Die Theorie der Politikverflechtung

Am Beispiel der europäischen Strukturpolitik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

26 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Gliederung

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

2. Das Multi-Level-Governance-System der EU und seine Problematik aus der Perspektive der Verflechtungstheorie
2.1 Die Theorie der Politikverflechtung von
2.2 Die Bedeutung der Theorie der Politikverflechtung für europäische Politikprozesse

3 Die europäische Strukturpolitik

4 Steuerungsfähigkeit aufgrund hoher Komplexität

5 Zusammenfassung

6 Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

Die europäische Strukturpolitik ist ein viel diskutiertes Beispiel, wie Steuerung in der Gesellschaft auch inmitten eines hochgradig verflochtenen Mehrebensystems gewährleistet werden kann, ohne in Entscheidungsblockaden zu verharren, sich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden geben zu müssen oder eine fehlende Bindewirkung der Entscheidungen im Implementationsprozess akzeptieren zu müssen (Benz 2010a: 124-127; Benz 2010b: 124-127; Heinelt 2008: 128-139; Heinelt et. al. 2005: 284-297).

Dabei wird das Mehrebenensystem als Interaktionsraum verstanden (Knodt 2002: 13), der sich durch Interdependenzen und Kompetenzverflechtungen zwischen der supranationalen, nationalen und lokalen Ebene charakterisieren lässt. In Abhängigkeit zum Politikfeld und zur Phase des politischen Prozesses bilden sich multiple Arenen der Koordination heraus, die über die einzelnen Ebenen hinweg verlaufen und durch unterschiedliche Akteure gekennzeichnet sind. Ein solches Verständnis des europäischen Mehrebenensystems entspricht einer Forschungsheuristik, die sich seit Mitte der 90er Jahre aus der Analyse europäischer Entscheidungsmuster als Multi-Level-Governance-Konzept (Marks et al. 1996; Marks 1992) in der Politikwissenschaft etablieren konnte.

Die wissenschaftliche Debatte um das Konzept des Multi-Level-Governance (MLG) kann in zwei Forschungsrichtungen untergliedert werden. Einerseits in jene Arbeiten, welche die Ordnungsstruktur des MLG als ein konfliktreiches Nullsummenspiel begreifen und ihr Forschungsinteresse auf Sieger und Verlierer der Ebenen ausrichten (Eser 1991: 38). Eine weitere Forschungsrichtung betrachtet MLG als ein „mixed-motive-game“ (Scharpf 2000: 130) und richtet ihr Forschungsinteresse auf die verschiedenen Prozesse und Strukturen der Koordination divergierender Interessen (Benz 2010; Scharpf 2006) sowie institutionelle Veränderungen auf nationaler, regionaler (Radelli 2003; Conzelmann/ Konodt 2002) und lokaler (Zimmermann 2008) Ebene im Zuge der Europäisierung.

Die Erklärung von Reformprozessen der Strukturpolitik fokussiert Steuerungs- und Koordinationsprobleme, die sich zwischen den vernetzten Akteuren und Ebenen ergeben. Es geht im Folgenden weniger um die Impacts und Outcomes oder um demokratietheoretische Fragen (vgl. Hüller 2010) der europäischen Reformprozesse auf nationaler und lokaler Ebene, sondern es handelt sich um die Struktur und den politischen Prozess selbst, „in dem lösungsbedürftige Probleme artikuliert, politische Ziele formuliert, alternative Handlungsmöglichkeiten entwickelt und schließlich als verbindliche Festlegung gewählt werden“ (Scharpf 1973: 15). Dabei steht die Frage im Vordergrund, warum sich die europäische Strukturpolitik immer wieder erfolgreich reformieren konnte, obwohl sie durch eine multidimensionale Fragmentierungsproblematik (Scharpf 1976: 25) charakterisiert ist. Konkret ist damit gemeint, dass die Strukturpolitik über ein bestimmtes Niveau an Finanzmitteln einstimmig[1] entscheiden muss. Des Weiteren müssen dann förderbedürftige dezentrale Gebiete ausgewählt werden. Letztlich bettet sich der gesamte Prozess der Strukturpolitik in ein komplexes Verhältnis der funktionalen Interdependenz zwischen den vertikalen und horizontalen Kompetenzverflechtungen der einzelnen Ebenen und Zuständigkeitsbereiche (ebd.: 25-28).

Die Erkenntnis der Steuerbarkeit und damit der Reformfähigkeit im Mehrebenensystem, welche entgegen den verflechtungstheoretischen Annahmen und den damit einhergehenden Fragmentierungsproblematiken im europäischen Mehrebenensystem im Allgemeinen und besonders deutlich im Politikfeld der europäischen Strukturpolitik beobachtbar ist, kann auf den Mechanismus der losen Kopplung zurückgeführt werden (Benz 2010a: 10-11, Benz 2000c: 110; Benz 1999). Der aus der Organisationsforschung stammende Begriff der losen Kopplung verweist auf eine Koordinationsstruktur, in welcher Interaktionen zwischen individuellen wie korporativen Akteuren aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig auch beeinflussen (Kopplung), die Struktur aber gleichzeitig die Autonomie der einzelnen Akteure achtet (lose) (Orton/ Weick 1990: 205). Übertragen auf das europäische Mehrebenensystem und das Politikfeld der Strukturpolitik betont der Begriff der losen Kopplung die funktionale Differenzierung zwischen den einzelnen Entscheidungsarenen des europäischen Mehrebenensystems. Während in einer ersten Phase der Strukturpolitik über die Höhe der finanziellen Mittelbereitstellung und den Normen der Mittelvergabe ein vertikaler intergouvernementaler Koordinationsprozess zwischen der EU und ihren Mitgliedsstaaten stattfindet, verlagern sich die Entscheidungen über konkrete Programmplanung und deren Implementation auf bilaterale Verhandlungen zwischen der EU und den subnationalen Regionen.

Im ersten Teil wird die spezielle Theorie der Politikverflechtung erläutert. Darauf aufbauend können Hypothesen und Kategorien abgeleitet werden, die die Problematik der Steuerbarkeit im europäischen Mehrebenensystem verdeutlichen.

Im zweiten Teil wird ein Einblick in die Strukturpolitik und deren kontinuierliche Reformen gegeben. Die Reformfähigkeit der Strukturpolitik wiederlegt die pessimistische Sichtweise Scharpfs zur erfolgreichen Steuerbarkeit in komplexen Mehrebenenverflechtungen bei einstimmigen Entscheidungsstrukturen. Gleichzeitig wirft es die Frage auf, welcher Mechanismus in Mehrebenensystemen erfolgreiche Verhandlungen und Reformen begünstigt. Das Explanandum dieser Arbeit, also die Steuerbarkeit beziehungsweise die Reformfähigkeit der europäischen Strukturpolitik, soll im letzten Teil mittels des Mechanismus der losen Kopplung erklärt werden.

2. Das Multi-Level-Governance-System der EU und seine Problematik aus der Perspektive der Verflechtungstheorie

Bevor die Probleme des Multi-Level-Governance-Systems der EU aus der Perspektive der Theorie der Politikverflechtung konkretisiert werden können, soll die Theorie der Politikverflechtung in einem ersten Schritt dargestellt werden. Im Anschluss können dann institutionelle Strukturen benannt werden, die zu problematischen Prozessen im Multi-Level-Governance-System der EU führen und in ihrer Tendenz suboptimale Ergebnisse hervorbringen.

2.1 Die Theorie der Politikverflechtung von 1976

Die Theorie der Politikverflechtung entwickelte Fritz Scharpf im Hinblick auf Zwangsverhandlungen zwischen Bund und Ländern im Gesetzgebungsprozess der Gemeinschaftsaufgaben. Nach Art. 91a GG wird die Trennung zwischen Bundesverwaltung und Länderverwaltung eingeschränkt, wenn die zu erfüllende Aufgabe für die Gesamtheit bedeutsam ist und die Mitwirkung des Bundes für die Erfüllung verbesserter Lebensverhältnisse erforderlich ist. Des Weiteren wird nach Art. 104a Abs. 4 GG die Zustimmung des Bundesrats bei Gesetzen notwendig, wenn die Implementation des Gesetzes zu Ausgaben der Länder führt. Beide Artikel des Grundgesetzes führen im deutschen kooperativen Föderalismus zum Zwang der Bund-Länder-Kooperation. Gegenstand der Theorie der Politikverflechtung ist demnach ein Zwei-Ebenensystem sowie die erzwungene Koordinationsstruktur zwischen diesen Ebenen. Der Begriff der Politikverflechtung betont bei Scharpf, dass die zunehmenden Externalitäten und Interdependenzen von Entscheidungsprozessen weder durch eine Zentralisierung noch durch eine Dezentralisierung der Kompetenzen optimal gelöst werden können.

Mit der Zentralisierung von Entscheidungen läuft die Zentralebene in Gefahr nicht umfassend mit Informationen der dezentralen Einheiten ausgestattet zu sein. Darüber hinaus steigt auf zentraler Ebene die Wahrscheinlichkeit, bei der Entscheidungsfindung nicht alle Interessen vertreten zu haben. Anders als bei der Zentralisierung läuft eine Dezentralisierung Gefahr Entscheidungen zu treffen, die externe Effekte mit negativen Folgen für weitere dezentrale Einheiten auslösen und somit suboptimale Kollektivlösungen produzieren. Ebenfalls denkbar sind Situationen in denen die dezentrale Ebene keine Entscheidung trifft, da sich keine Notwendigkeit zum Handeln aus der Perspektive einer dezentralen Ebene ergibt, da diese von positiven Externalitäten weiterer dezentraler Einheiten profitiert. Das Ausbleiben von Entscheidungen kann Kollektivgutprobleme hervorbringen und zur extensiven Ausnutzung kollektiver Güter beitragen.

„Mehr-Ebenen-Probleme lassen sich also durch Ein-Ebenen-Entscheidungsstrukturen nicht optimal lösen“ (Scharpf 1976: 29). Politikverflechtung „rückt deshalb die Interaktion zwischen [den] Entscheidungseinheiten selbst in den Mittelpunkt“ (Scharpf 1976: 28). Aus einer normativ geleiteten Problemanalyse erstellt Scharpf vier zentrale Probleme, die sich bei der Interaktion zwischen den Ebenen ergeben können:

Niveauprobleme betonen die Schwierigkeit für dezentralisierte Entscheidungsstrukturen ein kollektives Optimum zu erzielen. Scharpf geht davon aus, dass dezentrale Entscheidungsstrukturen in ihrer Tendenz Leistungen vernachlässigen, wenn sie durch positive externe Effekte profitieren. Als Beispiel sollen zwei Gemeinden betrachtet werden, die in gleicher Weise von der Hochwassergefahr eines nahegelegenen Flusses betroffen sind, aber nur eine der beiden Gemeinden sich am Dammbau beteiligt. Für die Gemeinde, die sich erfolgreich den Kosten des Dammbaus entzogen hat, entsteht mit der Errichtung des Damms ein positiver externer Effekt. Negative externe Effekte hingegen veranlassen die dezentrale Entscheidungsstruktur zur Überproduktion einer bestimmten Leistung.

Das Niveaufixierungs-Problem ist eng mit dem Niveauproblem verbunden. Im Unterschied zum Niveauproblem wird beim Niveaufixierungs-Problem ein bestimmtes Niveau festgeschrieben, dass es weder zu überschreiten noch zu unterschreiten gilt. Um am vorangegangenen Beispiel festzuhalten, könnte die Bauhöhe des Damms bestimmt werden, die sicherstellt, dass der Fluss nicht überläuft. Den Damm dennoch höher zu bauen, würde keinen weiteren Nutzen für die Gemeinde bringen. Im Gegenteil: Ein höherer Damm würde weitere Kosten für die Gemeindebürger verursachen, ohne weiteren Nutzen zu generieren.

Verteilungsprobleme ergeben sich aus einer ungleichen Verteilung eines Guts zwischen den dezentralen Einheiten. Dies kann daran liegen, dass das Gut nicht teilbar ist wie beispielsweise ein Krankenhaus oder eine Hochschule. Eine andere Möglichkeit für Verteilungsprobleme sind wirtschaftliche oder soziale Disparitäten, die nicht bedarfskonform von der dezentralen Entscheidungsebene reguliert werden können, weil die Regulation des Problems entgegen den Interessen des Verursachers verlaufen. So kann der Damm die Fließgeschwindigkeit des Flusses in dem Maße erhöhen, dass es Gemeinden flussabwärts nicht mehr möglich ist, ihren Fährbetrieb aufrecht zu erhalten.

[...]


[1] In der Strukturförderperiode 2014 bis 2020 wird die bereits 2004 beschlossene qualifizierte Mehrheitsregel Anwendung finden und das Diktat der bisherigen Einstimmigkeit ersetzen (Kienle 2009: 11f).

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Die Theorie der Politikverflechtung
Untertitel
Am Beispiel der europäischen Strukturpolitik
Hochschule
Technische Universität Darmstadt
Note
1,0
Jahr
2013
Seiten
26
Katalognummer
V268171
ISBN (eBook)
9783656584834
Dateigröße
597 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politikverflechtung, Multilevel-Governance, Strukturpolitik, Lose Kopplung, Entscheidungsblockade, Verflechtungsfalle
Arbeit zitieren
Anonym, 2013, Die Theorie der Politikverflechtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268171

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