Die Prägung des Subjekts in Freytags "Soll und Haben" und in Stifters "Nachsommer"

Entwickelte Ordnungswelten, verkümmerte Ambivalenz


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Soll und Haben von Gustav Freytag
2.1 Das Konzept einer Poesie der Arbeit
2.2 Die Zugehörigkeit zu den Guten

3. Der Nachsommer von Adalbert Stifter
3.1 Die Entwicklung des unfreien Individuums
3.2 Erziehung und Grenzziehungen im Rosenhaus

4. Freytag und Stifter schenken statt Komplexität und Handlung – Ruhe

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Untersuchung des Entwicklungsgangs zweier Protagonisten aus der Ära des Realismus gewinnt ihre Reizfläche nicht zuletzt dadurch, dass das restringierte Menschenbild der Epoche anhand des individuellen Reifeprozesses analysiert werden kann - beobachtet wird also die literarische Ontogenese jenes Subjekts, das am Ende seiner Lehrzeit sämtliche Prinzipien und Wertvorstellungen der realistischen Autoren teilt und vertritt.

Die Wahl ist dabei aus verschiedenen Gründen auf Gustav Freytag und Adalbert Stifter respektive zwei ihrer bekanntesten Romane gefallen. Soll und Haben von Freytag aus dem Jahr 1855 folgte nur zwei Jahre später Stifters Nachsommer. Beide Protagonisten teilen sich das Schicksal, von der zeitgenössischen Leserschaft durch immense Auflagenzahlen zunächst massenhaft konsumiert worden zu sein, ehe sie im Zug der politischen wie kulturellen Zäsur nach dem zweiten Weltkrieg annähernd in Vergessenheit gerieten. Besonders Freytags einstiger Ruhm als Bestseller ist heute nicht verblasst, sondern verschwunden. Dafür kann man die Entnazifizierungswelle auch der Kulturgüter verantwortlich machen, die in Soll und Haben – sicherlich zutreffend - eine antisemitische Grundhaltung ausmachte und seine etwa hundertjährige Publikationserfolge jäh beendete.

Der Nachsommer hingegen wurde nie aus politischen Motiven aus dem Literaturkanon gestrichen- dafür fehlt es schlicht an jeglichen werkinternen nationalen oder politischen Verweisen und Stellungnahmen. Stifters Roman[1] hat darüber hinaus sogar „[…] in breiter Fächerung auch bei vielen Schriftstellern […]“[2] Eingang in den Kreis der Er- und Gelesenen gefunden, wie Peter Baumer anhand zahlreicher Bezüge nachweisen kann. Peter Handke stellte sich in den 60er Jahren in die Traditionslinie nach Stifter, der nach Handkes Lesart als einer der ersten Schriftsteller die Referenzproblematik der Sprache erfasst hätte. Doch Stifters Prosa – zumal den Romanen Nachsommer und Wittiko - hängt seit jeher auch das Attribut der Lageweile an. Wiesmüller etwa erinnert in seinem Sammelband zum 200. Geburtstag des Dichters daran, dass es „[…] weiterhin Vorbehalte [gebe], die an die zeitgenössischen Kritiker Stifters erinnern […]“[3], sich an der ermüdenden Lektüreerfahrung folglich wenig verändert habe.

Die nächste Ähnlichkeit der beiden Werke betrifft schließlich die Fragestellung dieser Arbeit selbst - auf welche Weise gestalten Freytag und Stifter den Entwicklungsprozess des Individuums, wie gelingt die Darstellung eines einzigartigen Lebenswegs vor dem Hintergrund der für determiniert erachteten Welt? Um gleich vorneweg eine erste Antwort zu geben und somit die Untersuchung um einen Schärfegrad zu erhöhen: die Zeichnung der Einzigartigkeit gelingt nicht, wird aber auch gar nicht versucht, da das realistische Konzept die Subjektivität zugunsten einer handhabbaren Ordnung der Gesellschaft leugnet und den einzelnen Menschen stets schon als Teil eines Rahmengefüges deutet. Zu untersuchen bleibt folglich, welcher Rahmen jeweils veranschlagt wird, und nach welchen Maßstäben Antons und Heinrichs Werdegang schließlich als Affirmation der vorgestellten Leitprinzipien herhalten kann.

2. Soll und Haben von Gustav Freytag

Neben seiner Tätigkeit als Romanschriftsteller leitete Gustav Freytag gemeinsam mit Julian Schmidt die Zeitschrift Die Grenzboten, deren thematisches Spektrum neben Literatur und Kunst auch die Politik umfasste. Diese Kombination war Programm. Nach Freytags Credo sollte ein angehender Schriftsteller nämlich zunächst durch „[…] ausdauernde und männliche Tätigkeit in die große Kette der kräftigen Menschen als ein nützliches Glied eingefügt […]“[4] werden; erst wenn Fleiß und Tüchtigkeit nachweislich vorhanden seien, könne die Schriftstellerei versucht werden. Die kreative Zunft ist für Freytag somit lediglich eine Folgebeschäftigung, für deren Gelingen eine politische und wirtschaftliche Karriere erforderlich ist. Dass sich die Romanproduktion nach dieser Maxime dann in affirmativer Weise um Nützlichkeit, Wirtschaft, Konformität drehen müsste, ist keineswegs ein vorschnelles Versehen, sondern der methodische Angelpunkt Freytags.

Seinem Roman Soll und Haben von 1855 stellt Freytag ein Zitat des Kollegen Schmidt voran, wonach der Autor „[…] das deutsche Volk da suchen [soll], wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit.“[5] Identifiziert man die hier benannte Arbeit als die ausdauernde und männliche Tätigkeit des obigen Zitats, ergibt sich eine nicht allzu spannend klingende Ausgangssituation: aus der Perspektive des tüchtig- konformen Dichters soll das tüchtig- konforme Volk beschrieben werden. Dass diese Konstellation jede abweichende Lebensvorstellung von vornherein ausschließt –da sie eben nicht gesucht wird- und die Gesellschaft nur durch die Tüchtigkeit in der Arbeit zusammenkleistert, störte Freytag nicht. Denn seine Vorstellung von Arbeit endet nicht bei der Funktion als Broterwerb, sondern wird zur „[…] sittlichen Kategorie des Bürgertums erhoben […]“[6], wie Büchler- Hauschild notiert; und so gewährleiste die Arbeit die Entfaltungsmöglichkeit zur ganzheitlichen Persönlichkeit. Somit kurbelt der Mensch, der arbeitet, -und nur dieser- seinen Entwicklungsvorgang an.

Im Folgenden sollen die ersten Stationen der kolportagehaften Aventiurenkette des Helden Anton Wohlfahrt beleuchtet werden, dessen Moment der (Bildungs-)Reise praktischerweise schon im Namen angelegt ist; das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung fällt dabei nicht auf die – vielfach besprochene- völkische Komponente des Werks, sondern auf die Gestaltung des individuellen Entwicklungsgangs vor dem Hintergrund des skizzierten Arbeitsethos.

2.1 Das Konzept einer Poesie der Arbeit

Nachdem die Eltern im Anschluss an ihre vollendete Basalerziehung „[…] so eilig als möglich […]“[7] gestorben sind, macht sich Anton auf den Weg in die Hauptstadt, um dort bei einem Kaufmann in Lehre zu gehen. Überhaupt scheint die Funktion des Vaters darauf beschränkt zu sein, Anton einen Zugang zur Kaufmannswelt geschaffen zu haben. Auf dem Weg dorthin beschreibt Anton seine eigene Stellung in der Welt „[…] als eine Art gesellschaftlicher Däumling […]“[8], er ist ungebunden und fühlt sich unsicher hinsichtlich seiner Daseinsberechtigung. Als er kurz darauf im Kontor des Kaufmanns Schröter ankommt, erkennt er in dessen Gesicht nicht nur alle Güte der Welt, sondern wird postwendend, mit der Eingliederung unter Schröters Fittiche, „[…] ein anderer Mann […], er hatte jetzt eine Heimat [….]“[9]. In dieser Selbstverortung wird deutlich, dass Anton hier nicht etwa eine neue Heimat meint, wie es nach dem Tod der Eltern zu erwarten wäre; seine Wandlung ist vielmehr ein Initialmoment, die Aufnahme ins Geschäftsleben interpretiert er als eine zweite Geburt, als eigentlicher Beginn seines Lebens. Die Ursache hierfür ist die bloße Identifikation mit dem Handelsgeschäft, an dessen finanzstarker Bedeutsamkeit sich nun auch Anton beteiligt fühlt: das Arbeitsverhältnis verschafft ihm eine Existenz, Anton wird zum Bürger.

Rolf Selbmann spricht in diesem Zusammenhang von einer systematischen „[…] Unterminierung des klassischen Bildungsbegriffs zugunsten einer handhabbaren Bedeutungshaftigkeit des Banalen […]“[10]; Freytag überhöhe Antons Eindrücke im Kontor zu einem fundamentalen Erkenntnisprozesses. Die der Gattung des Bildungsromans inhärente Entwicklung des Subjekts gestaltet Freytag nicht über das Spannungsverhältnis zur Außenwelt, sondern über die ins Existenzielle gesteigerte Betrachtung verschiedener Kolonialwaren. Nur so lässt sich der Erzählerkommentar verstehen, den Gegenständen des Kontormagazins entströme eine „[…] eigentümliche Poesie, die wenigstens ebensoviel wert war als manche andere poetische Empfindung […]“[11]. Gleich darauf ziehen in Antons Fantasie die weißen Strände und wilden Dschungel der Handelsniederlassungen ins Kontor ein, und die anthropologische Vielfalt wird für den jungen Mann zur Quelle anhaltender Arbeitsbegeisterung. Diese Träumereien werden ausdrücklich unter der Vokabel Bildung subsumiert, denn die einzelnen Waren evozieren immer auch die Menschen, Kulturen und Landschaften ihrer Herkunftsorte. So wird Bildung unter der Hand zur charakteristischen Erscheinung des wirtschaftlichen Imperialismus.

[...]


[1] Stifter selbst bevorzugte die Gattungsbezeichnung Erzählung.

[2] Baumer, Franz: Adalbert Stifter. 1. Auflage. München: C. H. Beck 1989 (= Beck`sche Reihe Autorenbücher; Bd. 614). (S. 11.)

[3] Klein, Michael; Wiesmüller, Wolfgang: Adalbert Stifter: Der 200. Geburtstag im Spiegel der Literaturkritik. 1. Auflage. Wien [u.a.]: Literatur-Verlag 2009 (= Innsbrucker Studien zur Alltagsrezeption; Bd. 7). (S. 13.)

[4] Bucher, Max u. a. (Hrsg.): Realismus und Gründerzeit: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880: Band 2. 1 Auflage. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1975. (S. 71-72).

[5] Freytag, Gustav: Soll und Haben: Roman in sechs Büchern. 3. Auflage. Waltrop und Leipzig: Manuscriptum 2007. (S. 4).

[6] Büchler- Hauschild, Gabriele: Erzählte Arbeit: Gustav Freytag und die soziale Prosa des Vor- und Nachmärz. 1. Auflage. Paderborn [u.a.]: Schöningh 1987. (S. 87).

[7] Freytag, Gustav (S. 11).

[8] Ebd. (S. 14).

[9] Ebd. (S. 37).

[10] Selbmann, Rolf: Der deutsche Bildungsroman. 2., überarb. und erw. Auflage. Stuttgart [u.a.]: Metzler 1994 (= Sammlung Metzler; Bd. 214). (S. 122).

[11] Freytag, Gustav (S. 60).

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Prägung des Subjekts in Freytags "Soll und Haben" und in Stifters "Nachsommer"
Untertitel
Entwickelte Ordnungswelten, verkümmerte Ambivalenz
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Germanistisches Institut)
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
21
Katalognummer
V266687
ISBN (eBook)
9783656582373
ISBN (Buch)
9783656580348
Dateigröße
495 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
prägung, subjekts, freytags, soll, haben, stifters, nachsommer, entwickelte, ordnungswelten, ambivalenz
Arbeit zitieren
Max Rössner (Autor:in), 2013, Die Prägung des Subjekts in Freytags "Soll und Haben" und in Stifters "Nachsommer", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266687

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