Selbst- und Mitbestimmung in der klinischen Psychiatrie


Hausarbeit, 2013

19 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der normative Rahmen von Patientenautonomie
1.1 Ethische Aspekte
1.2 Rechtliche Grundlagen

2. Neue Perspektiven: Das Empowerment-Konzept
2.1 Begriff und Definitionen
2.2 Grundgedanken
2.3 Konsequenzen für die Psychiatrie

3. Die Sichtweise von Psychiatrie-Erfahrenen

4. Resümee: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Praxis

Literaturverzeichnis

Einleitung

"Die Selbstverantwortung für das eigene Schicksal

ist das höchste Gut, das ein Lebewesen besitzt;

ihr verdankt es sein Dasein, seine Kraft und seine Fähigkeiten."

(HERMANN SIMON, zit. n. Krisor in: Lenz/Stark 2002, S. 116)

Das Thema der vorliegenden Arbeit knüpft an das Seminar "Sozialpsychiatrie", das ich im Wintersemester 2012/13 an der Hochschule Merseburg besucht habe an. Darin ging es im Wesentlichen um eine Auseinandersetzung mit der traditionellen Psychiatrie und ihren menschenunwürdigen Zuständen. In diesem Zusammenhang wurden sowohl die historische Entwicklung, angefangen von der Psychiatrie als totaler Institution über die Antipsychiatrie-Bewegung und die Psychiatrie-Reform hin zur Enthospitalisierung von Menschen mit (chronischen) psychischen Störungen, als auch Modelle gemeindeorientierter psychiatrischer Versorgung sowie aktuelle psychiatriepolitische Diskussionen beleuchtet.

Die vorliegende Hausarbeit soll diese erste Annäherung an die Sozialpsychiatrie um den Aspekt der Selbst- und Mitbestimmung[1] in der gegenwärtigen Praxis der klinischen Psychiatrie erweitern. Im Kern geht es dabei um die Frage, inwiefern der Anspruch, der sich aus ethischen und rechtlichen Normen sowie neueren Ansätzen in der Sozialen Arbeit ergibt, und die Wirklichkeit der psychiatrischen Behandlung im Hinblick auf die Selbst- und Mitbestimmung von Patienten derzeit übereinstimmen. Dazu sollen ausgehend von grundlegenden normativen Bestimmungen und der (Kurz-) Vorstellung des Empowerment-Konzepts auf Basis sozialwissenschaftlicher Fachliteratur in den ersten beiden Kapiteln, über Erfahrungen von dazu befragten Betroffenen im dritten Kapitel, in einem abschließenden Resümee Erkenntnisse im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit und künftiger Zielsetzungen psychiatrischer Praxis getroffen werden.

1. Der normative Rahmen von Patientenautonomie

Die Selbst- und Mitbestimmung von psychiatrischen Patienten ist eingebunden in bestimmte ethische Leitlinien und gesetzliche Bestimmungen unserer Gesellschaft. Dieser normative Rahmen soll im Folgenden kurz umrissen werden.

1.1 Ethische Aspekte

Im Rückblick auf die Geschichte der Medizin hatte lange Zeit der im Eid des Hippokrates begründete ärztliche Paternalismus-Ethos Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. So war es das Recht und die moralische Pflicht der Ärzteschaft, allein über das vermeintliche Wohl des Patienten zu entscheiden. Dabei wurde die Zustimmung des Patienten zu entsprechenden Behandlungsmaßnahmen meist vorausgesetzt oder gar nicht berücksichtigt. Auch die Aufklärung und Information des Patienten spielten eine eher untergeordnete Rolle. Mit der zunehmenden Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen und Wertevorstellungen in unserer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren wuchs jedoch das Bedürfnis des Einzelnen nach mehr Autonomie und Freiheit, was unweigerlich auch zu einer grundlegenden Hinterfragung bestehender ethischer Normen im Kontext der Medizin führte. Bereits 1979 benannten die beiden amerikanischen Bioethiker TOM Beauchamp und James Childress den Respekt vor (Patienten-) Autonomie neben Fürsorge, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit als Grundprinzip bio-medizinischer Ethik. Dieses gesteht jeder Person das Recht zu, eigene Entscheidungen zu treffen und nach seinen individuellen Wertvorstellungen zu handeln. Demnach sollen Ärzte die Entscheidungsfreiheit von Patienten respektieren und fördern sowie ihre Wünsche, Bedürfnisse und Wertvorstellungen bei der medizinischen Behandlung berücksichtigen. Ein paternalistisches Handeln gegen den Willen des Patienten sei nur dann gerechtfertigt, wenn dieser nicht zu einer autonomen Entscheidung fähig ist oder die Gefahr eines bedeutenden, aber vermeidbaren Schadens besteht. Da aber grundsätzlich alle vier Prinzipien gleichberechtigt nebeneinander stehen, müssen sie im Hinblick auf den einzelnen Patienten konkretisiert und gegeneinander abgewogen werden. Das heißt, im Zweifelsfall ist stets jene ärztliche Maßnahme zu wählen, welche die Patientenautonomie so wenig wie möglich beschränkt und zugleich dem Prinzip der Fürsorge und Schadensvermeidung gerecht wird (vgl. Plunger 2007, S. 87ff.). Ausgehend von der bio-medizinischen Ethikdebatte in den USA kam es allmählich auch in Deutschland zu einem Paradigmenwechsel vom Fürsorge- zum Autonomie-Ethos. Ein Beispiel dafür ist das Autonomiemodell von Anton Leist, auf das an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden soll, da es dem Vier-Prinzipien-Modell von BEAUCHAMP und CHILDRESS angelehnt ist.

Weitere normative Standards und Leitlinien für die medizinische und psychiatrische Praxis sind darüber hinaus in zahlreichen internationalen Erklärungen verankert (siehe dazu WHO 2005). Anders als UN-Übereinkommen, wie zum Beispiel die im nächsten Gliederungspunkt erwähnte UN-Behindertenrechtskonvention, sind diese nicht rechtsverbindlich, haben aber dennoch Einfluss auf die Ausarbeitung nationaler Gesetze für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Hier sind beispielsweise die 1991 veröffentlichten "Grundsätze der Vereinten Nationen für den Schutz von psychisch Kranken und die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung" (sog. MI-Principles) zu nennen, die Rahmenvorschriften für die Behandlung und Lebensbedingungen in psychosozialen Einrichtungen enthalten. Daneben haben auch Vereinigungen von Gesundheitsfachkräften versucht, bio-medizinische Normen aufzustellen. Weitreichende Beachtung im psychiatrischen Kontext fanden diesbezüglich die "Deklaration von Madrid", die 1996 von der World Psychiatric Association (WPA) verabschiedet wurde, sowie die im selben Jahr von der World Health Organization (WHO) formulierten zehn Grundsätze für die "Mental Health Care Law". In all diesen Erklärungen werden der Schutz und die Förderung von Autonomie und Freiheit des Patienten gefordert.

1.2 Rechtliche Grundlagen

Juristisch gesehen ist die Autonomie des (Psychiatrie-) Patienten ein grundlegendes und gesetzlich verankertes Recht. Sie folgt bereits aus den ersten beiden Artikeln des Grundgesetztes der Bundesrepublik Deutschland, die die Unantastbarkeit der menschlichen Würde (Art. 1 Abs. 1 GG), das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2) garantieren, als auch aus Artikel 11 GG zur freien Aufenthaltsbestimmung[2].

Weitere grundlegende Rechtsbestimmungen zur Selbst- und Mitbestimmung des Patienten im Rahmen einer (psychiatrischen) Behandlung finden sich im Behandlungs- und Arzthaftungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Nach § 630c Abs. 1 ist die Mitwirkung des Patienten an der Behandlung bzw. die Kooperation zwischen Arzt und Patient ausdrücklich erwünscht. Ferner hat jeder Patient nach § 630d ein Recht auf "informierte Einwilligung" zu einer medizinischen Behandlung. Demnach ist die Einwilligung des Betroffenen Voraussetzung für jedes ärztliche Handeln. Diese muss sich auf eine umfassende und verständliche Aufklärung über alle wesentlichen Umstände der Behandlung, ihre Notwendigkeit und Risiken sowie mögliche Behandlungsalternativen gründen (§ 630e Abs. 1 und 2). Ist der Patient einwilligungsunfähig, ist die Einwilligung eines hierzu Berechtigten einzuholen (§ 630d Abs. 1 Satz 2), der Patient aber dennoch "soweit dieser aufgrund seines Entwicklungsstandes und seiner Verständnismöglichkeiten in der Lage ist [...] und soweit dies seinem Wohl nicht zuwiderläuft" entsprechend aufzuklären (§ 630e Abs. 5). Jede ohne oder gegen den Willen des Patienten durchgeführte medizinische Maßnahme erfüllt juristisch den objektiven Tatbestand der Körperverletzung nach § 223 StGB und ist somit strafbar. Bei Notfallmaßnahmen, bei denen die Einwilligung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, ist vom mutmaßlichen Willen des Patienten auszugehen (§ 630d Abs. 1 Satz 4).

Eine rechtlich begründete Möglichkeit die Interessen und Autonomie des Patienten im Falle von Einwilligungsunfähigkeit zu wahren, stellt die sog. Patientenverfügung nach § 1901a BGB dar. Jeder einwilligungsfähige Volljährige kann damit festlegen, ob künftig in Situationen, in denen keine Einwilligungsfähigkeit besteht, bestimmte ärztliche Behandlungsformen durchgeführt werden sollen. Die Missachtung einer derart verbindlichen Verfügung des Patienten durch Ärzte oder Betreuer gilt als Körperverletzung.

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten kann aber auch durch Methoden äußeren Zwangs, darunter zählen geschlossene Unterbringung, Fixierung und Zwangsbehandlung/-medikation, beschränkt werden. Die gesetzliche Grundlage dazu stellt einerseits bei langfristiger Einschränkung der Geschäftsfähigkeit oder Selbstversorgungsfähigkeit das im BGB geregelte Betreuungsrecht dar, andererseits bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung die in den jeweiligen Bundesländern bestehenden Psychisch-Kranken-Gesetze (PsychKG). Eine Zwangsbehandlung im Rahmen der Unterbringung nach § 1906 BGB ist durch die gesetzliche Neuregelung zum 26.02.2013 jedoch nur noch als "allerletztes Mittel" bei einwilligungsunfähigen Patienten möglich und nunmehr an einige Voraussetzungen gebunden. Mittlerweile hat das Bundesverfassungsgericht zudem die Rechtsgrundlage zur Zwangsmedikation in den PsychKG dreier Bundesländer, unter anderem Sachsen, als verfassungskonform und damit nichtig erklärt.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass die aktuelle sozialrechtliche und -politische Entwicklung in Deutschland allmählich hin zu einer größeren Selbstbestimmung des psychisch kranken Patienten geht. Damit kommt sie auch der Verpflichtung nach, die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention nach und nach zu ratifizieren. Dazu zählt ausdrücklich die Inklusion aller, auch seelisch, behinderten Menschen sowie die Abkehr von paternalistischer Fürsorge hin zur Förderung von Autonomie in allen relevanten Lebensbereichen (vgl. Kurzke-Maasmeier 2010, S. 3f.).

2. Neue Perspektiven: Das Empowerment-Konzept

In Folge der Psychiatrie-Enquete von 1975 entstanden zum Einen eine Vielzahl sozialpsychiatrischer und gemeindenaher Angebote für psychisch kranke Menschen. Zum Anderen fand aber auch ein wesentlicher Veränderungsprozess in Denken und Grundhaltung der im psychiatrischen Feld professionell Tätigen statt. In diesem Zusammenhang bildete sich das Konzept des Empowerment heraus, das mittlerweile nicht nur in der (Sozial-) Psychiatrie, sondern auch in Jugendhilfe, Gesundheitsförderung und Behindertenarbeit Anwendung findet. Für die Thematik der vorliegenden Arbeit ist dieses Konzept höchst relevant, da es einige neue Perspektiven für die Autonomie und Partizipation von psychisch Kranken aufzeigt und damit Einfluss auf die aktuelle klinische Praxis hat. Deshalb soll dieses im Folgenden hinsichtlich Begriff, theoretischer Grundideen und praktischer Konsequenzen für die Psychiatrie näher beleuchtet werden.

2.1 Begriff und Definitionen

Der in den USA geprägte Begriff des Empowerments lässt sich wörtlich mit (Selbst-) Befähigung, Ermächtigung oder Bevollmächtigung übersetzen. Ursprünglich bezog er sich auf den kollektiven Prozess der Ermächtigung von gesellschaftlich unterlegenen Gruppen, die sich gegen erlebte Unterdrückung und Diskriminierung auflehnten, für eigene Rechte einsetzten und so ein neues Selbstbewusstsein erarbeiteten (vgl. Lenz/ Stark 2002, S. 14). Dazu zählen insbesondere die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, die Emanzipationsbewegung der Frauen und die Independent-living-Bewegung von behinderten Menschen. Eingang in die Sozialarbeit und (Sozial-) Psychiatrie hat der Empowerment-Aspekt durch den amerikanischen Psychologen und Sozialwissenschaftler Julian Rappaport gefunden, welcher auch maßgeblich zu dessen Weiterentwicklung zu einem professionellen Ansatz beitrug (vgl. ebd.).

In der wissenschaftlichen Literatur finden sich zahlreiche Versuche, das was Empower-ment in der Sozialen Arbeit meint zu definieren. Dabei sind generell zwei verschiedene Blickwinkel zu differenzieren: Zum Einen Empowerment als selbstinitiierter und eigengesteuerter Prozess der Selbstbemächtigung eines Menschen und zum Anderen als die professionelle Unterstützung und Förderung von Autonomie und Selbstgestaltung. Während die erste Sichtweise damit vor allem auf Aspekte der Selbsthilfe und der aktiven Selbstorganisation von Betroffenen verweist, steht die zweite Sichtweise für alle Arbeitsansätze in der psychosozialen Praxis, die Menschen zur Entdeckung ihrer eigenen Ressourcen ermutigen und ihnen Hilfestellungen bei der (Wieder-) Aneignung von Selbstbestimmung über die Umstände ihres eigenen Lebens vermitteln wollen (vgl. Herriger 2010, S. 70f.). Gelegentlich wird der Begriff des Empowerments auch für den erreichten Zustand von Selbstverantwortung und Selbstbestimmung verwendet und in diesem Sinne als Selbstkompetenz übersetzt.

Eine Arbeitsgruppe von Vertretern der amerikanischen Selbsthilfebewegung hat unter Leitung von Judi Chamberlin eine Definition von Empowerment aus Sicht von Psychiatrie-Erfahrenen erarbeitet. Diese enthält unter anderem folgende Punkte:

- Der Psychiatrie-Erfahrene hat die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen.
- Er verfügt über den Zugang zu Informationen und Ressourcen.
- Ihm ist bewusst, dass auch er so wie jeder andere Mensch Rechte hat.
- Eigene Durchsetzungsfähigkeit wird nicht mehr als "unangemessenes Verhalten" gewertet, sondern gilt als Ressource des Betroffenen.
- Ärger und Wut werden nicht mehr als Dekompensation seiner psychischen Erkrankung interpretiert, sondern dürfen geäußert werden.
- Der Psychiatrie-Erfahrene ist in der Lage, Veränderungen in seinem eigenen Leben und Umfeld selbst zu bewirken. Dadurch erhält er die Einsicht und das Gefühl, über Kompetenz und Kontrolle zu verfügen.
- Er ist durchaus fähig, eigene Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen. Gegebenenfalls revidiert er die Eindrücke anderer bezüglich seiner eigenen Handlungskompetenz und -fähigkeit.
- Der Betroffene erlernt Fähigkeiten, die von ihm selbst und nicht von Professionellen für wichtig erachtet werden.
- Die Erarbeitung eines positiven Selbstbildes führt zur Überwindung der erlernten Hilflosigkeit und fördert die Fähigkeit, das Leben selbst zu gestalten. (Vgl. Knuf/Osterfeld/Seibert 2007, S. 20ff.)

2.2 Grundgedanken

Als Vorläufer bzw. Grundlage für die Entstehung des Empowerment-Konzepts können das Salutogenese-Modell nach Aaron Antonovsky und die Selbsthilfebewegung in den 1970er Jahren gesehen werden, worauf hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll. Die Empowerment-Idee hat sich inzwischen zu einem komplexen, multidimen- sionalen Konzept entwickelt, dessen Kerngedanken nachfolgend dargestellt werden.

Ausgangspunkt des Empowerment-Konzepts ist eine deutliche Kritik am Menschenbild der traditionellen psycho-sozialen Praxis mit seinem weitgehend defizitären Blick auf Mängel, Schwächen und Unfähigkeiten sowie Versagen und Misslingen des Klienten. Das Konzept des Empowerments orientiert sich stattdessen an einer "Philosophie der Menschenstärken", die folgende sechs Bausteine umfasst:

1. Abkehr vom Defizit-Blickwinkel auf Menschen (mit Lebensschwierigkeiten) und der damit verbundenen Unterstellungen von Hilfebedürftigkeit;

2. Vertrauen in die individuellen Stärken und Kompetenzen, die es Menschen ermöglichen, ihr Leben auch in kritischen Phasen und biografischen Belastungen selbst zu meistern;

3. Achtung vor der selbstbestimmten Lebensweise, der Selbstverantwortung und dem Eigensinn des Anderen und Akzeptanz unkonventioneller Lebensentwürfe;

4. Respekt vor der eigenen Zeit und den eigenen Wegen des Klienten und Verzicht auf enge Zeithorizonte und standardisierte Hilfepläne;

5. Verzicht auf eine umfassende Thematisierung zurückliegender biografischer Verletzungen zugunsten einer Orientierung an der für den Einzelnen wünschenswerten Lebenszukunft;

6. Grundorientierung an einer 'Rechte-Perspektive', d.h. Menschen verfügen unabhängig von der Schwere ihrer Beeinträchtigungen über ein uneingeschränktes Wahlrecht im Hinblick auf die Gestaltung ihres Lebensalltags. (vgl. Herriger 2010, S. 73ff.)

Diesem von Autonomie geprägten Menschenbild zufolge werden die Adressaten psychosozialer Arbeit nicht (mehr) als hilfebedürftige Mängelwesen und bloße Objekte der Fürsorge, sondern als Experten und Autoren ihrer eigenen Lebensführung betrachtet. Damit richtet sich das Empowerment-Konzept gegen die bisher übliche paternalistische Haltung der Professionellen, der die Gefahr zugeschrieben wird, durch ihre umfassende Betreuung die Hilfsbedürftigkeit und Ohnmacht der Betroffenen nur noch mehr zu verstärken (vgl. Lenz/Stark 2002, S. 15). Es spricht stattdessen für eine Ermächtigung und Selbstbefähigung der Klienten, wodurch diese sich als Subjekte ihres eigenen Handelns erfahren und so aus der Rolle des passiven Hilfeempfängers heraustreten könnten. Dadurch würden sie ein neues Selbstbewusstsein entwickeln, wieder Hoffnungen und Mut gewinnen, selbst aktiv werden sowie bisher nicht gekannt oder genutzte Selbsthilfemöglichkeiten und Ressourcen entdecken (vgl. Knuf/Osterfeld/Seibert 2007, S. 28f.). Neben der Stärkung von Autonomie ist die Ressourcen- und Bedürfnisorientierung ein weiterer Grundgedanke von Empowerment. Jeder Mensch ­ auch der mit psychosozialen Problemen und Beeinträchtigungen ­ wird demnach betrachtet "[...] als Subjekt mit all seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten, Wünschen und Bedürfnissen, Erlebnissen und Erfahrungen, enttäuschten oder auch erfüllten Hoffnungen" (Krisor, in: Lenz/Stark 2002, S. 115).

Empowerment im Sinne eines Prozesses der Selbstbemächtigung (siehe 2.1) kann nur von den Betroffenen selbst erbracht werden, während Professionelle hierbei lediglich unterstützen, begleiten und fördern können. So besteht die Aufgabe Sozialer Arbeit nach dem Empowerment-Konzept darin, "[...] Menschen zur Entdeckung ihrer eigenen (vielfach verschütteten) Stärken zu ermutigen, ihre Fähigkeiten zu Selbstbestimmung und Selbstveränderung zu stärken und sie bei der Suche nach Lebensräumen und Lebenszukünften zu unterstützen, die einen Zugewinn von Autonomie, sozialer Teilhabe und eigenbestimmter Lebensregie versprechen" (Herriger 2010, S. 7). Dazu bedarf es auch einer veränderten Beziehung zwischen Betroffenen und professionell Tätigen, die sich in einer Abkehr von der hierarchischen Struktur der traditionellen Praxis hin zu einem partnerschaftlichen Miteinander sowie einer weitgehenden Teilhabe der Klienten ausdrückt. Partizipation ist somit ein weiterer Grundgedanke von Empowerment.

[...]


[1] In den nachfolgenden Ausführungen wird der Begriff "Autonomie" synonym zu dem der Selbstbestimmung verwendet. Gemeint ist damit die Möglichkeit und Fähigkeit des Menschen, gemäß eigenem Willen und individuellen Wertvorstellungen selbst über sein Leben zu entscheiden und zu handeln. Daneben soll unter dem Begriff der Mitbestimmung die Partizipation von Patienten an bestimmten Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen im psychiatrischen Kontext verstanden werden.

[2] Ähnlich formuliert finden sich diese Rechte auch in der UN-Menschenrechtsdeklaration.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Selbst- und Mitbestimmung in der klinischen Psychiatrie
Autor
Jahr
2013
Seiten
19
Katalognummer
V267249
ISBN (eBook)
9783668706798
ISBN (Buch)
9783668706804
Dateigröße
446 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialpsychiatrie, Autonomie, Partizipation, Psychiatrie, Sozialarbeit, Zwang, Kontrolle, Fremdbestimmung, Empowerment
Arbeit zitieren
Denise Krüger (Autor:in), 2013, Selbst- und Mitbestimmung in der klinischen Psychiatrie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/267249

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