Der Superorganismus im Web. Das Ende für das Graphikdesign?


Diplomarbeit, 2011

63 Seiten, Note: 1,0

Philipp Rischart (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Einführung in das Thema - Das Elfte Gebot
1.2 Aufbau und zentrale Fragestellung

2. Der Superorganismus
2.1 Begriffserklärung
2.2 Der Weg zur Kollektiven Intelligenz
2.3 Individuelle Intelligenz und Kollektive Intelligenz
2.4 Beschreibung und Merkmale
2.5 Der Superorganismus als Modell für das Web

3. Superorganismus im Web
3.1 Web 2.0 - Der SuperSuper-Organismus
3.2 Anfänge und Grundlagen des Superorganismus im Web 2.0
3.2.1 Voyeurismus als menschlicher Charakterzug
3.2.2 Selbstdarstellung im Netz
3.3 Das mögliche Ende der Expertokratie
3.4 „Fffff...uck off“ Datenflut - the end of graphic design?

4. Fazit
4.1 Chancen des Superorganismus - Ein Ausblick
4.2 Zusammenfassung und Schlussfolgerung

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Einführung in das Thema - Das Elfte Gebot

„Geh hin zur Ameise, du Fauler! Sieh an ihr Tun und lerne von ihr“1 heißt es in Sprüche 6, 6-11 der Bibel.

Könnte dies das „Elfte Gebot“ sein? - Für einige Naturwissenschaftler stellt es gewiss das Elfte Gebot dar. Denn schon längst erforschen Wissenschaftler die Komplexität der Ameisen und deren Problembewältigung anhand von Computersimulationen. Auch Diplomingenieur und Autor Reinhard König beschäftigt sich in seinem Buch ausführlich über „Simulation und Visualisierung der Dynamik räumlicher Prozesse.“ Er spricht von „agenten- basierenden Interaktionsmodellen“, als eine Simulation von Austauschraten zwischen verschiedenen Orten, „welches dem Verhalten der Ameisen nachempfunden“2 wurde.

Folgende Szenerie liegt dabei den Interaktionsmodellen zugrunde: Bei der Suche nach Baumaterial bzw. Futter lassen Forscher die Ameisen Hindernisse überwinden und Höhen- unterschiede bezwingen. Sie untersuchen dabei ihre Kommunikation mittels Klopfgeräuschen und Duftstoffen. Mittels der so genannten Pheronomen - den biochemischen Signalstoffe, die im Fall der Ameisen benutzt werden, um einen zurückgelegten Weg zu markieren - versuchen sie in mathematischen Algorithmen zu beschreiben, welche Spuren die nachfolgenden Ameisen hinterlassen, welche Ameisen dieser ersten Spur folgen und somit zu der Ressourcenquelle gelangen.

Ein weiteres Experiment ergibt, dass die Ameisen sogar im Wasser überleben können. Wirft man die sechs Millimeter kleinen Tiere in das Wasser, können diese „dank der Kraft des Kollektivs“3 überleben. Schnell verhaken und verbeißen sich die Tiere im Wasser ineinander. Wissenschaftler Nathan Mlot und sein Wissenschaftsteam vom Georgia Institute of Technology in Atlanta berichten, dass besonders am Rande des Kollektivs, der Gruppenzwangs am höchsten ist und somit die Überlebens- fähigkeit der Ameisen in der Gruppe gewährleistet wird. Die BBC Dokumentation BBC Wildlife4 unterstützt Mlots Aussagen und zeigt eindrucksvolle Aufnahmen, in denen klar zu erkennen ist, wie die äußeren Ameisen regelrecht von den Ameisen im Inneren festgehalten bzw. eingefangen werden. Dabei bilden sich Luftblasen unter den Ameisen, die das Atmen erlauben und somit dem Floß aus Ameisen sogar Auftrieb geben. Entfernten die Forscher ein paar Ameisen „rückten sofort die Nachbarn auf“, um die Stabilität des Floßes nicht zu gefährden.5

Deborah Gordon, Biologin an der Stanford University, beobachtet im Rahmen ihrer Forschungen täglich die so genannten Roten Ernteameisen in New Mexico. Zu ihrem eigenen Erstaunen muss sie dabei feststellen, dass die „scheinbare Dummheit“ einer einzelnen Ameise immer deutlicher wird: „Wenn Sie einer Ameise beim Arbeiten zusehen, stellen Sie schnell fest, wie ungeschickt sie eigentlich ist“, meint sie. „Sie packt die Sachen selten so an, wie wir es für klug halten würden. Sie hat ein kurzes Gedächtnis. Und man hat den Eindruck, dass es ihr vollkommen egal ist, ob ihr eine Arbeit gelingt oder nicht. Nur jede fünfte Ameise erreicht das, was sie sich vornimmt“, erklärt Deborah Gordon. Wenn man einer Ameise beim Arbeiten zusieht, möchte man ihr manchmal helfen.“6 Die Beobachtungen von Nathan Mlot und die Aussagen von Deborah Gordon belegen eindrucksvoll den Erfolg der Ameisen mittels ihrer Kollektiven Intelligenz. Denn tatsächlich funktioniert eine evolutionär hoch entwickelte Ameisenkolonie, wie ein „großer Organismus, der durch vielfältige Interaktionen von Hunderten, Hunderttausenden oder gar Millionen kleiner Organismen zu einem Superorganismus wird.“

All die beschriebenen Strukturen und architektonischen komplizierten Verbindungen finden sich schon längst nicht mehr nur in einem Ameisenhaufen im Nachbargarten. Ganz im Gegenteil, es stellt sich die Frage ob wir nicht tagtäglich mit solchen Strukturen konfrontiert werden bzw. ob nicht auch die Menschheit gar in einem Superorganismus lebt.

1.2. Aufbau und zentrale Fragestellung

Deborah Gordon bezeichnet, wie oben bereits ausgeführt, die einzelne Ameise als „dumm“. Der Ameisenstaat an sich, charakterisiert sie jedoch insgesamt als äußerst „intelligent.“7 Ameisenstaaten sind ein perfekt organisierter Superorganismus. Diese Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, zu untersuchen, ob sich der Mensch mehr und mehr dem Verhalten einer Ameise annähert. Ausgehend von der Diskussion um das Verhalten von Ameisen soll nun das Verhalten von Menschen untersucht werden. Agieren Menschen in den Neuen Medien8 heute in der Form eines Superorganismus? Die Kapitel 1 und 2 versuchen zunächst im Allgemeinen die Begriffe Superorganismus und Kollektive Intelligenz zu erläuterten. Was sind Superorganismen, wie wird innerhalb eines solchen Organismus kooperiert, welche Aufgabenverteilung gibt es und wo kommt es zu Konflikten. Anhand von Protest- bewegungen in der Gesellschaft werden zudem die Entwicklungen innerhalb des sozialen Systems zur Kollektiven Intelligenz erarbeitet. Die Entwicklungslinien von Hedonismus und Individualität hin zur Rückbesinnung auf das gesellschaftliche „Wir“ verdeutlichen dabei den Paradigmenwechsel von der Geniekunst eines Einzelnen hin zu einer gemeinschaftlichen, kollektiven Intelligenz. Des Weiteren werden spezifische Merkmale und Phänomen eines Superorganismus - speziell als Modell für das Web - herausgearbeitet.

Ein besonderes Augenmerk wird in der vorliegenden Arbeit auf das Thema Superorganismus im Web 2.0 gelegt. Wie funktioniert der Superorganismus im Web? Welche Rolle spielen dabei die neuen Eigenschaften und Plattformen - am Beispiel des Instrumentariums Wikipedia - sowie Kommunikationsmöglichkeiten in Blogs und communities? Wie lässt sich das Verhalten der Individuen überhaupt erklären? Erläutert werden hierzu die Aspekte rund um Voyeurismus und Selbstdarstellung. Letztlich geht die Arbeit der Frage nach, inwieweit die Entwicklung von Individueller Intelligenz zu Kollektiver Intelligenz das Ende der Expertokratie bedeutet und vor allem was dieser Prozess für den Kreativbereich bedeutet. Es wird ausführlich der Forschungsfrage nachgegangen, welche Rolle der Superorganismus im Bereich der Neuen Medien spielt.

Um in gestalterischen Prozessen auf ein Ergebnis zu kommen, versuchen Unternehmen, Agenturen bzw. Büros aus dem so genannten Kreativbereich, ein ausgiebiges und durchdachtes Management zu entwickeln. Dabei spielen Zeit, Budget und Erfahrung aber auch der Zugang zu den digitalen Quellen eine wesentliche Rolle. Der User steht über Netzwerksysteme im direkten oder indirekten Kontakt mit anderen Personen aus dem Kreativbereich. In der heutigen Zeit bietet das Web, dem Designer eine Vielzahl an Inspirationsmöglichkeiten. Es stellt sich deshalb die grundlegende Frage dieser Arbeit, wie autark sollte und kann man durch den permanenten visuellen Input neumedialer Medien heute noch arbeiten? Wie selektiert man die Flut an Daten? Diese Frage stellt sich bei der Betrachtung des zunehmend homogenen Outputs gestalterischer bzw. kreativer Arbeit.

Die These der vorliegenden Arbeit ist daher, dass durch die immer stärker werdende kollektive Nutzung von einheitlichen Werkzeugen und Plattformen - wie beispielsweise Soziale Netzwerke, Blogs, Foren oder grafischen Programmen - keine Veränderung stattfindet. Wir bewegen uns in einer Art Möbiusschleife, bei der wir immer wieder auf dasselbe Ergebnis stoßen. Social Network Analysis zeigt uns, dass wir zu einer Art Schwarm geworden sind: Einer unter Vielen, der in der Masse mitschwimmt, ohne wirklich entscheidenden Einfluss auf Veränderungen zu haben. Besonders wenn wir von Web 2.0 Plattformen sprechen, scheint der Ruf nach Freiheit und Mitbestimmung weit verbreitet zu sein. Doch was passiert mit den ursprünglichen Denkweisen über das Wissen. Führen Research-Programme und moderne Arbeitsstrukturen beziehungsweise Arbeitsprozesse zum Ende des Grafikdesigns? Bedeutet der Superorganismus "the end of graphic design“?

2. Der Superorganismus

2.1 Begriffserklärung

Ameisenstaaten bildeten bereits im Jahre 1910 die Grundlage für die Erforschung des Verständnisses von kollektiven Intelligenzmodellen, den so genannten Superorganismen. So verwendete der US-amerikanische Biologe, William Morton Wheeler in seinem Buch „The ant-colony as an organism“ erstmals den Begriff „Superorganismus.“9

Die aktuellen Forschungsergebnisse von Deobrah Gordon und Nathan Mlot gehen zurück auf diese Beobachtungen von 1910 und weisen diverse Ähnlichkeiten auf. Auch Morton Wheeler berichtet von einer lebendigen Gemeinschaft von meist sehr vielen eigenständigen Organismen, die in mehreren Generationen zusammenleben. Die Individuen seien theoretisch zwar auch ein- zeln überlebensfähig, langfristig können sie aber nicht ohne die Gemeinschaft überleben. Die Mitglieder haben sich spezialisiert, wobei das Zusammenwirken dieser spezialisierten Handlungsweisen die Möglichkeiten des Individuums bei weitem übertreffen. Gruppen oder Einzeltiere übernehmen im Superorganismus für eine gewisse Zeit oder auch lebenslang eine Aufgabe, die mit einer Organfunktion vergleichbar sei, zum Beispiel Fortpflanzung.

In Betrachtung normaler Organismen sind auch Superorganismen hochkomplexe Systeme, zusammengestellt aus den verschiedensten Teilen, die nur funktionieren, wenn das Überleben und die Fortpflanzung des Ganzen sichergestellt wird. Diese Kolonien erreichen erstaunliche Größen und können viele ökologische Nischen erschließen. Besonderheiten sind ihre hervorragende Arbeitsteilungs- und Kommunikationssysteme. Die Arbeiterinnen des Ameisenstaates sind hoch spezialisiert. „Sie haben nahezu kein Reproduktionspotential10 “. Für Konflikte scheint man in dieser riesigen komplexen Welt kaum Platz zu finden, wohingegen die territorialen Konflikte mit Nachbarkolonien nicht selten sind. Es gilt „je größer die Kolonien, desto stärker der Konkurrenzkampf mit Nachbarkolonien“ und desto effektiver die Kooperation und Aufgabenverteilung innerhalb der Kolonie. Zudem verlieren die kolonieinternen Konflikte an Bedeutung. Bert Hölldobler und Edward O. Wilson kommen zu dem Ergebnis, dass Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppierungen die Evolution von Kooperation fördern und zugleich den Altruismus11 innerhalb der Gruppe.12

2.2 Der Weg zur Kollektiven Intelligenz

"Eine Bewegung ist zwar Teil eines sozialen Systems, steht jedoch im Gegensatz zu einer etablierten Ordnung, deren erstarrte Formen mit Dynamik konfrontiert werden. Sie zeichnet sich aus durch die "moralische Entrüstung und Empörung einer relevanten Bevölkerungsgruppe zumeist jugendlichen Alters und häufig intellektuellen Zuschnitts...sowie durch ein radikales Infragestellen alles Bestehenden [...]".13

Studentenproteste waren eine vielschichtige Bewegung Ende der 60er Jahre, die gegen die damals herrschenden wirtschaft- lichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland vorgingen. Heute könnte man von einem Paradigmenwechsel in allen gesellschaftlichen Lebens- bereichen sprechen. Weltweite Ursachen der Bewegung war unter anderem, der neue Lebensstil rund um Rock n Roll, die Einführung der Anti-Babypille im Sinne der emanzipatorischen Bewegung. Das gesamte Ehe- und Familienverständnis wurde in Frage gestellt. Der Vietnam-Krieg bewegte die Massen. Allen voran fühlten sich insbesondere Jugendliche an den Gymnasien und Hochschulen hintergangen. Grund dafür war die westliche „Vorbild-Demokratie" der Vereinigten Staaten, die gegen die Bevölkerung eines kleinen Landes vorgingen, um ein korruptes Regime an der Macht zu halten. Dies ließ die idealisierende Vorstellung von der Demokratie als Beschützerin der Freiheit und Sicherheit des Menschen bröckeln. Man forderte mehr Freiheit - weg von der Spießergesellschaft.

Das Maximum an Möglichkeiten erreichen, das Leben selbst zu gestalten und alle Gelegenheiten zu nutzen waren bisher die wichtigsten Ziele. „Multioptionalität war gleichbedeutend mit Freiheit und Zukunftsperspektiven."14 Hedonismus und Individ- ualität wurden bis ins Extrem ausgelebt. Das Bild der Studentenbewegung wurde geprägt durch „anything goes“ - alles machen und nichts verpassen. Nur so erlangte man nach der Meinung vieler ein glückliches Leben. Klassische bürgerliche Werte, die verantwortlich für die große Vernetzungsdichte innerhalb einer Familien waren Gründe für die spätere Abnabelung und das Bedürfnis nach Eigenständigkeit.

Obwohl sich während den vergangenen 150 Jahren in der westlichen Gesellschaft, der Wunsch nach Individualisierung, Dezentralisierung und Pluralisierung gefestigt hatte, lässt sich heute - angesichts der technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Neuerungen - feststellen, dass die Intelli- genz des Einzelnen oft nicht mehr ausreicht, um unter der gegebenen Vielfalt, sei es die Komplexität, der Überfluss an Informationen und die rapiden Änderungsgeschwindigkeit der Umwelt, rechtzeitig universale Entscheidungen zu treffen.

Dieses Streben nach Individualität hat in vielen Bereichen heute seinen Höhepunkt erreicht. Zukünftig wird bei fort- dauernder Individualisierung eine Rückbesinnung auf das „Wir“ erwartet. Demzufolge erlebt unsere Gesellschaft derzeit einen „Paradigmenwechsel“ im Sinne einer Abkehr vom Geniekult um „zentralisierte Expertenintelligenz“ hin zu kollektiver, gemeinschaftlicher Intelligenz und Problemlösefähigkeit.15

Während einige große Erfinder alleine Dinge entwickelt hatten, benötigt beispielsweise die Weltraumfahrt die Zusammenarbeit mehrerer tausend Menschen. Unsere Gesellschaft wird sich dieses mächtigen Gruppenpotenzials sukzessive bewusst. Global isierung wird durch außergewöhnliche Informationstechnik angetrieben und führt zu einer stark ansteigender Vernetzungs- dichte sowie zu einer Intensivierung des Leistungs- und Innovationsdrucks aller Beteiligten. Die Erfahrungen und das Wissen möglichst vieler Individuen in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen - mit anderen Worten - Kollektive Intelligenz zu nutzen, gewinnt deshalb immer mehr an Bedeutung.

„Je besser es Gruppen von Menschen gelingt, sich als intelligente Kollektive zu formieren, als offene kognitive Subjekte, die Initiativen setzen, sich ihrer Phantasie bedienen und schnell reagieren, desto erfolgreicher werden sie in einer durch Konkurrenz geprägten Umwelt wie der unsrigen sein"16 „Aber wenn es dem nackten, einsamen Menschen nicht gelingt, göttliche Freiheit zu erlangen, warum sollte man dann nicht versuchen Kollektive Intelligenzen zu bilden, die sehr wohl diese Freiheit erlangen könnten."17 Firmen, die dieses Potenzial erkennen und nutzen, erhalten dadurch einen Wettbewerbsvorteil. Es finden sich scheinbar zahllose Beispiele. Das US-Unternehmen Google Inc. verbindet das kollektive Wissen von Millionen von Menschen mit aus- geklügelten Algorithmen und hoch entwickelten Technologien, um erstaunlich akkurate Suchergebnisse hervorzuzaubern. Anhand der Online-Enzyklopädie Wikipedia konnte verfolgt werden, wie Internetbenutzer jeder Schicht, jeden Alters und jedes Intellekts freiwillig und ohne Lohn dazu beitrugen, eine einzigartige kollektive Wissensbasis zu schaffen. Bei der Fernsehsendung Wer wird Millionär? gilt der Publikumsjoker schon lange als das sicherste Mittel zur richtigen Antwort. Prognosemärkte konnten zum Beispiel bei der Bundestagswahl 2009, das Ergebnis besser vorhersagen als die meisten Meinungsforschungsinstitute.

Mediale Entwicklungen, aber auch die wissenschaftliche Forschung aus dem Bereich der Naturwissenschaften bezüglich Schwarmintelligenz, sind Erklärungen warum unsere Gesellschaft sich meist nur noch in Organismen bewegt.

2.3 Individuelle Intelligenz und Kollektive Intelligenz

Der Begriff der individuellen Intelligenz, welche durch empirisch belegte Forschungen einen hohen Stellenwert in der Psychologie eingenommen hat, wird von dieser laut Stern, als die „allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen“18, beschrieben. Sie ist die allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens. Intelligenz ist stets individuelles Konstrukt und Merkmal menschlicher Persön- lichkeit, bedingt durch die Abhängigkeit an den Menschen selbst, durch persönliche Denkstrukturen, Werthaltungen, Interpretationsmuster oder der individuellen Lebenskultur, welche durch Erfahrungen und biologischen Gegebenheiten geprägt sind. Durch sie werden abstrakte Beziehungen erfasst, hergestellt und gedeutet, was unmittelbar zum problemlösenden Verhalten führen kann.

„Gemessen werden kann die Kollektive Intelligenz nur über beobachtbares Verhalten und muss in Beziehung zum Verhalten Dritter und zur jeweiligen Umwelt gesetzt werden.“19 Wo ehemals ausschließlich kognitive Fähigkeiten bei der Intelligenz- beurteilung zählten, werden heute auch nicht-kognitive Aspekte wie die emotionale oder soziale Intelligenz beobachtet. Empirisch gültige Messverfahren gibt es für diese neuartigen Intelligenzbereiche noch nicht. Intelligentes Verhalten lässt sich als „Interaktion zwischen den im Organismus Mensch genetisch festgelegten Informationen und den relevanten Gegebenheiten der Umwelt in einer individuellen Biographie sehen.“20 Autor Myers lässt erkennen, dass Intelligenz als Begriff weder konkretisiert wurde, noch problemlos zu betrachten ist.21 Aus der Definition von Brockhaus (2010) das Kollektiv, das als „Gruppe, in der Menschen in einer Gemeinschaft zusammen leben; Arbeitsgruppe; Team“22 beschrieben wird, könnte als Resumée beider Definitionen eine Ver schmelzung der Intelligenz von einer Gruppe zusammen- treffender Individuen gesehen werden. Im Folgenden soll eine Auswahl einiger Definitionen aufgeführt werden, um den Begriff der Kollektiven Intelligenz besser greifbar zu machen:

Pierre Lévy sieht in der Kollektiven Intelligenz auf den Cyberspace bezogen eine „Intelligenz, die überall verteilt ist, sich ununterbrochen ihren Wert erschafft, in Echtzeit koordiniert wird und Kompetenzen effektiv mobilisieren kann.“23 Gemeint ist damit, dass Kommunikation über das Wissen nur durch Zuhilfenahme moderner Kommunikationsmittel geschehen kann und dass jeder Mensch ein eingeschränktes Wissen besitzt, welches von der Gesellschaft als die individuelle Intelligenz nur mangelhaft genutzt wird. Wichtig ist die Akzeptanz unterschiedlicher Kompetenzen. Lévy strebte eine menschliche Interaktion an, um einen dynamischen Wissensraum zu schaffen.24

Für Segaran geht es um das „Finden neuer Erkenntnisse über unabhängige Teilnehmer“, genauer gesagt um die „Kombination aus Verhalten, Vorlieben und Ideen einer Gruppe von Leuten, um neue Einblicke zu erhalten“25 und erklärt, wie moderne Kommunikationsmittel und das Internet Nutzerdaten sammeln und diese mit Algorithmen und Statistik genutzt werden. Thomas W. Malone26 definiert die Kollektive Intelligenz als Gruppen von Individuen, die intelligent erscheinende Dinge im Kollektiv tun.27 Hier wird die Organisation als Gruppe an sich gesehen. Peter Kruse sieht in der Kollektiven Intelligenz „(...) Selbstorganisatorische Prozesse, bei denen viele Personen übersummative Ordnungen bilden, ohne dass ihr Potential eingeschränkt wird und die gesammte Intelligenz nur in der [Anm. d. Verf.:] Netzwerkverbindung] steckt."28 Auch sei es das Verknüpfen von “(...) Wissen und die Fähigkeit(en) Einzelner in Netzwerken zu einer übergeordneten Musterbildung.”29 Er sieht Kollektive Intelligenz weiterhin als moderne Variation des Kulturbegriffs, der seiner Meinung nach ältesten Fähigkeit des Menschen, mit vereinter Kraft übersummative Lösungen zu erzeugen.30

Auch James Surowiecki behandelt das Thema in "Die Weisheit der Vielen" und meint mit Kollektiver Intelligenz, dass diese durch das von ausreichend vielen Gruppenmitgliedern heraus- kristalisierte Mittel unter Bedingungen wie Dezentralisierung, Meinungsvielfalt oder Aggregation oft bessere Schätzungen abgibt, als die einzelne eines Fachexperten. Laut Surowieck bestehen große Gruppen aus gut informierten Menschen, bei denen sich dadurch differenzierende Sichtweisen gegenseitig neutralisieren. Aulinger berichtet von den Ergebnissen eines Workshops der Steinbeis School of Management and Innovation, bei dem Teilnehmer aus Wissenschaft und Praxis Kollektiver Intelligenz gemeinsam aggierten. Die Gruppe besaß laut Aulinger "die Fähigkeit zur Bewältigung von Herausforderungen durch gemeinsame oder individuelle Verarbeitung von Informationen - dies erlaubte es der Gruppe zu besseren Ergebnissen" zu gelangen, als es mit alt bekannten Verfahren oder durch einzelne Teilnehmer möglich gewesen wäre. Was genau ein "besseres Ergebnis" definiert, kann man jedoch nicht durch renommierte Messverfahren beurteilen.

[...]


1 Bibel, Die Bibel sagt in Sprüche 6, 6-11:

2 König, Reinhard: „Simulation und Visualisierung der Dynamik räumlicher Prozesse - Wechselwirkungen zwischen baulichen Strukturen und sozialräumlicher Organisation städtischer Gesellschaften“, Wiesbaden 2010, S. 57

3 Weber, Nina: „Feuerameisen verknuddeln sich zu Rettungsboot“ Online: http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,758899,00.html (Stand: 30.04.2011)

4 BBCWorldwide: „ Ants create a lifeboat in the Amazon jungle - BBC wildlife Online: “http://www.youtube.com/watch?v=A042J0IDQK4&feature=player_embedded (Stand: 31.04.2011)

5 Weber, Nina: „Feuerameisen verknuddeln sich zu Rettungsboot“ Online: http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,758899,00.html (Stand: 30.04.2011)

6 Miller, Peter: „Die Intelligenz des Schwarms - Was wir von Tieren für unser Leben in einer komplexen Welt lernen können“, Frankfurt am Main 2010, S.29

7 Miller, Peter: „Die Intelligenz des Schwarms - Was wir von Tieren für unser Leben in einer komplexen Welt lernen können“, Frankfurt am Main 2010, S.23

8 Als 'neue Medien' bezeichnet man „alle die Verfahren und Mittel (Medien), die mit Hilfe neuer oder erneuerter Technologien neuartige, also in dieser Art bisher nicht gebräuchliche Formen von Informationserfassung und Informationsbearbeitung, Informationsspeicherung, Informationsübermittlung und Informationsabruf ermöglichen (vgl. Ratzke, Dietrich (1982): Handbuch der Neuen Medien. Information und Kommunikation, Fernsehen und Hörfunk, Presse und Audiovision heute und morgen. Stuttgart: Deutsche Verlags- Anstalt).

9 Morton Wheeler, William: The ant-colony as an organism. (A lecture prepared for delivery at the Marine Biological Laboratory, Woods Hole, Mass., August 2, 1910) Journal of Morphology, Band 22 (2), 1911, S. 307- 325, doi:10.1002/jmor.1050220206

10 Hölldobler, Bert; Wilson, Edward O.: „Der Superorganismus - Der Erfolg von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten“, Berlin Heidelberg 2010, S.10

11 Altruismus ist definiert als eine Verhaltensweise, die einem Individuum mehr Kosten als Nutzen einbringt zugunsten eines anderen Individuums

12 Hölldobler, Bert; Wilson, Edward O.: „Der Superorganismus - Der Erfolg von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten“, Berlin Heidelberg 2010, S.10

13 Langguth, Gerd: „Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 1986-1976“, Köln 1976, S. 23

14 Wenger, Ullrich: „Vision 2017 - Was Menschen morgen bewegt“ München 2008, S. 23

15 Ulkan A., Nickels-Lauterbach; P. & Junchniewicz,: „Kollektive Intelligenz: Dezentralisierte, multiprofessionelle - virtuelle Teams in internationalen Arbeitsgruppen Oder Lieben Sie Pinguine? 50. ECA Fachartikel“ Berlin 2007, S. 2

16 Lévy, Pierre: „Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropolgie des Cyberspace“ Mannheim 1997, S. 17

17 Spiegel, Katrin: „Die kollektive Intelligenz - für eine Anthropologie des Cyberspace“ Online: http://ezines.onb.ac.at:8080/www.medianexus.net/ressourc/rezensionen/levy_k ollektiveintelligenz.htm (Stand: 05.5.2011)

18 Stern, W.: „Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung“, in: Schumann, F. (Hrsg.): Bericht über den 5. Kongreß für Experimentelle Psychlogie in Berlin, Leipzig 1912, S. 101-109.

19 Roth, E. H.: „Intelligenz: Grundlagen und neuere Forschung“, Stuttgart 1998, S.10

20 Roth, E. H.: „Intelligenz: Grundlagen und neuere Forschung“, Stuttgart 1998, S.11

21 Myers, D. G.: „Psychologie“, Heidelberg 2005, S. 459

22 Brockhaus: „Kollektiv Brockhaus Enzyklopädie“ Online: http://www.brockhaus-enzyklopaedie.de/be21_article.php (Stand: 10.01.2011)

23 Lévy, Pierre: „Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropolgie des Cyberspace“, Mannheim 1997, S. 29

24 Lévy, Pierre: „Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropolgie des Cyberspace“, Mannheim 1997, S. 30

25 Segaran, T.: „Kollektive Intelligenz analysieren, programmieren & nutzen.“ Köln 2008, S. 2

26 Wissenschaftler am MIT, Zentrum für kollektive Intelligenz.

27 Malone, T. W.: „What is collective intelligence and what will we do about it?“ Online: http://cci.mit.edu/about/MaloneLaunchRemarks.html (Stand 17.01.2011)

28 Kruse, P.: „Die Intelligenz der Masse [Interview].“ In: WirtschaftsBild (8), Rheinbach 2008, S. 25-26

29 Kruse, P.: „Livestream DNAdigital“: Ein Gespräch mit Peter Kruse (OnlineInterview geführt von Reinhard, U.) http://www.dnadigital.de/networks/blog/post.ulrikerenate:44. Schriftlich unter: http://www.centrestage.de/wp-content/uploads/2009/03/dnadigital.pdf (Stand 13.01.2011),S. 82

30 Kruse, P.: „Die Intelligenz der Masse [Interview].“ In: WirtschaftsBild (8), Rheinbach 2008, S. 25-26

Ende der Leseprobe aus 63 Seiten

Details

Titel
Der Superorganismus im Web. Das Ende für das Graphikdesign?
Hochschule
Merz Akademie - Hochschule für Gestaltung Stuttgart
Veranstaltung
Kommunikationsdesign
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
63
Katalognummer
V267737
ISBN (eBook)
9783656624592
ISBN (Buch)
9783656624493
Dateigröße
500 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Weisheit der Vielen, Massenmeinung, Design, Grafikdesign, FFFFOUND, kollektiv, intelligenz, web 2.0, voyeurismus, selbstdarstellung, expertokratie, datenflut, schwarm, facebook, schwarmintelligenz, exhibitionismus
Arbeit zitieren
Philipp Rischart (Autor:in), 2011, Der Superorganismus im Web. Das Ende für das Graphikdesign?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/267737

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