NUTRIA ist kein Brotaufstrich

Froude-Zahlen biologischer Teiltaucher


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2014

17 Seiten

Dipl.-Ing. Michael Dienst (Autor:in)


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Leseprobe


nutria ist kein Brotaufstrich

Mein Einwurf war eher zaghaft, verschämt vielleicht. Unpassend wohl und er betraf Froudezahlen1 der halbtauchenden Biberartigen. Kaum jemand in der Runde verstand überhaupt die Frage. Und wenn, fragte die Gegenfrage nach dem lieben Sinn jener. Nur Bardo (Name nicht geändert) mein Freund, liebenswertes natur- und ingenieurwissenschaftliches Gewissen und letztlich mein verlässlicher Zugang zu der mir wohl auf ewig verschlossenen Wissenschaft der Fluidmechanik hörte zu und sprach dann den entscheidenden Satz; und das in aller Gelassenheit, nicht aber ohne ein gewisses höhnisches Grinsen: „Du musst immer das gesamte Wellen erzeugende System betrachten!“

Gerade hier darf man also nicht schummeln, Micha!, dachte ich und in Gedanken fügte ich hinzu: Mist. Das ganze Viech also! Mit Schwanz und ganz. Den leibhaftigen Biber. Warum könnte es praktischerweise nicht anders sein? Der Schweif natürlich und nicht Schwanz, besser noch die Kelle, würde dann ein eigenes Wellensystem haben. Es käme vielleicht zu schicken Interferenzen. Glaubt man etwas verstanden zu haben, mag man es ja gerne ein wenig komplizierter und bleibt auch hier, in der fröhlichen Wissenschaft, ein eitler Gockel (übrigens: heute schon Nietzsche gelesen?) Das genau meinte ich. Und: Hatte ich das nicht erst kürzlich an Schiffen beobachtet? An einer Randmeerjolle? Das lokale Wellensystem? Nun gut, das Ruderblatt ist hier am Heck angehängt, und bei kleinen Geschwindigkeiten kann man ja fast alles entdecken, was man unbedingt entdecken will. Ich meine mich an einen deutlichen Wellenzug erinnern zu können. Kelvin statt Mach. Alles bestens. Aber die Kamera im Kopf hält eben nur das gerne fest, was sie gerne im Kopf festhält. „Genial: Berliner bauen Hochleistungsyacht mit Biberschweif. Das Geheimnis des lokalen Wellensystems entschlüsselt. Bioniker greifen nach dem Americas Cup.“ So die Schlagzeilen, dann. Daran besteht kein Zweifel.

Die Frage hinter der Frage betrifft den Schweif. Viele Wirbeltiere, die im Wasser Leben schwimmen mit eleganter Ganzkörperbewegung voran. Schlanke Schwimmer wie etwa der Aal führen eine Schlängelbewegung aus, wobei die Wellenlänge der Bewegung erheblich kürzer ist, als die Rumpflänge. Aale besitzen deshalb keine Schanzflosse. Fische und wasserlebende Säugetiere führen ebenfalls eine (Ganzkörper-) Schlängelbewegung aus. Die Wellenlänge der Körperbewegung ist größer als die Körperlänge; deshalb ist die Schwanzflosse erforderlich. Bei Robben (Pinnipedia), Seehunden (Phoca vitulina) und anderen zum Wasserleben übergegangenen Raubtieren ist der Schwimmstil eine komplexe Mischform aus (Ganzkörper-) Schlängelbewegung und Paddelantrieb. Bei anderen Lebensformen ist der Schweif funktional in den Bewegungsprozess eingebunden. Der Biber benutzt seine Kelle (Schweif) weniger als Antrieb; eher zum Manövrieren bei der Arbeit. Hier dient die horizontal stark abgeplattete Kelle hauptsächlich als Tiefenruder beim Tauchen. Die Oberflächenstruktur ist hochinteressant; statt mit Fell ist die Kelle mit hornigen Hautschuppen besetzt. Außerdem funktioniert die gefäßreiche Konstruktion als Wärmetauscher um überschüssige Wärme an die Umgebung abzugeben. Auf der Flucht vor Angereifern und Feinden arbeitet die Kelle als Startbeschleuniger. Bei Gefahr warnt der Biber seine Artgenossen mit einem „Signalschlag“ der Kelle auf die Wasseroberfläche und verschwindet blitzschnell.

Aber betrachten wir noch einen Moment das Halbtauchen der Biber. Der Schweif leiste im Nachlauf des Rumpfes keinen Beitrag zum Voranschwimmen. Eine vertikale Wellenbewegung der Kelle schließen wir vielleicht an dieser Stelle zunächst mal aus dem idealisierten Bewegungsmodell aus. Dennoch gibt es an einem Fluidsystem Gestaltungsparameter, die passiv die Qualität des Voranschwimmens beeinflussen. Der Formwiderstand, der Reibungswiderstand und bei Halbtauchern (und sogar bei knapp unter der Wasseroberfläche tauchenden Schwimmern) der Wellenwiderstand. Neben der Geometrie kommt der Relativgeschwindigkeit Bedeutung zu. Geht in Form- und Reibungswiderstand die Geschwindigkeit quadratisch ein, beeinflusst sie den Wellenwiderstand in der dritten Potenz. Gleichzeitig vergrößert sich die den Reibungswiderstand bestimmende benetzte Fläche des Strömungskörpers linear mit seiner Länge. Auf die Froudezahl jedoch -und damit auf den Wellenwiderstand- wirkt die Länge der Wasserlinie des halbgetauchten Strömungskörpers proportional in der Wurzel im Nenner vorteilhaft. Länge läuft, heißt es so schön unter den Seefahrern.

Somit ist es ganz vernünftig, wenn Bardo sagt: „ … nimm das ganze System!“ Sagte er es denn überhaupt so? Es ist ja schon eine Weile her und der Kasettenrecorder im Kopf, … aber lassen wir das. Natürlich gibt es keine lokalen Froudezahlen. Schon gar nicht für Kleintiere. Froude2, Kelvin3, Michell4, all die Ehrwürdigen betrachteten das Wellensystem der Schiffe, der ganzen Schiffe. Die Theorien tragen und sind auch schon ein paar Tage alt. Und wenn Froude geahnt hätte, dass man die nach ihm benannte Zahl eines fernen Tages auf Biber, Ratten und anderes biologisches Gewürge anwenden wird, hätte er das vielleicht nicht besonders gut gefunden. Not amused.

Außerdem sollte sich später herausstellen, dass auch der Biber als Ganzes weder ein gut untersuchtes fluidmechanisches System ist, noch sich jemand für sein Halbtauchen interessiert. Sein Halbtauchen, was für ein Wort. Ich finde kein publiziertes Wissen über das Schwimmen der Biberartigen, was ich hier an dieser Stelle bedauern möchte, noch vermute ich dass der Beitrag, den wir - mit Hausmitteln - zu leisten in der Lage sind, wirklich von Bedeutung ist. Ohne Schweif schwimmen zu gehen ist - das ahnen wir bereits jetzt - für einen Biber einfach keine Option. Und vermutlich wird es nicht ganz trivial, solch einem Halbtaucher in freier Wildbahn beim Halbtauchen zuzusehen. Am Ende wird es Jana gewesen sein - ganz lieben Dank an dieser Stelle - die die Biberartigen ausfindig macht, fern von hier und fern von Biebrich am Rhein, sondern am Baldeneysee5 - nahe Essen, wo sie derzeit lebt, das arme Kind. Aber das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht und am Anfang dieser Reise überwiegt die infantile Euphorie, die Neugier, Helau, das Heitere. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, plärrt es in meinem Kopf. Doch Hesse badete nie im See Genezareth6 und wohl auch nicht im Rhein zu seiner Zeit. Oder doch? Spielt Siddhartha7 etwa in Wirklichkeit auf der Rettbergsaue8 ? Ich habe mich das immer schon gefragt.

Bionik. Die belebte Natur hat in den Jahrmillionen der biologischen Evolution äußerst effiziente (Gestaltungs-) Lösungen hervorgebracht. Wir beobachten die Vielfalt biologischer Bauweisen, wir beschreiben und messen biologischen Funktionen, wir bewundern die von einer Einfachheit getragene Eleganz und Dynamik der Lebewesen. Die Bionik verknüpft Biologie und Ingenieurwissenschaft mit dem Ziel, Phänomene aus der belebten Natur auf Technik zu übertragen. Die Erfahrung zeigt, dass gerade das Wechselwirken der biologischen Systeme mit ihrer Umwelt die signifikanten Effekte hervorbringt, die den forschenden Bioniker interessieren und die er zur Quelle seiner Konzepte, vielleicht seiner Visionen macht. Biologische Effekte bilden sich aus in den Evolutions- und Adaptionsszenarien, in denen Lebewesen als „Systemgrenze zwischen einer äußeren Welt und ihrem eigenen inneren Milieu“ agieren. Das Fliegen und das Schwimmen zu betrachten ist deshalb für uns so lohnenswert, weil die biologische Evolution in fluidische Wesen, in Insekten, Fische und Vögel aber auch in im Wasser lebende Säugetiere enorm viel Entwicklungsarbeit investierte. Diese Lebewesen sind hoch optimiert. In ihrer Physiologie, in ihrem Bewegen.

Aber wie befürchtet bereitet es enorme Schwierigkeiten im modernen Stadtbild einer Metropole einen biologischen Halbtaucher zu entdecken. Einen, von dem man anschaulich lernen kann; das ist nicht sonderlich erstaunlich. Entdecken heißt in diesem Fall auffinden, beobachten, beschreiben, messen, Kenntnisse gewinnen, Schlüsse ziehen. Bionik betreiben, dann.

Da gibt es ein altes Foto in meinem Kopf. Der kleine Michel steht mit einer Mohrrübe im Laub. Vor ihm Getier. Er traut sich nicht. Der Biber in seinem nassen Fell, sieht zerzaust aus. Schlammig.

Lange bevor der Herzog von Nassau später hier ein wunderschönes barockes Schloss baute und lange bevor sich die Biebricher im frühen Mittelalter auf das Handwerk der Strandräuberei kaprizierten, siedelten dort ihre Namensgeber und jetzigen Stadtwappentiere aus einer offenbar sehr ähnlichen Erfahrung heraus an. Hier, wo der Fluss

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

mal reißend mal träger aber immer von majestätischer Präsenz einen Richtungswechsel von neunzig Winkelgraden vollströmt, ließ sich hervorragend vom Strand sammeln, was Trägheit und Masse Tribut zollend, der Kurve des Stromes nicht folgen will. War es in grauer Vorzeit Gestrüpp und Geäst, das von den braven Baumeistern zu Dämmen verflochten, die vielen einmündenden Bäche und Flüsslein, die vom hohen Taunus ins Tal fließen, in Seen und wohnliche Burgen verwandelte, mussten die Ureinwohner dieser sonnenverwöhnten Rieslinglage schon mal stromaufwärts fahren und ein wenig dem Schicksal nachhelfen, sodass der unschuldige Strom die vom Schiff gefallenen, von Bord gestoßenen oder durch Schiffbruch auf andere Weise in den Fluss gelangten Fässer und Kisten und Truhen und sogar Weiber einstweilen, an den Biebricher Strand tragen konnte. Leichte Beute also nach solider Vorarbeit flussaufwärts. Später dann hielt auch hier der Landesherr seinen Beutel auf, an dieser ach so günstigen Stelle. Vom Flusspiraten zum Schultheiß ist es vielleicht doch nicht ein so großer Schritt. Noch heute steht das alte Zollhaus direkt am Fluss.

Was sie mit den Bibern gemacht haben? „ei die sinn’ halt lang fort, gell. Vielleischt uffgegesse’ …!“ Ach, ja: Leckere Biber- und Nutriagerichte finden Sie im Internet9. Von Räubern, Piraten, Halunken und anderen Barbaren abzustammen ist für den gewöhnlichen Biebricher gewiss eine Bürde, aber er trägt es Humor und Gesang. Hier in Biebrich, am Tor zum wunderschönen Rheingau entstanden Wagners Meistersänger. Und übrigens: Als Julius Cäsar 54 v. Chr. im Gallischen Krieg dort, wo der Fluss den harschen Knick macht, über den Rhein setzte, stieß er auf den Widerstand des germanischen Volksstamms der Ubier. Das mag gegebenenfalls ein anderer Ursprung des Namens Biebrich sein. Dennoch ist seit 1636 ein aus dem Wasser steigender Bieber (ursprünglich mit einem Fisch im Maul, später mit dem Schlüssel der Stadt) das Wappentier10.

Gegenwart. Wir schreiben den 18. Dezember 2013. Willi Brandt würde heute 100 Jahre alt werden. Keith Richards, berühmtester Überlebender der Musikgeschichte (Süddeutsche), der eiserne Gammler (FAZ), der ruhende Stein (Tagesspiegel), außer Kakerlaken die einzige Lebensform, die einen Atomkrieg überleben kann (Bill Clinton), Richards also, der viel und vieles geraucht hat, unsterblich wie Castor und Pollux, jene in Seenot Anrufbaren, zum 70ten heute meine besten Glückwünsche. Castoren? Nein Danke, möchte man ausrufen. Und auch die Castoren, weil Biber sind fort. Die einstigen Flusspiraten haben sich in brave Vorstadt-Wiesbadener gewandelt. Sie werden (hört, hört) seit gestern von Schwarz-Grün regiert, während in der Hauptstadt eine GroKo (wie süß auch) firmiert.

[...]


1 Die Froude-Zahl ist neben der Reynolds-Zahl einer der Koeffizienten der dimensionslosen Navier-Stokes- Gleichung.

2 William Froude (* 28. November 1810 in Dartington, Devon, England; † 4. Mai 1879 in Simonstown, Südafrika) war ein englischer Schiffbauingenieur und Forscher auf dem Gebiet der Hydrodynamik.

3 William Thomson, 1. Baron Kelvin, meist als Lord Kelvin auch Kelvin of Largs bezeichnet, (* 26. Juni 1824 in Belfast, Nordirland; † 17. Dezember 1907 in Netherhall bei Largs, Schottland) war ein in Irland geborener britischer Physiker.

4 John Henry Michell (26 October 1863 - 3 February 1940) was an Australian mathematician, Professor of Mathematics at the University of Melbourne.

5 Der Baldeneysee ist der größte der sechs Ruhrstauseen. Er liegt im Süden der Stadt Essen

6 Kim Novak badete nie im See von Genezareth ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans des schwedischen Autors Håkan Nesser.

7 Siddhartha. Eine indische Dichtung ist eine Erzählung von Hermann Hesse, erstmals als Buch erschienen im Herbst 1922.

8 Die Insel bestand bis Mitte des 19. Jahrhunderts aus zwei Teilen, dem Biebricher und dem Schiersteiner Wörth. Den westlichen Teil, der im Spätmittelalter Karthäuser-Aue hieß, erwarb 1832 ihr Namensgeber, Freiherr Carl von Rettberg. http://www.wiesbaden.de/microsite/mattiaqua/freizeiteinrichtungen/rettbergsauen/index.php

9 http://www.historisch-kochen.de/gebratener-biber-2/ und http://www.kochbar.de/rezept/443288/DDR-Nutria-mit-Pilzsosse-von-Frau.html

10 Graphik des Stadtwappens entnommen aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Wiesbaden-Biebrich

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Details

Titel
NUTRIA ist kein Brotaufstrich
Untertitel
Froude-Zahlen biologischer Teiltaucher
Autor
Jahr
2014
Seiten
17
Katalognummer
V268238
ISBN (eBook)
9783656592020
ISBN (Buch)
9783656592037
Dateigröße
513 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die belebte Natur hat in den Jahrmillionen der biologischen Evolution äußerst effiziente Gestaltungslösungen hervorgebracht. Wir beobachten die Vielfalt biologischer Bauweisen, wir beschreiben und messen biologischen Funktionen, wir bewundern die von einer Einfachheit getragene Eleganz und Dynamik der Lebewesen. Die Bionik verknüpft Biologie und Ingenieurwissenschaft mit dem Ziel, Phänomene aus der belebten Natur auf Technik zu übertragen.
Schlagworte
nutria, brotaufstrich, froude-zahlen, teiltaucher
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