahrelang hungerten und dadurch die Aufmerksamkeit der Region, teilweise sogar überregionale Bekanntheit, erlangten.9 Ab dem 16. Jahrhundert begann aber ein bis zum 19. Jahrhundert andauernder Prozess, in dessen Verlauf langanhaltender Nahrungsverzicht mehr und mehr als Krankheit angesehen und vollkommene Askese auch als unmöglich entlarvt wurde.10 Diese Wende verlief parallel zu einer Veränderung des Verständnisses der Diätetik von einer umfassenden Definition, die Biologie und Metaphysik miteinander verschränkt, hin zu einer positivistischen, naturwissenschaftlichen Definition.11 Vor dem 19. Jahrhundert wurden Essen und Trinken ganzheitlich betrachtet und in ihrem Zusammenhang mit der Physiologie, Psychologie, Philosophie und Theologie berücksichtigt. Ab dem 19. Jahrhundert vernachlässigte man diese Zusammenhänge zugunsten des Physiologischen. Die ehemals als Fastenheilige oder Besessene mystifizierten Hungernden wurden zu bemitleideten Kranken und Patienten. Ihre zunächst mit unterschiedlichen Termini beschriebene, später unter dem Begriff der ‚Anorexia nervosa‘ subsumierte Krankheit wurde therapierbar.12 Die beiden Texte, die in der vorliegenden Arbeit im Fokus stehen, entstanden genau in der Zeit, in der sich freiwilliges Hungern unter dieser Bezeichnung als pathologisches Phänomen in der Medizin etablierte. Sie liegen also hinter dem Scheitelpunkt des Wechsels der Legitimationsordnungen von der Theologie hin zur Naturwissenschaft. Dennoch halten sie an den vielfältigen Beziehungen des Essens zu Psyche und Geist fest. Sie setzen das Hungern demnach in einen größeren Zusammenhang als einen rein physiologischen.

Der Text von Kafka greift darüber hinaus auf eine historische Sonderform des Hungerns zurück, die genau auf diesem Scheitelpunkt liegt: die Hungerkunst. Bei dieser Profession stellten sich hauptsächlich Männer in eleganten Vergnügungslokalen und Varietés, später im Zirkus, zur Schau, während sie in einem Käfig oder Glaskasten für eine festgelegte Anzahl an Tagen hungerten.13 Die Erscheinung feierte Ende des 19. Jahrhunderts ihre Blütezeit, konnte aber nach den Hungererfahrungen des Ersten Weltkriegs keine begeisterten Zuschauer mehr finden. In den 1920ern kam sie noch einmal in Mode, bis sie nach 1930 völlig verschwand.14 An der Hungerkunst lässt sich besonders gut verfolgen, wie eine normgebende Welt auf die Überschreitung ihrer Grenzen reagiert. Die Haltung der Zuschauer zur Hungerkunst war ambivalent. Einerseits waren sie neugierig und fasziniert und strömten zu den Vorstellungen, andererseits warfen sie der Hungerkunst Betrug vor und lehnten sie ab. Außerdem versuchte das Publikum sich das Hungern erklärbar zu machen. Um die unglaubliche Selbstkasteiung besser verstehen zu können beziehungsweise um Betrug auszuschließen, wurde das Schauhungern oft von Ärzten überwacht, die die Auswirkungen des Hungerns studierten.15 Aufgrund der Verwissenschaftlichung und der Kommerzialisierung ihres Hungerns wurden die Hungerkünstler nicht als Heilige gepriesen oder als Kranke abgestempelt. Ihre Nahrungsenthaltung war kein Wunder Gottes und keine krankhafte Störung, sondern, insofern sie nicht als Täuschung enthüllt wurde, eine außergewöhnliche Leistung.16 Dank der Wirkung ihres Normübertritts, Neugierde und Schrecken hervorzurufen, verdienten die Hungerkünstler Geld. Zudem ernteten sie Ruhm, indem sie über ihre Unterhaltungsfunktion hinaus den Nicht- Hungernden als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt dienten.17

Hungern - definiert als Nahrungsverzicht aus freien Stücken, bei welchem der tägliche Bedarf an Energiezufuhr für einen längeren Zeitraum nicht gedeckt wird, sodass die Gesundheit, Körperaktivität und Leistungsfähigkeit des Menschen darunter leiden18 - gibt es vermutlich seitdem es Essen gibt. Die Gründe für eine solche Entscheidung sind sehr vielfältig; gleich ist allen Hungernden, dass sie aus der Gemeinschaft der Essenden austreten. Die Reaktionen aus dem Kreis der Essenden auf die Übertretung ihrer Ordnung reichen von Erstaunen und Verwunderung über Bewunderung und Skepsis bis hin zu Schrecken und Mitleid. Sowohl die Gründe als auch die Reaktionen und Konsequenzen sind ein faszinierendes Feld, weshalb es auch in der Literatur in vielfältigster Weise besprochen wird und Verwendung findet.

1.2 Freiwilliges Hungern in Literatur und Forschung

In der Literatur, meist der Unterhaltungsliteratur, finden sich besonders ab 1970 zahlreiche autobiografische und biografische Texte, in denen die Frauen und vereinzelt auch Männer von den Leiden der Magersucht berichten. Doch auch fern der direkt als Magersuchtgeschichten deklarierten Texte weist die neuere deutschsprachige Literatur Protagonisten auf, die freiwillig auf Nahrung verzichten. Die Titelfrage „Du hungerst noch immer?“, die der Aufseher in Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler auf der Suche nach einer Erklärung an den im Sterben liegenden Hungerkünstler richtet, ließe sich auch den folgenden Charakteren stellen19:

Werther aus Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werther: „Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine Lust zu essen. Alles war öde [...].“20

Konrad Zündel aus Markus Werners Zündels Abgang: „Als Konrad sich aufrichtete, wurde ihm schwindlig, und als er aufstand, merkte er, daß seine Beine ihn kaum trugen. Doch schon der Gedanke an ein Sandwich machte ihm Brechreiz.“21

Die Hauptfigur aus Maria Erlenbergers Hunger nach Wahnsinn: „Ich war ausgedörrt und so leer. Die Angst doch zu essen, war groß. Ich durfte es auf keinen Fall, denn sonst bräche mein System zusammen und mein Leben geriete in heillose Unordnung.“22

Effi Briest aus Theodor Fontanes Effi Briest: „Wenn du dir ein Borckesches Diner [...] vorstellst, vielleicht mit Presskopf und Aal in Aspik, so [...] wäre [es] mein Tod.“23

Der Erzähler aus Erlenbergers Essen und Ich: „Wer glaubt, daß nichts essen kein Genuß ist, macht sich die Rechnung zu leicht.“24

Der Hund aus Kafkas Forschungen eines Hundes: „Durch das Hungern geht der Weg, das Höchste ist nur der höchsten Leistung erreichbar [...] und diese höchste Leistung ist bei uns freiwilliges Hungern.“25

Die hier angeführten Figuren entsagen dem Essen offensichtlich aus Angst, Ekel, Verdruss, für Genuss oder zur Selbstprüfung. So ließe sich bei ihnen die Vermutung aufstellen, dass auch sie magersüchtig, bulimiekrank oder dem Diätwahn erlegen sind. Einer solchen Mutmaßung ist zum Beispiel Angela M. C. Wendt nachgegangen. Sie fand anhand der Untersuchung mehrerer Texte heraus, dass die Magersucht und die Fettsucht seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt seit dem 20. Jahrhundert parallel zum medizinischen Diskurs Einzug in die poetische Literatur hielten.26 Sie verfolgt die Spur der Magersucht in der Literatur sogar zurück bis zu Goethe, dessen zarte Mignon im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre Züge einer Magersüchtigen tragen soll.27 Neben Wendt haben sich auch Bettina Blanck, Maud Ellmann in Monographien oder Nina Diezemann in ihrer Dissertation mit der Frage beschäftigt, inwiefern Texte mit dem Thema des freiwilligen Hungerns ein Krankheitsbild verarbeiten und dabei durch Aufzeigen der Umstände, die zur Essstörung führten, Gesellschaftskritik üben.28 Zum Teil finden sich sogar Arbeiten aus dem medizinisch-psychologischen Fachbereich, die zur Rekonstruktion der Geschichte der Anorexia nervosa auf literarische Quellen zurückgreifen, beispielweise die von Walter Vandereycken, Ron van Deth und Rolf Meermann.29

Über die Magersuchtdiagnose hinaus hat das selbstgewählte Hungern jedoch nur geringe Beachtung in der Sekundärliteratur gefunden. Die Anzahl der Beiträge zum Hungern ist relativ überschaubar und widmet sich eher ausländischer Literatur.30 Auch im Handbuch zu Themen und Motiven in der Literatur sucht man das Hungern vergeblich; selbst innerhalb des Abschnittes zum Thema und Motiv ‚Essen‘ erhält es keine Erwähnung.31 Mehr noch finden sich Abhandlungen zur Geschichte des Hungerns, die sowohl die freiwillige als auch unfreiwillige Form in den Blick nehmen und dabei gelegentlich auf literarische Quellen zurückgreifen.32 Ein besonderer Forschungsbereich zum Thema des Nahrungsverzichts sind außerdem hungernde Schriftsteller, die in Verbindung mit ihren Texten analysiert werden.33 Abzuwarten bleibt, ob und inwiefern sich Tanja Rudtke in ihrer im Dezember erscheinenden Monographie dem Thema Hunger(n) widmen wird.34

Das Forschungsdefizit mag der Tatsache geschuldet sein, dass der selbstgewählte Nahrungsverzicht nicht so häufig in epischen Texten aus dem europäischen Raum vorkommt, auch wenn sich laut Johannes John die Form des freiwilligen Hungerns, der Kasteiung und Askese, wie ein „fester Traditionsstrang durch die literarische Überlieferung“ ziehe.35 Aus der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts und dem 20. Jahrhundert sind vor allem Knut Hamsuns Hunger (1890), Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95), Franz Kafkas Ein Hungerkünstler (1924), Thomas Bernhards Kulterer (1962), Maria Erlenbergers Hunger nach Wahnsinn (1977) und Markus Werners Zündels Abgang (1984) bekannt.36 Die Forschung hat sich mehr mit dem Essen beschäftigt als mit dem Verzicht darauf. Wierlacher hat dazu 1987 in seiner auf einem breiten Textkorpus angelegten Untersuchung der Mahlzeiten und Kulinarik in der deutschsprachigen Literatur einen ganz neuen Forschungszweig begründet, in dessen Folge das Essen in der Literatur eingehender von der Literaturwissenschaft betrachtet wurde. Dabei wurde das Phänomen der Völlerei, das im Gegensatz zum Hungern viel häufiger in der Literatur präsent zu sein scheint, über das Krankheitsmodell der Fettsucht hinaus ausgelotet.37 Die meisten Literaturwissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass das übermäßige Essen, das in keinem ursächlichen Zusammenhang mehr zum Hunger steht, in der Literatur den Status einer Ersatzbefriedigung erhalte, die die epochalen Mängel ausgleichen soll.38 Die Funktionalisierung des obsessiven Essens in der Literatur als Kompensationsmittel für mangelhaft befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen sowie emotionale Defizite ist sogar schon so weit gediehen, dass Kurt Müller es 2003 zu einem „abgenutzten Kulturklischee“ erklärt hat.39 Ob das freiwillige Hungern genauso wie das übermäßige Essen Bedeutungsdimensionen über eine Essstörung hinaus ausfüllt, ist das Interesse dieser Arbeit.

1.3 Problemstellung und Thesen

Die Forschungsliteratur zum Thema Hungern hat sich im Gegensatz zu den Beiträgen bezüglich der Völlerei bisher auf die Untersuchung des Krankheitsmodells konzentriert. Sie liefert kaum tiefgründige Analysen fern der Magersuchtdiagnose. Doch eine solche Betrachtung von Hungernden in der Literatur halte ich für problematisch. Meiner Ansicht nach greift eine Untersuchung von Texten, in denen das Hungern zentrales Thema ist, zu kurz, wenn sie nur nach Symptomen der Magersucht Ausschau hält. Ich sehe das Problem, dass durch die Pathologisierung literarischer Figuren die Unterschiedlichkeit von Texten nivelliert wird, da sich das Syndrom aus den verschiedensten Quellen deduzieren ließe.40 Die Forschungsliteratur, die eine Diskursanalyse von Texten mit hungernden Figuren durchführt, gibt aber bereits Anstöße zur genaueren Auseinandersetzung mit dem Hungern. Wendt regt zu einer weiteren Untersuchung des Phänomens Hungern an, da sie in ihren Untersuchungen feststellt, dass sich die Literatur im Umgang mit Essen und Nicht-Essen kaum den Gesetzmäßigkeiten von Krankheiten unterwerfe.41 Wierlacher animiert den Leser ebenfalls zur vertieften Beschäftigung mit dem freiwilligen Hungern, da er dessen symbolische Funktion schon andeutet. Er meint, dass sich die freiwillig Hungernden „von kreatürlichem Nahrungsverlangen und kommunikativer Essensfreude distanzieren wollen, um das Ertragen des physischen Hungers zum Sinnbild letztlich metaphysischen Begehrens des Menschen zu machen“.42 Bei dieser Schlussfolgerung bezieht er sich auf Goethes Wahlverwandtschaften, Hamsuns Hunger, Kafkas Ein Hungerkünstler, Bernhards Kulterer und Erlenbergers Hunger nach Wahnsinn. Um diese Anregungen auszubauen, will ich in der vorliegenden Arbeit untersuchen, ob das Hungern ein literarischer Stoff ist, der die formale und inhaltliche Konstruktion von epischen Texten durchsetzt. Ausgehend von einer durch das Hungern organisierten Komposition von Texten, schließt sich außerdem die Frage an, ob sich gerade mit dem Hungern bestimmte Aussagen zu Kunst, Künstlern und Gesellschaft verbinden.

Mein Forschungsinteresse lässt sich auf die folgenden Thesen konkretisieren: Die Thematisierung des freiwilligen Hungerns weist weit über eine krankhafte Beziehung zum Essen hinaus. Sie dient erstens dazu, die Hauptfigur eines Textes über ihr Essverhalten hinaus zu charakterisieren. Zweitens liefert das Hungern das grundlegende Prinzip, nach dem der Text formal konstruiert wird. Drittens wird das Hungern als Plattform genutzt, um Aussagen zu Missständen in der Gesellschaft zu transportieren. Viertens hat das Hungern die Funktion, die Kunstauffassung der Autoren zu verdeutlichen. Mit der Untersuchung dieser vier Thesen möchte ich außerdem herausfinden, ob das freiwillige Hungern in verschiedenen Texten Grundlage eines ähnlichen Figurentyps sowie Basis eines auf denselben Prinzipien aufgebauten Erzählstils ist und ob es für eine bestimmte (kritische) Gesellschaftsauffassung sowie für eine bestimmte Auffassung zu Kunst und Künstlern das Transportmittel ist.

Die Behauptung, dass das Hungern neben dem Inhalt auch Einfluss auf die formalen Merkmale eines Textes übt, hängt damit zusammen, dass durch den Akt des Hungerns inhaltlich eine Grenzüberschreitung gegebener Normen stattfindet. Dieser Normübertritt, so ist anzunehmen, spiegelt sich als Prinzip auch in der Form des Textes wider. Eine Funktionalisierung des Hungerns als Träger der Kunstauffassung und gesellschaftskritischer Ansichten der Autoren ist des Weiteren deshalb anzunehmen, da das Hungern in der Literatur bereits als Motiv für den Künstler und für Sozialkritik bekannt ist.43 Dabei handelte es sich aber um die Form des unfreiwilligen Hungerns, sodass nun interessant sein wird, wie das unfreiwillige Hungern Bezug zum Künstlertum und der Gesellschaft herstellt.

1.4 Methode

In Abgrenzung an Wendt ist für die Erforschung poetischer Funktionen keine reine Diskursanalyse, sondern mehr eine strukturelle Betrachtung zweckgemäß. Das poetische Potenzial des Hungerns will ich deshalb in Anlehnung an Juri Lotmanns strukturalistisch- semiotische Textauffassung erschließen. Diese verbindet die Analyse sprachlicher Äußerungen zusammen mit ihren kulturellen und sozialen Bedeutungen.44 Lotmann versteht Kultur dabei immer als hierarchisch organisiertes Zeichensystem. Grund dafür ist, dass räumliche Zuschreibungen unser gesamtes Weltmodell beherrschen.45 Zum Beispiel werden soziale Hierarchien (oben - unten), gesellschaftliche Gruppen (innen - außen), zwischenmenschliche Beziehungen (nah - fern), politische Gesinnungen (rechts - links) oder auch Handlungsspielräume und die Wahrnehmung (eng - weit) in räumlichen Kategorien angegeben. Die mit kulturellen und sozialen Bedeutungen aufgeladenen Zeichensysteme poetischer Texte bilden nach Lotmann ebenfalls Raumstrukturen aus. Diese kopieren die räumlichen Weltmodelle aber nicht, sie bestätigen oder negieren sie.46

Das wichtigste Merkmal in der Raumstruktur literarischer Texte sind die Grenzen. Denn laut Lotmann ist die „Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird, [...] eines seiner wesentlichsten Charakteristika“.47 Es gibt immer einen normgebenden Raum, dessen Grenzen als unüberwindbar gelten. Übertritt eine Figur diese Grenzen dennoch, überschreitet sie die Normen und etabliert einen weiteren, abgegrenzten Raum. Lotmann nennt diese Grenzüberschreitung das Ereignis oder auch das Sujet eines Textes.48 Der Akt des Hungerns ist ein solches Ereignis, durch das der Held eines Textes gegen die Normen des Raums der Essenden verstößt. Er spaltet die Raumstruktur eines Textes in zwei Räume, in die sich die Figuren jeweils aufteilen: die Welt der Essenden und die Welt des Hungernden. Der Raum, aus dem sich der Protagonist entfernt, hier der der Essenden, ist die normgebende Welt. Wie ich zeigen werde, erschließt sich aus diesem Normübertritt die poetische Funktion des Hungerns, das heißt sein Einfluss auf die Figuren und ihre Beziehungen zueinander, sein Leidenschaften, S. 203; vgl. Maier 2006: Das anorexische Ich, S. 200). Das durch Armut bedingte Hungern ist ein Motiv par excellence des Naturalismus (vgl. Bien 1990: Werke und Wirkungen, S. 23).

Einfluss auf die formalen Textmerkmale und seine Aufgabe als Vermittler künstlerischer und gesellschaftskritischer Auffassungen.

1.5 Textauswahl

Die poetische Funktion des Hungerns möchte ich an dem Buch Hunger von Knut Hamsun (1890) und der Erzählung Ein Hungerkünstler von Franz Kafka (1924) nachprüfen. Ausschlaggebend für die Wahl dieser Texte war zuerst, dass sie keine autobiografische Verarbeitung von Magersuchterfahrungen sind. Zwar sind schon mehrfach sind Stimmen laut geworden, die Kafka anorektische Züge zuschreiben49 und auch bei Hamsun finden sich Hinweise auf diese Essstörung. Er hat den Hunger jahrelang am eigenen Leib erlebt.50 Dabei ist nicht sicher, ob er aufgrund seiner (selbstverschuldeten) Mittellosigkeit zum Hungern gezwungen war, oder ob er aufgrund seines selbstzerstörerischen Ehrgeizes, der bei Magersüchtigen auch zum Krankheitsbild gehört, das Essen vernachlässigte.51 Dennoch beweist die vielfältige und unterschiedliche Rezeption zu beiden Texten, dass die Gedanken- und Verhaltensweisen der Figuren und die Handlungsverläufe über das Krankheitsbild der Magersucht hinausweisen.52

Des Weiteren erschienen diese zwei Texte besonders geeignet, weil der Akt des Hungerns in einen ähnlichen Kontext eingebunden ist. Sie erzählen jeweils die Leidensgeschichte eines Künstlers, der erstere die eines Schriftstellers, der zweite die eines Darstellungskünstlers. Dabei fasten die männlichen Hauptfiguren, deren Hintergründe und Namen im Verborgenen bleiben, ohne dass es die Umstände erzwingen würden. Zugleich liegt ihre Motivation, zu hungern, weit von dem Streben nach einem Schlankheitsideal entfernt.53 Eine Reduktion der Textanalyse auf eine Magersuchtdiagnose könnte den Texten deshalb nicht gerecht werden. Die inhaltlichen Parallelen deuten vielmehr bereits eine poetische Funktion des Hungerns an. Denn sie lassen vermuten, dass die Texte, in deren Zentrum das Hungern steht, eine ähnliche Motivik und Symbolik ausbilden.

Entscheidend war auch, dass es sich bei Hunger und Ein Hungerkünstler um kanonische Texte handelt. Dieses Auswahlkriterium hängt mit dem Anspruch dieser Arbeit zusammen, ein Grundmuster der Funktionalisierung des Hungerns herauszuarbeiten, das auf weitere Texte anwendbar ist. Bei kanonischen Texten ist davon auszugehen, dass die von ihnen einstmals vorgelegte Struktur auf spätere Autoren - vielleicht auch unbewusst - Einfluss hatte. Diese Wirkung ist bei Kafkas und Hamsuns Texten mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, da beide über ihre Zeit hinausweisen - Hamsun läutete die Moderne ein und Kafka gilt als Wegweiser in die Postmoderne.54 Nichtsdestotrotz wäre natürlich für jeden Einzelfall zu prüfen, ob verschiedene Texte, in deren Zentrum das Thema Hungern steht, in ihren Strukturen übereinstimmen. Allein zwischen Hamsun und Kafka hat sich das Einflussprinzip aber schon erfüllt. Bekannt ist, dass Kafka die Texte von Hamsun gut kannte und er besonders die frühen Texte, darunter Hunger, hoch schätzte.55

Zusammenfassend betrachtet waren für die Wahl der Texte Hunger und Ein Hungerkünstler zur Untersuchung der Funktionalisierung des Hungerns die Tatsachen ausschlaggebend, dass sie sich nicht auf das Spektrum der Diskursanalyse beschränken lassen, dass sie weitere inhaltliche Parallelen neben der Hungerthematik aufweisen und kanonischen Status besitzen. mit denen sie sich gegen die ‚alte Ordnung‘ wendeten (vgl. Montanari 1999: Der Hunger und der Überfluss, S. 200; vgl. Vandereycken/van Deth/Meermann 2003: Kulturgeschichte der Ess-Störungen, S. 302).

2 Textanalysen

In den Untersuchungen der Texte Hunger von Knut Hamsun und Ein Hungerkünstler von Franz Kafka werde ich wie folgt vorgehen: Am Anfang stehen eine kurze Inhaltsangabe, ein paar Hintergrundinformationen zur Entstehung des Textes sowie Bemerkungen zum Forschungsstand. Daran schließt sich jeweils die Figurencharakterisierung an, die den größten Teil der Analysen ausmacht, da sich mit ihr die Raumsemantik des jeweiligen Textes näher bestimmen lässt. Aufbauend auf der Funktionalisierung des Hungerns folgen die Untersuchung der Erzählkonzeption sowie die Besprechung gesellschaftskritischer Elemente und der im Text vermittelten Kunstauffassung. Jede Einzelanalyse endet mit einer Zusammenfassung und einem Fazit.

2.1 Knut Hamsun Hunger

Das Buch Hunger handelt von einem jungen Mann, dessen Namen wir nie erfahren. Er zieht besitzlos, mittellos und streckenweise obdachlos durch die Stadt Kristiania, auf der Suche nach Möglichkeiten, an Geld zu kommen.56 Er ist Schriftsteller und hofft, mit einer Veröffentlichung den großen Durchbruch zu erlangen. Innerhalb der geschilderten drei Monate wird jedoch nur ein Mal ein Text von ihm bei einer Zeitungsredaktion angenommen. Da er nicht einmal genug Geld besitzt, um sich etwas zu essen zu leisten, verkümmert er zusehends und kann sich immer weniger auf seine Schreibarbeit konzentrieren. Die Tuschezeichnung von Walter Schnackenberg (Hunger, 1949) verbildlicht seine Lage: Er lässt sich kaum noch als Mensch identifizieren. Gleichwohl hungert er nicht gezwungenermaßen. Er trägt selbst die Schuld an seiner Situation, da er entweder seinen Mitmenschen vormacht, dass es ihm gut gehe und er gar nicht so arm sei, oder weil er freiwillig hungert in dem Glauben, Essen würde seine Geistestätigkeit negativ beeinflussen. Freunde hat er keine und das Treffen mit einem Mädchen endet im Desaster. Nachdem er fast völlig wahnsinnig geworden ist, heuert er auf einem Schiff nach England an und verschwindet aus der Stadt.

Die autobiografischen Züge des Buches sind offensichtlich: der Inhalt liest sich wie ein komprimierter Apograf von Hamsuns eigenem Lebensverlauf von 1879 bis zu der Veröffentlichung des Romans Sult, zu Deutsch Hunger, im Jahre 1890. Auch die Eigenschaften des Protagonisten erinnern stark an Hamsuns Persönlichkeit.57 Trotz der Nähe zu Hamsuns eigenen Erfahrungen unterliegt dem Text ein höchst konstruiertes, fiktives System, das organisiert ist durch das zentrale Thema, das Hungern. Hinweise zu möglichen Funktionen des Hungerns im Text gibt die Forschung bereits. Zum Beispiel merkt Heinrich Detering an, dass „[d]er physisch konkrete Hunger [...] der Katalysator einer Entwicklung

[ist], die ein nie gesehenes Menschenbild hervorbringt.“58 Pottbergers hält den Hunger für das Motiv, um die psychischen Extremzustände zu begründen, denen sich Hamsun in seiner Literatur mehr widmen wollte.59 Der Hunger hat nach Ansicht der beiden Forscher folglich die Aufgabe, die Regungen des unbewussten Seelenlebens, deren Darstellung Hamsuns programmatisches Ziel war60, zu erzeugen und zugleich zu begründen. In diesen beiden Punkten stimme ich ihnen zu und werde in den Abschnitten zur Figurenkonzeption im Detail darauf eingehen, für welche psychischen Regungen das Hungern verantwortlich ist. Dennoch ist die Deutung der Wissenschaftler noch zu einseitig, denn sie übersehen, dass das Hungern nicht nur auf der Ebene der Figurenkonzeption Einfluss nimmt. Es steuert auch die Erzähltechnik und ist Träger gesellschaftskritischer Aussagen sowie die Plattform für Überlegungen hinsichtlich der Stellung von Künstler und Kunst. Das werde ich im Folgenden mithilfe der Raumsemantik in Hunger nachweisen.

2.1.1 Figurenkonzeption

Die Raumstruktur in Hunger ist geprägt von einer Zwei-Welten-Konstellation.61 Die Welt, in der die anonyme Hauptfigur agiert, steht abseits der Welt aller anderen Figuren im Buch. Seine Außenseiterposition ist Resultat seines Hungerns, durch das er sich automatisch von den Regeln und Ritualen der Essenden abgrenzt. Sie wird unterlegt zum einen durch den Hinweis, dass er ein Fremder in der Stadt ist und zum anderen durch die Tatsache, dass er größtenteils allein ist. Neben der Unterteilung in innen und außen ist das Verhältnis zwischen der Welt der Essenden und der Welt des Hungernden gekennzeichnet durch die oppositionellen räumlichen Merkmale fern - nah, oben - unten und unbegrenzt - begrenzt. In den folgenden Abschnitten werde ich zeigen, wie diese räumlichen Koordinaten den Protagonisten gegenüber den anderen Figuren des Textes charakterisieren.

2.1.1.1 Gespaltene Persönlichkeit

In diesem Abschnitt steht das räumliche Verhältnis ‚innen‘ und ‚außen‘ im Fokus. Wie bereits erwähnt, ist Hungern das Mittel, mit dem sich der anonyme Protagonist von der Welt der Essenden entfernt. Jedoch sucht er auch oft nach Nahrung und hungert nicht ausschließlich freiwillig. Deshalb ist es zuerst wichtig, darauf einzugehen, inwiefern sich der Protagonist insgesamt von dem Regel- und Normsystem der Welt der Essenden abgrenzt. Des Weiteren

werde ich analysieren, zu welchen Reaktionen der Grenzübertritt auf Seiten der Essenden führt und welches Verhaltensmuster die Lücke zur Welt der Essenden bei der hungernden Hauptfigur auslöst.

Die Tatsache, dass die anonyme Hauptfigur tagelang hungert und lieber arbeitet, widerspricht den Werten der Welt der Essenden, in denen Arbeiten und Essen zusammengehören. Die Verknüpfung zwischen Essen und Belohnung nach getaner Arbeit, eine schon in der Bibel angedeutete Verbindung62, wird im Text zum Beispiel in der Situation aufgegriffen, als der Protagonist zwei Mal an Bauarbeitern vorbeigeht. Beim ersten Mal arbeiten sie, beim zweiten Mal genießen sie ihr wohlverdientes Pausenbrot (KH, S. 89).63 Eine nach dem Verständnis der Welt der Essenden logische und vernünftige Entscheidung, Essen nach einer Zeit der Anstrengung zu sich zu nehmen, hat in der Welt des Hungernden keine Relevanz. Ebenso spielen die Regeln der Essenden für ihn keine Rolle, wenn er doch einmal etwas konsumiert. Das demonstriert sein Essverhalten, genauer gesagt die Orte und Zeiten seiner Nahrungsaufnahme, die Art und Weise, wie er isst, sowie die Speisen, die er wählt. Er isst unregelmäßig und an dunklen, abgelegenen, versteckähnlichen Orten (KH, S. 132, 160). Der Außenseiter entzieht sich damit der Mahlzeit als einer ritualisierten und gemeinschaftsstiftenden Sozialsituation, die zuvorderst durch Ort und Zeit des Essens und die Mitessenden geprägt ist.64 Er verschlingt sein Beefsteak wie ein Kannibale und „zerrte an dem Fleisch wie ein Menschenfresser“ (KH, S. 133). Er kommt sogar auf die Idee, seinen Zeigefinger abzubeißen, oder er nagt von einem Knochen das rohe Fleisch ab (KH, S. 160). Die Beispiele evozieren die Bilder des Barbaren und des Kannibalen, um zu betonen, dass die Hauptfigur das gesellschaftlich Akzeptable überschreitet beziehungsweise zu einem Stadium vorzivilisatorischen Verhaltens regrediert.

Der Verzicht auf Nahrung gepaart mit dem antikulturellen, verwilderten Essverhalten, wenn die Hauptfigur - selten genug - etwas zu sich nimmt, ist der Auftakt zu einer Lebensführung, die sich insgesamt den Erklärungsmodellen seines Umfeldes entzieht. Die Außenseiterposition steht dem Protagonisten nicht nur aufgrund des Hungerns zu. Sein gesamtes Verhalten ist für die Welt der Essenden unbegreiflich. Beispielhaft dafür ist das Verhalten von Ylajali, als er ihr seine ‚wahre‘ Geschichte erzählt. Sie ist erschüttert und sagt ihm die für ihn verletzenden Wort ins Gesicht: „Nein wirklich, Sie sind wahnsinnig.“ (KH, S. 177). Weder Armut noch Trunkenheit können sein Verhalten noch rechtfertigen, rationale Erklärungsmuster, die ein Ursache-Wirkung-Prinzip freilegen, reichen nicht mehr aus. Auch die Bemerkung eines Arztes, der ihn eigentlich kannte, zeugt eindrücklich davon, wie wenig Verständnis die Hauptfigur noch erntet. Als er sich mitten auf der Straße martert und sich selbst fragt, was er machen soll, wirft der Arzt ein: „Sie sollten darum bitten, sich einsperren zu lassen.“ (KH, S. 106). Die Hauptfigur bedauert: „Nicht einmal er erfasste meinen Zustand, ein Mann, den ich kannte und dessen Hand ich gedrückt hatte.“ (KH, S. 106). Durch sein irrationales Verhalten, das nicht mit den Werten der Welt der Essenden übereinstimmt, bleibt für ihn nur noch das Prädikat eines Wahnsinnigen, der aus der Gesellschaft entfernt werden sollte. Die ‚normale‘ Lebensführung der anderen Figuren definiert sich über „materielles, erdgebundenes Interesse, rationelle Lebensführung, kleinbürgerliches Dasein usw.“65

Der Graben, der sich hinsichtlich des gegenseitigen Verständnisses zwischen der Welt der Essenden und der des Hungernden auftut, erklärt, warum die Hauptfigur selbst als eine gespaltene Persönlichkeit auftritt. Zum Beispiel führt er fortwährend Selbstgespräche, ermahnt, bestraft und lobt sich dabei, gibt sich selbst Anweisungen und Rückmeldungen zu seinem Verhalten. Dabei kommt er im Anschluss an die Situationen, in denen seine Gedanken und sein Betragen jeglicher rationalen Nachvollziehbarkeit entbehren, selbst zu dem Ergebnis, dass er wahnsinnig sein muss (KH, S. 79, 82, 139, 189). Dass er sich selbst als ‚wahnsinnig‘, ‚verrückt‘ oder ‚idiotisch‘ einstuft, verweist darauf, dass sich der Hungernde, der die Grenze der Welt der Essenden überschritten hat, immer noch mit deren Werten und Normen misst. Er, der einst in der normgebenden Welt der Essenden sozialisiert wurde, ist nicht imstande, das einst verinnerlichte Regelsystem gänzlich auszurangieren. Hierin offenbart sich die fundamentale Abhängigkeit des Hungernden von der Welt der Essenden. Denn nicht nur aufgrund der Forderungen seines Körpers nach Nahrungsaufnahme muss er sich jener Welt unweigerlich wieder annähern, auch sein Bewusstsein birgt noch eine Instanz, die jenen Regeln sehr nahe steht.

Da der Protagonist noch den Maßstab der Welt der Essenden in der Beurteilung seines Verhaltens anlegt, empfindet er das Irrationale seiner Persönlichkeit wie eine abgespaltene Entität. Immer wieder fühlt er sich selbst gegenüber fremd (KH, S. 17, 27f.) und wird in der Folge schizophren (KH, S. 80, 92, 97 etc.). Die innere Spaltung der Hauptfigur kommt besonders in den Momenten des Essens zum Tragen, in denen sich beide Seiten einen

erbitterten Kampf liefern. Die Ich-Anteile, die von der Welt der Essenden geprägt sind, sehnen sich nach etwas zu Essen. Doch sie verzweifeln an dem Versuch, Nahrung im Magen zu behalten, die von der anderen, der irrationalen Seite ausgeworfen wird: Ich „ballte die Fäuste und verhärtete mich, stampfte aufs Pflaster und würgte wütend wieder runter, was rauf wollte“ (KH, S. 134). Der Ekel funktioniert hier als „Alarmsignal einer Individualität [hier der unverstandenen, irrationalen Identität - A.D.], die ihre Grenzen von Auflösung bedroht sieht.“66 Denn alles aus der anderen, rational strukturierten Welt ist unsicher und feindlich und wird deshalb ausgespien. Die irrationale Individualität der Hauptfigur rückversichert sich so seiner Form und Grenzen.67 Um sich gegen das Feindliche und Fremde zu wehren, übermannt der Ekel und Brechreiz den Protagonisten sogar, wenn er seinen eigenen Speichel als Ersatz für Nahrung herunterschluckt (KH, S. 111).

Aus der ersten näheren Textbetrachtung lässt sich zusammenfassend schließen, dass die Welt des Hungernden, die sich außerhalb der Welt der Essenden positioniert, geknüpft ist an die Merkmale ‚unverstanden‘, ‚wahnsinnig‘ und ‚irrational‘. Diese Wesensmerkmale kommen am stärksten in seinem (Nicht-)Essverhalten zum Ausdruck, durchziehen aber sein gesamtes Benehmen. Zudem konnte festgestellt werden, dass ihm nicht nur die anderen Figuren die ablehnende Rückmeldung geben, dass er wahnsinnig sei. Er selbst hält sich für wahnsinnig, weil in ihm noch die Persönlichkeit steckt, die einst in der Welt der Essenden sozialisiert wurde und immer noch diesen Regeln und Werten folgen möchte. Das irrationale Ich, das die Welt der Essenden verlassen hat, begehrt gegen die aus jener Welt stammende Seite seiner Persönlichkeit auf, indem es die wichtigsten Symbole ihres Regelsystems, die Nahrungsmittel, abstößt. Der Hungernde ist damit auch gekennzeichnet durch eine innere Spaltung.

2.1.1.2 Abwertung körperlicher Begierden

Wie im letzten Abschnitt deutlich geworden ist, begegnet die Welt der Essenden der Welt des Hungernden vor allem mit Unverständnis. Andersherum betrachtet, tritt der Hungernde der Welt, die er verlassen hat, in erster Linie mit Geringschätzung entgegen. Dieser Abschnitt blickt näher auf die räumliche Positionierung des Hungernden und der Essenden in ein ‚oben‘ und ‚unten‘. Ich werde erläutern, welche Eigenschaften der Hauptfigur mit der räumlichen Zuordnung ‚oben‘ korrelieren beziehungsweise welche dadurch erst ausgelöst werden. Dazu argumentiere ich zuerst, dass nicht nur das Essen, sondern die Befriedigung sämtlicher

[...]


1 Vgl. Vandereycken/van Deth/Meermann 2003: Kulturgeschichte der Ess-Störungen, S. 17; vgl. Simchen 2010: Essstörungen und Persönlichkeit, S. 4.

2 Das Wort ‚freiwillig‘ ist nur mit Einschränkung zu sehen, da die Entscheidung für den Verzicht auf Nahrung trotz vorhandener Lebensmittel nicht im luftleeren Raum getroffen wird. Äußere Bedingungen und innere Zwänge spielen eine wichtige Rolle. Ab einer bestimmten Ausprägung hat der Nahrungsverzicht Suchtcharakter. Der begrifflichen Einfachheit wegen bleibe ich jedoch bei dieser Bezeichnung, obwohl klar ist, dass weniger ein freier Wille als der eigene Antrieb ausschlaggebend ist.

3 Vgl. Krenn 2003: Eßstörungen bei Männern, S. 20.

4 Vgl. ebd., S. 30, 35.

5 Wierlacher 1987: Vom Essen in der deutschen Literatur, S. 41. Für eine ausführliche Betrachtung der gesellschaftlichen Bedeutung des Essens als Medium der Gemeinschaftsstiftung, des Gedankenaustauschs, der Machtausübung, der Vertrauensbildung etc. vgl. Wierlacher 1993: Einleitung, S. 1-21 und vgl. Klaus Müller 2003: Kleine Ethnologie, S. 137.

6 Vgl. Wierlacher 1987: Vom Essen in der deutschen Literatur, S. 17.

7 Vgl. Sauermost/Freudig (Hgg.) 2001: Lexikon der Biologie, S. 277.

8 Im Christentum verband die Enthaltung der Fastengesetze die Gläubigen miteinander und brachte sie näher zu Gott (vgl. Vandereycken/van Deth/Meermann 2003: Kulturgeschichte der Ess-Störungen, S. 31). Zur ausführlichen Darstellung der Geschichte und Einhaltungsmoral der Fastengesetze vgl. Mennell 1988: Kultivierung des Appetits, S. 49-53.

9 Mehrere Fallgeschichten stellen Vandereycken/van Deth/Meermann Störungen, S. 71-101 vor.

10 Vgl. ebd., S. 93.

11 Vgl. von Engelhardt 1993: 19. Jahrhundert als Wendepunkt, S. 291-295.

12 Bis zur Einführung des Fachwortes ‚Anorexia nervosa‘ im Jahrzehnt zwischen 1860 und 1870 kursierten verschiedene Begriffe in der Medizin, um die Symptome des Appetitverlusts, des Nahrungsverzichts, der Gewichtsreduktion, der Amenorrhoe (das Ausbleiben der Menstruation) usw. zu erfassen: zum Beispiel die Anorexia, die Atrophia nervosa, die Hysterie, die Melancholie, die Liebeskrankheit oder die Bleichsucht. Vgl. Vandereycken/van Deth/Meermann 2003: Kulturgeschichte der Ess-Störungen, S. 27, 148-185.

13 Vgl. ebd., S. 113-121.

14 Vgl. Neumann 1984: Hungerkünstler und Menschenfresser, S. 356; vgl. Vandereycken/van Deth/Meermann 2003: Kulturgeschichte der Ess-Störungen, S. 105; vgl. Diezemann 2005: Die Kunst des Hungerns, S. 102; vgl. Scholz 2008: Anmerkungen, S. 47.

15 Vgl. Neumann 1984: Hungerkünstler und Menschenfresser, S. 357.

16 Vgl. Vandereycken/van Deth/Meermann 2003: Kulturgeschichte der Ess-Störungen, S. 104f.

17 Jedoch geht aus Berichten zu einzelnen Hungerkünstlern nicht hervor, worin ihre persönliche Motivation genau bestand. Der stärkste Antrieb war wahrscheinlich ihr Wille, vergleichbar mit dem Anspruch an den eigenen Körper beim Leistungssport. Vgl. Diezemann 2005: Die Kunst des Hungerns, S. 107ff.

18 Vgl. Kluge 1987: Hunger, S. 31.

19 Kafka Ein Hungerkünstler, S. 49.

20 Goethe Die Leiden des jungen Werther, S. 118.

21 Werner Zündels Abgang, S. 121.

22 Erlenberger Hunger nach Wahnsinn 1981 zit. nach Blanck 1988: Magersucht in der Literatur, S. 108.

23 Theodor Fontane Effi Briest, S. 143.

24 Erlenberger Essen und Ich, S. 220.

25 Kafka Forschungen eines Hundes in der gekürzten Fassung Durch Hunger Nahrung beschwören, S. 282.

26 Vgl. Wendt 2006: Essgeschichten und Es(s)kapaden, S. 27.

27 Vgl. ebd., S. 192f.

28 Blanck 1988: Magersucht in der Literatur; Ellmann 1994: Die Hungerkünstler; Diezemann 2005: Die Kunst des Hungerns.

29 Vandereycken/van Deth/Meermann 2003: Eine Kulturgeschichte der Ess-Störungen.

30 Ausführliche Betrachtungen liefern z.B. Neumann 1984: Hungerkünstler und Menschenfresser und John 2007: Von Vielfraßen und Hungerkünstlern. Aufsätze zu ausländischen Texten finden sich z.B. in der Anthologie von Grewe-Volpp/Werner Reinhart (Hgg.) 2003: Erlesenes Essen: Harer 2003: Melvilles Hunger, S. 46-66; Kurt Müller 2003: Hunger und Essen im Kontext postmoderner Dramatik, S. 127-147; Koch 2003: Hungry for Success, S. 261-276.

31 Vgl. Daemmrich/Daemmrich 1995: Themen und Motive in der Literatur.

32 Z.B. von Engelhardt 1993: Hunger und Appetit, S. 137-149; Wördehoff 2000: Vom Essen und Trinken, hier S. 64-71; Weyer 2007: Über den Hunger, S. 123-134; Hirschfelder 2009: Richtig essen?, S. 110-117.

33 Z.B. Auster 2000: Die Kunst des Hungers; Kupferschmidt-Neugeborn 2003: Kochende Leidenschaften, S. 191-207; Schäfer 2008: Natur zu Kunst; Kathan 2010: Hungerkünstler.

34 Tanja Rudtke: Kulinarische Lektüren: Vom Essen und Trinken in der Literatur. o.O.: Transcript 2013.

35 John 2007: Von Vielfraßen und Hungerkünstlern, S. 29.

36 Vgl. Blanck 1988: Magersucht in der Literatur, S. 106ff., vgl. Wendt 2006: Essgeschichten und Es(s)kapaden, S. 70ff., vgl. Wierlacher 1987: Vom Essen in der deutschen Literatur, S. 18.

37 Hier seien neben Wierlacher 1987: Vom Essen in der deutschen Literatur, hier S. 35-41 und 54f. nur einige Beispiele genannt, in denen die Völlerei in der Literatur vor allem hinsichtlich ihrer Verweisfunktion auf gesellschaftliche Mängel besprochen wird: Wierlacher 1993: ‚Der wahre Feinschmecker‘, S. 279-287; Hardt 1987: Tod und Eros beim Essen, hier S. 218-227; Wördehoff 2000: Vom Essen und Trinken, hier S. 56-63; Geith 2003: Die Sünde der Völlerei, S. 314-330.

38 Vgl. Wierlacher 1987: Vom Essen in der deutschen Literatur, S. 32; vgl. Reinhart 2003: Erlesenes Essen, S. 6.

39 Kurt Müller 2003, Hunger und Essen, S. 135.

40 Vgl. Vandereycken/van Deth/Meermann 2003: Eine Kulturgeschichte der Ess-Störungen, S. 16f.

41 Vgl. Wendt 2006: Essgeschichten und Es(s)kapaden, S. 165.

42 Wierlacher 1987: Vom Essen in der deutschen Literatur, S. 18.

43 Das Motiv des hungernden Künstlers, der versucht von seinen Werken zu leben, dabei aber eingeschränkt und abhängig bleibt, ist schon Jahrhunderte alt. In der Epoche der Romantik wurde es aufgrund des dahinschwindenden Mäzenatentums zum Klischee (vgl. Kupferschmidt-Neugeborn 2003: Kochende

44 Vgl. Lotmann 1989: Struktur literarischer Texte, S. 311-341.

45 Vgl. ebd., S. 313.

46 Vgl. ebd., S. 324.

47 Ebd., S. 327.

48 Vgl. ebd., S. 338f.

49 Vgl. Neumann 1984: Hungerkünstler und Menschenfresser, S. 358; vgl. Madeiros 1992 und Deleuze/Guattari 1986 zit. nach Benbow 2006: Food, Gender, and Power, S. 361.

50 Kathan zufolge verarbeite Hamsun in Hunger seine Erfahrungen aus der Zeit um 1886, in der er sein Auskommen mühsam mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln bestritt. Vgl. Kathan 2010: Hungerkünstler, S. 127.

51 Hamsun hatte zwar viele Gönner, aber er ging derart verschwenderisch mit dem Geld um, dass er am Ende pleite und hoch verschuldet war (vgl. Kolloen 2011: Hamsun, S. 31ff.). Gleichzeitig fanden ihn seine Freunde oft hungernd und frierend, obgleich er ihnen in solchen Momenten triumphierend die neuen Seiten seines Romans präsentierte (vgl. ebd., S. 51).

52 Uecker stellt eine Bandbreite an verschiedenen Rezensionen zu Hamsuns Hunger vor, die bezeugen, auf welch vielfältige Art und Weise das Buch verstanden werden kann (vgl. Uecker 1999: Anmerkungen, S. 15ff.). Ein Hungerkünstler ist neben Josefine, die Sängerin die am meisten untersuchte Erzählung des Hungerkünstler- Bandes. Der Forschungsüberblick aus dem Kafka-Handbuch macht deutlich, wie sich die Deutungsaspekte über Jahrzehnte verändert haben. Bis heute werden immer wieder neue Lesarten hervorgebracht, was wiederum für die Vielfältigkeit der Erzählung spricht (vgl. Engel/Auerochs (Hgg.) 2010: Kafka-Handbuch, S. 322f.).

53 Die Thematisierung von Körperkult und Schlankheitsideal wäre nicht einmal abwegig, da sie kein Produkt der letzten Jahrzehnte sind, in denen sie sich jedoch, vor allem seit den 1970ern, vom Ideal zum Wahn radikalisiert haben. Das schlanke Schönheitsbild begann sich bereits im 18. Jahrhundert durchzusetzen. Seine Wurzeln liegen in der romantischen Bewegung und in den Abgrenzungsbestrebungen des Bürgertums im 18. Jahrhundert. In der Romantik wurden Schlankheit, Zerbrechlichkeit und Hellhäutigkeit zur Mode (vgl. Young 1970 zit. nach Mennell 1986: Zivilisierung der Eßlust, S. 417). Für das Bürgertum war die schlanke Linie die Veräußerlichung ihrer bürgerlich-gesellschaftlichen Tugenden, wie der Schnelligkeit, Produktivität, Effizienz und der Mäßigung,

54 Zu Hamsuns Hunger als Vorläufer einer modernen Schreibweise vgl. Rossi 2010: The Everyday, S. 417ff.; zu Kafka als Pionier der Postmoderne vgl. Oberlin 2011: Die letzten Mythen, S. 210f.

55 Vgl. Uecker 1999: Anmerkungen, S. 38.

56 Hamsun bezeichnete Hunger in Abgrenzung an die Gattung ‚Roman‘ als ‚Buch‘. Vgl. Hamsun 1890 zit. nach Uecker 1999: Anmerkungen, S. 15.

57 Z.B. aß auch Hamsun wenig (vgl. Kolloen 2011: Hamsun, S. 33), neigte zu blasphemischen Schimpfausbrüchen und Stimmungsschwankungen (vgl. ebd., S. 36); auch ihn plagten Selbstzweifel wegen der Angst, nicht originell genug zu sein (vgl. ebd., S. 27), gleichzeitig war er überheblich, hatte den Drang seine finanzielle Potenz zur Schau zu stellen (vgl. ebd., S. 70), wollte Abstand zum Volk wahren (vgl. ebd., S. 24) und wurde seiner fehlenden Manieren und seines übersteigerten Selbstbewusstseins wegen von seinem Umfeld abgelehnt (vgl. ebd., S. 31). Des Weiteren war Hamsun wie seine Figur getrieben von seiner Arbeitswut, seinem Ehrgeiz und dem Wunsch, berühmt zu werden und es allen zu beweisen; dafür schrieb er Tag und Nacht, obwohl er fror, hungerte und sich im Winter nicht einmal Licht zum Schreiben leisten konnte (vgl. ebd., S. 40, 51). Hamsuns Status als Alleingänger erinnert ebenso an den Protagonisten, der Autor hatte v.a. zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere keinen Anschluss zur Dichterszene (vgl. ebd., S. 28) und interessierte sich kaum für Frauen und Sexualität (vgl. ebd., S. 38). Auch bestimmte Ereignisse im Buch scheinen von Hamsuns Lebenslauf inspiriert: Er verbrachte selbst als Obdachloser eine Nacht in der Polizeizelle in Kristiania (vgl. ebd., S. 46), er reiste herum, auf der oftmals vergeblichen Suche nach einem Redakteur, der ihn veröffentlichen würde (vgl. ebd., S. 30), er schrieb Zeitungsartikel, um sich über Wasser zu halten, seine Leidenschaft galt aber der Dichtkunst (vgl. ebd., S. 39), er verprasste sofort alles, wenn er einmal Geld in die Hände bekam (vgl. ebd., S. 30), er verpfändete all sein Hab und Gut (vgl. ebd., S. 30), machte Schulden, hing aber immer noch am „Bettlerstolz“ (ebd., S. 61). Außerdem ging er, so wie sein Protagonist am Ende des Buches, an Bord eines Schiffes, um Kristiania zu entfliehen. Zwei Mal trieb es den Autor nach Amerika, 1882 und 1886 (vgl. ebd., S. 33, 51).

58 Detering 1999: Subjektzerfall und Vernunftkritik, S. 48.

59 Vgl. Pottbeckers 2008: Stumme Sprache, S. 136.

60 Vgl. Hamsun 1890 zit. nach Uecker: 1999: Anmerkungen, S. 21.

61 Die Teilung in zwei Welten haben bereits andere Literaturwissenschaftler, wie z.B. Masát, festgestellt. Er rekonstruiert die Teilung jedoch nicht mithilfe der Raumsemantik des Textes und führt sie auch nicht auf den grenzüberschreitenden Akt des Hungerns zurück, sondern auf die gegensätzlichen Wesensmerkmale der Hauptfigur und den anderen Figuren. Vgl. Masát 1983: Handlungs- und Wertstrukturen, S. 324.

62 Aus einem Brief des Apostels Paulus stammt der bekannte Satz: ‚Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.‘ Im Umkehrschluss lässt sich aus dieser Aussage die Auffassung deduzieren, dass derjenige, der arbeitet, sich wohlverdient dem Essen widmen kann.

63 Im weiteren Verlauf der Arbeit werde ich die Zitate aus den Primärtexten direkt hinter dem Zitat in Klammern angeben. KH steht als Abkürzung für Knut Hamsuns Hunger, FK für Franz Kafkas Ein Hungerkünstler.

64 Wie sehr er keine Regelmäßigkeit in seiner Nahrungsaufnahme pflegt, wird besonders deutlich, als er eines späten Nachmittags sein starkes Hungergefühl darauf zurückführt, dass er wohl noch nicht gefrühstückt habe. Jedoch hätte dazwischen schon das Mittagessen und wahrscheinlich das Abendessen gelegen. Er benutzt also die Begriffe zur zeitlichen Einteilung der Mahlzeiten aus der Welt der Essenden, sie sind aber nichts als leere Hülsen. Zur Definition von Mahlzeiten als Sozialsituationen vgl. Wierlacher 1987: Vom Essen in der deutschen Literatur, S. 53.

65 Masát 1983: Handlungs- und Wertstrukturen, S. 323.

66 Raulff 1982: Chemie des Ekels, S. 242.

67 Vgl. ebd.

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Der Hunger in der Literatur. Zur poetischen Funktion des Hungerns in Hamsuns "Hunger" und Kafkas "Ein Hungerkünstler"
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Germanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
81
Katalognummer
V268495
ISBN (eBook)
9783668153943
ISBN (Buch)
9783668153950
Dateigröße
931 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Franz Kafka, Hungerkünstler, Knut Hamsun, Hunger, freiwilliges Hungern, Magersucht, Motiv Hungern, hungernde Künstler
Arbeit zitieren
Anne Decker (Autor:in), 2013, Der Hunger in der Literatur. Zur poetischen Funktion des Hungerns in Hamsuns "Hunger" und Kafkas "Ein Hungerkünstler", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268495

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